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Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin
Die Überfahrt
Hunger
Griechischer Fußball
Speck
»Allwo ein Seigneur seine Hände waschet«
Die Verletzung
Cook & Chill
Der Mann, der Enttäuschungen liebte
Finale
Ein Hafen
Copyright

Autor

Anna Enquist, geboren 1945 in Amsterdam, ist Psychoanalytikerin und ausgebildete Pianistin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Werke erschienen in Deutschland, Schweden, Frankreich, Dänemark, Ungarn, Bulgarien und Estland.

Die Überfahrt

Jacob wird wach, als die Haustür zuschlägt. Er hört die Holzräder des Handkarrens auf den Pflastersteinen und wie sich das Geräusch entfernt. Im Bettschrank ist es stockfinster. Es stinkt. Vorsichtig spreizt Jacob die Beine und fühlt die kräftigen Waden von Klaas. Auf seiner Hälfte. Sachte drückt er seinen Bruder weg. Klaas dreht sich um und bläst Jacob seinen übelriechenden Nachtatem ins Gesicht. Klaas hat durchsichtig weiße Wimpern. Die Haut seiner wulstigen Lippen ist aufgesprungen, sein Mund steht offen. Die Schlafmütze ist ihm vom Kopf gerutscht, und seine blonden Locken kringeln sich feucht auf dem Kissen. Mein Bruder ist fast zwanzig, er kann nicht lesen, und er stinkt nach Fisch, denkt Jacob. Wenn er zuschlägt, bricht er dir das Genick. Voriges Jahr auf dem Jahrmarkt war er der Stärkste vom ganzen Dorf. Aber er kann sein Messer nicht in einen Fisch stechen, ohne schlucken zu müssen.

Über Klaas’ mächtige Schenkel hinweg drückt Jacob mit dem Fuß die Bettschranktür auf. Das Holz knarrt, als sie sich langsam zur Seite dreht. Von der Küche her fällt ein schwacher Lichtschein ins Zimmer. Jacob klettert aus dem Bett und huscht auf Zehenspitzen an den dunklen Erhebungen auf dem Fußboden vorüber. Die Mädchen sollen noch nicht wach werden. Alle sollen noch ein Weilchen schlafen, mit Ausnahme von ihm und seiner Mutter, die in der Küche beschäftigt ist. Sie lächelt, als sie Jacob sieht. Ohne etwas zu sagen. Sie hat die Ärmel hochgekrempelt und reibt sich Hände und Handgelenke mit Fett ein. Jacob schnuppert. Fischöl. Seine Mutter mache viel Gewese von sich, sagt man im Dorf, weil sie sich nicht wie alle anderen die Hände erfrieren will. Seine Mutter kann lesen und auch schreiben. Unter ihrem Kopftuch hat sie seidiges schwarzes Haar, wie Jacob selbst.

»Ist Vater schon weg?« fragt er flüsternd.

»Gerade eben. Bei dieser Kälte. Der Karren war bis oben hin voll mit gefrorenem Fisch. Er sagte, du sollst die Netze entwirren, damit alles bereit ist, wenn er wiederkommt.«

Mutter weist mit dem Kinn zur Arbeitsküche, wo ein dunkler Garnhaufen auf dem Boden liegt. Jacob schließt die Tür und stellt sich an den Ofen. Er starrt in den Waschkessel, in dem weiße Stoffstücke schwerfällig aneinander vorbeitreiben.

»Er will heute nachmittag auf Flunder fischen, solange noch Eis liegt.«

»Mutter, Mama«, sagt Jacob, »lesen wir heute noch? Bitte?«

Sie streicht ihm mit der glänzenden Hand durchs Haar; er riecht Fisch, Fett und Seife, und er schließt die Augen.

»Heute abend. Wenn ihr mit den Flundern zurück seid.«

 

In der Arbeitsküche hat Jacob einen geheimen Aufbewahrungsort, unten in dem Kasten mit altem Fischfanggerät. Dort liegt sein Tagebuch. Er leckt die Spitze seines Bleistifts an, damit die Buchstaben schön schwarz und fett werden.

»Heute ist Samstag, der 13. Januar. Des Jahres 1849. Vater ist zum Markt. Wir gehen heute Flunder klopfen, was ich nicht möchte. Das ganze Meer ist zu Eis gefroren. Ich bin sechzehn. Keiner weiß, daß ich Schiffsbauer werde, wie der Vater von Katrien.«

Klaas kommt hereingepoltert und schlüpft in die Holzschuhe, die neben der Tür stehen. Jacob hat sich auf sein Heft gesetzt und fummelt an dem kalten braunen Garn eines verhedderten Netzes herum. Klaas faßt sich mit der Hand in die Hose und stößt die Tür nach draußen auf. Kurz darauf hört Jacob es im Innenhof prasseln.

»Ein Loch ins Eis gepißt«, sagt Klaas, als er wieder hereinkommt. »Du mußt sie zuerst ausbreiten, die Netze, sonst siehst du nichts. Draußen, hier ist’s viel zu dunkel.«

Jacob schneidet seinem Bruder hinter dessen Rücken eine häßliche Grimasse. Dann legt er sein Tagebuch zurück und zerrt das Netzgewirr nach draußen. An der Hauswand ist ein dampfender gelblicher Fleck im Eis.

 

Vom Ordnen der Netze bekommt Jacob so kalte Finger, daß er sich alle naselang an den Ofen stellen muß.

Die Mädchen sitzen am Tisch und verlesen Bohnen. Klaas ist weggegangen, um noch ein halbes Tagewerk auf der Helling zu verrichten, bevor Vater zurück ist. Die Uhr schlägt elf, und Jacob gähnt.

Auf einmal steht Vater in der Küche. Er wirft die ausgebreiteten Arme in die Luft und klopft sich mit wuchtigen Schlägen auf den Leib. Mit den bestrumpften Füßen stampft er auf dem Boden auf. Der ganze Fisch ist verkauft, seine Börse ist prall mit Münzen gefüllt, und er hat Stadtbrot mitgebracht.

Jetzt brauchen wir heute nicht mehr zu fischen, denkt Jacob. Geld ist genug da. Jetzt kann ich zur Helling und zugucken; vielleicht ist Katrien da, kommt ihren Vater besuchen und sieht mich. Dann gucken wir gemeinsam zu, wie das schnaubende Pferd das Schiff raufzieht. Und weil das so spannend ist, legt sie mir kurz die Hand auf den Arm, und ich rieche den Duft von ihrem Muff.

»Ich geb euch den Topf mit, da habt ihr zu essen, wenn es spät wird«, sagt Mutter.

Weil ihm seine Holzschuhe zu groß sind, macht sich Jacob doppelte Wickel um die Füße. Darüber kommen die Socken und dann die Holzschuhe. Klaas lacht. Der streift sich die schmutzigen Socken über die nackten Füße. Er steht im Unterhemd auf dem Hof und dampft in der eisigen Kälte. Vom schnellen Laufen ist er ganz rot. Mit Vater zusammen legt er die Netze, die Äxte und das schwere Schlagholz auf den Schlitten. Jacob folgt ihnen mit den Segeln.

 

Wenn man auf dem Deich steht, sieht man Eis, so weit das Auge reicht, eine blauweiße Fläche, auf der das Sonnenlicht schimmert. Da und dort stehen Grüppchen von Leuten auf dem Eis, sie bilden braune und dunkelrote Flecken im Licht. Hammerschläge hallen in der dünnen Luft wider – von den Äxten, die das Eis spalten, von den Fischern, die ein Boot reparieren, und von den Flunderklopfern in der Ferne.

Vater und Klaas haben den Schlitten den Deich hinuntergeschoben und steuern nun der Sonne entgegen. Jacob kneift die Augen zu so schmalen Schlitzen zusammen, daß er keine Menschen mehr sieht, sondern nur noch Weiß. Und die Türme von Amsterdam am Horizont. Jetzt davonschlüpfen, zurück in die Küche. Vater winkt, Klaas ruft. Jacob schlägt die Augen nieder und sieht, daß er den Topf mit dem Essen im Arm hält. Vorsichtig setzt er die mit Eisen beschlagenen Holzschuhe ins vereiste Gras, stemmt sie in die harte Erde und geht auf das Eis hinunter.

 

Die Flunder wohnt auf dem Meeresgrund. Sie ist ein neugieriger Fisch, der nachsehen kommt, wenn jemand die Trommel schlägt. Die Schwingungen des Geräuschs übertragen sich vom Eis auf das kalte Wasser, vibrieren bis zum Flunderkörper, und der Fisch schlängelt sich entlang den Schallwellen zur Quelle des Rhythmus. Unter den Stockschlägen hängt das Netz.

Flunderfischer richten die herausgehackten Eisplatten am Rand des Lochs auf, damit nicht unversehens jemand hineinfällt. Es sieht aus, als stünden überall auf dem Eis kleine weiße Häuschen.

»Das ist das Loch von Beers«, sagt Vater. Er zeigt auf eine große Eisburg. »Der kommt bald wieder. Wir gehen ein Stück weiter, hier sind zu viele Leute.«

Vater und Klaas laufen beständig etwas schneller als Jacob, obwohl sie den schweren Schlitten ziehen müssen, da für die Segel zuwenig Wind ist. Schritt für Schritt schleift Jacob seine Holzschuhe über das rauhe Eis. Er fühlt nahende Krämpfe in den Unterschenkeln. Plötzlich sind ihm Schlitten, Vater und Klaas abhanden gekommen. Sie sind nirgendwo mehr zu sehen. Jacob steht allein auf weiter Flur und hat jedes Richtungsgefühl verloren. Der Durgerdammerdeich? Die Stadttürme? Sein Atem geht schneller, sein Hemd kribbelt auf der Haut, während er sich langsam dreht. Da sieht er weit entfernt die beiden kleinen Gestalten mit dem Schlitten hinter einem aufgeschichteten Eisberg hervorkommen.

 

Als er beim Fangplatz anlangt, schwingen Klaas und Vater schon eifrig ihre Äxte. Im steten Wechsel hacken sie auf das Eis ein, bis es birst und das schwarze Wasser preisgibt. Sie haben ihr Wams ausgezogen und schwitzen mit entblößten Armen.

Jacob trägt die Netze zu ihnen. Den Topf mit dem Essen hat er auf den Schlitten gestellt. In der Ferne schlägt eine Turmuhr dreimal.

 

Erst wenn die Netze im Wasser hängen, geht es richtig los. Dann muß man das schwere Schlagholz ein ganzes Stück vom Loch wegschleppen und damit aufs Eis hämmern. Jacob hält das nicht lange durch, obwohl es ihm Spaß macht. Er klopft im Takt eines Liedes, das er im stillen singt. Unaufhörlich denkt er an die Flunder, die er beschwört, bezaubert und betrügt.

Sie wechseln sich ab. Und mit vereinten Kräften ziehen sie nach der Klopfjagd das Netz aufs Eis. Dutzende benommener großer, dunkler Fische werden übereinander in den Schlitten gelegt. Es läuft gut! Vater späht über die Eisfläche. Die Sonne sinkt.

»Beers geht schon wieder heimwärts. Die von Porsius sind auch schon weg. Wir machen noch einen Durchgang, sie kommen heute so gut!«

Weiter geht die Schlepperei. Die untergehende Sonne auf dem Sandsteinturm von Muiden. Wie weit draußen wir sind, denkt Jacob. Wenn ich nach Hause komme, ist es zu spät zum Lesen.

 

Siebenhundert Fische haben sie gefangen, Jacob hat mitgezählt. Mit dem Rücken zum Flunderstapel sitzen sie auf dem Schlittenrand und essen aus dem Topf. In Jacobs Kopf dröhnen noch die Schläge von Holz auf Eis. Es muß wohl schon auf Mitternacht zugehen, so wie der Schlaf an seinem Körper zieht. Er steckt den Löffel hinter seinen Gürtel, er mag nicht mehr.

 

Langsam ziehen sie den bleischweren Schlitten über das Eis. Vater läuft mit der Lampe voran, Klaas und Jacob legen sich ins Geschirr und zerren ihren Fang stetig dem Licht auf dem Deich entgegen. Bald ins Bett, denkt Jacob, das schneidende Tau ablegen, die kalten Sachen ausziehen. In tiefen, tiefen Schlaf hinabgleiten.

Vater bleibt stehen. Er läßt die Lampe sinken, schweigend. Plötzlich sehen Klaas und Jacob, warum: Zwischen dem Eis und dem Deich liegt ein breiter Streifen schwarzes Wasser. Jacob kommen die Tränen, als er daran denkt, daß das Bett unerreichbar ist. Seine Waden sind so müde, daß er sich nicht mehr aufrecht halten kann. »Das Eis ist auf Drift gegangen«, sagt Vater. »Wir müssen weiter. Sehen, ob wir bei Uitdam runterkönnen.«

Klaas macht sich allein daran, den Schlitten zu wenden. Vater zieht Jacob hoch.

»Komm, Junge. Bei so ’m schönen Fang halten wir doch noch ’n Weilchen durch. Nimm du mal die Lampe.«

Wie Ochsen im Joch ziehen die großen Männer den Schlitten voran. Doch wohin Jacob seine Lampe auch leuchten läßt, überall schimmert ihn der tiefe, schwarze Spalt an. Gegenüber von Uitdam setzen sie sich kurz.

»Nach Süden«, sagt Jacob. Dünn und schwach tönt seine Stimme durch die Nacht. »Wenn das Eis von der Ostküste weggetrieben ist, ist es vielleicht weiter südlich gegen den Deich gedrückt worden.«

Vater nickt. Das Essen ist aufgegessen. Kein Lüftchen regt sich, kein Laut weit und breit außer dem Scheuern des Schlittens und dem Schaben der Holzschuheisen auf dem Eis. Sie gehen in Richtung Muiderberg. Es wird Tag. Sie hören die Glocken von Naarden. Vor dem Kai erstreckt sich ein schwarzes Band. Ohne ein Wort machen sie kehrt, auf Marken zu.

Es wird Abend. Jacob ist nicht mehr müde. Gedanken rasen ihm durch den Kopf. Der Schlitten ist zu schwer, die Flundern müssen ins Meer zurück. Es ist Vaters Schuld. Wer so raffgierig fischt, wird bestraft. Der wird verdammt, tage- und nächtelang über das Eis zu irren, ohne Hoffnung auf Heimkehr. Mutter wird beunruhigt sein, der Sonntag ist schon rum, und sie sind nicht gekommen. Die Flundern müssen zurück. Dann wird sich das Eis schließen, und wir können an Land.

Vater will nichts davon hören. Es ist sein Fang, er denkt nicht daran, die Flundern zu opfern. Tief in der Nacht richten sie sich unter den Segeln zum Schlafen ein, neben dem voll beladenen Schlitten aneinandergedrückt wie die Fische.

 

Als Jacob wach wird, ist er allein. Er richtet sich auf und beugt die steifen Beine. Ein paar Meter weiter knien Vater und Klaas auf dem Eis. Sie haben die Köpfe gesenkt und halten ihre Mützen in der Hand. Sie beten.

Mit einem Armvoll Flundern geht Jacob zum Rand der Eisfläche und läßt die Fische ins Wasser gleiten. Vater schreit, als er sieht, was Jacob tut. Vater will das nicht, und doch geschieht es. Wortlos kommt Klaas Jacob zu Hilfe. Gemeinsam tragen sie die Fische weg. Vater sitzt auf dem Schlitten, die Augen geschlossen.

Fünfzig Fische behalten sie zurück. Zum Essen. Zu trinken gibt es abgeschabtes Eis. Das ist nicht wahr, das ist ein Traum, gleich ist alles vorbei.

 

Der Schlitten gleitet mühelos über das Eis. In zügigem Tempo gehen sie nach Naarden – wo Wasser ist. Zurück nach Norden, wo das Eis bedrohlich knackt und unter ihrem Gewicht unvermittelt nachzugeben droht. Drei Tage sind vergangen; Jacob merkt sich für jeden Tag einen Finger. Heute nacht wird er sich auf den Ringfinger seiner rechten Hand konzentrieren. Das heißt: Dienstag. Fern vor ihnen liegt Nijkerk, unerreichbar hinter einem Gürtel von Treibeis. Es regnet. Mit den Äxten hacken Klaas und Jacob eine Mulde ins Eis.

Als sie sich mit Wasser gefüllt hat, schlürfen sie daraus, auf den Knien, wie Tiere. Sie essen rohen Fisch. Jacob dreht sich der Magen um. Vater hat den ganzen Tag geschwiegen. Sie nehmen ihn unter den Segeln in ihre Mitte. Vater ist kalt. Jacob konzentriert sich auf seinen rechten kleinen Finger.

 

Der Nebel ist so dicht, daß Jacob nicht weiß, ob es schon Morgen ist. Er windet sich unter dem Segel hervor, um Wasser zu lassen. Der Boden schwankt, und er schreit erschrocken auf. Davon werden Vater und Klaas wach. Kein Boden mehr, sondern eine Eisscholle, auf allen Seiten von Wasser umgeben. Darauf stehen sie drei und der Schlitten. Sie treiben. Wie auf einem Schiff ohne Ruder.

 

Der Wind frischt auf, doch der Nebel bleibt hängen. Eisschollen schaukeln auf dem Wasser, prallen gegeneinander, brechen entzwei oder schieben sich übereinander. Klaas läuft auf ihrer Scholle herum, stößt andere Eisbrocken weg, versucht mit dem abgebrochenen Mast des Schlittens in dem tiefen Wasser zu staken. Er kann sich nicht einfach hinsetzen. Er muß etwas tun. Weil er dumm ist, denkt Jacob. Soll der Wind sie doch abtreiben; bald kommt die Flut, und die treibt sie schon wieder zurück. Besser, man rührt sich nicht, besser, man wickelt sich ins Segel und haucht die stinkende Plane an. Dann bilden sich Tropfen, die man ablecken kann. Nie und nimmer werde ich Fischer, später. Ich heirate Katrien und werde Schiffsbauer und schreibe jeden Tag in ein Heft aus Pergament. Samstags zahle ich Klaas seinen Lohn in Stüvern aus. Danach esse ich mit Katrien und ihrem Vater Schweinebraten.

 

Vater weint. Wir müssen Buße tun, sagt er. Das Flunderopfer habe nicht genügt. Nun will Vater sich selbst opfern.

Klaas nickt. Die Lage ist hoffnungslos. Sie werden ohnehin ertrinken, früher oder später. Dann doch lieber gleich, gemeinsam.

Vater und Klaas kauern am Rand der Eisscholle und blicken ins Wasser. Dort liegt ihre Bestimmung. Vater winkt Jacob herbei. Es ist soweit.

Trotz der Kälte bricht Jacob der Schweiß aus. Er ist aufgesprungen und will etwas sagen, doch die Stimme bleibt ihm im Halse stecken. Er hat ein mulmiges Gefühl im Magen. Er denkt an den kleinen Finger: der fünfte Tag. In Klaas’ Socken sind große Löcher, durch die man seine roten Fersen sieht. Vater hat ein Eisen von seinem Holzschuh verloren.

»Trottel«, ruft Jacob, »Trottel seid ihr! Nicht alle drei am gleichen Ende, dann kippt die Scholle um. Was seid ihr nur für Schafsköpfe! Einfach aufgeben, Schluß machen, das geht nicht. Ihr könnt ja nicht mal schwimmen, aber ich schon! Und schreiben kann ich auch. Ich will nicht sterben, ich werde nicht sterben! Nie und nimmer!«

»Gottes Hand, Jacob, Gottes Hand treibt uns auf die Nordsee hinaus«, sagt Vater. »Wir müssen uns darein ergeben.«

»Ganz und gar nicht«, schreit Jacob. »Die Gezeiten wechseln, wir können sehr wohl an Land geschwemmt werden, das kann man nie wissen, der Wind wird wieder drehen, überall ist Land, wir haben eine Chance. Ich will das nicht. Ich mach nicht mit. Springt ihr doch rein. Ich nicht. Ich will zu Mutter!«

Klaas wendet den Kopf vom einen zum anderen. Wenn er zu Vater blickt, scheint er mit ins Wasser gesogen zu werden; wenn er sich zu Jacob umdreht, ist es, als wolle er sich erheben, um etwas zu tun.

Jacob setzt sich auf den Schlitten und beginnt eine Flunder zu filetieren. Die entgräteten Stückchen Fleisch legt er nebeneinander auf den Schlittenrand. Er spießt einen Flunderstreifen auf seine Messerspitze und steckt ihn sich in den Mund. Den Blick in die Ferne gerichtet, beginnt er langsam zu kauen.

 

Wie ein Hund hat sich Klaas vor Jacob aufs Eis gehockt und die angerichteten Bissen aufgegessen. Vater hat sich schweigend in ein Segel gerollt. Jacob atmet tiefer durch. Die Gefahr ist vorüber.

 

Es stürmt. Jacob und Klaas verstauen alles, was sie haben, unter dem Schlitten: Topf, Äxte, Taue, Netze, das Schlagholz. Gegen den Schlitten gelehnt, setzen sie sich aufs Eis, ganz dicht nebeneinander. Jacob reibt sich an Klaas’ stämmigen Schenkeln. Der Mittelfinger der linken Hand. Auf einem Meer fahren Schiffe. Die werden uns retten. Vater schläft. Klaas ist ein Ochse, der gelenkt werden muß. Von mir. Damit wir am Leben bleiben und ich Katrien küssen kann, später. Meine Füße tun weh. Kalt.

»Ich spür nichts«, sagt Klaas. »Nur meine Holzschuhe sind zu klein geworden, scheint’s.«

 

Nach reiflicher Überlegung wecken sie Vater. Jacob gibt ihm aus dem Topf Regenwasser zu trinken, und Klaas versucht ihn mit ein wenig Fisch zu füttern. Ein Blitz zuckt durch die Luft, und gleich darauf erschüttert ein Donnerschlag den Himmel. Mit großen Augen starrt Vater vor sich hin. Das Stück Flunder rutscht ihm aus dem Mund und bleibt an seinem stoppeligen Kinn hängen.

 

»Das mit dem Topf ist schlau«, sagt Klaas.

»Ich weiß auch, welcher Tag heute ist«, sagt Jacob. »Samstag. Jetzt ist eine Woche rum. Wie man die Zeit mißt, lernst du in der Schule.«

»Ich konnte das nicht, da so in der Bank hocken. Lieber arbeite ich draußen.«

»Möchtest du denn nicht lesen können? Du bist doch immer auf jemand anders angewiesen. Ich kann es alleine.«

»Sterben tun wir alle«, sagt Klaas. »Am besten, man hält sich an seinesgleichen.«

Jacob sagt nichts. Trottel, denkt er, Mühlstein, Schafskopf, hirnloser Klotz.

 

Am nächsten Morgen scheint sich der Nebel etwas zu lichten. Jacob zeigt auf einen dunklen Fleck am Horizont: der dicke Turm von Enkhuizen. Durch die reglose Luft werden Stadtgeräusche zu ihnen herübergetragen: das Schlagen der Turmuhr, das Bellen eines Hundes.

»Wir auch!« sagt Jacob. »Vielleicht können sie uns auch hören!«

Sie legen die Hände zu einem Schalltrichter um den Mund und schreien. Sie hauen mit dem Schlagholz und trommeln mit Löffeln auf den Topf.

Es wird Abend, und nichts geschieht. Vater hat das Gesicht abgewandt. Er liegt. Klaas ist erschöpft von ihren Bemühungen, auf sich aufmerksam zu machen. Er murmelt mit geschlossenen Augen vor sich hin.

Jacob verzieht verächtlich den Mund. Beten, hoffen und warten  – warum, worauf? Wenn die Leute aus Enkhuizen uns nicht sehen und hören, wieso dann Gott? Vielleicht gibt es uns ja schon gar nicht mehr, vielleicht denken wir ja nur noch, daß wir da sind. Essen, wir müssen essen. Es ist ein guter Tag zum Fischen. An die Arbeit!

Vater und Klaas sind nicht dafür zu haben, auch nicht, als Jacob sie auf den rasch schrumpfenden Flunderstapel hinweist. Ohne Hilfe kann er das Netz nicht auslegen, und wütend muß er sich genauso dreinschicken wie sie. Trottel, Schafsköpfe.

Als wieder ein Kleiner-Finger-Tag ist, rechnet Jacob mit einer Veränderung. Diesmal ist es ein Montag, ein guter Tag für einen Neubeginn. Die Finger beider Hände sind jetzt aufgebraucht. Es kann nicht mehr lange dauern. Der Wind schwillt zum Sturm an, aus Norden, denkt Jacob. Die Eisscholle schnellt über das Wasser wie ein Schiff. Es muß einfach irgendwohin gehen, denn ein Schiff irrt ja nicht nur so herum. Es wundert ihn nicht, daß am Horizont eine Insel auftaucht.

»Ich sehe Urk«, sagt er zu seinem Bruder. »Zieh deine Holzschuhe an, wir gehen bald an Land!«

Eine Urker Fischersfrau wird sie an ihren Ofen setzen, wird Vater in ihren Bettschrank stecken, eine Decke über ihn breiten und die Türen schließen, wird mit warmem Bier und Gewürzkuchen herbeieilen, Jacob auf ihren Schoß ziehen und ihm die kalten Hände warm reiben, und er muß weinen, heiße Tränen, die nicht mehr aufhören wollen. Seine Füße sind so geschwollen, daß er nicht mehr in seine Holzschuhe kommt. Mit angehaltenem Atem harren sie auf ihre Landung.

 

Als der Sturm sie östlich an der Insel vorbeibläst, kann Jacob es nicht glauben. Es ist, als zöge ein starker Arm ihn hinter dem Ofen hervor. Als spürte er die Kälte nun zum ersten Mal richtig.

Klaas hat den Kopf geschüttelt und sich mißmutig in das kleine Segel gerollt. Jacob stößt Vater an.

»Darf ich zu Euch ins Segel? Mir ist kalt.«

Vater blickt an Jacob vorbei und antwortet nicht. Da zerrt Jacob an dem Segel, feste. Vater rollt heraus und bleibt regungslos auf dem Eis liegen. Jacob wickelt sich in die Plane und läßt sich dann rücklings auf den Schlitten fallen, zwischen die noch übrigen Flundern.

 

Die nächsten Tage verfliegen wie im Rausch. Jacob vergißt, welche Finger dran sind, und rechnet den Lauf der Gezeiten nicht mehr aus. Er bleibt ins Segel gerollt liegen, in einem Halbschlaf, aus dem er hin und wieder kurz auftaucht, wenn Regen ihm hart ins Gesicht schlägt oder er eine Bewegung von Klaas’ schwerem Körper wahrnimmt. Dreimal weckt Klaas ihn und zwingt ihn, sich aufzusetzen. »Ein Schiff!« sagt er. »Ich seh ein Schiff, guck doch!«

Jacob sieht dunkelgraue Wellen, auf denen hier und da Eisschollen treiben. Und er sieht die nackten Füße seines Bruders aus den zerfransten Socken hervorlugen. Er sieht nicht, was Klaas sieht. Zwischen den Enttäuschungen träumt Jacob, daß er seinen Vater und seinen Bruder mühsam zum Rand der Eisscholle rollt und ihnen am Ende einen letzten Schubs gibt. Eine kleine Welle schwappt über die Eisscholle, für kurze Zeit steigen Luftblasen auf, dann ist das Wasser still und schwarz.

Es ist hell. Aufstehen, sonst geht es nicht mehr. Wasser aus dem Topf trinken. Essen. Jacob rüttelt an dem Segel, in dem Klaas liegt, bis sich dort etwas regt. Klaas schlägt die Augen auf.

»Vater«, sagt Jacob. »Komm, sieh dir Vater mal an.«

Vater liegt mit ausgebreiteten Armen der Länge nach auf dem Eis. Sein Kopf ist so gedreht, daß die rechte Wange auf dem Eis ruht und der Mund seltsam schief gedrückt ist. Klaas versucht Vater hochzuheben. Es geht nicht. Und was sie auch sagen, rufen oder schreien – Vater versteht es nicht. Klaas schiebt ihm ein Fitzelchen Fischfleisch zwischen die schiefen Lippen, aber Vater spuckt es wieder aus. Er will nicht seinesgleichen essen, denkt Jacob. Vater ist zur Flunder geworden.

 

Das Wasser wogt über die Eisscholle.

»Wir sind zu schwer. Wir müssen löschen«, sagt Jacob. »Damit wir höher steigen. Oben treiben.«

Klaas’ Füße machen nicht mehr mit. Nur gut, denn er ist nicht mit Jacob einverstanden. Das Schlagholz sei ein Familienstück, ein unverzichtbares Werkzeug. Es sei ein Verbrechen, es ins Meer zu schieben. Jacob tut es, mit einem Seitenblick auf Vater. Erleichtert hebt sich die Eisscholle ein wenig.

Auf den Knien rutscht Klaas herbei und stößt Jacob ins Gesicht. Er bläst mit den gesprungenen Lippen, er spuckt und gurgelt, kann aber nichts sagen. Jacob schubst seinen Bruder um und geht die Netze holen. Und die schwerste Axt. Und die Holzschuhe, die zu klein geworden sind. Alles muß weg.

 

»Chrrff«, macht Klaas. Wohl ein Schiff, denkt Jacob. Ich hocke mit einer Flunder und einem Schwachsinnigen, der Schiffe sieht, auf einer Eisscholle. Wenn ich den Kopf hebe, ist es nicht wahr, und ich muß weinen. Ich mach es nicht.

Braune Segel. Man kann die Leinen sehen. Ein Mann in schwarzer Pluderhose läuft zum Vordeck. Er hat irgend etwas in der Hand.

Jacob sieht sich um. Eine Fahne. Etwas, das auffällt. Klaas trägt ein rotes Flanellhemd. Ausziehen! Er zerrt seinem Bruder den durchnäßten Stoff vom Körper und knotet das Hemd mit einem Ärmel am Mast fest, den er zwischen den Schlittenbrettern aufrichtet.

Jetzt auf den Topf trommeln und rufen. Sie kommen. Sie sehen uns. Mich.

Das Schiff dreht ab und wird kleiner. Ich habe kaum einen Laut herausgebracht, denkt Jacob. Und unsere Fahne ist im Nebel verschwunden. Er rollt sich in das große Segel, um zu schlafen.

 

Man könnte meinen, es ist Frühling. Die Luft riecht süß, und eine bleiche Sonne scheint warm auf sein Gesicht.

Die Eisscholle, denkt Jacob. Sie wird schmelzen. Vater liegt mit dem Gesicht halb im Wasser. Jacob brüllt ihm ins Ohr, doch er reagiert nicht. Jacob wendet sich zu Klaas um, der mit entblößtem Oberkörper auf dem Schlitten sitzt. Seine Füße sind so groß wie Kohlköpfe und dunkelrot und schwarz.

»Hilf doch mal, du Trottel!« schreit Jacob seinen Bruder an. »Vater ertrinkt!«

Die Flunder will ins Wasser. Da ist sie zu Haus. Mit wellenartigen Bewegungen des ganzen Körpers robbt Vater immer näher zum Rand der Eisscholle. Unter seinem Bauch wird ein Riß sichtbar. Jacob springt erschrocken zur Seite, zum Schlitten hin. Dann bricht die Eisscholle entzwei, und der abgebröckelte Teil gleitet mit Vater in die Tiefe. Der Eisblock taucht schaukelnd wieder auf. Vater nicht.

 

Eine Erscheinung: Hauchfein zeichnen sich Häuser gegen die untergehende Sonne ab. Eine Brücke wie ein Bogen über dem Wasser. Menschen laufen darüber hin und her. Jemand führt eine Kuh an einem Strick mit. Schokland, denkt Jacob und schläft ein.

 

Es ist Nacht gewesen. Jetzt ist wieder Tag. Ein Kleiner-Finger-Tag? Der wievielte? Klaas ist umgefallen. Ihm ist etwas aus dem Mund gelaufen. Etwas Rötliches. Es klebt in seinen Bartstoppeln. Jacob stupst ihm mit dem Stiel der noch verbliebenen Axt in die Rippen, aber Klaas tut keinen Mucks und regt und rührt sich nicht.

Essen. Die Reste von der letzten Flunder. Auf Ausguck, eine Hand über den Augen gegen die Sonne. Ein Hügel, darauf eine Kirche, ein Kloster. Ein Hafen. Schiffe. Rauch aus einem Schornstein.

Die Fischer von Vollenhove schlagen ihre Bootshaken in die brüchige Eisscholle. Ein Schlitten, eine Leiche, ein Junge. Sie tragen ihn in das Meerzimmer des Gasthauses. Dort brennt ein Feuer. Der Arzt kommt und entfernt die Fußwickel. Ein lauwarmes Bad. Saubere Kleider. Ein halber Teller Suppe.

 

Jacob liegt in dem dunklen Zimmer, wo noch die Holzscheite im Kamin glühen. Er starrt durch das Fenster auf die Sterne hinaus. Ich bin ein Held, denkt er. Ich habe die Überfahrt überlebt.

 

Ich habe den Ballast abgeworfen und konnte treiben. Lesen und schreiben. Katrien wird mich heiraten, weil ich leben und treiben kann. Ich bin auf die andere Seite gelangt und kann nie mehr zurück.

Jacob liegt im Meerzimmer unter den warmen Decken und kann nicht schlafen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Gestützt auf: Authentische Geschichte der wunderbaren Rettung von Klaas Klaassen Bording und seinen beiden Söhnen nach vierzehntägiger Irrfahrt auf Treibeis in der Zuiderzee; zugunsten der Geretteten herausgegeben von einer Kommission zu Vollenhove. Gedruckt in Zwolle von R. van Wijk, Anths. Zoon, 1849.