STEFAN ADRIAN
BLUFFEN
Ein Roman
ein mikrotext
Lektorat: Nikola Richter
ePub-Erstellung/Cover: Andrea Nienhaus
Coverfoto: Andrew Hyde / flickr.com
Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel
www.mikrotext.de – info@mikrotext.de
ISBN 978-3-944543-17-8
Alle Rechte vorbehalten.
© mikrotext 2014, Berlin
Stefan Adrian
Bluffen
Ein Roman
Der Abend der Entführung war einer dieser Tage im Herbst, an dem die untergehende Sonne breit über dem Horizont zerfloss wie ein zerschlagenes Ei. Wir saßen im Wagen und warteten. Rene hatte einen Flachmann dabei, aus dem er gelegentlich ansetzte. Ich achtete darauf, dass er nicht mehr trank als die Menge, die zur Beruhigung notwendig war. Er trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand gegen seinen Oberschenkel, und als ich ihn betrachtete, wurde mir klar, dass es kein Zufall war, dass wir beide hier saßen. Wir hatten uns an einem bestimmten Punkt unseres Lebens stets für etwas anderes entschieden oder vielmehr gegen etwas; gegen etwas, von dem wir angenommen hatten, es sei zu gewöhnlich und unter unserer Würde, auch wenn wir uns nie im Klaren darüber waren, worauf diese sich stützte. Wir waren wie von einem Schiff gefallenes Ladegut, das gemeinsam in eine Strömung gezogen worden war und nicht mehr aus ihr hinauskam, je stärker es sich ineinander verhakte.
Zwei Verweigerer mit falschen Waffen, dachte ich, zwei Männer, die an Frauen vor allem körperlich interessiert waren und mit einer Feministin eine Entführung durchführten. Aber ich sah darin keinen Widerspruch, ich sah überhaupt keine Widersprüche mehr. Wenn man die Dinge durchschaut hatte, blieb einem nur übrig, sich außerhalb dessen zu bewegen, was als legale Norm abgesteckt war, deswegen fand ich die Tatsache, an diesem Punkt angekommen zu sein, sehr logisch. Wir waren Typen, denen Streben nach Anerkennung stets als falscher Stolz und ein gesunder Selbsterhaltungstrieb stets als übertriebener Egoismus verkauft worden war. Man hatte uns moralischen Mantel um moralischen Mantel umgeworfen, mit denen wir gehen lernen sollten, obwohl wir uns kaum bewegen konnten. Auf diese Weise hatte man uns von Anfang an unserer Wut beraubt und uns gelehrt, dass sie etwas Schlechtes war, etwas, das man sich wegtrainieren musste, um es mit der Mentalität des Verstehens zu ersetzen.
Aber in diesem Moment im Bus fühlte ich mich wie ein Gefangener, der aus einem Lager ausbrach, wie ein Häftling, der der Gehirnwäsche entflohen war. Ich fühlte mich jedoch nicht als Opfer des Systems, das zurückschlug, es gab kein System, das die Bahnen lenkte wie ein Kranführer die Hebel seiner Maschine. Es gab nur eine Verkettung und Verzahnung unterschiedlicher Machtverhältnisse und Weltanschauuungen, und in diesem Gestrüpp musste man seinen Platz finden. Erst dann war man in der Lage, diesen bewusst nicht zu akzeptieren. Ich hatte mein Leben immer als Einzelschicksal wahrgenommen, selbst wenn es nicht schwierig war, sich auszumalen, wie wir in den Schlagzeilen als Beispiele einer „aus den Fugen geratenen Spaßguerilla oder einer desillusionierten Generation zwischen Facebook und HartzIV“ bezeichnet werden würden, sollte die Sache schief gehen.
Würde die Sache schief gehen, würde sich ohnehin alles in sein Gegenteil verkehren. Reporter würden in mein altes Heimatdorf fahren und Nachbarn befragen, die längst keine Ahnung mehr von mir hatten, für die ich als Person in der Zeit eingefroren war, so wie sie für mich. Wenn wir scheiterten, würden wir verurteilt und, was noch schlimmer war: Wir würden dann von dem Spiel vereinnahmt werden, das wir mit dieser Aktion bekämpfen wollten. Unsere Absicht würde auffliegen, unsere Namen würden auf Suchmaschinen im Netz ganz oben stehen, und alles wäre vergebens gewesen. Mich würde weniger eine Haftstrafe treffen oder die Tatsache, dass mein Name für immer damit in Verbindung gebracht werden würde. Mich würde treffen, dass die Sache überhaupt einen Namen bekommen würde. Sie würde dann dastehen, schön ausdefiniert und stramm gestriegelt wie ein virtuelles Rennpferd, das man bis auf die kleinste Sehne bewundern konnte. Seine digitalen Fußspuren würden sich nicht mehr rückgängig machen lassen.
Es wurde stickig im Wagen. Die Scheiben beschlugen. Ich erinnerte Rene an den Tag meiner gescheiterten Intervention beim Deutschen Fußballbund und sagte, dass der Grund, weswegen ich die Sache damals nicht durchgezogen hatte, auch der gewesen sei, dass ich zu lange alleine gewesen sei. Die stundenlangen Selbstgespräche hätten mich aus der Situation hinauskatapultiert, und ich sagte, dass ich froh war, dass er dabei war. Dann betrachteten wir uns wie an jenem Abend in der Bar am Darß und warteten darauf, dass der andere sagte, es wäre klüger, die Aktion abzublasen. Ich nahm den Flachmann und sah aus dem Fenster.
Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass wir einen prominenten Menschen entführten und ihn zwei Wochen in eine Hütte in Mecklenburg-Vorpommern sperrten, muss ich von Nine Eleven sprechen. Nicht, weil der Zweck der Entführung direkt mit dem Ereignis zu tun hätte oder der Anschlag mein Leben von heute auf morgen so umgekrempelt hätte wie das derjenigen, die direkt betroffen waren. Es war für mich wie für die meisten ein abstraktes Grauen, von dem ich wusste, dass es mich verändern und dass es Einfluss auf das Leben haben würde, einfach weil es die ganze Welt verändern würde, deren Teil ich schließlich war, und vielleicht machte mir der Schrecken überhaupt erst richtig bewusst, dass ich Teil einer Welt und nicht nur ein stiller Beobachter war, so wie man immer erst durch eine schlechte Nachricht tatsächlich in das Leben eines anderen Menschen eintauchte oder sich ernsthaft damit beschäftigte.
Der 11. September 2001 definierte vielmehr einen brauchbaren Punkt A, der diese Fallhöhe darstellte, aus der ich Jahre später bei Punkt B aufschlug, wobei Fallhöhe implizieren würde, dass ich mich fühlen würde, als wäre ich auf eine tragische Weise gefallen oder abgestürzt. Das traf nicht zu. Ich dachte nach wie vor, dass wir das Richtige getan hatten. Aber dieser Zeitraum seit dem Anschlag stellte die erste Dekade meines Lebens dar, die sich lückenlos von mir reflektieren ließ. Es war ein Zeitraum, der etwas mit mir angestellt hatte, etwas, was ich verstehen konnte oder zumindest versuchen konnte zu verstehen, da der Geist es in seiner Gesamtheit erfasst hatte, sich an jedes Jahr erinnern konnte und die Ereignisse und Erlebnisse in eine bewusste oder logische Relation zueinander setzen konnte oder sich wenigstens vormachte, es tun zu können.
Der Anschlag war ein Pflock, den ich in das Feld der Zeit rammte, um ihn als Orientierung zu benutzen. Jeder Mensch auf diesem Planeten wusste, wo er sich zu diesem Zeitpunkt befunden und was er gerade gemacht hatte, weil er sich vor allem daran erinnerte, worin er unterbrochen wurde. Ich war zu dem Zeitpunkt ein Träumer an der spanischen Küste, der sich keine Sorgen um seine Zukunft gemacht hatte, leicht möglich, dass ich zu dem Zeitpunkt, als das erste Flugzeug in den Turm flog, gerade Sex hatte. Jetzt saß ich in Berlin und hatte Angst, verhaftet zu werden. Dazwischen lag ein Morphing-Prozess meiner Persönlichkeit, der mir in manchen Momenten sehr skurril erschien, als wäre er einer anderen Person passiert, einer Version, die heimlich in mir gearbeitet hatte. Ich hatte mich nicht entscheiden können, ob es besser war, diese Version aufzuhalten oder sie zu fördern, und da ich keine Entscheidung gefällt hatte, hatte sie sich selbständig gemacht, weswegen mir das Ergebnis in anderen Momenten wiederum sehr logisch erschien.
Genaugenommen passierte der 11. September für mich erst einen Tag später. Von den sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten mochten nur ein paar Stämme im Amazonas-Gebiet später davon erfahren haben als ich, und der Grund dafür war, dass ich mich an einem abgelegenen Ort an der spanischen Südküste befand, einem Ort, den ich wieder besuchen werde, sollte das alles gut gehen. Es handelte sich um eine nur über einen spröden Bergrücken zugängliche Dorfruine in einem Naturschutzgebiet unterhalb von Albacete, im Süden des Landes. Die Fahrt dahin führte durch eine karge Steppe und endlose Weiten ohne nennenswerte Vegetation, eine staubige Einöde mit kleinwüchsigen Sträuchern, in der Autowracks neben gelegentlich auftauchenden Häusern verrosteten. Das einzige, was den Geist aus seiner Trance riss, in die er sich durch diesen Anblick begab, waren zwei riesige Figuren, wie man sie von Rummelplätzen kannte und die in einem Hof deponiert waren, der von einem löchrigen Holzzaun eingegrenzt war. Es handelte sich um einen Clown mit blauen Haaren sowie eine Giraffe, und in der Mittagssonne war ihre Erscheinung überwältigend, so dass man gar nicht erst ins Grübeln kam, wie sie in diese abgelegene Gegend gekommen waren. Sie erweckten den Eindruck, als seien sie schon ewig hier, aber vielleicht hatte ich diese Szene nur geträumt, denn ich hatte manchmal Probleme, Träume von realen Erlebnissen zu unterscheiden.
Ich war auf dieser Fahrt nicht allein. Meine Begleitung war Alejandra, eine Argentinierin aus der Nähe von Salta, einer Kleinstadt im Nordwesten des Landes nahe der bolivianischen Grenze, in deren Nähe es eine Salzwüste gab, einen magischen Ort, wie sie ihn beschrieb, am Boden so weiß wie Schnee und am Himmel so blau wie das Meer, es gäbe keinen anderen Ort wie diesen, der nur aus zwei Farben bestand, so weit man blicken konnte. Alejandra hatte dunkle Augen und gerade Augenbrauen, die aussahen, als hätte man zwei schmale Balken über ihren Augen montiert. Auch ihr Gesichtszüge waren geradlinig, eine schmale Nase, ein gerader Mund, die schnörkellos aufeinandertrafen wie ein umgedrehtes T, sie hatte eine Erscheinung, die erst durch den Rahmen ihrer langen, schwarzen Locken und den schmalen, grazilen Körper etwas Weibliches bekam.
Dieses Dorf neben San Pedro, das wir anvisierten, konnte man kaum Dorf nennen, selbst Siedlung schien übertrieben. Sein Kern waren zwei halbfertige Rohbauten, die über die Grundmauern nie hinausgekommen waren, danach hatte man aufgehört, weiter zu bauen, niemand wusste genau, warum, zumindest niemand, den wir getroffen hatten oder noch treffen sollten. Die spanische Immobilienblase kam erst später und konnte noch nicht die Ursache daran sein, und wir hörten die verschiedensten Theorien, wobei ein Fluch, vor dem die Erbauer geflohen seien, da zwei Babys nach der Geburt an diesem Ort gestorben waren, die unglaubwürdigste wie spektakulärste Erklärung war. Man erzählte sie nur jenen, die man schnell wieder loswerden wollte. Im Laufe der Zeit war der verlassene Ort von Aussteigern in Beschlag genommen worden und um viele kleine Höhlen und selbstgemachte Hütten, die in der nach hinten gelagerten Schlucht versteckt waren, ergänzt worden. Es gab keinen Strom und kein Geschäft für Lebensmittel, alles Notwendige wurde über den Bergrücken getragen oder per Schiff aus dem Ort in der Nachbarbucht transportiert.
Das alles war ein Terrain für Hippies oder Punks, die der Gesellschaft den Rücken kehrten, wenige für immer, die meisten zumindest für eine Weile, und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass ich der einzige Mensch an diesem Ort mit Haargel in der Tasche war. Zwar hatte ich teilweise noch die modische Haltung des Grunge, die mich geprägt hatte und die vor allem aus durchgetretenen Converse und einem in sich gekehrten Blick bestand, der jede Form von Aufregung als uncoole Hysterie bewertete, war aber durch das Leben in der Stadt dem modischeren Umfeld des Techno näher gekommen, und mein Haarschnitt war sukzessive kürzer geworden. Auf den ersten Blick war ich keiner Fraktion einer Subkultur zuzuordnen, im Grunde hatte ich mich nach der Auflösung unserer Band Pike, die wir nach dem Anführer aus The Wild Bunch benannt hatten, nie mehr einer bestimmten Gruppierung zugeordnet und diese Zugehörigkeit durch Erkennungsmerkmale wie ein Lastesel hinter mir hergezogen, sondern hatte mir von verschiedenen Strömungen verschiedene Anleihen genommen, die ich in einer Art Modul-System zusammen gebaut hatte, und ob mich das zu einem begnadeten Individualisten oder einem hoffungslosen Opportunisten machte, war eine Frage, die ich je nach Tagesform beantwortete.
Der wesentliche Grund für den Abstecher nach San Pedro war jedoch Alejandra. Ich hatte sie in der Bar in Albacete kennen gelernt, in der sie arbeitete, als ich bereits wieder auf dem Weg in den Norden war. Sie war ein paar Jahre älter als ich, aber das war nicht erkennbar, da wir die gleiche, melancholische Einsamkeit des Reisenden in unseren Augten trugen. Unser gemeinsamer Sprachschatz war beschränkt, da sie kaum Englisch sprach und mein Spanisch, das ich mir in den Monaten meiner Reise beigebracht hatte, bruchstückhaft war, aber wir trafen uns in einem Moment, in dem wir beide empfänglich waren für etwas, das unsere Isolation, die jeweils eine andere Ursache hatte, durchbrach. Es würde besser klingen zu sagen, wir seien auf den ersten Blick ineinander verliebt gewesen – und ich hatte die Geschichte nach meiner Rückkehr natürlich in der romantischen Version zum Besten gegeben – aber die Wahrheit war, dass wir uns nach diesen drei Tagen, die wir gemeinsam in der Bucht verbrachten, nie wieder sehen sollten. Wir dienten uns als Projektionsfläche, und das war auch nichts, wofür man sich schämen müsste, denn die Grenze, die zwischen Projektion und Gefühl verlief, war nicht notwendigerweise eine, die sich immer unterscheiden ließ, und ganz bestimmt hatte der Versuch ihrer Festlegung – oder ihrer Unterscheidung – in meinem Leben immer eine dominierende Rolle eingenommen.
Alejandra war ein Mensch, der gerne lachte, auch wenn sie ihre Heiterkeit blitzartig fallen lassen konnte, als hätte sie ein auf der Straße herumliegendes Objekt aufgehoben, bloß um enttäuscht festzustellen, dass es doch nicht das von ihr Gesuchte war. Ich dachte, das lag an ihrem Heimweh, das verstärkt wurde durch den Umstand, dass sie ausgebeutet wurde wie ein Minenarbeiter. Sie arbeitete jeden Abend in der Bar und suchte nach etwas oder jemanden, der sie ablenkte von dieser dumpfen, gespenstischen Kleinstadt, aus der sie Woche für Woche kleine Beträge nach Hause zu ihrer Familie schickte, die unter der argentinischen Wirtschaftskrise litt.
Albacete war keine Stadt, die einen mit dem Verlangen erfüllte, sie zu erkundschaften. Die Menschen waren grob, man hörte ständig Schreie aus der Dunkelheit, ohne jemanden zu sehen, und am ersten Abend, an dem ich in die Stadt gekommen war, hatte mir eine Unbekannte vor die Schuhe gekotzt. Zusätzlich stand Alejandra in einem seltsamen Verhältnis, das ich nicht verstand und das sie mir aufgrund unserer eingeschränkten Kommunikation nicht erklären konnte – auch wenn ich bezweifelte, dass sie es getan hätte, wenn sie es gekonnt hätte – zu ihrem Arbeitgeber, einem fülligen Spanier mit halblangen Haaren und einem Bart, der seinen Mund in Form eines dunklen Ovals umschloss, in das man einen schmalen Strich gezeichnet hatte, der sich kaum bewegte, auch wenn er sprach, was dein Eindruck einer Niederträchtigkeit verstärkte.
Ich fühlte mich nach Monaten in meinem Bus ausgezehrt – mein treuer Weggefährte, der einzige, der mich aus diesen Jahren bis zu meiner Entführung begleiten sollte. Es war ein VW Baujahr 1989, den ich günstig gekauft und mit Hilfe eines Nachbarn meiner Eltern in ein Wohnmobil umgebaut hatte. Ich war damit durch Italien, Slowenien, Frankreich und Spanien gefahren, und ich hatte mich daran gewohnt, wochenlang auf dem im Ladebereich montierten Bett zu schlafen und mir morgens Wasser aus einer Plastikflasche über den Kopf zu schüttten. Es war nicht der mangelnde Luxus, der mich störte. Aber allmählich wich die Neugier auf das Unbekannte der Sehnsucht nach Vertrautem. Ich hatte Heimweh, gleichzeitig verspürte ich Lust auf ein letztes Abenteuer. Alejandra hatte von diesem Ort an der Küste gehört, und es gelang ihr tatsächlich, drei Tage frei zu bekommen, indem sie den Tod einer entfernt verwandten Tante vortäuschte. Sie schrieb mir auf, wo ich morgens auf sie warten sollte, in der Nähe eines Parks, an dem Breakdancer abends Showeinlagen tanzten, gestrecktes Dope aus Marokko verkaufte wurde und Touristen mit Eis in den Händen vorbei schlenderten. Sie kletterte in den Bus und versteckte sich im Inneren, bis wir die Stadtgrenze erreicht hatten. Dann hüpfte sie nach vorne auf den Beifahrersitz, kurbelte das Fenster nach unten und packte ihre Beine auf die Armaturen. Sie stöberte durch meine CDs und steckte mal die eine, mal die andere hinein, während ich erklärte, worum es sich dabei handelte. Sie mochte vor allem die Indie-Sachen, die ich dabei hatte. Meine Elektro- und House-Mixe, teilweise selbst von mir geschnitten, warf sie nach relativ kurzer Zeit wieder in die Lade.
So erreichten wir San Pedro, das Fischerdörfchen, das sich eine Bucht weiter südlich von unserem Zielort befand, am späten Nachmittag des 10. Septembers 2001. Die Zeit der Siesta, die im andalusischen Süden eingehalten wurde, war vorbei, die Bewohner des Dorfes schlichen aus ihren Häusern wie verschlafene Camper aus ihren Zelten. Wir mussten uns beeilen, um auf dem Fußmarsch nicht in die Dämmerung zu geraten, was den ansonsten harmlosen Weg gefährlich machen konnte. Wir kauften Wasser in einem kleinen, bunten Laden am Hafen, dessen Wände so dick wie hoch waren und der aussah wie ein großer Zauberwürfel, und banden die Plastikflaschen an meinen Rucksack. Alejandra trug einen Strohhut und sprang in kindischem Übermut ein paar Schritte vor mir her, und während ich sie beobachtete, spürte ich diesen Kitzel vor dem Ungewissen, der mir in den letzten Tagen meiner Reise abhanden gekommen war, ein Gefühl der Neugier und des Übermuts, das ich immer gesucht hatte, als wäre seine Konservierung eine Prüfung, eine, die mit dem Fortlauf der Zeit immer schwieriger wurde, da man geneigter war zu glauben, dass einem das Schicksal oder das Leben immer mehr Stöcke zwischen die Beine warf. Was ein Irrglaube war. Die Stöcke waren immer da gewesen, man hatte sie nur nicht bemerkt oder war ihnen intuitiv ausgewichen. Man bemerkte sie erst, wenn man nicht mehr geschickt und wendig genug war, ihnen auszuweichen.
Der Weg in die Siedlung begann nördlich hinter dem letzten Haus des Dorfes als eine breite, aber unbefahrbare Straße voller Geröll und riesiger Felsbrocken, die zu Beginn stark anstieg, um sich später in einen schmalen Wanderweg nach Osten zu verwandeln und sich am Ende in einen schmalen Pfad etwa dreißig Meter über dem Meeresspiegel entlang der Küste zu verengen. Zu Beginn sahen wir aufgetürmte Steinhügel entlang der Route und fragten uns, ob sie als freundliche Wegweiser zu verstehen waren oder als abschreckende Warnsignale dienten wie die Figuren im Film Planet der Affen. Als der Weg wieder breiter wurde und in die Schlucht hinabführte, standen wir plötzlich neben einer Höhle oder einem schattigen Verschlag, ohne dass wir es bemerkt hatten, und sahen in überraschte Augen. Manche nickten gelassen und widmeten sich weiter dem, was sie gerade machten, was hauptsächlich dösen, musizieren oder das Drehen eines Joints war, andere blickten erschrocken hoch wie Neandertaler, die von ihrem Feuer aufgescheut worden waren. Dann nickten sie uns ebenfalls zu.
Wir suchten einen geeigneten Platz, aber da alles belegt schien, wurden wir immer weiter nach hinten in die Schlucht gedrängt. Die Sicht wurde aufgrund der Abenddämmerung allmählich schlecht. Wir dachten bereits, über die bewohnbaren Ecken der Schlucht hinausgestiegen zu sein, als wir sehr weit hinten ein kleines Plateau fanden, auf dem ein einfacher Steinkreis aufgebaut war, der einen Durchmesser von etwa zwei Metern hatte. Wir waren nach dem Marsch müde und genügsam, es dunkelte bereits, und wir beschlossen, die Suche nach einer Höhle bleiben zu lassen. Der Kreis war einen Meter hoch und bot genügend Sichtschutz, er sah aus wie ein okkultes Überbleibsel aus einer Zeit, in der seine Erbauer vor seiner Fertigstellung geflohen waren, und ich malte mir aus, dass wir bei einem heftigen Regenschauer innerhalb von Minuten in einem Whirlpool sitzen würden.
Aber damit war nicht zu rechnen. Man musste vielmehr darauf achten, seine Zigarette totzutreten wie den Kopf einer giftigen Schlange. Die Gegend war staubtrocken und leicht entflammbar, zumindest das wenige, das nicht aus Stein und Felsen bestand. Neben unserem Steinring befand sich ein dürrer, skelettartiger Baum, an dem wir die Vorräte befestigten, damit sie keinen Attacken streunender Tiere zum Opfer fielen; ein Einfall, auf den ich überaus stolz waren. Wir verstauten unsere Sachen und genossen den Zufall, der uns hierher gebracht hatte, aber mir wurde erst später klar, was meine Faszination für den Ort ausgemacht hatte: Er symbolisierte das Gegenteil von dem, was ich gewohnt war, von Rationalität, von Vernunft, vom Diktat des Planungszwangs. Die Sonne kletterte im Osten über den Bergrücken, der zur Mitte hin anstieg, was ihm die Form eines Kamelhöckers gab, und der Schatten, der langsam über die Bergkette kroch, wenn die Sonne abends auf der anderen Seite verschwand, bemalte die Felsen und Steine wie mit schwarzer Tinte. Tagsüber lagen wir am Strand, und ich dachte daran, was mir das Leben nach meiner Rückkehr bieten würde, auch wenn ich keine Vorstellung hatte, was es sein konnte. Vielleicht würde ich wieder in der Agentur arbeiten, vielleicht würde ich mehr Musik auflegen, vielleicht würde ich mich an der Kunstschule bewerben. Ich wusste nicht, was es sein würde, aber ich zweifelte nicht daran, dass es das Richtige sein würde.
Nachts lagen wir auf den Blättern eines Strauches, der unter einem Felsvorsprung wuchs und an dessen Stielen mein Leatherman fast gescheitert wäre. Wenn wir die Kerzen anzündeten, die wir mitgenommen hatten, drückte mich Alejandra sanft nach unten, während ich sie küsste und masturbierte. Dann rutschte sie nach unten und lutschte meinen Schwanz, und zu Beginn war der Sex verkrampft, da wir keinen Gummi verwendeten, ich wurde nicht hart, misstraute ihr und hatte ständig ein Auge auf die fremde Umgebung gerichtet, denn auch wenn es an diesem Ort kein Anzeichen von Aggression gab, stellte ich mir ständig vor, wie zwei Punks um die Ecke getorkelt kamen. Aber nach einer Zeit verdrängte ich das Misstrauen, und Alejandra gab mir zu verstehen, wie ich ihren Bewegungen gehorchen sollte. Ich spürte das Kitzeln ihrer Haarspitzen auf meiner Brust und hörte ihr Stöhnen, und wenn sie sich mit ihren Armen auf den Rand des Steinkreises stützte, wollte sie, dass ich ihr eine Hand sanft auf die Hüfte legte, während ich mit der anderen ihren Kopf an den Haaren nach hinten zog, zu Beginn leicht, dann immer stärker. Sie war die erste Frau, die mir auf eine souveräne Art zeigte, dass ihr das gefiel. Vor allem aber wurde mir in diesen Augenblicken klar, dass die weibliche Lust mehr zum Sex beitragen musste, als nur die Beine breit zu machen. Sie musste agieren, nicht nur reagieren, zumindest war ich ein Typ, dem zweiteres nicht reichte. Vielleicht wäre es die Aufgabe von Lydia Messetler gewesen, der Nachbarin, der ich als Teenager den Rasen gemäht hatte, mir zu dieser Erkenntnis zu verhelfen, denn es war nicht ihr roter Rasenmäher, der die stärksten Vibrationen in mir auslöste. Aber erst in den Nächten mit Alejandra wurde mir klar, dass ich bisher Sex gehabt, aber mit niemanden wirklich geschlafen hatte. Es gibt diese Quantensprünge, wenn man auf Menschen trifft, mit denen man wirklich harmoniert, und Alejandra lehrte mich zu vergessen, was ich bisher als meine männliche Rolle angesehen hatte: Dass man stets zum Vögeln in der Lage sein musste. Frauen wussten in der Regel weniger vom männlichen Körper, als sie vorgaben, und zogen am Schwanz wie an einem Euter, den sie melken wollten. Es war in Ordnung, wenn mich das nicht anmachte. Ich lernte von Alejandra diese Geduld in der Symbiose zweier Körper, zweier Entitäten, die sich aufeinander abstimmen mussten. Ich hörte auf die fremden Geräusche der Nacht, betrachtete die Sterne und überlegte, dass, wenn ich noch irgendeinen Zweifel gehabt hatte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, es Nächte wie diese waren, die sie endgültig vertrieben. Ich hatte Filmkritiken für eine Agentur verfasst, die Content für Banken, Handy-Anbieter oder Versicherungen bereitstellte, für Firmen, die zur Jahrtausendwende ins Netz geströmt waren, um mit Online-Magazinen ihre Kundenbindung zu intensivieren. Es war wenig Arbeit für viel Geld, das mir als Studienabbrecher ein gutes Leben ermöglicht hatte, und da ich gekündigt hatte, als ein Platzen der ersten Dotcom-Blase nur in kleinen Kreisen ernst genommen wurde, um dann von der Krise nach Nine Eleven beschleunigt zu werden, hätte ich mich für meine Entscheidung als Mensch mit Weitsicht präsentieren können. Aber in Wahrheit war ich nur vor der Produktion von heißer Luft geflohen, vor der Fertigung von Worthülsen. Das Geld, das ich dafür bekam, konnte ich nur für einen gewissen Zeitraum ertragen. Diese Haltung war mein Segen, aber auch ein Fluch, denn ich gab mir auch stets die Schuld an meiner späteren, kontinuierlichen Verarmung, selbst wenn deren Entwicklung in einem seltsamen Gleichschritt mit einer anderen, noch heftigeren Weltwirtschaftskrise einher ging.
Als ich auf dieser Reise war, hatte das Internet begonnen, sich zurückzuziehen wie das Meer vor einem Tsunami, um Jahre später als Monsterwelle zurückzuschlagen und eine Panik in den Medienbetrieben zu entfachen, die auf der Suche nach einem medialen Vorsprung nicht wussten, in welche Richtung sie laufen sollten, weswegen sie in alle gleichzeitig liefen, was nicht zuletzt eine Mischung aus Goldgräberstimmung und Grabesgesang zur Folge hatte, die das perfekte Biotop für den Schwindel mit unserem Blog und der Entführung werden sollte.
Das war also Punkt A. Das war der Ausgangspunkt, an dem ich mir vieles vorstellen konnte, aber bestimmt nicht das, was tatsächlich kommen sollte. Ich war Anfang zwanzig und wusste noch nicht einmal, dass ich wenige Monate nach meiner Rückkehr sofort wieder die Zelte abbrechen würde. Die Welt war eben schöner und friedlicher, wenn man sie nicht verstand. Wenn man sie verstand, wurde sie meistens unruhig, und nichts ließ darauf schließen, dass sie sich in diesem Moment gewaltig zu ändern begann. So ruhig, wie die Wellen gegen die spanische Bucht schwappten, aus der der Duft von Kohle und gegrilltem Fleisch zu unserem Plateau hochstieg, hätten wir nicht bemerkt, wenn ganz Europa explodiert wäre. Es waren Bilder der Erinnerung, gegen die ich mich nicht wehren konnte, wenn ich heute die Augen schloss, und es waren Bilder, gegen die ich mich auch nicht wehren wollte. So wie damals in Südspanien stand ich heute mit dem Rhythmus der Sonne auf und ging mit dem Rhythmus des Mondes schlafen, nur mit dem Unterschied, dass es heute die Angst war, die mich auf den Beinen hielt. Aber wenn ich die Augen schloss, hörte ich manchmal die Melodie eines Liedes von Manu Chao, der in dieser Schlucht hoch im Kurs gestanden hatte. Ich hatte den Geruch von Alejandra vergessen, aber ich konnte noch die Leichtigkeit und den Optimismus nachempfinden, mit dem ich damals eingeschlafen war, und wenn ich die Augen wieder öffnete, war es seltsam, nicht den Himmel über mir zu sehen.
Nach zwei Tagen, die wir abwechselnd damit verbrachten, am Strand zu liegen oder mit meinem Gaskocher in unserem Steinkreis zu kochen, machten wir uns auf den Weg zurück. Wir hatten die Mittagssonne vermeiden wollen, waren aber zu spät aufgebrochen, da wir unseren Schlafplatz noch gesäubert und gehofft hatten, einer Katze, der wir den Namen Victor verpasst hatten, ein Stück Wurst hinterlassen zu können. Wir erreichten San Pedro nach zwei Stunden Marsch in der prallen Mittagssonne, und uns war klar, dass unser gemeinsamer Weg zu Ende ging. Je näher wir den Häusern gekommen waren, desto schweigsamer waren wir geklettert, und das nicht wegen der körperlichen Anstrengung. Es wartete nur noch eine gemeinsame Fahrt auf uns, der Weg zurück nach Albacete. Alejandra musste zurück in ihr Leben in der Bar, auf mich wartete die Fahrt in den Norden, eine Vorstellung, die mir nicht unbedingt gefiel, mich aber auch nicht deprimierte. Meine Ersparnisse waren aufgebraucht, mir fehlte, dass ich seit Monaten kein Gespräch in meiner Sprache geführte hatte und ich fand die Subkultur und die Clubs des Südens rückständig. Wir gingen in eine Kneipe am Hafen, um Tapas zu essen, und während ich an die kalte Cola dachte, die ich bestellt hatte, betrachtete ich durch Alejandras ärmelloses T-Shirt die Stelle, wo sich der Stoff des Bikinis über ihre Brüste spannte, bis sie mich mit dem Ellenbogen in die Seite stieß und mir zu verstehen gab, ihrem Blick zu folgen.
Ich sah auf den TV-Schirm, der über der Eingangstür angebracht war, und betrachtete die Bilder, unter denen Wörter vorbei liefen. Wir betrachteten die Aufnahmen der brennenden Türme von allen Perspektiven und Stadien der Zerstörung, während der Wirt den Tapasteller auf den Tisch stellte, auf die Bilder zeigte und mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn tippte. Auf eine seltsame Weise hielt uns die Neuigkeit an, schneller aufzubrechen, als ob wir etwas nachholen mussten oder als ob wir uns versichern mussten, dass alle, die wir kannten, wohlauf waren. Ich schaltete das Handy ein, das in der Bucht keinen Empfang gehabt hatte, und die SMS-Mitteilungen läuteten im Sekundentakt.
Es gab eine entscheidende Sache, die mich dazu gebracht hatte, die Entführung wirklich anzugehen: Ich hatte in meinem Leben immer das Gefühl, oder vielmehr diese fürchterliche Ahnung, dass ich die Sachen nur gekratzt hatte. Ich lebte in der ständigen Befürchtung, dass alles, was ich in meinem Leben gemacht hatte, mir nie so nahe gegangen war, wie ich es gerne gehabt hätte – die Euphorie, der Schmerz, die Freuden, die Depressionen; ich hatte immer das Gefühl, als wären sie nicht das, was sie hätten sein müssen, als hätten sie immer stärker sein können. Auch diese Tage in San Pedro waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme gewesen. Und mir war klar geworden, was die Ursache dessen war: Meine Gefühle waren eine Imitation, oder vielmehr eine Karikatur, und der Grund dafür wiederum war, dass alles, was ich in meinem Leben gemacht hatte, sich stets angefühlt hatte, als würde ich es imitieren. Ich war die Karikatur eines DJ gewesen, später die Karikatur eines Anzeigenverkäufers, noch später die Karikatur eines Streetartists oder eines Culture Jammers; ja am Ende selbst die Karikatur eines Botenfahrers.
Aber die Entführung und die Ziele, die wir damit verfolgten, waren keine Karikatur. All das war originär und es war meines. Ich war in meinem Leben auch oft einen Schritt zu spät dran gewesen, obwohl ich angenommen hatte, zu den ersten zu gehören. Aber mit diesem Scoop sollte mir das nicht passieren. Er war meine Idee, er war meine Antwort auf diese marode Welt, und ich war bereit, meinen Preis zu zahlen.
Schlimmer als diese Tage des Wartens auf die Videos konnte sich auch ein Gefängnis nicht anfühlen. Ich schlief nicht, mein Puls hatte sich nicht mehr beruhigt, seit Rene und ich uns die Mützen übergezogen hatten und aus dem Bus gestiegen waren. Die abstrakte Bedrohung einer Verhaftung drohte, mir den Verstand zu rauben. Ich grübelte ständig, ob wir etwas übersehen hatten; beispielsweise meine Festnahme, als ich nach einem Adbusting-Aktion für einige Stunden auf einem Polizeiposten gesessen hatte. Man hatte meine Daten aufgenommen und mein Gesicht ins System gespeist, und der öffentliche Raum war voll von Kameras. Vielleicht konnte auch jemand die Spur des Tasers im Internet zurück verfolgen, den ich damals im Treptower Park an mir versucht hatte; man musste auch Unwägbarkeiten einkalkulieren, wie jene, dass Renes Vater nach Jahren wieder die Lust überkam, seine alte Hütte in Mecklenburg aufzusuchen. Und natürlich war Rene selbst ein Risiko da draußen, aber ein geringeres, als er hier wäre. Er würde sich hier in der Stadt in den Wahnsinn trinken und dem Druck nicht standhalten. Aber da draußen konnte es dank Liz funktioneren. Renes’ Unfähigkeit, alleine sein zu können, hatte sich über die Jahre nicht gebessert, aber Liz war ein Felsen, und was auch immer die beiden in der Hütte tun mussten, um bei Verstand zu bleiben, war mir gleichgültig, solange nur die Videos gedreht wurden.
Morgen sollten der erste USB-Stick bei mir eintreffen. Fünfzehn Jahre, nachdem ich in die Stadt gekommen war – ein Moment, an den ich mich noch gut erinnerte, denn wie die meisten Menschen mit einem Hang zum Melancholischen oder vielmehr Melodramatischen, behielt ich mir Momente, aber kaum Zahlen und Fakten. Ich erinnerte mich, dass ich am Morgen der Entführung nach dem Aufwachen einer Fliege zusah, die über meinen linken Unterarm krabbelte. Ich erinnerte mich an das Gefühl der Euphorie, mit dem ich Berlin erreichte, aber ich erinnerte mich nicht an das Datum, obwohl es eines sein müsste, das ich mir hätte merken sollen, da es eine einschneidende Markierung in meinem Leben darstellte.
Es war irgendwann im April 2002, es war ein milder Frühlingsabend. Die Dämmerung hatte eingesetzt, als ich die Stadtgrenze erreichte und auf den Autobahntafeln zum ersten Mal das Wort „Zentrum“ zu lesen war, was eine besondere Wirkung auf mich hatte, denn „Zentrum“, das klang gut, das klang verheißungsvoll, das zog mich an. Der Horizont war ein breites Orange, das auf dem vergehenden Tag lag wie eine glühende Decke, als ich von Süden die A9 aus Leipzig hochkam und nach der Abfahrt meinen Bus auf den Großen Stern und die hohe Säule des Friedensengels zusteuerte. Die Silhouette der Statue zeichnete sich dunkel im Gegenlicht der Sonne ab, als hätte die Figur das Gold ihrer Flügel gegen ein tiefes Schwarz eingetauscht, was dem Anblick etwas Entrücktes gab, als würde ich in das Cover eines Rammstein-Albums gezogen.
Ich erinnerte mich in diesem Augenblick an meinen einzigen Besuch an diesem Ort, als wir zu einer der ersten Love Parades gefahren waren. Wir waren damals nicht so weit vorgedrungen, da Benz sein Ecstasy mit Schmerztabletten gemischt hatte, die er seinem Vater gestohlen hatte, so dass er anfing, unkontrollierbar auf- und abzuspringen. Er hatte sinnloses Zeug von sich gegeben, was uns zuerst nicht ungewöhnlich erschienen war, da alberne Selbstdarstellung seine Art war, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber irgendwann hatten wir verstanden, dass sein skurriles Verhalten selbst für den Zustand, in dem er sich befand, bedenklich war. Wir hatten ihn aus dem Trubel der Masse geführt und am Rande im Schatten der Bäume solange Wasser trinken lassen, bis er sich gefangen hatte. Wenn man seine spätere Geschichte verfolgte, war es jedoch fraglich, ob es je wirklich dazu gekommen war.
Meine Erinnerungen an diesen Tag waren verblasst und bestanden hauptsächlich aus Warteschlangen vor schäbigen Häuserfassaden wie dem Tresor in der Leipziger Straße, völlig überrascht, dass es diese Form von Baufälligkeit mitten in Deutschland geben konnte. Die abendliche Ruhe aber stand der Siegessäule sichtlich besser, und ich sollte diesen Ort nur noch einmal so eingehend betrachten wie in jenem Moment, als ich darauf zufuhr, und zwar während der Rede von Barack Obama im Sommer 2008, als mich die Stadt, die sich hinter dieser Statue ausbreitete, längst mit Haut und Haaren gefressen hatte. Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass man sein Leben falsch gelebt hatte, wenn man es nicht in Berlin probiert hatte, ich würde aber auch nicht dagegen wetten, dass ich nach drei oder vier Old Fashioned das Gegenteil unterschreiben würde, und zwar mit Blut.
Wie jede ereignisreiche und spezielle Liaison basierte auch diese nicht auf Harmonie. Diese Stadt war wie eine Sirene, die einem die Zeit als Ewigkeit verkaufte, während sie Fallgruben aushob. Sie bot eine geistige Heimat in einem speziellen Lebensgefühl für verschiedenste Gesinnungen und produzierte eine Unmenge an Parallelwelten, und man durfte nicht den Fehler machen, ihren wahren Kern entdecken zu wollen. Ich hatte diesen Fehler gemacht, und wahrscheinlich waren die Dinge deswegen gekommen, wie sie gekommen waren. In Wahrheit wendete sich diese Stadt am Ende ab wie eine Prostituierte von der Hochnäsigkeit ihrer Freier. Sie enttarnte ihre Selbstherrlichkeit und ließ sie ins Leere laufen, denn sie mochte nicht geliebt oder verstanden werden. Deswegen konnte eine Liebeserklärung an diese Stadt nur eine Abrechnung sein. Erst dann war sie zufrieden.