ALEXANDRA KUI

Blaufeuer

ROMAN

 

 

 

| Hoffmann und Campe |

1. Auflage 2008
Copyright © 2008
by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
www.hoca.de

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

ISBN 978-3-455-40185-1

 

Prolog

Nichts ist ohne Glanz am Ende des Tages, wenn das Meer die Sonne verschlingt. Was im gleißenden Licht des Tages abstoßend war – die skrupellos geröstete Haut der Touristen, die verbleichenden Fassaden der Hotels, die Armada der Strandkörbe und sogar die schaufenstergroßen Verbotsschilder der Kurverwaltung, die jedes aufkommende Gefühl von Grenzenlosigkeit verhöhnen –, all das verliert sich in einem sanften Schimmer aus Pastelltönen. Täglich staunten wir über die Schönheit des Sonnenuntergangs an heißen Sommertagen, da unterschieden wir uns nicht von den Feriengästen. Wir liebten die Schlieren von Rosa am Himmel, die sich in den feuchten Wattflächen spiegelten, das mattsilberne Blau der Nordsee und das flirrende Aufeinandertreffen von Feuer und Wasser am Horizont. An vielen Orten werden in der Dämmerung die Konturen schärfer, an der Elbmündung bei Ebbe lassen sie nach.

Hast du einen Blick dafür gehabt, als du an jenem Abend ins Watt gefahren bist – wie unzählige Male zuvor? Oder hattest du nur dein Vorhaben im Kopf, das Leuchtmittel an einer der Bojen auszutauschen, die das Versuchsgelände der Austernzucht markierten? Hat die Sonne geschienen? Mit Sicherheit hat sie, dieser Sommer gönnt sich kein frühes Ende, weshalb er schon zum Vorboten des nahenden Weltuntergangs ausgerufen wurde – keine schlechte Prognose, zumindest was die Familie betrifft. Aber das konntest du zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich sehe dich in dem alten Jeep über den mit Sand durchsetzten Schlick rumpeln, du bist schnell unterwegs, das warme Wasser in den Prielen spritzt, Tropfen schlagen dir ins Gesicht, aber das stört dich nicht. Der Weg ist weit.

Es kostet mich Kraft, aber keine Mühe, dich vor mir zu sehen. Vielmehr ist es unmöglich, mich abzuwenden, nicht hinzusehen, wie du eine Vollbremsung machst, aus dem Auto springst und dir die Schlammspritzer von der Stirn reibst. Dein sandblondes Haar könnte mal wieder einen Schnitt vertragen, aber das ist dir nicht wichtig. Du hast diese nachlässige Art, unwiderstehlich auszusehen, die sich die Markenjeansträger in den Großstädten so gern aneignen würden, was ihnen mangels Nachlässigkeit nie gelingen wird.

Ich schweife ab. Du bist also ausgestiegen, stapfst barfuß durch das blausilbern schimmernde Watt auf das künstlich angelegte Riff aus Tonziegeln zu, auf dem die Austern ums Überleben kämpfen. Mit konzentriertem Blick pflückst du eine ab und überprüfst ihren Wuchs. Das Licht der untergehenden Sonne lässt dich die Augen zusammenkneifen. Was du siehst, überzeugt dich nicht. Niemand hielt etwas von Paul Fleckers Vorhaben, den Reichtum der Familie durch Austernzucht zu mehren. »Bootsbauer sind doch keine Muschelzüchter«, hast du gesagt. Aber noch ist der Vater derjenige, der die Entscheidungen trifft, und du akzeptierst seinen Führungsanspruch aus Liebe und aus Respekt vor seinem erstaunlichen Lebenswerk.

Ich habe mich schon wieder ablenken lassen.

Du brauchst kaum Werkzeug, um das Leuchtmittel – genauer gesagt, den Akku – zu erneuern, der das Blinklicht in der Boje mit Strom versorgt. Nur einen Spezialschlüssel zum Öffnen der Inspektionsluke. Und kräftige Finger.

Der Bewegungsablauf ist Routine, die einzelnen Handgriffe erfordern wenig Aufmerksamkeit, was dir die Möglichkeit gibt, dich dem Sonnenuntergang zuzuwenden – für ein paar gestohlene Sekunden.

Hast du an die Sommerabende deiner Kindheit gedacht? Vielleicht hast du dich daran erinnert, wie du dir am Zeitungskiosk wässriges Erdbeereis am Stiel gekauft und dich damit auf die kniehohe Mauer am Strand gesetzt hast. Das Eiswasser tropfte auf deine braungebrannten Beine und hinterließ giftrote Flecken im warmen Sand.

»Blutspur«, hast du gewitzelt.

Das fand niemand komisch.

Als deine Hand in der Inspektionsluke verschwunden ist, stoßen deine Finger gegen einen Widerstand, der früher nicht da war, und in der gleichen Sekunde spürst du einen Schmerz wie nach einem Biss oder einem Stich, nur viel heftiger. Du denkst an die messerscharfen Scheren eines Krebses. Was sollte es sonst sein, dort draußen im Watt?

Der Schmerz fährt durch die Glieder, dir bricht der Schweiß aus, aber als du nachsehen willst, was passiert ist, stellst du fest, dass deine Hand gefangen ist. Sie lässt sich keinen Millimeter weit bewegen, nicht vor und nicht zurück. Du bist verwirrt, musst womöglich sogar lachen. Die Inspektionsluke ist zu eng, um die zweite Hand zur Hilfe zu nehmen.

In deinen Gedanken taucht das Bild einer rostigen Falle auf, einer Fuchsfalle, wie ihr sie auf dem Gelände des Ferienhauses in Schweden benutzt. Plötzlich glaubst du, dich an ein schnappendes Geräusch zu erinnern, als wäre eine gespannte Feder zusammengeschnellt, Metall auf Metall geschlagen. Und dieser Eindruck fügt sich mit der Intensität des Schmerzes in deiner gefangenen Hand zu einem furchtbaren Verdacht zusammen: Jemand hat es auf dich abgesehen, spielt ein perfides Spiel mit dir. Denn wie sollte eine Fuchsfalle versehentlich oder gar zufällig in eine Boje geraten? Es muss sehr mühselig gewesen sein, sie dort zu verstecken. Hast du zu diesem Zeitpunkt noch an einen üblen Streich geglaubt, oder wusstest du schon, dass es um Leben und Tod geht? Sicher ist dir der Begriff Mord nicht in den Sinn gekommen. Denn wer könnte dich so sehr hassen? Ausgerechnet dich – den bescheidensten und liebenswürdigsten Sohn, den die Familie Flecker seit Generationen großgezogen hat.

Du willst es nicht wahrhaben, tastest mit den Fingern der verletzten Hand das Innere der Boje ab und fühlst einen Metallrahmen. Außerdem spürst du Blut. Der Schmerz ist dumpfer und somit erträglicher geworden. Ein Gefühl von Taubheit lässt die Finger erlahmen. Allmählich wird dir bewusst, dass du Hilfe brauchen wirst. Du greifst in die Tasche deiner Arbeitshose, willst das Handy hervorholen, aber da ist es nicht. Du hast es mal wieder auf dem Beifahrersitz liegen lassen. Wut, Angst und Schmerz bringen dich kurzfristig um den Verstand, und du schreist einfach los, schreist, so laut du kannst.

Ich bin mir ganz sicher, dass du geschrien hast.

Ich kann es hören, weißt du. Oft gehe ich ins Watt, wo deine Schreie sind. Irgendwann wirst du dich zusammengerissen haben. Du wirst nachgedacht haben, was du tun kannst, um dich zu befreien.

Da stehst du also im warmen Wind. Du siehst dich um. In weiter Ferne, außer Rufweite, sind Menschen im Watt unterwegs, die du nur schemenhaft erkennen kannst: Wanderer auf dem Rückweg von der Insel Neuwerk. Die Flut kommt. Und spätestens jetzt wird dir bewusst, wie groß die Gefahr wirklich ist. Du bemerkst, dass die Boje so am Meeresgrund befestigt wurde, dass sie unmöglich mit dem Wasser aufsteigen kann. Damit ist auch klar, worum es geht: Draufgehen sollst du. Verbluten oder ersaufen, egal, Hauptsache langsam.

Nun ist deine Wut größer als die Angst, sie übertrifft auch den Schmerz. Du wirst nicht kampflos krepieren. Jemand wie du gibt sich nicht auf. Du versuchst, die Falle zu kanten, aber jetzt, wo dein Arm darin gefangen ist, ist die Inspektionsluke eindeutig zu eng. Der Teufel flüstert dir einen Plan ins Ohr, den du nach kurzer Überlegung für den einzigen Ausweg hältst, und du zögerst nicht, ihn umzusetzen.

»Manche Dinge muss man schnell erledigen, oder man wird es nie tun.« Diesen Satz, Originalton Paul Flecker, hast du gern zitiert.

Leider ist es unmöglich, sich mit einem gewöhnlichen Taschenmesser schnell den Unterarm zu durchtrennen. Es liegt nicht an dir, du gibst wahrlich alles, schonst dich nicht, wirst ohnmächtig und kommst wieder zu dir, versuchst es weiter. Das Wasser steigt, dein Blut rinnt und färbt die See rosarot. Wie der Himmel. Die Sonne ist untergegangen, aber noch umgibt Licht deinen Kampf. Pastellfarben. Dein Sterben – weich gezeichnet.

Du hast bis zum Schluss gekämpft. Stundenlang. Sie haben Wasser in deiner Lunge gefunden, was bedeutet, dass du ertrunken bist. Keiner von uns, die wir damit weiterleben müssen, wird jemals darüber hinwegkommen. Schon deshalb nicht, weil wir nun die ganze Wahrheit kennen.

Nichts ist ohne Glanz, wenn das Meer die Sonne verschlingt. Und der Tod?

Meersalz

JANNE

Daran, wie er ihren Namen sagt, erkennt Janne, dass es ihm ernst ist. Viel zu ernst für ihren Geschmack, und sie beeilt sich mit dem Milchkaffee, um dem gemeinsamen Tag im sommerheißen Berlin ein schnelles Ende bereiten zu können. Zu viel Zucker. Beim Trinken sieht sie auf die Uhr, was ihm nicht entgeht.

»Was ist los?«, fragt er. Er gibt sich ungezwungen, aber Janne registriert einen weinerlichen Unterton in seiner Stimme. »Nichts ist los. Aber ich will gleich heim.« »Kann ich mitkommen?« »Nein, besser nicht«, sagt sie.

Er zögert den Augenblick des Abschieds hinaus, indem er seinen Erdbeerkuchen mit der Gabel in dermaßen winzige Stücke zerteilt, dass Janne ihn lachend fragt, ob mit seinen Zähnen alles in Ordnung sei.

»Als Teenager hatte ich eine feste Spange«, sagt er.

»Also bis vor kurzem«, entgegnet Janne, und er verzieht das Gesicht.

»Das ist es also. Du findest, ich bin zu jung für dich.«

Janne lächelt und schweigt. Soll er doch glauben, ihre Zurückhaltung sei dem Altersunterschied zwischen ihnen geschuldet. Anfang oder Ende zwanzig – dazwischen liegen tatsächlich Welten. Allerdings kommt er ihr deutlich älter vor wegen seiner Verbindlichkeit, die sie so schreckt. So wie er war sie nie, auch nicht vor acht Jahren. Sie lässt es lieber entspannt angehen.

»Es war schön heute«, sagt sie munter und rückt ihren Stuhl aus dem Halbschatten. Sie will die Sonne genießen, solange es geht, bald ist der Sommer vorüber. Seit dem Frühstück im Cafe Adlon sind sie durch Berlin gezogen, vorbei an bröckelnden Mauern mit Einschusslöchern vom Häuserkampf, aufpolierten Baudenkmälern und postmodernen Glasfassaden, errichtet auf Minenfeldern – sie hatten nur Zeit für das Pflichtprogramm, aber das hat Janne nicht gestört. Sie verehrt die Hauptstadt mit ihrem weltstädtischen Glamour und all ihren Narben. An den Hackeschen Höfen hat er gesagt, er fühle sich nach so kurzer Zeit bereits heimisch, und Janne antwortete, sie sehe sich auch nach vier Jahren noch als Touristin. Sogleich hat er versucht, sie von dieser Ansicht abzubringen, weil er nicht ahnen konnte, dass das Gefühl von Fremdheit für sie mit dem höchst angenehmen Umstand verbunden ist, ihr Leben als eine Art Dauerurlaub zu betrachten, unterbrochen nur durch die nicht allzu anstrengenden Pflichten einer Orchestermusikerin. Er ist Gastsolist an der Deutschen Philharmonie, ein ehrgeiziger junger Geiger, dessen ehrgeizige Eltern schon bei der Taufe alles richtig gemacht haben: Zacharias Brügge – so ein Name perlt im Mund wie Champagner und schmückt jedes Konzertplakat. Janne neidet ihm seinen Erfolg nicht. Sie fühlt sich wohl bei den zweiten Geigen, denn ein Aufstieg zur Solistin passt nicht in ihr Konzept von der Leichtigkeit des Seins. Sie will nicht schuften, sondern leben. Sie übt nicht gern. Und sie hält sich lieber im Hintergrund.

»Hast du eigentlich ein Problem mit meinem Status im Orchester?«, fragt er, als wäre er ihren Überlegungen gefolgt.

»Was für ein Problem sollte das sein?«, entgegnet sie amüsiert über die Verlegenheit, die sich auf seinem hübschen Eliteschülergesicht abzeichnet. Die feste Spange war eine gute Investition.

»Na ja, ich habe gehört, als Mädchen hast du viel beachtete Solokonzerte gegeben und wurdest als Riesentalent gehandelt – aber auf einmal war Schluss damit. Keiner weiß warum.« Er mustert sie interessiert und mitleidig zugleich. Auf seiner Unterlippe kleben Kuchenkrümel, die Janne mit einem Kuss beseitigt. Zacharias errötet.

»Gerüchte«, sagt sie.

Wenig später verabschiedet sie sich mit einem knappen Gruß. Zacharias steht zackig von seinem Stuhl auf und winkt ihr nach, als stünde er am Bahngleis und sie führe mit dem Zug davon. Mit einem Lachen winkt sie zurück.

 

Auf dem Heimweg kauft Janne eine Flasche Rioja, französischen Käse und spanische Oliven beim Biohöker in ihrer Straße. Im Vorbeigehen betrachtet sie sich in den Schaufenstern entlang des Wegs: eine sehr schmale, sehr blonde Frau mit glattem, schulterlangem Haar, sommersprossig, hochgewachsen, gut angezogen – das luftige Kleid in hellen, kühlen Blautönen stammt von einer jungen isländischen Designerin, die hier in Berlin eine Boutique betreibt. Janne ist einverstanden mit ihrem Spiegelbild, und sie empfindet sich als privilegiert: Die Patrizierherkunft – oder der »gute Stall«, wie ihr Vater es nennt – ist ihr ebenso deutlich anzusehen wie dem Solisten, und Janne hat sogar besonderes Glück, denn sie muss sich nicht wie andere höhere Töchter abmühen, um entzückend und teuer auszusehen, sogar das helle Blond ist echt. Diese Kombination aus Geld und Liebreiz hat ihr schon viele Türen geöffnet, die andere erst eintreten müssen. Natürlich weiß Janne um die Ungerechtigkeit dieses Umstands, der sie manchmal wütend macht, aber im Alltag ist sie froh, mit der richtigen Pigmentierung auf der richtigen Seite der Gesellschaft geboren worden zu sein. Reine Glückssache. Natürlich schickt es sich nicht, dies offen zuzugeben.

Wie jeden Abend freut sie sich auf ihre Wohnung in dem sanierten Gründerzeitbau in Prenzlauer Berg: Luxus von heute, Eleganz von einst, so lässt es sich aushalten. Jannes Ansprüche sind hoch, wie sie es seit Kindertagen gewohnt ist. Aber sie mag es auch rustikal.

Als sie die Wohnungstür aufsperrt, durchflutet goldenes Abendlicht den Flur, und aus dem Wohnzimmer dringen Fado-Klänge. Es riecht nach Knoblauch, Chili – und ein wenig verbrannt. Janne zögert, bleibt mit der Papiertüte im Arm neben der Garderobe stehen. Sie weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas in der Wohnung wirkt auf verstörende Weise verändert, obwohl alles an seinem Platz zu sein scheint und es durchaus mal vorkommen kann, dass ihrem Mitbewohner Nils ein Essen misslingt.

Dann nimmt sie das Geräusch wahr. Es passt zur Tragik der Musik, gehört jedoch nicht dazu. Eine Mischung aus Stöhnen und Schluchzen, ein durchdringender Laut. Sie hat das Gefühl, als würde in ihrem Kopf Kristall bersten.

Im Wohnzimmer kauert Nils auf der hellen Couch. Er hält das Gesicht in den Händen vergraben, und sein Körper vibriert. Neben ihm liegt das Telefon. Vor langer Zeit in einem anderen Leben hat Janne eine ähnliche Situation erlebt, damals war sie ein Kind und noch nicht in der Lage, die Vorzeichen zu deuten. Das hat sich gründlich geändert.

Sie tritt mit der Fußspitze gegen den Stand-by-Schalter der Stereoanlage. Die Musik bricht ab. Jetzt erst bemerkt er sie und ruft ihren Namen. Sie wappnet sich gegen die Umarmung, die unausweichlich ist, hält die Tüte wie ein Schutzschild vor ihrem Herzen. Nils ist schon aufgesprungen und reißt Janne mit solcher Heftigkeit an sich, dass die Einkäufe zu Boden fallen. Schwarze Oliven kullern über den Holzfußboden bis zum Fenster, während er sie viel zu fest drückt und dabei wieder und wieder ihren Namen fleht.

Janne macht nichts, sie wartet nur ab. Sie weiß, es wäre an der Zeit zu fragen, was vorgefallen ist, aber sie ist nicht bereit. Sie braucht Vorlauf. »In der Küche brennt was an«, sagt sie, und endlich lässt er sie los. Sie sieht ihm kurz in die geröteten Augen.

Er erwidert ihren Blick. »Janne, du musst mir jetzt zuhören«, sagt er leise.

»Nein, muss ich nicht.« Sie geht in die Küche und schaltet den Herd aus. In der Pfanne sind Fleisch und ein nicht mehr definierbares Gemüse zu einer brodelnden schwarzbraungrünen Masse verschmolzen. Die Farbe ähnelt dem Lavastein, aus dem die Arbeitsplatte geschliffen wurde.

»Die Pfanne können wir wegschmeißen«, ruft sie in Richtung Wohnzimmer.

Nils ist ihr gefolgt. Er steht hoch aufgerichtet im Türrahmen und deutet mit einer knappen Kopfbewegung auf einen der Küchenstühle. »Setz dich hin und hör mir zu.«

Janne will aus dem Raum fliehen, doch er lässt sie nicht vorbei, steht da wie festgemauert mit seiner Schreckensbotschaft im Anschlag und fordert sie erneut auf, sich zu setzen, worauf ihr Widerstand zusammenbricht und sie nur noch einen Wunsch hat: Es soll schnell gehen.

Nils atmet tief durch. »Dein Bruder ist ertrunken. Ein furchtbares Unglück.«

»Ach so«, sagt Janne, und während sie sich freut, wie gut sie diese Neuigkeit verkraftet, bricht eine nie gekannte Übelkeit über sie herein. Ihr wird schwarz vor Augen, doch sie fällt nicht in Ohnmacht. Sie steht auf und hält den Kopf über die Spüle, muss sich aber nicht übergeben. Auf ihrer Stirn steht kalter Schweiß. Dann rettet sie sich in einen Gedanken, der so unverzeihlich ist, dass sie erschrickt, und als ihre Blicke sich begegnen, spürt sie, wie Nils rätselt, was in ihr vorgeht – und wie nah er der Wahrheit kommt.

»Ich habe zwei Brüder. Von welchem spricht du?«, fragt sie mit schwacher Stimme.

Eine Pause entsteht. Nils büßt seine aufrechte Haltung ein. Schließlich sagt er: »Erik« und nennt damit den Namen seines besten Freundes. Es klingt beinahe entschuldigend, als stünde es in seiner Macht, das Todesurteil über den einen oder den anderen zu verhängen. Sein anschließender Versuch, Janne und sich selbst zu trösten, gerät zu einem hilflosen Gestammel, das sie kaum registriert.

 

Es fängt an zu regnen, sobald sie Berlin hinter sich gelassen haben, harte, satte Tropfen, gegen die der Scheibenwischer wenig ausrichten kann. Sie gleiten durch eine Wand aus Wasser. Nils sitzt hinter dem Steuer ihres Alfa. Er wollte es so, obwohl sie im Gegensatz zu ihm einige Stunden schlafen konnte. In ihrem Kopf herrscht kalte Stille. Sie schließt die Augen. Alles, was ihrer Familie nun bevorsteht, ist ihr zuwider, die ganze Dramaturgie eines Todesfalls: Gottesdienst und Grabredner, Lügen und Leichenschmaus. Zu viele Tränen, zu viele weiße Blumen und zu viel schwarzer Stoff. Zu viel Erde auf dem Sarg, um atmen zu können. Geflüsterte Beileidsbekundungen, durchdrungen von Mundgeruch.

Schwer wie der Regen prasseln Bilder auf sie ein, deren Verdrängung sie Jahre ihres Lebens gekostet hat. Sie ist wieder vier Jahre alt und steht am frischen Grab ihrer leiblichen Eltern. Paul Flecker – ihr Taufpate und der beste Freund ihres Vaters – hat eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Er schirmt sie ab. Während der langen Trauerzeremonie in der Kapelle, bei der mehrmals ihr Name gefallen ist, hat sie Magenschmerzen bekommen. Die mitleidigen Blicke der Erwachsenen brennen auf der Haut, und sie starrt auf ihre Füße, die in schwarzen Lackschuhen stecken. Regen hat die Sandwege auf dem Friedhof aufgeweicht, und an den Schuhen klebt Schlamm. Niemand sonst schaut auf seine Schuhe, auch nicht auf das Grab oder den Pfarrer, alle sehen sie an. Sie weiden sich an der Tragödie und raunen sich das Wort Vollwaise zu, wenn sie glauben, Janne sei weit genug entfernt, es zu hören.

Seit jenem Tag kostet es sie Überwindung, im Mittelpunkt zu stehen, je gieriger die Aufmerksamkeit, desto größer ihr Unbehagen. Ihre neuen Eltern – die Fleckers – haben das damals verstanden und sie in Ruhe gelassen. Sie haben auf Erik vertraut, das wunderbare Kind, das fortan ihr Bruder sein sollte. Er war lange Zeit der Einzige, der sie zum Lachen bringen konnte, und er war sehr ehrgeizig darin. Er hatte eine so positive Einstellung zum Leben, dass er selbst unangenehme Erfahrungen wie Krankheiten bis zu einem gewissen Punkt als Abenteuer betrachten konnte. Und vielem, was Janne eher bange machte, begegnete er mit unerschütterlichem Humor: Erwachsenen zum Beispiel.

 

»Hast du das gesehen? Den kauf ich mir.« Nils' Stimme ist rau. Janne wird in den Sitz gepresst und in die Gegenwart zurückkatapultiert, als er mit Vollgas beschleunigt. Sie schlägt die Augen auf und sieht, dass er die Verfolgung einer schwarzen Limousine aufgenommen hat, die durch den Regen und den dichten Verkehr auf der Autobahn nach Westen rast. »Was soll das werden?«, fragt sie.

»Der Idiot hat mich auf der Standspur rechts überholt. Total krank ist der doch.«

»Und was willst du jetzt machen? Ihn umbringen und uns gleich mit?«

»Den kauf ich mir«, wiederholt Nils, und Janne erkennt, dass es unter diesen Umständen zwecklos ist, mit ihm zu diskutieren. Sie wirft einen Blick zum Geigenkasten auf dem Rücksitz und hebt ihn in den Fußraum, wo er besser aufgehoben ist. Ohne ihre Geige reist sie nirgendwohin.

Nach einigen riskanten Manövern haben sie die Limousine eingeholt. Nils blendet auf. Der Wagen wird noch schneller, aber der Alfa hält mühelos mit. Eine Treibjagd ohne Sicherheitsabstand.

»Und jetzt?«, fragt Janne.

Nils hält das Lenkrad fest umklammert und blickt starr geradeaus. »Wie konnte er uns das antun? Er war ein besserer Schwimmer als jeder andere, wie konnte er ertrinken?«, ruft er über das hochtourige Jaulen des Motors hinweg. »Ich kapier das nicht.«

Unerschrocken betrachtet Janne den Mann, der seit fast zwanzig Jahren zu ihrem Leben gehört, zuerst nur als einer von Eriks zahlreichen Schulfreunden, bis er ihre erste Liebe wurde – und zu guter Letzt, nach Verlobung und Trennung, ihr Mitbewohner und engster Vertrauter in der großen Stadt weit weg von daheim. Nils ist ein bodenständiger Mensch und Eriks Tod der erste Verlust in seinem Leben. Sogar seine Großeltern leben noch.

»Wir werden damit fertig«, sagt sie und legt ihm eine Hand in den verschwitzten Nacken. Sie findet, es ist ein schwacher Trost, doch er nimmt endlich den Fuß vom Gas, und die Limousine rast davon.

»Aber nichts wird mehr so sein wie vorher.« »Nein«, sagt Janne. »Das wird es nie.«

 

Nordwestlich von Bremen hört der Regen auf. Auf der Autobahn nach Cuxhaven lichtet sich der Verkehr. Janne öffnet das Fenster weit, und ein Schwall salziger Nordseeluft schlägt ihr ins Gesicht. Der Duft ihrer Kindheit. Ihre Heimatstadt an der Nordspitze Niedersachsens liegt an der Elbmündung und ist an zwei Seiten von Wasser umgeben. Nirgendwo sonst ist Atmen für sie ein derart meditativer Vorgang. Sie konzentriert sich aufs Ankommen, schaut sich um, ohne an den Grund ihrer Rückkehr zu denken. Flaches, grünes Weideland. Viele der Bäume zwischen den Weiden wachsen nicht zum Himmel, sondern krümmen sich unter der Last des Westwinds landeinwärts. Das regennasse Gras dampft, als das Wasser in der Wärme des Sommerabends zu verdunsten beginnt. Es hat sich nicht abgekühlt. Über dem Meer, das hinter Deichen verborgen ist, kommt zwischen Wolken bereits wieder die Sonne zum Vorschein.

»Wie schön es hier ist. Ich war viel zu lange weg. Dieser Sonnenuntergang.«

»Das hier ist keine Ferienreise, Janne. Wir fahren nach Hause, weil dein Bruder tot ist«, sagt er und schüttelt den Kopf. Janne weiß, es sind Momente wie dieser, in denen er sich glücklich schätzt, nicht mit ihr verheiratet zu sein, wie er es eigentlich geplant hatte.

»Was hat das mit dem Sonnenuntergang zu tun? Der ist heute außergewöhnlich schön, auch wenn wir es nicht zu schätzen wissen, weil unser kleines, unscheinbares Leben uns gerade unerträglich vorkommt.«

»Du kommst mir gerade unerträglich vor.«

»Wir müssen uns ja nicht unterhalten.«

»Nein, besser nicht. Nicht auf deine Art.«

 

In der Auffahrt zur Villa der Fleckers parken mehrere Autos. Janne erkennt den Geländewagen ihres Bruders Meinhard, der in Hamburg als Chirurg arbeitet. Sie hat ihn zuletzt Ostern gesehen, als die Bootsbauer-Familie sich auf der Yacht Viktoria versammelt hat, um zum Skagerrak zu segeln. Herrliche, stürmische Tage waren das – ein Ausflug mit Tradition, ohne Erik undenkbar. Janne schluckt schwer. Es mag in Berlin Leute geben, die sie für oberflächlich halten, aber hier an der Küste kennt man sie besser. All ihre Hingabe gilt der Familie. Dass sie keine geborene Flecker ist, hat für sie jahrelang kaum eine Rolle gespielt und drängt sich jetzt, da der Tod zum zweiten Mal ihre Welt aus den Angeln hebt, mit Macht zurück in ihr Bewusstsein. Sie erinnert sich schwach an ihre Ankunft in dem neuen Heim vor vierundzwanzig Jahren. Daran, wie monströs ihr die neogotische Villa in Hafennähe vorgekommen ist, wie ein Spukschloss mit all diesen Erkern und Türmchen und dem blutrot glasierten Backstein. Heute erscheint sie ihr eher klein, zu klein jedenfalls, um sich vor den anderen zu verstecken. Sie fürchtet sich vor der Begegnung mit den Eltern.

»Janne, wir müssen aussteigen«, sagt Nils und berührt sanft ihre Schulter.

»Lass mich.«

Er zieht die Hand weg. »Dann komm auch. Also, ich gehe jetzt rein.« Nils steigt aus, stapft zur Beifahrerseite und öffnet die Tür für sie.

Janne bleibt sitzen. Warmer Wind fährt ihr durchs Haar.

»Manchmal bist du wie ein Kind«, sagt er und geht. Unter seinen Turnschuhen knirscht der Kies.

Es ist fast dunkel, vom Hafen schallt Möwengeschrei herüber, und in den Bäumen singen Amseln. Bis eben hat Janne gehofft, Eriks Tod könnte ihr weniger anhaben als Nils – da im Prinzip ihre komplette Sozialisierung auf einem Trauerfall beruht, was eigentlich eine gewisse emotionale Routine garantieren sollte. Leider muss sie nun ihren Irrtum erkennen. Wenn sie diese Angelegenheit an sich herankommen lässt, ist sie verloren. Dann wird es schlimm werden, viel schlimmer als alles, was sie bisher erlebt hat. Der Schmerz schärft schon die Messer. Doch sie hat nicht vor zu kapitulieren. Janne versucht, das eigene Verhalten mit kühler Distanz zu steuern. Am sichersten wäre es, sie führe weg, egal wohin, Hauptsache weit weg. Sie könnte abermals von vorn anfangen und sich dem Prozess des Verdrängens hingeben. Das wäre auch in Eriks Sinn, sagt sie sich, er würde nicht wollen, dass man seinetwegen vor Kummer vergeht. Aber Nils hat den Autoschlüssel mitgenommen.

 

Mit trotzigen kleinen Schritten geht Janne den Weg zum Hafen, die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten geballt. In der Nähe der Alten Liebe, einem steinernen Bollwerk, das die Hafeneinfahrt vom Elbfahrwasser abgrenzt, befindet sich in einem früheren Lotsenhaus das Blaufeuer. Die Kneipe trägt den Namen eines nautischen Notsignals: Blau flackerndes offenes Feuer ist auf hoher See ein dringender Hilferuf. In Hafennähe setzen Schiffsführer das Blaufeuer, um zu zeigen, dass ein Lotse gewünscht wird. Auf der Getränkekarte gibt es einen Cocktail, der ebenfalls so heißt. Soweit Janne sich erinnert, schmeckt er nach Pfefferminzlikör – und entfernt nach Tinte. Johnny Ritscher, dem Wirt, traut sie alles zu.

Sie tritt ein und bahnt sich den Weg durch eine verschwitzte Reisegruppe, ausschließlich Männer, die knisternde grüne Windjacken mit dem Emblem eines Shantychores tragen. Vorn an der Bar vertraute Gesichter.

Als Johnny Ritscher sie erkennt, wird er blass. »Janne Flecker«, sagt er laut, »mein Beileid.«

Er reicht ihr über den Tresen hinweg die Hand, und Janne nickt ihm zu und bedankt sich. Danach kondolieren die Stammkunden, Hafenarbeiter, die sich die Hände an den Hosenbeinen abwischen, bevor sie sie Janne entgegenstrecken. Sie sind viel zu gehemmt, um ihr in die Augen zu sehen.

Johnny Ritscher stellt ein Bier vor Janne ab. »Es ist eine Schande«, sagt er.

Die Shantychormitglieder erheben ihre Stimmen, und die Horde beschwipster Touristen verwandelt sich in einen sonoren Klangkörper. Sie singen: »Junge, komm bald wieder.« Janne trinkt mit geschlossenen Augen.

»Aber glaub mir, Mädchen, wir kriegen das Schwein, und dann machen wir es fertig«, sagt Johnny Ritscher.

Janne versteht nicht, wovon er redet. Mit zittriger Hand stellt sie das Bier ab. Ihr Puls beschleunigt, als ihre Gedanken um die Worte des Wirtes taumeln, die für sie keinen Sinn ergeben.

»Ach was, das war doch seine Kleine«, sagt einer der Hafenarbeiter.

»Was soll das heißen?«, fragt Janne. Ihre Zunge fühlt sich schwer an.

Die Männer tauschen unheilvolle Blicke aus. Johnny Ritscher geht zu einem der Tische im hinteren Teil des Lokals, um eine Bestellung aufzunehmen.

»Ich habe dich etwas gefragt, Johnny«, ruft Janne.

Der Shantychor hat sein Lied beendet.

»Geh nach Hause zu deiner Familie, Mädchen«, sagt der Wirt und wendet sich den Gästen zu. Janne starrt durch den Zigarettenqualm hindurch auf seinen breiten Rücken. Johnny Ritschers Kneipe ist eine Institution. Als Kinder sind sie oft zwischen Barhockern und Tischen herumgetobt, wenn ihr Vater sie sonntags mitgenommen und jedem eine Cola spendiert hat. Damals war Johnny ein begehrter Junggeselle, aber es gab in der Gegend keine Frau, die ihn für sich gewinnen konnte. Er ist ein Nachtmensch ohne jeden Familiensinn. Es heißt, niemand habe Johnny je außerhalb seiner Kneipe gesehen. Längst ist sein Charme zusammen mit dem Inventar vergilbt. Gelegentlich erweckt er den Anschein, seine Gäste zu hassen.

Janne lässt das Bier stehen. Als sie sich in der Mitte des Lokals erneut durch die Sängerschar zwängt, prallt sie gegen ihren Vater. Paul Flecker steht da wie ein Baum, als hätte er seit einer Ewigkeit darauf gewartet, sie an dieser Stelle abzufangen. Der Zusammenstoß mündet in eine Umarmung. Die Chorsänger gehen auf Abstand.

»Janne ... endlich«, sagt er.

Sie legt den Kopf an seine Brust, und er streicht ihr über das Haar. Sie hört, wie sein Herz hämmert. Dann löst sie sich von ihm. »Entschuldige. Ich war zu feige, nach Hause zu kommen.«

Er nickt, als hätte er von ihr nichts anderes erwartet. »Gehen wir ein paar Schritte«, schlägt er vor.

 

Es ist schwül. Sie passieren die Liegeplätze der Helgolandfähre MS Funny Girl und der Ausflugsdampfer, die Fahrten zu den Seehundbänken anbieten. Dieser Abschnitt des Hafens ist sehr touristisch. Souvenirläden und Restaurants haben sich vis-à-vis vom Kai angesiedelt, ein aufpoliertes maritimes Idyll, Neubauten aus Glas und rostfreiem Stahl, eine andere Welt als die Gegend um den Fischereihafen, wo Janne und ihre Brüder als Kinder gespielt haben.

Sie gehen langsam. Der Kai ist belebt, Janne und ihr Vater dümpeln in einem Strom sonnengebräunter Passanten. Gelächter, Stimmengewirr, erholte Gesichter. Eriks Tod passt nicht hierher.

Einmal bleibt Paul Flecker stehen, um sich mit einem zerknitterten Stofftaschentuch die Stirn abzuwischen. Eine Frau mit einer Eistüte rempelt ihn an. Er reagiert nicht. Auch nicht, als sie sich bei ihm entschuldigt, weil ein Klecks Schokoladeneis auf seinem Schuh gelandet ist.

»Ist viel los für die Nachsaison«, sagt Janne.

»Das kommt vom schönen Wetter und davon, dass die Leute zu viel Freizeit haben«, grollt Paul Flecker und deutet mit dem Kinn auf ein Rudel Jugendlicher, die Mädchen halb nackt und stark geschminkt. »Kein Job, keine Lehrstelle in Sicht, aber jeden Abend Party. So hätte ich dich nicht auf die Straße gelassen. Schon gar nicht mitten in der Woche. Was sind das bloß für Eltern? Also ...« Er unterbricht sich, den Mund halb geöffnet. In seinen Augen zeichnet sich Entsetzen ab, als ihm offenbar das Gleiche in den Sinn kommt wie Janne, nämlich dass all seine Strenge und Fürsorge den Tod des Sohnes nicht verhindern konnten. Er winkt ab.

»Ach, scheiß drauf, Süße.«

Paul Flecker beschleunigt das Tempo. Janne betrachtet ihren Vater von der Seite. Er hat die Lippen jetzt fest aufeinanderge-presst und geht leicht gebeugt, wie auf einen imaginären Stock gestützt. Im Gegensatz zu früher wirkt er überaus kraftlos, was daran liegen könnte, dass er ziemlich zugenommen hat. Obwohl er nicht von der Küste stammt, sieht er in ihren Augen aus wie ein Seemann, einer, der in die Jahre gekommen ist und zu viel Zeit an Land verbracht hat. Aber eben immer noch ein Seemann. Wie Erik. Nur nicht mehr ganz so blond. Aber das ist es nicht, was Janne beunruhigt. Was fehlt, ist die Aura der Zuversicht, eine unsichtbare Energiequelle, die stets beide Männer umgab. Wie alle Familienmitglieder ist es Janne gewohnt, sich daran zu wärmen. Nun wird es kalt.

Sie erreichen die Alte Liebe. Auf der Steinkonstruktion wurde eine zweistöckige Pier aus Holz errichtet. Früher legten hier Schiffe an, heute wird sie als Aussichtsterrasse genutzt. Sie steigen die Stufen zur Galerie hinauf und verscheuchen durch ihre Ankunft ein Liebespaar. Unten, ziemlich weit abseits, steht ein Angler. Ein Schattenriss im Mondlicht. Er missachtet das strikte Angelverbot.

Janne wartet ab. Sie hofft, dass ihr Vater den Anfang macht, doch er tut ihr nicht den Gefallen. Sie druckst herum: »Eben bei Johnny haben die Jungs am Tresen ziemlich wirres Zeug erzählt. Aber das tun sie ja eigentlich immer. Die spinnen doch!«

Sie flüchtet sich in ein nervöses Gelächter, das in ihrer Kehle erstirbt, sobald sie das eisige Schweigen ihres Vaters registriert. Er hat Haltung angenommen, und sie begreift, dass er von ihr dasselbe erwartet. Schließlich stehen sie einander gegenüber wie zwei Soldaten gleich neben einem Fahnenmast ohne Fahne.

»Erik wurde ermordet«, sagt Paul Flecker.

 

Die Alte Liebe ist ein idealer Ort, um Schiffe zu beobachten. Leicht entsteht der Eindruck, selbst an Deck eines ablegenden Ozeanriesen zu stehen: der gleiche Effekt, der sich in Bahnhöfen einstellt, wenn man aus einem stehenden Zug auf einen fahrenden schaut. Ein kolossartiger Frachter der Generation Super-Post-panamax, ein Schiff also, das nicht mehr durch den Panama-Kanal passt und bis zu zehntausend Container über die Weltmeere bewegen kann, fährt stromaufwärts Richtung Hamburg. Janne fixiert die Lichter der Brücke, lauscht auf das Dröhnen der Motoren und wartet auf den verzögert einsetzenden Wellenschlag. Sie hört, wie die Matrosen einander Befehle zurufen, einige englische Sprachfetzen versteht sie sogar, und sie grübelt über ihre Bedeutung nach, während das Wort »ermordet« wie eine schlechte Anmache von ihr abgeprallt ist. Es gehört einfach nicht in das Vokabular einer Unterhaltung zwischen ihr und ihrem Vater. Es ist ein Wort, das in Boulevardmagazinen, Büchern und im Sonntagabend-Tatort vorkommt, ein Wort, geschaffen für andere Menschen, in deren Alltag so widerwärtige Dinge passieren, dass ein Drama wie der frühe Unfalltod der leiblichen Eltern banal und überaus erträglich erscheint. Ermordet wird doch niemand, den man kennt.

»Janne, hast du mir zugehört?«

Sie nickt, aber das genügt ihrem Vater nicht, und er packt sie an beiden Handgelenken und schüttelt sie mit kontrollierter Gewalt so lange, bis sie ihren Blick von dem Schiff löst und ihm in die Augen sieht. Unterdessen muss sie dauernd an den Namen der Helgolandfähre denken: Funny Girl.

»Das ist doch Quatsch, oder?«, fragt sie.

Er lässt sie los. »Nein, das ist kein Quatsch. Und jetzt reiß dich zusammen.«

Gischt schäumt auf, als die Bugwellen des Frachters gegen das Steinfundament der Pier klatschen. Dazu Fetzen eines Seemannsliedes, vom Land her. Im Blaufeuer wird wieder gesungen.

»Aber Nils hat von einem Unfall gesprochen«, sagt Janne in einem betont geduldigen Tonfall, als würde sie einem kleinen Kind etwas erklären.

»Wir wollten es nicht am Telefon erzählen. Es ist so schon schwer genug. Also, hör mir endlich zu.«

Paul Flecker erstattet Bericht. Monoton trägt er vor, was die Polizei an Fakten über den Tod seines Sohnes zusammengetragen hat. Er lässt nichts aus, von der Fuchsfalle in einer Boje weit draußen im Watt über Eriks blutigen Überlebenskampf bis hin zu seinem Scheitern beim Einlaufen der Flut. Tod durch Ertrinken. Zwei Tage sind seitdem vergangen.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Es waren Wattwanderer.«

Janne muss sich am Geländer festhalten. Das weiß lackierte Holz ist feucht von der Gischt und fühlt sich klebrig an. Wortlos verwünscht sie ihren Vater, weil er sie nicht geschont hat, und sei es mit einer Lüge: ›Er musste nicht leiden.‹ Sie starrt auf den Strom, hört das Fließen der Wassermassen, ein völlig anderes Geräusch als das Branden des Meeres, und kämpft gegen die Schwäche in ihren Beinen. Die Elbmündung glitzert im Mondschein, dahinter die See. Nicht einmal die Nacht trägt Trauer.

Aus dem Augenwinkel bemerkt Janne, dass ihr Vater sich mehrmals mit dem Handrücken über die Lippen fährt und anschließend daran riecht, und sie spürt einen Anflug von Sorge. Er verhält sich sonderbar. Sie wischt den Gedanken weg, denn mehr noch als sonst erwartet sie im Sog dieser Krise von ihm Stärke und Führung. Er ist das Familienoberhaupt. Mit einem Fleck von geschmolzenem Schokoladeneis auf dem Schuh.

»Hast du ihn gesehen?«, will sie wissen. »Als er tot war, meine ich.«

Er nickt, und Janne weicht unwillkürlich vor ihm zurück. »Wer kann das getan haben?«, fragt sie. Schulterzucken. »Gibt es keine Spur?«

»Ich habe keine Ahnung. Die Polizei schnüffelt überall herum«, sagt er. Janne ist irritiert, denn normalerweise würde ihr Vater über jeden Schritt der Ermittler informiert sein und so viele Entscheidungen wie möglich an sich reißen. Aber die Normalität existiert nicht mehr. Paul Flecker wirkt ratlos, überfordert – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Janne spürt, wie ihr die Angst in den Nacken kriecht.

 

Auf dem Heimweg fällt kein Wort, sie halten Abstand voneinander. Im Haus treffen Janne und ihr Vater auf den Rest der Familie: Meinhard sitzt neben ihrer Mutter am Küchentisch und hat einen Arm um sie gelegt, die neue Gemeindepastorin Friederike Reemts und eine Freundin bemühen sich ebenfalls um sie. Viktoria Flecker ist bleich und hat tiefe Ränder unter den Augen. Sie sieht niemanden an.

Nicht anwesend ist Eriks Frau Hella, was Janne nicht wundert, da sich ihr Umgang mit der Familie bestenfalls distanziert, bisweilen sogar feindselig gestaltet.

Nils ist gegangen. Janne kann gut verstehen, dass er die Nacht lieber in seinem eigenen Elternhaus verbringen will. Steif lässt sie Umarmungen und feuchtkalte Händedrücke über sich ergehen und zieht sich nach kurzer Zeit auf ihr Zimmer zurück, wo sie sich, ohne ihre Kleider abzulegen, unter der Bettdecke ausstreckt. Sie hat Rückenschmerzen, versucht sich zu entspannen, indem sie in Gedanken Violinkadenzen durchspielt. Funny Girl, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Unentwegt. Funny Girl.

Gegen Mitternacht ruft Nils auf ihrem Handy an. Obgleich er hartnäckig klingeln lässt, nimmt Janne das Gespräch nicht entgegen. Erik ist tot. Unaussprechliches ist vorgefallen, und sie geht davon aus, dass irgendjemand es Nils erzählt hat. Sie hat nichts dazu zu sagen und will kein Wort mehr hören.

 

 

 

PAUL

Nicht nur Janne bleibt schlaflos in dieser Nacht. Auch Paul Flecker findet keine Ruhe. Alle haben ihn gewarnt: »Geh da nicht hin, Paul. Tu dir das nicht an. Lass es sein.« Aber er wollte nicht hören, natürlich nicht, er hört nie auf andere, ist immer noch so unbeirrbar wie als junger Kerl, verfügt nur über bessere Manieren. Er redet sich ein, sein Schneid sei ungebrochen, aber vorhin im Bad ist ihm seine Gestalt im Spiegel begegnet, und da war vom Teufelskerl Paul Flecker nicht mehr viel zu sehen, bestenfalls eine Art Grundriss.

Einen Hauch von Angst hatte er schon vor Wochen gespürt, doch er glaubt nicht an Vorahnungen.

Jetzt hat das Schicksal also zugeschlagen. Er dachte, er sei der Sache gewachsen. Er hat in seinem Leben schon viele Tote gesehen, darunter Menschen, die ihm nahe standen: seine kleine Schwester, keine zwei Jahre alt, unter Trümmern begraben, ein Schulfreund, im Hafenbecken ins Eis eingebrochen und Jahrzehnte später tot geborgen, die eigene Mutter, von Alzheimer gezeichnet ... Aber nichts auf der Welt konnte ihn auf den Anblick vorbereiten, der ihn im Watt erwartete. Sie haben recht gehabt, er hätte nicht gehen sollen. Etwas in ihm ist verfault, als er den schweren, nassen Schädel seines Sohnes in beide Hände genommen und die Stirn mit den Lippen berührt hat.

Allmählich begreift er, dass der Geschmack des Meerwassers ihn fortan überallhin begleiten wird, und sein Magen verkrampft sich, doch er kann sich nicht übergeben. Er liegt im Bett, zittert vor Übelkeit und leckt mit der Zunge wieder und wieder über seine salzigen Lippen. Er weiß, dass seine Frau wach ist, er hört, wie sie leise weint, und er ist dankbar, weil sie keinen Trost von ihm erwartet.