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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

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1. Auflage

Copyright © 2014 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

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Umschlagmotiv: © Martin Schumann – Fotolia.de

ISBN 978-3-641-15235-2

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Komplexität und Kirche

Irritationen und Potenziale

1.1 Kirchliche Dilemmata

1.2 Einfach, kompliziert, komplex und chaotisch – Eine Landkarte zur Lage

1.3 Strukturelle Überdehnungen und geistliche Neuorientierungen – zwei Prognosen

1.4 Kirchliche Komplexität – Verschiedene Dimensionen durchdringen sich wechselseitig

1.5 Aus der Komplexitätsforschung

1.6 Die begrenzte Wirkung von Strategien – oder: Wie erscheint, was noch nicht ist?

1.7 Konsequent von den handelnden Personen und ihren Ressourcen her denken

Teil 2: Hilfe, es wird instabil!

Biblisch-theologische und geistliche Spurensuche

2.1 Gottes Geheimniskraft – Wie sich verborgene Potenziale entfalten

2.2 Gottes Geistkraft – Überraschung, Entgrenzung, Ausrichtung

2.3 Gottes Wirken, menschliche Mitarbeit und die Unterscheidung der Geister

2.4 »Es ist ein Raum bei mir« (Ex 33,21) – Die Freiheit des Glaubens

2.5 Im schöpferischen Dialog Gott begegnen – vom »für« zum »mit«

2.6 Die Unvollendete – Kirche rechtfertigungstheologisch verstanden

Teil 3: Wie bewegen wir uns im komplexen Gelände? –

Haltungen, Fertigkeiten, Schritte

Wahrnehmungsoffenheit und -tiefe

3.1 Innehalten und Zaudern – Potenzialität eröffnen

3.2 Intuition – Durch Gespür den Dingen auf die Spur kommen

3.3 Wahrnehmen und wesentlich werden – eine Schlüsselkompetenz

3.4 Gegenwärtig sein – Inspirationen durch das kontemplative Gebet

Gemeinsame Aufmerksamkeit für das, was werden will

3.5 Gruppenprozesse gestalten und vertiefen – Dialog und Theorie U

3.6 Wie geistliche Ausrichtung und Prozessorientierung ineinandergreifen – Beispiel: Pro Action Café

3.7 Dem Widerstand Gastrecht gewähren – Zum geistlichen Umgang mit Widerstand

Im Netzwerk handeln

3.8 Zur Dynamik lebendiger Netzwerke – Ressourcen außerhalb nutzen

3.9 In Netzwerken den eigenen Glauben neu buchstabieren

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Nach-denken und Vor-denken durchdringen sich wechselseitig und korrigieren sich. Wir denken über die Kirche nach: über die verschiedenen Gestalten von Gemeinden und darüber, wie diese theologisch und geistlich zu verstehen sind. Und wir denken vor. Wir begeben uns in Gebiete, die noch unerforscht sind, weil sie bisher nicht im Fokus der Aufmerksamkeit waren. Viele Erfahrungen müssen erst noch gesammelt werden, über die anschließend nachgedacht werden kann. Wir erkunden das Gelände und treten eigene Pfade. Wir treffen auf Menschen, die im selben Gelände unterwegs sind ...

Aber wir denken nicht nur, wir spüren auch dem nach, was allein durch Nach- und Vordenken nicht erfasst werden kann. Und was doch so wirklich ist, dass es sich auswirkt in unserem Leben. Wer nachspürt, wird neugierig und spürt dem vor, was werden will. Sie entwickelt Vorstellungen von dem, was kommen könnte; er findet Bilder, die in die Zukunft locken.

Wir spüren den Bildern Jesu nach, die uns einladen, uns auf die Zukunft des Reiches Gottes einzulassen. Wir fragen nach der Gegenwart des Geistes Gottes und achten auf den Geist, der unser Miteinander prägt.

Wir laden dazu ein, gemeinsam auszuprobieren und herauszufinden: Was erweist sich als tragfähig und kraftvoll? Welche Gestalten von Kirche und Gemeinde werden sich in Zukunft bilden? Und wie werden wir darin Gottes Geheimnis entdecken?

Wir verdanken unsere Fragen und Erkenntnisse neben unseren Studien vor allem den Begegnungen mit Menschen, die mit uns gemeinsam unterwegs waren und sind. Sie brachten uns Vertrauen entgegen, gewährten uns Einblick in ihr Leben und Arbeiten und brachten sich mit ihren Erfahrungen und Fragen ein. Wir begegneten großer Offenheit und Lust, Gemeinde neu zu denken. Viele ließen sich ein, mit uns im Gemeindekolleg der VELKD gemeinsam neue Erfahrungen zu machen und weiterzudenken: in unseren Arbeitsteams, in Kursen und Projekten, in zahlreichen Gesprächen unterwegs. Ihnen allen danken wir für ihre Offenheit und ihr Engagement. Ohne diese Inspirationen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen.

Wir danken auch denen, die Teile des Manuskripts freundlich und kritisch durchgesehen haben, und dem Programmleiter des Gütersloher Verlags, Diedrich Steen, für die fachkundige Begleitung und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Neudietendorf/Erfurt, Pfingsten 2014

Isabel Hartmann und Reiner Knieling

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1.1 Kirchliche Dilemmata

Wir haben eine Tagung zum Thema Salutogenese, also zur Frage, wie Gesundheit gefördert werden kann, besucht. Dort richtete sich ein Grußwort aus kirchenleitender Perspektive an Mitarbeitende der Kirche. Der Redner mahnte: »Kümmern Sie sich um sich. Sorgen Sie für Ihre Gesundheit. Achten Sie auf Ihren Urlaub. Nehmen Sie Auszeiten …«, um zwei Minuten später anzufügen: »… Die Arbeitsbereiche werden größer werden. Wir werden nicht mehr so viel Personal finanzieren können. Außerdem müssen wir an Qualitätssicherung und -steigerung arbeiten.« Wir fragten uns: Wie soll das beides zusammen gehen! Warum protestiert niemand? Fehlt dazu die Kraft? Oder der Mut? Oder der Glaube, dass Protest etwas bewirken könnte?

Das gut gemeinte Grußwort brachte das bekannte Dilemma in der Kirche auf den Punkt. Die Krise wird seit Jahr(zehnt)en beschrieben und man hat sich (fast) an ihre Kennzeichen gewöhnt: Die verschiedenen Ressourcen gehen kontinuierlich zurück. Mitgliederzahlen, Finanzen und Präsenz der Kirchen in der Gesellschaft nehmen ab. Auch wenn es da und dort gelegentlich steigende Zahlen gibt, ändern diese nichts daran, dass christliches Grundwissen und kirchliches Zugehörigkeitsgefühl beständig abnehmen.1 Das Leben und Arbeiten in einer sich verschärfenden Mangelsituation belasten zunehmend die Motivation, das Selbstwertgefühl und auch das Miteinander in den Gemeinden. Manche deuten diese Entwicklung auch als geistliche Herausforderung und fragen: Wo ist Gott in dieser Krise? Hat er sich zurückgezogen? Fordert er uns zu etwas Neuem heraus?

Bisherige Lösungsversuche zielen zum einen auf die Erweiterung der Zuständigkeitsbereiche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um die flächendenkende Versorgung weiterhin gewährleisten zu können. Eine Strukturreform folgt der anderen. Ein Pfarrer erzählt, er habe sich vor zehn Jahren auf eine Stelle mit vier Gemeinden und Predigtstellen beworben. Mittlerweile hat er fünfzehn. Und das Ende scheint noch nicht erreicht zu sein.

Bisherige Lösungsversuche zielen zum anderen auf Optimierung und Qualitätssteigerung, um vorhandene Mitglieder zu »binden« und neue zu gewinnen.

Das alles ist sinnvoll und nötig. Doch gleichzeitig spüren immer mehr Beteiligte, wie kräftezehrend und ermüdend die Bemühungen sind, Kirche auf Dauer attraktiv und nahe bei den Menschen zu halten. Das Problem ist, etwas vergröbernd gesagt: Für all das, was unbestritten sinnvoll und gut ist, haben wir nicht mehr die finanziellen und personellen Mittel, die wir bräuchten. Im Bild gesprochen: Wir können die Arbeit, die ursprünglich von 100 Personen getan wurde, nicht in noch besserer Qualität mit 50 Personen leisten. Deshalb wird eine der Zukunftsfragen für Kirche sein: Wie denken wir das, was wir tun, konsequent von den Menschen her, die sich engagieren wollen und können, und von den Ressourcen her, die wir haben?

Bisherige Verfahren, die Probleme zu lösen, versuchen, Vorhandenes weiterzuentwickeln oder zu erneuern, und begeben sich nicht oder nur wenig auf Neuland. Das liegt in der Natur des Menschen: Wir bewegen uns gerne in Vertrautem und lösen uns davon nicht ohne Not. Für Aufbrüche in unsicheres Neuland brauchen wir genügend starke Auslöser (z.B. persönliche oder gesellschaftliche Krisenerfahrungen etc.). Wir beobachten auch, dass Menschen einerseits aufbrechen wollen, es andererseits aber kaum tun, und fragen uns, woran das liegt. Könnte es sein, dass die Krisenerscheinungen in der Kirche nicht stark genug sind, um Aufbrüche in Neuland mit allen damit verbundenen Unsicherheiten, Ängsten, aber auch Hoffnungen und Erwartungen auszulösen? Oder liegt es an der Art und Weise, wie der Aufbruch gestaltet wird?

Eine Beobachtung aus dem Bereich der Organisationsentwicklung kann eine erste Antwort auf diese Frage geben. Dort gewinnt die Erkenntnis Raum, dass die bisherigen Instrumentarien zur Veränderung einer Organisation dem Wesen sozialer Systeme oft nicht wirklich gerecht werden. Denn sie behandeln die Organisationen zu sehr wie durchaus komplizierte, aber letztlich doch verstehbare und optimierbare Maschinen: Man muss – im Bild gesprochen – nur ein paar Schrauben nachziehen oder das eine oder andere ölen, dann läuft es wieder. Das greift aber bei grundlegenden Problemen häufig zu kurz.

»Die Illusion der Kontrolle, die von mechanischen auf psychische und soziale Kontexte übertragen wurde, wird enden. Sowohl die professionelle Community als auch die Kunden werden sich darauf verständigt haben, dass ein kompetenter Umgang mit Unsicherheit das wesentliche Merkmal von hilfreichem Intervenieren in Organisationen ist, die sich verändern wollen oder müssen. Die wesentliche Änderung im Denken und Handeln von Beratung wie Führung wird das Zulassen und Ernstnehmen von Dilemmata und Paradoxien sein.«2

Wie aber soll das gehen: Unsicherheiten, Dilemmata und Paradoxien zulassen und aushalten? Sie lösen Hilflosigkeit und Ohnmacht aus. Welche Hilfen für den Umgang mit all dem stehen zur Verfügung?

1.2 Einfach, kompliziert, komplex und chaotisch – Eine Landkarte zur Lage

In unserer Entwicklungsarbeit im Gemeindekolleg sind wir auf eine »Landkarte« gestoßen, die sich als äußerst hilfreich erweist, wenn es darum geht, die Eigenheiten von Problemen und Herausforderungen zu unterscheiden. Sie wurde von Dave Snowden entwickelt, der in Großbritannien im Bereich Wissensmanagement forscht und lehrt. Cynefin ist walisisch und bedeutet Habitat, Terrain oder Lebensraum. In seinem Cynefin-Framework unterscheidet Snowden mit Hilfe von vier Feldern verschiedene Kategorien von Herausforderungen und Problemen. Die Kategorie, zu der ein Problem gehört, beeinflusst die Art und Weise, wie es gelöst werden kann. Uns interessieren dabei besonders die Zugänge und Formen für Problemlösungen in komplexen sozialen Umgebungen, die von Unsicherheiten, Dilemmata und Paradoxien gekennzeichnet sind.3

Cynefin_Framework1.pdf

Im simplen Terrain ist es einfach zu entscheiden, was zu tun ist. Die Lösung lässt sich herleiten aus dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung: Auf A folgt B. Problemlösungen sind hier situationsunabhängig, vorhersagbar, gelten auch im Wiederholungsfalle und sind in der Regel allen einsichtig. Ein altersschwacher Kopierer im Pfarramt geht kaputt. Die beste Lösung ist: Er wird ersetzt und alles Nötige kann wieder kopiert werden. Im simplen Terrain gibt es häufig richtige Antworten und die eine optimale Lösung (best practice). Problemlösungen erfolgen in der Regel in drei Schritten: wahrnehmen – beurteilen – reagieren. Ein Teil der alltäglichen Probleme gehört in diese Kategorie und kann mit bewährten Instrumenten gut bewältigt werden.

Anders ist es im komplizierten Terrain: Was zu tun ist, kann nicht aus einem einfachen Ursache-Wirkungszusammenhang hergeleitet werden, denn hier gibt es oft mehrere verursachende Faktoren mit verschiedenen Folgen. Hier werden eine genaue Analyse, entsprechende Experten, Fachwissen und ausreichende Ressourcen gebraucht, um zu Lösungen zu kommen. Der Dreischritt lautet hier: wahrnehmen – analysieren – reagieren.. Es gibt dabei nicht die optimale Lösung, sondern mehrere gute Lösungen (good practice).

Mit entsprechendem Fachwissen und genügend Ressourcen an Zeit, Geld, Menschen … können Beispiele für gute Lösungen nachgeahmt oder in andere Kontexte übertragen werden, z.B. im Hinblick auf Gottesdienste. Wo es genügend engagierte und fähige Mitarbeiter/-innen in den Bereichen Musik und Verkündigung, ggf. auch in den Bereichen Theater, Kreativität, Technik und Öffentlichkeitsarbeit und die notwendige finanzielle Ausstattung gibt, können bestimmte Gottesdienstmodelle als good-practice-Beispiele entwickelt und in unterschiedlichen Kontexten nachgeahmt werden. Die Analyse der jeweiligen Situation ergibt, welche Modifikation nötig ist, um eine ähnliche Wirkung zu erzielen. Wo allerdings die ausstrahlungskräftige Verkündigerin, die leidenschaftlichen Musiker, die Organisationstalente oder einfach die finanziellen Mittel fehlen, geht das nicht. Schlicht und schmerzhaft heißt das: In Zeiten begrenzter und zurückgehender Ressourcen sind der Verbreitung von good-practice-Ideen enge Grenzen gesetzt.

Noch einmal anders verhält es sich im komplexem Terrain: Hier kann man nicht im Vorhinein wissen, was zu tun ist. Man lernt es erst unterwegs. Die Mitglieder eines Kirchenvorstandes wissen zum Beispiel nicht, wie sich eine Fusion mit der Nachbargemeinde für sie selbst anfühlen würde, welche Reaktionen diese in den Gemeinden hervorrufen könnte etc. Sie wissen nicht, was sich überraschend positiv entwickeln oder was sich unerwartet zäh gestalten wird. Hier zeigt sich besonders deutlich: Soziale Systeme sind keine Maschinen, die zwar kompliziert, letztlich aber doch verstehbar sind (vgl. 1.1), sondern Organismen, deren interne und externe Interaktionen und Wechselwirkungen nicht einfach analysiert und dann planvoll gestaltet werden können.

Auf komplexem Terrain ist die Lösung nicht vorhersagbar, sondern sie entwickelt sich auf dem Weg. Man geht gemeinsam los, lässt die Situation mit ihren Herausforderungen auf sich wirken und probiert mögliche Wege aus, damit umzugehen. Man sammelt Erfahrungen, wertet sie gemeinsam aus und probiert wieder. Die Herangehensweise ist hier: probieren – wahrnehmen – reagieren. Dieser Dreischritt ist aber nicht als strenge Abfolge einmal zu durchlaufender Schritte zu verstehen. Vielmehr werden die Stationen teilweise mehrfach durchschritten und überlagern sich auch. Auf dem gemeinsamen Weg von Versuch und Irrtum und Reflexion und neuem Versuch und Irrtum tauchen Ideen auf, erwachsen Lösungswege und Handlungen. Snowden spricht von der »emergent practice«, was man vielleicht mit dem Prozess erwachsende Lösung übersetzen kann (vgl. dazu 1.5).

Wird man hier gefragt: Wie seid ihr zu dieser Lösung gekommen?, kann man zwar Gründe und Faktoren benennen, die zum Ergebnis geführt haben. Aus der Rückschau lässt sich der Lösungsweg u.U. nachvollziehen. Aber dieses Ergebnis wäre nicht planbar gewesen. Daher ist der Versuch, diesen Lösungsweg in einem anderen Fall nachzuahmen, auch wenig sinnvoll. Denn in jeder anderen komplexen Situation wird sich eine andere Entwicklung hin zu einer anderen Lösung ergeben.4 Komplexe Vorgänge sind keine Erscheinungen des 21. Jahrhunderts. Es gab sie schon immer. Soziale Systeme haben schon immer eher wie Organismen und nicht wie Maschinen funktioniert. Aber unser Blick dafür wurde durch die Entwicklung in den vergangenen beiden Jahrhunderten verstellt: Die wachsende, vieles beherrschende Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik im Zuge der industriellen Revolution und die Ökonomisierung des Lebens haben unser Denken nachhaltig geprägt und den Glauben an die Machbarkeit durch technischen Fortschritt und Finanzkraft genährt. Durch die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wurde er nur vorübergehend erschüttert.

Vor diesem Hintergrund kann man fragen, in welchen Bereichen Komplexität tatsächlich gegenüber früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten gewachsen ist und weiter wächst und in welchen Bereichen Komplexität nicht gewachsen ist, sich aber unsere Wahrnehmungsfähigkeit verändert hat. Dass in den vergangenen beiden Jahrhunderten vieles als machbar und beherrschbar galt, hat die Aufmerksamkeit für komplexe Zusammenhänge eher zurückgehen lassen als gefördert. Gleichzeitig ist die Wahrnehmungsfähigkeit insgesamt differenzierter und feiner geworden. Wenn wir uns nun mit einer verfeinerten Wahrnehmungsfähigkeit dem Komplexen zuwenden, das lange wenig Aufmerksamkeit bekam und für das wir entsprechend wenige Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet haben, verstärkt das natürlich Hilflosigkeit und Ohnmacht. Wie dem auch sei und was auch immer an Ursachen ausgemacht werden kann: Komplexe Vorgänge brauchen neue Aufmerksamkeit.

Schon im komplexen Terrain ist experimentelles Handeln gefragt. Man probiert mögliche Lösungen mit Gestaltungselementen, die man vorfindet. Was aber, wenn nicht einmal diese Gestaltungselemente mehr vorhanden zu sein scheinen, wenn wirklich alles neu (oder zerstört) ist? Dann bricht das Chaos aus! Im Cynefin-Framework ist ein Quadrant dem Terrain des Chaos vorbehalten. Bevor sich etwas neu strukturiert, sind mehr oder weniger chaotische Phasen in der Regel nicht zu vermeiden. In chaotischen Situationen handeln Menschen spontan, zufällig und unberechenbar. Manchmal geht es dabei ums nackte Überleben, wie z.B. in Kriegs- oder Nachkriegssituationen. Ordnende Strukturen sind außer Kraft geraten. Es bleibt keine Zeit zum Probieren. Um noch Schlimmeres abzuwenden, ist unmittelbares Handeln nötig. So formen sich neuartige Lösungen (novel practice) und Strukturen.

Das Cynefin-Framework hilft, die verschiedenen Herausforderungen des eigenen Lebens genauso wie die in der kirchlichen und gemeindlichen Wirklichkeit besser zu verstehen. So können Entscheidungsgremien auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen überlegen, welche Problemlage tatsächlich vorliegt bzw. welcher Kategorie sie angehört und welche Lösungswege ihnr entsprechen. Viele Dinge im Gemeinde- und Kirchenleben sind relativ einfach und können schnell entschieden werden, vielleicht sogar, ohne dass ein Gremium oder gar mehrere dafür Zeit aufwenden müssen. Andere Dinge sind zwar schwierig, können aber mit entsprechender Analyse, Expertise und Ressourcen gut gelöst werden. Und sie sind dann auch gelöst! Wieder andere verweigern sich einer solchen abschließenden Lösung. Sie verschaffen sich immer wieder einen Platz auf der Tagesordnung. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Problem im komplexen Terrain angesiedelt ist. Vielleicht sind manche unter- oder hintergründig mitwirkende Faktoren noch nicht ausreichend im Blick? Lösungen, die in der Vergangenheit hilfreich waren, greifen nicht mehr wirklich etc.

Das Cynefin-Framework erweist sich in unserer Arbeit mit Kirchenvorständen, Pfarrkonferenzen, Synoden und kirchlichen Einrichtungen als äußerst inspirierend, wobei aber zwei Dinge zu beachten sind:

1.3 Strukturelle Überdehnungen und geistliche Neuorientierungen – zwei Prognosen

Auf unterschiedlichen Ebenen kirchlicher Leitungs- und Entscheidungsverantwortung beobachten wir Kennzeichen, die uns die Komplexität des Geländes anzeigen, in dem wir uns befinden: Die Unübersichtlichkeit wächst, der Glaube an die Machbarkeit schrumpft. Man erlebt, dass Fachwissen und Professionalität, dass die Konzentration auf Analyse und Bewertung bei bestimmten Problemen und Herausforderungen nicht ausreichen, um neue Lösungen zu finden, bzw. neue Lösungswege zu entwickeln. Die »Werkzeuge«, die im komplizierten Gelände gegriffen haben, lassen sich zwar anwenden, führen aber nicht wirklich weiter. Die daraus erwachsende Hilflosigkeit kann mitunter nur mit Mühe verborgen werden. Viele haben aufgehört, nach großen Visionen zu fragen. Sie glauben auch nicht mehr daran. – Willkommen im komplexen Gelände!

Wie kann es weitergehen? Bleibt es allein bei den in 1.1 beschriebenen Lösungswegen, dann ist eine Prognose nicht schwer. Viele Haupt- und Ehrenamtliche sind schon jetzt an den Grenzen ihrer Möglichkeiten oder haben diese bereits überschritten. Müdigkeit macht sich breit, teilweise verbunden mit Resignation oder dem Aufbieten letzter Kräfte. Die Schiene mehr und besser wird irgendwann ausgereizt sein: im komplizierten Terrain, weil die nötigen Ressourcen nicht (mehr) vorhanden sind; im komplexen Terrain, weil es vielfach Neuland ist und die Kategorien mehr und besser einem unbekannten Gelände, das neugierig erkundet werden muss, nicht entsprechen.

Wir überfordern uns in Kirche häufig doppelt: Wir schaffen es nicht, all die Aufgaben mit den (noch) vorhandenen Mitteln und Menschen zu bewältigen. Und: Wir sind im simplen und komplizierten Terrain geübt, haben aber zunehmend mit Herausforderungen durch Komplexität zu tun, ohne dafür schon geeignete Problemlösungsinstrumente zu haben. Um diese zu entwickeln, bräuchten wir Zeit. Und die haben wir nicht, weil die Ressourcen knapp sind … Der Kreis schließt sich. Die Fülle der Anforderungen und Aufgaben erschwert dabei häufig auch den Zugang zu den Quellen des eigenen Glaubens.

Der Kollaps in Teilen des Systems wird früher oder später kommen. Risse in flächendeckender Versorgung, z.B. mit regelmäßigen gottesdienstlichen Angeboten, sind schon jetzt offensichtlich und werden immer unvermeidbarer, besonders in sog. »Entleerungsgebieten«, also dort, wo auch die Bevölkerungsdichte abnimmt. Drohender Kollaps in manchen Regionen und der Verlust lokaler gesellschaftlicher Anerkennung drücken die Motivation. Ein Gewinn an Ausstrahlungskraft ist unter den Bedingungen struktureller Überdehnung und spiritueller Unterversorgung nicht sehr wahrscheinlich.

Gleichzeig wird immer deutlicher, dass man Veränderungen nicht nur strukturell angehen kann, z.B. bei der Zusammenlegung von Gemeinden, sondern dass man genauso auf die Langsamkeit von Prozessen, auf Räume der Annäherung, auf tragfähige Erfahrungen von Zusammenarbeit, auf Prägungen und Sehnsüchte, auf gemeinsam entwickelte Bilder von Kirche etc. achten muss. Und wir nehmen wahr: In alledem suchen immer mehr Mitarbeitende auch eine geistliche Perspektive und die theologische Durchdringung der Reformprozesse.

Neben dieser ersten gibt es noch eine zweite Prognose: Menschen handeln zunehmend eigenständig religiös. Was in kirchlichen Zukunftspapieren bisher keine tragende Rolle spielte, wird in der neuesten, fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (V. KMU) als eine der zentralen Perspektiven und Erkenntnisse hervorgehoben. In der Untersuchung kommen »die Befragten nicht zuerst als Konsumenten institutioneller Angebote in den Blick, sondern vielmehr als Akteure religiöser Kommunikation«.5 Menschen entscheiden eigenständig und selbstbewusst, ob, wie und mit wem sie religiös kommunizieren, wo und wie sie sich in der Kirche oder anderswo engagieren. Sie entscheiden genauso eigenständig, in welcher Form sie regelmäßig, gelegentlich oder gar nicht wahrnehmen, wofür die Kirche als Institution steht und was sie anbietet. Dabei gibt es viele, die – je nach biographischer Phase, Lebenssituation und Herausforderung – zwischen (punktuellem) Engagement und Indifferenz changieren. Zur religiösen Eigenständigkeit gehört auch: Menschen nehmen zwar gottesdienstliche Angebote wahr (Kasualien, besondere Feste im Jahreszyklus …), um zu beten, brauchen sie aber nicht unbedingt einen Gottesdienst. Sie nutzen die offene Kirche während der Woche, beten in der Natur, zu Hause, unterwegs. Manchmal mischen sich christliche und andere spirituelle und kulturelle Interessen und Orientierungen. Manche sind ausdrücklich am christlichen Glauben orientiert, brauchen in ihrem subjektiven Empfinden aber keine Kirche.6

Tabelle_Kirchenmitgliedschaft.pdf

Eine Grafik der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen konkretisiert die beschriebenen Phänomene:7

Das alles bestätigt, was wir aus Erfahrung kennen: Die Grenzen sind fließend. Es gibt innerhalb der Kirche nicht nur christlichen Glauben, sondern auch religiöse Suche und Unglauben. Und außerhalb der Kirche gibt es nicht nur Unglauben und religiöse Suche, sondern auch christlichen Glauben.

Wachsendes Interesse von Menschen mit loser oder fehlender Kirchenbindung an metaphysischen und spirituellen Fragen ist mehr und mehr zu beobachten.8 Überall in der Gesellschaft kann man Gottsucher, Mystikerinnen, Ritualdesigner etc. finden.

Spannend wird die Frage sein, ob sie wieder auf die Idee kommen werden, die Kirche und ihre Vertreter/-innen als Partner/-innen für ihr Interesse in Anspruch zu nehmen.