Titelbild

ISBN 978-3-492-98156-9

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © xenia_ok / shutterstock.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2012

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kapitel_01

»Hast du schon dein Testament gemacht?« – »Bist du lebensmüde?« – das sind üblicherweise die ersten Reaktionen, wenn man erzählt, dass man regelmäßig mit der Mitfahrzentrale reist. Für viele ist es unvorstellbar, sich zu fremden Leuten ins Auto zu setzen und sein Schicksal in fremde Hände zu legen. Schließlich ist so eine Fahrt im überfüllten ICE – bei dem nur hin und wieder die Klimaanlage ausfällt – auch viel schöner.

In der Tat weiß niemand, wer beim Mitfahren neben einem Platz nimmt. Ein Draufgänger, in dessen Auto man um sein Leben fürchten muss? Stinkt der Nachbar auf der Rückbank so nach Schweiß, dass man vier Stunden lang nur durch Schnappatmung überlebt? Oder textet einen der Beifahrer nonstop zu, bis die Ohren qualmen?

Gleichzeitig macht aber genau das den Reiz aus: Man trifft Leute, denen man sonst niemals über den Weg laufen würde – einen unbeholfenen jungen Priester, eine als medizinisch-technische Assistentin getarnte Domina oder einen echten Weltenbummler. Nicht selten ereignen sich an Bord aber auch die verrücktesten Sachen: Die Sitznachbarn prügeln sich, gefährliches Gepäck taucht auf, und manch einer soll schon die große Liebe gefunden haben.

Ich habe meine Freundin zwar nicht an Bord kennen gelernt, aber trotzdem war sofort klar, dass ich sie mit der Mitfahrzentrale besuchen würde. Sie wohnte in Straßburg, ich in München. 360 Kilometer. Zwei Jahre Fernbeziehung – und ich fuhr jedes Mal mit fremden Leuten zu ihr. Das ist billiger als der Zug und umweltfreundlich sowieso, weil sich dabei bis zu fünf Leute zusammentun.

Außerdem ist die Mitfahrzentrale unkompliziert. Bei mehreren Anbietern im Internet kann man sich eine Fahrt aussuchen, ruft den Fahrer an und vereinbart einen Treffpunkt. Aber Mitfahrzentralen gibt es nicht erst seit dem Internetzeitalter, sondern schon seit den 1950er-Jahren. Damals hießen sie allerdings noch »Benzingast-Organisation«. Fahrer und Mitfahrer trafen sich im Büro der Mitfahrzentrale, wofür diese eine Vermittlungsgebühr kassierte. Solche stationären Anbieter gibt es vereinzelt auch heute noch.

In den zwei Jahren habe ich viele schöne, lustige, skurrile, aber auch traurige Geschichten beim Mitfahren erlebt. Und nicht nur ich, sondern auch Freunde, Bekannte und alle meine Fahrer und Mitfahrer.

Seit ein paar Monaten hat meine Freundin einen neuen Job in München, wir wohnen in einer gemeinsamen Wohnung. Die Zeit der Fernbeziehung ist vorbei – und damit auch die regelmäßigen Mitfahrgelegenheiten. Doch immer wenn wir Freunde in Hamburg, Berlin oder Straßburg besuchen, nehmen wir Mitfahrer mit. Denn die krassesten Geschichten erlebt man nunmal an Bord einer Mitfahrgelegenheit …

kapitel_02

Ordentlich Party machen in Hamburg – das ist genau das, worauf Jupp so richtig Bock hat. Raus aus der Kleinstadt im Rheinland, rein ins Spaßgetümmel der Hansestadt. Sofort hat er seine Kumpels Harry und Christian für seinen Plan gewonnen. Jetzt brauchen sie nur noch einen Fahrer. Denn die drei sind erst 17, keiner hat einen Führerschein. Aber Jupps Schwester Katharina schon.

Erst ziert sie sich. Ein Wochenende mit ihrem jüngeren Bruder und dessen beiden Kumpels? Das endet doch sowieso nur in einer üblen Sauferei. Und sie ist mittendrin und darf sich um ihren besinnungslosen Bruder kümmern. Schließlich lässt sie sich doch überreden. In Hamburg studiert nämlich eine ihrer besten Freundinnen. Die hat sie schon seit vier Monaten nicht mehr gesehen. Höchste Zeit, sie mal zu besuchen. Sollen sich die Jungs derweil ruhig auf der Reeperbahn abschießen.

Ein Platz in Katharinas altem Golf ist noch frei. Die vier beschließen, über die Mitfahrzentrale noch einen Mitfahrer zu suchen. Dann wird’s für alle billiger. Am Tag vorher ruft eine Steffi bei Jupp an. Sie studiert in Köln, kommt aber aus Hamburg, sehr gerne würde sie mitfahren. Gebongt. ›Die zahlt nicht nur für die Fahrt, sondern hört sich auch ganz nett an‹, denkt Jupp. Perfekt.

Doch nicht nur das. Als Steffi in den Golf steigt, machen die drei Jungs ganz große Augen. ›Die ist ja ultraheiß‹ – ›So ein Gerät habe ich noch nie gesehen.‹ In der Tat, Steffi ist wirklich äußerst attraktiv. Sie hat schulterlange, blonde Haare, trägt ein enges, figurbetontes Top mit Spaghettiträgern und einen recht kurzen Rock. Ihre ellenlangen Beine und die Arme sind braungebrannt. Für Jupp und seine Kumpels ist Steffi die absolute Traumfrau.

Sofort ist klar, dass die drei Jungs ihr verfallen sind. Vor allem als sie auch noch ganz unverkrampft mit den spätpubertierenden Teenagern quatscht und keine Spur arrogant ist. Steffi erzählt von ihrem Anglistikstudium und von Hamburg, dann hört sie sich Jupps Kiffergeschichten und Schulstreiche an – und hat wirklich Spaß dabei. Mal lächelt sie Jupp an, so dass dem ganz heiß wird. Dann zwinkert sie Harry zu, der daraufhin nur noch stottert.

Die ganze Fahrt über grinst Jupp bis über beide Ohren. Definitiv hat er den besten Platz ergattert, er sitzt in der Mitte auf der Rückbank – und direkt neben ihm hockt die schärfste Frau, die seine Jungs und er je gesehen haben. Sie muss sich nur ein wenig im Sitz bewegen, schon berühren ihre Beine seine – und Jupps Puls geht schlagartig nach oben. ›Manchmal ist das Leben einfach wunderbar!‹ Jupp ist glücklich.

Der rauschhafte Zustand liegt einerseits an Steffi. Sie ist wirklich der Hammer. Andererseits kommt er aber auch daher, dass die drei Jungs seit Fahrtbeginn einen Wodka-O nach dem anderen trinken. Kaum hat einer seinen weißen Plastikbecher ausgetrunken, schenkt der andere zwei Fingerbreit Wodka nach und gießt O-Saft drüber. Es dauert nicht lange, bis die drei richtig bedudelt sind.

»Willste auch ’nen Wodka-O?«, fragt Jupp und versucht ein Lächeln. Ein ganz zaghafter Annäherungsversuch. Steffi lächelt zurück. Natürlich hat sie kapiert, was Jupp vorhat. »Nee, lass ma… da wird mir so schnell schlecht.« Auf Alkohol hat sie jetzt ohnehin keine Lust, es ist helllichter Tag. Aber es stört sie überhaupt nicht, dass die Jungs trinken. Sie findet die drei richtig niedlich, gerade weil sie noch so unbedarft sind und sie so hoffnungslos anschwärmen. Außerdem ist es total witzig, wie betrunken sie mit der Zeit werden. Jupp bekommt ganz glasige Augen und eine rote Nase, Christian verstummt und Harry lallt.

Je mehr die drei trinken, desto mehr verfallen sie der schönen Studentin aus Hamburg. Und Steffi merkt natürlich, wie die Jungs sie ansehen. Das genießt sie schon.

Kurz vor Hannover sind die Jungs schon richtig besoffen. Sie merken gar nicht, dass der Golf von Jupps Schwester plötzlich nur noch Schritttempo fährt. Stau. Mal geht fünf Minuten lang gar nichts mehr, dann fahren sie hundert Meter mit 5 km/h, um daraufhin wieder minutenlang zu stehen. Auf der Spur neben ihnen steht, fährt und steht ein alter weißer Toyota. Drei Jungs Mitte 20 sitzen drin. Sofort merken die, dass hinten links im Golf nebenan eine äußerst hübsche Blondine mitfährt …

Erst winken die drei wie verrückt. Doch im Golf nebenan bemerkt sie niemand. Die Jungs sind zu sehr mit Saufen beschäftigt, Steffi amüsiert sich darüber, und Katharina konzentriert sich auf den Stop-and-Go-Verkehr. Dann drückt der Fahrer des Toyotas lange auf die Hupe. Jetzt drehen sich die Golf-Insassen sofort um. Die drei älteren Jungs winken lächelnd. Steffi grinst zurück. Sie sieht sich die drei an – und bleibt bei dem Typ auf dem Beifahrersitz hängen. Wow, schaut der gut aus. Er hat kurze, dunkle Haare, struppig stehen sie in alle Richtungen – wie Brad Pitt, nur jünger und mit dunkleren Haaren.

Von nun an haben Jupp und seine Kumpels nichts mehr zu melden, Steffis volle Konzentration gilt dem hübschen Typen. Jedes Mal, wenn entweder der Golf am Toyota vorbeifährt oder umgekehrt lächeln sie sich an und winken. Seine Kumpels flirten nicht mehr. Der dunkle Brad Pitt hat ihnen schnell klargemacht, dass die hübsche Blondine genau sein Fall ist. Jupp und seine Freunde merken, dass sie aus dem Rennen sind. Ein bisschen traurig ist er schon. Aber mal ehrlich, landen konnte er bei dem heißen Feger eh nicht. Was will eine Frau Anfang 20 mit einem Teenager wie ihm? Auch Christian nimmt die Niederlage sportlich, Harry jedoch ist vollkommen fertig. Bis über beide Ohren ist er verliebt, und jetzt hat er ein gebrochenes Herz – es bleibt ihm nur noch der Alkohol. Frustriert ext er einen Wodka-O nach dem anderen …

Währenddessen geht das Spielchen zwischen Steffi und dem jungen Brad Pitt weiter. Mal drückt er einen dicken Kuss auf die Fensterscheibe, mal verdreht sie lasziv die Augen. Dann fährt er mit seiner Zunge lüstern an seinen Lippen entlang. Die beiden haben ihren Spaß, auch Brad Pitts Kumpels, Katharina, Jupp und Christian finden das Spielchen mittlerweile richtig lustig. Laut johlen sie auf, wenn der jeweils andere Wagen wieder in Sicht kommt. Nur Harry säuft traurig weiter.

Doch dann ist der Toyota verschwunden. Auf seiner Spur kommen die Autos plötzlich viel schneller voran. Der Golf kommt nicht mehr hinterher. Enttäuschung macht sich breit. Erst nach einer Viertelstunde hat der Golf wieder einen Lauf. Meter um Meter geht es vorwärts. Endlich sehen sie den Toyota wieder. »Wenn wir auf einer Höhe mit denen sind, dann bleib einfach mal stehen«, ruft Steffi. Katharina, Jupp und Christian sind gespannt, was sie vorhat.

Der Golf holt immer weiter auf. Noch 30 Meter. Dann sind es nur noch 15. Schließlich sind sie auf einer Höhe. Sofort bremst Katharina ab. In dem Moment zieht Steffi ihr enges Träger-Top nach oben. Zum Vorschein kommen die schönsten Brüste, die Jupp jemals gesehen hat. Sie sind perfekt, etwas mehr als eine Handvoll, wunderschön geformt. Da hängt aber auch gar nichts. Jupp bringt den Mund nicht mehr zu. Der absolute Wahnsinn. Wie im Paradies …

Brad Pitt und seine Jungs johlen. Sie kurbeln die Fenster runter und pfeifen laut, der Fahrer hört nicht mehr auf zu hupen. Steffi denkt gar nicht dran, das Top wieder überzustreifen. Stattdessen wippt sie ihre Brüste langsam von links nach rechts – immer im Takt der Hip-Hop-Musik, die aus dem Toyota herüberdröhnt. Dann lässt sie ihren Oberkörper kreiseln, der Busen hüpft natürlich mit. Verträumt grinst Jupp. So was hat er noch nie erlebt, die Lady ist so heiß. Seine Schwester Katharina lacht sich tot. Jungs sind aber auch so einfach gestrickt. Einfach mal Titten raus, schon hat man sechs von ihnen um den Finger gewickelt. Steffi hat’s echt drauf. Alle Achtung, von der kann man noch was lernen.

Plötzlich hupt es von hinten. ›Jetzt hat der Hintermann auch noch Steffis Brüste bemerkt‹, denkt sich Jupp. Aber er irrt sich, das Hupen hört nicht auf. Katharina merkt endlich, dass die Spur vor ihr schon längst frei ist. Ein letztes Mal lässt Steffi ihre Brüste noch tanzen, dann zieht sie ihr Träger-Shirt wieder runter. »Das war echt geil«, Jupp kann sich nicht mehr zurückhalten. Auch die anderen beglückwünschen Steffi zu ihrer Show. Wie soll Brad Pitt das toppen? Zumal sie immer schneller auf ihrer Spur fahren. Anscheinend hört der Stau langsam auf. Schnell geht es ganz normal weiter.

Der Einzige, der sich die ganze Zeit totenstill verhält, ist Harry. Er ist übelst besoffen, weil er sich aus Frust einen Wodka-O nach dem anderen reingekippt hat. Dann hat er auch noch gesehen, wie »seine« Steffi ihre perfekten Brüste dem anderen Typen hinstreckt. Das ist zu viel für ihn. Die Hormone, der Alkohol, die schlechte Luft im Auto. Harry wird es richtig schlecht, er ist plötzlich ganz weiß im Gesicht.

»Kannste … ranfahren … muss kotzen«, stammelt er besoffen. Katharina erschrickt. Der soll sich bloß zusammenreißen und ja nicht ihr schönes Auto vollreihern. Gottseidank kommt gleich ein Parkplatz. Kaum steht das Auto, springt Christian von hinten aus dem Auto und reißt die Beifahrertür auf. Er weiß, ohne Hilfe schafft es Harry nicht mehr aus dem Auto. Der torkelt langsam zum nächsten Abfalleimer und entleert dort seinen gesamten Mageninhalt. Dann trottet er langsam zum Auto zurück. Er kann sich kaum auf den Beinen halten, zittert am ganzen Leib und ist bleich wie eine Leiche.

Zurück auf dem Beifahrersitz schläft Harry sofort ein. Bald hört man nur noch ein lautes Schnarchen. Die anderen atmen auf. Solange er schnarcht, ist alles in Ordnung. ›Der arme Kerl‹, denkt sich Steffi. ›Ich habe ihm wohl ganz schön den Kopf verdreht.‹ Wegen ihr hat er sich so richtig betrunken. Aber irgendwie ist das auch süß. Doch ein wenig ärgert sie sich schon. Hätten sie nicht wegen seiner Kotzerei anhalten müssen, hätten sie den Toyota mit dem süßen Typen sicher noch mal gesehen. Der muss nämlich in der Zeit vorbeigesaust sein, als sie auf dem Parkplatz waren. Bis Hamburg sehen sie den Wagen jedenfalls nicht mehr. Vielleicht hätte sie dann irgendwie geschafft, mit Brad Pitt Telefonnummern auszutauschen …

›Ach was‹, denkt sie sich dann. Schwamm drüber. Der Typ sah einfach nur gut aus, wahrscheinlich war der total doof. Aber lustig war das Spielchen schon. Und wie die Jungs alle baff waren. Dann grinst sie und blickt auf ihr Dekolleté. Hat schon echt Vorteile, so gut bestückt zu sein …

kapitel_03

Es gibt Leichteres als eine Wohnungssuche in München. Das wissen selbst Leon und Max, obwohl die beiden Studenten aus Karlsruhe erst in die Hauptstadt Bayerns ziehen wollen. Allein ein Besichtigungstermin ist schon ein Erfolg. Seit einer Woche suchen sie im Internet nach Drei-Zimmer-Wohnungen, aber erst heute hat der erste Vermieter ihnen einen Besichtigungstermin genannt. Morgen Nachmittag um 16 Uhr.

Da müssen sie unbedingt hin. Also beschließen sie, am nächsten Morgen um 10 Uhr in Karlsruhe loszufahren. Damit die Benzinkosten sinken, bietet Leon die Fahrt bei der Mitfahrzentrale an. Doch niemand meldet sich. Schließlich gehen die beiden Jungs pennen. Um 23 Uhr läutet Max’ Handy. Ein Fritz.

»Hey du, Ihr fahrt doch von Karlsruhe nach München?«

»Äh, ja.« Max braucht einen Moment, bis er wieder voll da ist. Er war schon eingeschlafen. »Willst mitfahren?«

»Nee, nee. Fahrt ihr über Baden-Baden?«

»Wie? Über Baden-Baden?« Das liegt nun wirklich nicht auf dem Weg. Von Karlsruhe werden die beiden direkt nach Osten auf der A8 Richtung München fahren. Baden-Baden ist 40 Kilometer südlich von Karlsruhe auf der A5. Was für ein Umweg.

»Klar könnt Ihr über Baden-Baden fahren!«

»Äh, nein, wir fahren nicht über Baden-Baden. Das ist ein krasser Umweg.«

»Doch, weil mein Laptop ist in Baden-Baden.«

»Ja und? Du willst jetzt mit uns nach Baden-Baden fahren und deinen Laptop holen?« Max ist verwirrt. Er rafft nicht, was der Anrufer von ihm will.

»Nein, ich will, dass du mir meinen Laptop aus Baden-Baden mitbringst.«

»Ja, aber wir fahren doch nicht nach Baden-Baden, sondern von Karlsruhe nach München.«

»Stopp. Noch mal von vorne.« Der Anrufer merkt, dass Max überhaupt nichts kapiert. »Ich bin in München, mein Laptop ist in Baden-Baden, und du bist in Karlsruhe. Richtig?«

»Richtig. Das heißt, du willst gar nicht mitfahren?« So langsam begreift Max.

»Richtig. Aber könntet ihr eventuell meinen Laptop von Baden-Baden mit nach München bringen?«

»Wieso das denn?« ›Will der Typ mich verarschen? Wieso soll ich denn jetzt einen Umweg von 80 Kilometer machen, bloß um dem Typen einen Laptop zu holen?‹ Max ist sehr skeptisch.

»Ja nee, ich würde dich auch dafür bezahlen. Dann treffen wir uns in München und du gibst mir den Laptop.«

Max ist unschlüssig. »Du vertraust mir, dass ich den Laptop nicht selber einstecke, sondern ihn dir nach München fahre? Und überhaupt, wie kann ich denn sicher sein, dass es überhaupt ein Laptop ist und nicht irgendwelche Drogen?« Ihm ist die Sache nicht ganz geheuer.

»Wenn du die Laptop-Tasche öffnest, siehst du gleich, dass da ein gebrauchter Rechner drin ist. Keine Drogen oder irgendwelche Schmuggler-Ware. Ich brauche den Laptop dringend zum Arbeiten. Ich geb dir 100 Euro dafür.«

100 Euro! Von einem Mitfahrer bekommen Max und Leon sonst 15 Euro von Karlsruhe nach München. Dabei will Fritz gar nicht selbst mitfahren, sondern nur einen Computer haben. Und dafür einen Hunderter zahlen. Max rennt aus seinem Zimmer und weckt Leon. Er erzählt ihm von den 100 Euro, Leon ist sofort einverstanden. Dann sagt er Fritz zu.

Mindestens eine Stunde werden sie für die Fahrt nach Baden-Baden und zurück brauchen, rechnen Leon und Max. Dann müssen sie auch noch den Ort finden, an dem sich der Laptop befindet. Deshalb starten sie am nächsten Morgen schon um acht, zwei Stunden früher als geplant. Am Telefon hat Fritz gesagt, dass sie den Laptop am Flughafen abholen sollen. Doch der Computer wartet nicht direkt am Terminal, sondern an einer Imbissbude. Die wiederum steht an einer Rennstrecke, die sich neben dem eigentlichen Flughafen-Gelände befindet.

Den Kurs hat Fritz zwei Tage vorher gemietet, um ein Rennen für Motorradfahrer auszutragen. Solche Rennen auf Strecken in ganz Europa zu organisieren, ist sein Job. Nach dem Rennen packt er zusammen und reist los zum nächsten Event. Mit ihm sein Laptop, in dem er sämtliche Daten der Teilnehmer oder andere Geschäftskontakte hat. Dumm nur, dass er den Computer einfach stehen gelassen hat, als er gestern nach München zurück gefahren ist. Vor allem, weil er morgen die nächste Veranstaltung hat …

Aber Fritz hat Glück. Denn Gunnar, der die Imbissbude an der Strecke betreibt, hat den Rechner gefunden – und Fritz sofort verständigt. Jetzt muss der Computer nur noch von Baden-Baden nach München. Doch anstatt ihn sich per Express für mehrere hundert Euro schicken zu lassen, fällt Fritz etwas Besseres ein: die Mitfahrgelegenheit. Da fahren meistens junge, arme Kerle mit. Die freuen sich über 100 Euro – und er selbst spart sich auch noch ein paar hundert Euro.

Um Viertel vor neun Uhr biegt Leons VW Passat auf das Gelände des Baden Airparks ab. Langsam fahren sie weiter, bis sie ein Schild zum Driving Center sehen. Hier irgendwo muss der Imbiss-Stand sein. Die beiden steigen aus und schauen sich um. »Da hinten ist er.« Leon deutet auf einen Anhänger, der wie ein quadratischer Wohnwagen aussieht. Er ist offen, die beiden können die Theke und den Wurstgrill sehen. Nichts wie hin. Je näher sie dem Wagen kommen, desto mehr Frittenduft. Es ist zwar erst kurz vor neun Uhr morgens, aber ’ne Runde Pommes könnte Leon schon vertragen.

Ein Mann mit weißer Schürze kommt aus dem Wagen. »Ihr seid die beiden, die den Computer für Fritz mitnehmen. Richtig?« Leon und Max nicken. Der Imbissbesitzer hat den beiden schon angesehen, dass sie keine Rennfahrer sind, die bei ihm Pause machen wollen. »Fritz hat mir schon erzählt, dass ein Max mit einem Kumpel vorbeikommen wird.« Er geht zurück zur Bude und reicht Max eine schwarze Laptoptasche. »Da isser. Da wird sich der Fritz freuen.« Die beiden Computer-Kuriere genehmigen sich noch eine Portion Pommes und quatschen noch ein bisschen mit dem Besitzer.

Nach einer Viertelstunde brechen sie auf und tragen die Tasche zum Auto. Hat alles genauso funktioniert, wie Fritz am Telefon gesagt hat. Die Rennstrecke, der Imbiss, der Besitzer, der ihnen die Laptoptasche gibt. Und doch schwankt Max ein wenig. Was, wenn da gar kein Laptop drin ist? Sondern Drogen, Zigaretten oder sonst irgendwelche Schmugglerware? Wenn die Polizei sie aufhält, sind sie dran. Dann können sie sich nicht auf irgendeinen Fritz rausreden.

Zurück am Wagen beschließt Max, die Tasche zu öffnen. Er will sichergehen und macht den Reißverschluss auf und sieht – einen Laptop. Sonst ist nichts in der Tasche. Genau, wie Fritz gesagt hat. Denn das Ladekabel hat er in München. Stimmt also alles. Dann nichts wie los nach München. Die 100 Euro warten!

Leon fährt, Max sitzt neben ihm. Die Laptoptasche hat er zwischen die Beine gestellt. Sicher ist sicher. Die Kohle soll ihnen auf keinen Fall durch die Lappen gehen. Nicht, dass Leon bremsen muss, die Tasche durch das Auto fliegt und der Laptop kaputtgeht. Dann sehen sie keinen Cent von Fritz.

Vier Stunden später sind sie in München. Max ruft Fritz an, der lotst die beiden zu sich nach Schwabing. Die beiden Studenten klingeln, dann kommt ein Mann Mitte 30 die Treppe runter. Er grinst übers ganze Gesicht, in der Hand wedelt er mit zwei 50-Euro-Scheinen. Das muss Fritz sein. Er schüttelt den beiden die Hand, drückt ihnen die Kohle in die Hand und bedankt sich mehrmals. Dann nimmt er den Laptop.

Leon und Max wollen sich verabschieden, doch Fritz hält sie zurück. »Hey Jungs, habt ihr Hunger?« Die beiden nicken. Es ist halb drei Uhr nachmittags, seit den Pommes haben sie nichts gefuttert. »Habt ihr Lust auf Pizza oder Pasta? Ich kenn’ einen netten Italiener ums Eck. Ich lad’ euch ein.« Leon und Max machen große Augen. Das wird ja immer besser. 100 Euro und ein Mittagessen umsonst. Die beiden bestellen Spezi und Pizza und quatschen mit Fritz. Er ist total nett, erzählt von seinen Rennen und fragt die Jungs nach ihrem Studium.

Eine Stunde später müssen die beiden los. Der Besichtigungstermin steht an. Fritz bedankt sich noch mal bei den beiden, dann düsen sie ab ins Münchner Westend. Die Wohnung ist top, aber mit ihnen schauen sie noch drei Mädels und zwei Pärchen an. Und der Vermieter faselt ständig davon, wie viele Bewerber schon da waren. Als sie die Wohnung verlassen, sind sie sich sicher: Die kriegen wir nie.

Die beiden suchen sich eine Kneipe ums Eck und zücken die 100 Euro von Fritz. Die können sie jetzt gut gebrauchen. Zwei Bier später klingelt Max’ Telefon. Außer »ja« und »ja ja« sagt er kein Wort. Nur seine Augen werden immer größer, bis er übers ganze Gesicht strahlt. Er legt auf, dann brüllt er Leon an. »Das war der Vermieter. Wir haben die Wohnung!!!« Die beiden umarmen sich und bestellen noch ein Bier. Erst die 100 Euro von Fritz, dann ein kostenloses Mittagessen und jetzt die Zusage für die Wohnung in München – was für ein geiler Tag!

kapitel_04

Unscheinbar. Treffender lässt sich Christine nicht beschreiben. Die halblangen, straßenköterblonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein Pony bedeckt die obere Hälfte ihrer Stirn, bis auf die dunklen Augenlider ist sie überhaupt nicht geschminkt. Sie trägt einen grauen Kapuzenpulli, hellblaue Jeans und weiße Chucks. Seit drei Wochen nimmt Kai sie jeden Freitag um sieben Uhr früh vom Hauptbahnhof Karlsruhe mit nach München. Dort bleibt sie bei ihrem Freund, Montagmorgen fährt sie nach Karlsruhe zurück. »Zur Arbeit«, wie Christine sagt.

Doch mehr erzählt seine Mitfahrerin nie. Denn meist schläft die junge Frau, die Kai auf Mitte 20 schätzt, noch auf der Südtangente Richtung Autobahn ein und wacht erst kurz vor der Ankunft am Hauptbahnhof in München wieder auf. Müsste Kai ihren Beruf raten, er würde auf medizinisch-technische Angestellte tippen. Oder technische Zeichnerin. Womit sie ihr Geld wirklich verdient, ahnt Kai bis zu diesem Freitag nicht.

Mit ihrem Kapuzenpulli und der Jeans wirkt Christine auch heute wieder unscheinbar. Aber irgendetwas ist anders. Sie lächelt unentwegt. Und schläft nicht ein, sondern kramt aus ihrer schwarzen Sporttasche auf dem Rücksitz eine Flasche Cola light heraus. Sie trinkt zwei große Schlucke und lächelt wieder. »Du pennst heute nicht sofort ein. Was ist los? Bist du gar nicht müde?«, fragt Kai. Christine grinst übers ganze Gesicht. »Nein, ich bin einfach nur richtig zufrieden.«

»Darf ich fragen, warum?« Neugierig blickt Kai seine Mitfahrerin an. Christine platzt fast vor Grinsen. »Sagen wir es mal so. Ich habe eine verdammt erfolgreiche Woche hinter mir.« Kai lässt nicht locker, als freischaffender Anwalt bohrt er gerne nach. »Und warum hattest Du so viel Erfolg?« Gespannt schaut er Christine an. Die lässt sich mit ihrer Antwort genüsslich Zeit. Sie wartet ein paar Augenblicke und sagt dann trocken. »Weil im europäischen Parlament in Straßburg Sitzungswoche war.«

»Aha«, sagt Kai. Eine Mitarbeiterin in einem Abgeordnetenbüro also, denkt er sich. Eine graues Mäuschen für alles, das passt zu ihr. Schweigend lenkt er seinen Golf V von der A5 auf die A8 in Richtung Pforzheim und überholt einen Lastwagen. Dann ordnet er sich wieder auf der rechten Spur ein. Christine beobachtet ihn die ganze Zeit und grinst. Sie merkt, dass er bei ihrem Beruf ganz und gar auf der falschen Spur ist.

Für sie ist es jetzt ein Spiel. Sie will Kai helfen, auf die richtige Fährte zu kommen, aber alles will sie ihm nicht verraten. »Bei den Abgeordneten heiße ich übrigens Regina«, sagt Christine. »Regina, die Königin.« Einen Augenblick schaut Kai durch die Windschutzscheibe, dann glotzt er seine Beifahrerin verwirrt an. Warum ändert sie im Parlament ihren Namen? Und wieso betont sie das Wort »Königin« so stark?

Kai ist überfordert, er steht auf der Leitung. Christine hat das sofort bemerkt und hilft nach. »Was könnte eine Königin wie ich denn für meine Untertanen in der schwarzen Tasche auf dem Rücksitz haben?« Kai schüttelt den Kopf. Sie öffnet den Reißverschluss der Tasche. Im Rückspiegel sieht der Fahrer die Lederriemen einer Peitsche und ein Lackmieder. Jetzt hat er verstanden. Mit großen Augen schaut er seine Beifahrerin an. Das gibt’s doch gar nicht. Unglaublich, aber wahr: Die unscheinbare Christine ist in Wahrheit eine Domina namens Regina. Und ihre Untertanen sind Abgeordnete des europäischen Parlaments. Bedröppelt nickt Kai ihr zu.

»Verstehst du jetzt, warum ich so zufrieden bin, wenn Sitzungswoche ist?«, fragt Christine und grinst. Kai nickt. Wenn das Parlament eine Woche im Monat in Straßburg tagt, dann fahren viele Abgeordnete jeden Abend von Straßburg nach Karlsruhe und vergnügen sich in dem Edel-Bordell, in dem Christine arbeitet. Und als Regina ist sie dann ihre Herrin. Ob Separatisten von der italienischen Lega Nord, französische Sozialisten oder österreichische Konservative – gemeinsam pilgern sie zur Domina. »Im Parlament beschimpfen die sich bis unter die Gürtellinie, bei mir sind sie dann kreuzbrav und lassen sich der Reihe nach auspeitschen«, erzählt Christine. Namen der Abgeordneten nennt sie nicht, ihre Untertanen bleiben anonym. Das gehört zum Geschäft. Aber einige seien schon recht bekannt.

Erstaunt hört Kai Christine zu, wie sie von ihren berühmten Kunden und deren Vorlieben erzählt. Der eine steht auf Reitgerten, der andere auf Fesseln, der dritte schaut nur gern zu. »Macht dir das denn Spaß?«, fragt Kai. Christine überlegt einen Moment, dann sagt sie bestimmt: »Privat würde ich so was nicht machen.« Sie trinkt einen Schluck Cola, dann fügt sie hinzu. »Aber ich verkloppe meine Untertanen drei Abende pro Woche, und jeder zahlt mir dafür tausend Euro die Nacht. Das macht mir dann schon Spaß.«

Kai schweigt und grinst. Auch Christine lächelt. »Und was sagt dein Freund dazu?«, fragt der Fahrer nach einer Weile. Plötzlich sieht seine Begleiterin nachdenklich aus. Sie nimmt einen weiteren Schluck aus ihrer Cola. »Der weiß nichts davon.« Deshalb bringt sie die Tasche mit der Peitsche und dem Lackmieder immer bei einer Freundin in München vorbei, bevor sie zu ihrem Freund geht. Vor der Rückfahrt nach Karlsruhe holt sie ihr Outfit wieder ab. Betreten schaut Kai nach vorne, dann fragt er. »Und was glaubt er, was du in Karlsruhe machst?« Christine schaut ihn an und fängt zu lachen an: »Er denkt, ich bin medizinisch-technische Angestellte.«