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Peter Strasser

Immer wieder dasselbe
und am besten nichts Neues

Die Weisheit des Austrobuddhismus

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1. Auflage 2014
© 2014 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at

Lektorat: Christine Wiesenhofer
ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-112-5

ISBN E-Book: 978-3-99200-113-2

Für Harald Klauhs

Im Morgengrauen
äußerln getragen werden:
Stille hinterm Busch
.

Im Abendgrauen
äußerln getragen werden:
Stille hinterm Busch
.

2 Haikus, Bashō zugeschrieben, 17. Jh.

Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennte,
der brauchte an keine Predigt zu denken, denn
jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch
.

Meister Eckhart, um 1260–1328

Inhalt

Prolog: Das Prinzip Vollmops

Im Tümpel tümpeln

Graz, Richtung Zentralfriedhof

In Gottes Namen, warum nicht?

Nichtsdestotrotz trotz nichts

Meiner ist noch etwas kleiner!

Vom Bedürfnis auszutreten

The same procedure as every year

Epilog: Der Weg des Zorns

Bibliografische Notiz

Prolog:
Das Prinzip Vollmops

Es könnte sein, ich habe den Vollmops nur geträumt, etwa so, wie im „Prinzip Hoffnung“ des alten Ernst Bloch etwas entsteht, was jedem in die Kindheit scheint und wo aber noch nie jemand war. Geblieben ist – wie immer, wenn das schnöde Leben nur noch den Vorschein des Wahren enthält (und wann enthielte es mehr?) – das Prinzip, nämlich das Prinzip Vollmops. Lange Zeit konnte ich dieses Prinzip nicht in Worte fassen. Und auch die Formel, zu der ich schließlich meine Zuflucht nahm – „Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues“ –, ist ja bloß so lange zutreffend, als uns das Prinzip Realität vor sich hertreibt.

Die Realität, das ist The Devil’s Party, die, während sie rasend in sich zusammenstürzt, uns alle glauben macht, unsere Fortschrittsanstrengungen müssten unendlich werden. Immer noch zu wenig Innovation, Wachstum, Reichtum, Glück! Derart verdichtet aller mögliche Sinn zu einem schwarzen Loch der Existenz. Indem alles um uns rast, auch wir selbst immer besinnungsloser um unser eigenes Zentrum wirbeln, ist dieses nicht mehr fähig, das Licht, das es in sich einsog und an dem es sich belebte – das Licht des Abendlandes, sei’s als Phantasma, sei’s als hohe Realität –, wieder nach außen hin abzugeben. Das ist das Ende unserer Heilsgeschichte.

Vor solch notdürftigem Hintergrund verkümmert, was einst das hochgemute Prinzip Hoffnung war, zum Prinzip Vollmops: Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues! Am besten nichts Neues – das ist, recht verstanden, das Beste, was uns passieren kann. Am Ende der großen Liturgie steht bestenfalls die kleine Liturgie unseres gewöhnlichen Alltags: äußerln tragen und äußerln getragen werden; lieb haben; umeinander besorgt sein; Weihnachtskekse backen und Ostereier färben; Blumen gießen und Hemden bügeln; in die Luft schauen. Was sonst?

Der Weltbegeisterte, verkörpert durch meinen Freund, den Trottel, der gar nicht blöd ist, mag sich in allerlei lachhafte Unternehmungen verstricken. Dennoch ist er es, der uns, die wir auf den Vollmops gekommen sind, daran gemahnt, dass die Welt eine wunderbare Schöpfung ist, die es trotz allem zu preisen gilt – darunter ein Wesen wie Paul, auf den Meister Eckharts Einsicht zutrifft (die er, der Christ, freilich dem Paradies vorbehält): dass sich nämlich in jedem Tier, als Kreatur, das Buch der Schöpfung lesen lässt.

Wie der Teufel in dieses wunderbare Ganze kam? Weiß der Teufel! Jene hingegen, die uns das größte Mysterium lüften – erklären und wegerklären – wollen, bleiben Maulhelden des Absoluten, ebenso hilflos wie zornmütig. Am Schluss, zu allem bereit, um das Geheimnis unseres Seins und Daseins zu denunzieren, sind sie es, die keiner mehr fragt …

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Die Herkunft des Vulgobegriffes „Vollmops“ bleibt reichlich unklar.1 Der neulateinische Terminus Homo sapiens mopsiensis ist bloß für die neueste Zeit nachweisbar, sein außereuropäischer Hintergrund sinologisch recht gut, aber nicht mit letzter Sicherheit erhellt.

Es gibt eine schriftliche Quelle (leider verloren), welche die Geburt des Vollmopses aus dem Rollmops als Gerücht gelten lässt. Demnach müsste irgendwann, aufgrund eines Zufalls, der Vollmops einem Tippfehler entsprungen sein. Dadurch fiele kein günstiges Licht auf die Kompetenz des tippenden Subjekts, sind doch, zumindest im Regelfall der deutschen Standardtastatur, „R“ und „V“ durch eine ganze Buchstabenreihe voneinander getrennt! Immerhin: Analoges kennt man aus der Biologie. Mutationen sind, wenn schon nicht Tipp-, so jedenfalls Lesefehler der Natur.

Dennoch dürfte es sich in diesem Fall eher um das Nachwirken einer platonisch-aristotelischen Mischontologie handeln, deren Nachwirkung sich noch in dem Präfix „Voll“ erhalten hat. Ihr zufolge wäre die Normgestalt (entelecheia) des Mopses, der gemeinhin als die englische Hunderasse Pug bekannt ist (FCI-Gruppe 9, Sektion 11, Standard Nr. 253), keine andere als die des Vollmopses.

Was nun aber wiederum den neulateinischen Terminus Homo sapiens mopsiensis betrifft, so ist er, vermuten die Altsprachler, ursprünglich einem schmückenden Beiwort aus dem chinesischen Kulturraum geschuldet. Denn spätestens seit der Zeit der Drei Reiche, 208–280 nach Christus, wurde den Bonsai-Molossern, also den zwergmolossoiden Mopsartigen, aufgrund ihres herausragenden philosophischen Charakters der Ehrentitel „Mannmensch“ oder „weiser Mensch“ verliehen, was dem lateinischen Homo sapiens entspricht.

Mit Sicherheit jedoch kann das Auftreten des deutschen Ausdrucks „Vollmops“ erst seit der Mitte des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts nachgewiesen werden. Seither freilich taucht ein Vollmops namens Paul in der Mopsliebhaberliteratur immer wieder auf. Daraus sollen im Folgenden, dem dann noch reichlich Nachfolgenden vorauseilend und es introduzierend, drei Schlüsselepisoden zur Kenntnis gebracht werden. Sie entstammen den Journalen von Pauls Herrchen (dem für die Erlaubnis zum Wiederabdruck gedankt sei).

13. September 2006. Die heiße Phase des Nationalratswahlkampfes: Was soll man dazu sagen? Am besten nichts. Immer wieder dasselbe …

So denke ich hin und her, während ich im Grunde gar nichts denke. Dieser Zustand, in dem ich mich mit der Welt eins zu fühlen beginne, darf freilich nicht dauern. „Wenn Ihr Hund so weiterscheißt, dann scheißt er noch das ganze Land voll!“, schreit der Schreigesichtige, der mir abends quer über die Hundewiese entgegenstürmt. Eng an sich gepresst – „Hermann, Fuß!“ – hält er einen Windhund (Italienisches Windspiel, Piccolo Levriero Italiano), der offenbar schon weiß, was kommt.

Denn Hermann hat seinen langen dünnen Schwanz von hinten nach vorne derart flach an die Brust gepresst, dass die Schwanzspitze bei den Vorderbeinen herausschaut. Scheußlich. Und hast du’s nicht gesehen, ist der Schreigesichtige neben mir. Wässrig blaue Augen, Führerblick. Ich tippe auf ein analneurotisches Syndrom: zwanghafte Stuhlverhaltung, Händewaschzwang.

Wozu, frage ich mich, sollte eine Hundewiese gut sein, wenn nicht zur ruhigen Verrichtung der Notdurft, ohne Hektik im Gedärm und ohne Gezerre an der Leine? Inzwischen hat sich der Schreigesichtige dem stämmigen Hinterteil Pauls bedenklich angenähert. Paul ist mein Vollmops, der gerade einen göttlichen Haufen abgesetzt hat, weswegen man seine Laune ohne Übertreibung als „ätherisch“ bezeichnen könnte. Es rührt ihn nicht – er hat ein philosophisches Naturell –, dass nahe seinem Hinterteil ein vermuteter Analneurotiker sein Schnüffelunwesen treibt. Dieser deutet auf Pauls göttlichen Haufen und schreit: „Was ist das?! Was ist das!?“, als ob das Repetieren einer Frage ihre Antwort bereits in sich schlösse.

Dabei fasst er Hermann am vorne herausstehenden Schwanz und fuchtelt mit ihm – und damit mit dem ganzen Hermann – drohend in Richtung meines Pauls, der jetzt, nachdem er sich geradezu übernatürlich erleichtert fühlt, wieder mit dem Einröcheln von Luft durch sein Mopsschnäuzelchen beschäftigt ist.

„Hermann macht nur ins Plastiksackerl, nur, Aa und Lulu, beides!“, schreit der Schreigesichtige und schwups hat er einen schlaffen Plastiksack hervorgezogen, wo in einer gelblichen Flüssigkeit einige hellbraune Kringeln tot herumschwimmen. Hermann winselt. Ein tragischer Anblick.

Mein Rat, in den Wind gesprochen: Jedem misstrauen, der in der Napalmphase des Wahlkampfes fordert, die Nation müsse hundehaufenfrei werden. Nicht nur Paul wird es uns danken, sondern auch Hermann – ja, Hermann ganz besonders!

17. Februar 2010. Die nächste Hysteriewelle läuft schon. Was war gleich die letzte? Passivrauchen? Schweinegrippe? Jetzt sind es die Kampfhunde. Also muss ich mir – als Besitzer eines stämmigen Vollmopses – die Frage stellen: Ist mein Paul ein Kampfhund? Die richtige Antwort lautet: Ja, aber kein hysterischer.

Zunächst: Man darf sich von Pauls verinnerlichtem Blick, der über einem reizend plattnäsigen Röchelschnäuzelchen feuchterdings von tiefen Seelendingen zu künden scheint, keinesfalls in die Irre führen lassen. Dass sich ein Vollmops seiner Natur gemäß – auf einem mit Eiderdaunen gefüllten Samtpolster ruhend – dem Verzehr von schlagobersgegupften Sachertörtchen widmet, ist für Diebesbanden ganz und gar kein Grund zu frohlocken.

Nichts ist furchterregender als ein Vollmops, der, in Solidarität mit Herrchens ererbtem Tafelsilber, dazu getrieben wird, den inneren Kampfhund von der Leine zu lassen. Es beginnt damit, dass sich bei meinem Paul gar nichts rührt. Während die Diebesbande mit ihren Schandtaten zugange ist, produziert mein Paul seine zu Recht gefürchtete Vollmopsstarre. Nachdem Pauls Äuglein die Form gewaltiger Halbkugeln angenommen haben, ruhen sie reglos dunkel auf den Mitgliedern der Diebesbande, die sich mit ihrer Beute aus dem Staub machen wollen.

Da sie aber unversehens von Pauls Kampfhundeflatulenz eingenebelt werden (der Geruch von halb verdauten Sachertörtchen gemahnt, apokalyptisch gesprochen, an das Erbrechen des siebenten Siegels), drehen sie sich mit abfaulender Nase um und werden durch Pauls basedowschen Kampfhundeblick gebannt wie einst Atlas, der Titan, der beim Anblick des abgeschlagenen Medusenhaupts stante pede versteinerte.

Lässt Paul jetzt noch das eine oder andere Zähnchen blitzen, fällt das erstarrte Diebesgesindel garantiert ins Wachkoma. Also bitte, nichts gegen Kampfhunde, nur hysterisch sollten sie nicht sein. Ein Blick sagt oft mehr als tausend Bisse.

20. April 2011, Karwoche. Ich trage meinen Vollmops Paul äußerln. Der aber hat nicht nur unter den Pollen zu leiden, die sein nässendes Plattnäschen praktisch gelb panieren, sondern auch darunter, dass ein Wind von weit her auf die Hundewiese einweht: österlich. Mein Paul ist ein Sehnsüchtiger, den ein Osterwind von der Heimat träumen lässt, die allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war. Paul auch nicht, obwohl ich ihn seit Kindestagen mit Sachertörtchen verwöhne.

Jetzt sind Pauls Äuglein tränenverhangen, erstens wegen der verflixten Pollen und zweitens wegen der österlichen Sehnsucht, die kein Sachertörtchen zu stillen vermag. Wir alle wissen, worum es geht: um die Erlösung, die sich nicht und nicht einstellt, weil, hätte sie sich eingestellt, wir das zuerst gar nicht bemerken und dann partout nicht zugeben würden. Wollte man uns darauf aufmerksam machen, dass die Erlösung endlich da sei, würden wir einen Flunsch ziehen und maulen: „Das war’s? Mehr nicht?“

Um derlei Misslaunigkeiten vorzubeugen, hat den tiefsinnigsten aller Sehnsuchts- und Erlösungssätze kein Geringerer als der Meister der Nostalgie, Marcel Proust, geprägt. Hätte dieser allerdings meine Hundewiesenbekanntschaft, den – nomen est omen – Herrn Witzigmann, gekannt, der seine ausgeschorene Pudeldame namens „Pompadourl“ meinem Paul auf der Hundewiese immerfort zu empfehlen versucht, dann wäre er, Proust, womöglich vor lauter Ennui am leidigen Asthma erstickt, bevor er noch seinen berühmten Satz zu Papier gebracht hätte, der bekanntlich erst im zehnten Band der zehnbändigen Ausgabe der „Suche nach der verlorenen Zeit“ auf Seite 3940 den Leser anzurühren vermag: „Denn die wahren Paradiese sind jene, die man verloren hat.“

Auch heute baut sich Witzigmann vor mir auf, während sich Paul beim Anblick der ausgeschorenen Pompadourl in sich selbst verkriecht. Ja, Witzigmann beginnt Witze zu reißen, und zwar über meine beiden, ihm nur dem Namen nach bekannten Meerschweinchen (Caviae porcelli) namens Fritzi & Fratzi, die bei mir zu Hause wie immer mit dem Mund voller Biokörndln in ihren vollen Futterschüsselchen auf dem Rücken schlafen, um ihre wuscheligen Kugelbäuchlein dem Himmel entgegenzustrecken. Das findet Witzigmann witzig. „Wozu sind Meerschweinchen überhaupt gut?“, fragt er rhetorisch: „Nur fressen, saufen, schlafen, furzen und – eh schon wissen, hahaha!“

Da erklär ich ihm, mit meinem Paul auf dem Arm, kalten Auges mitten auf der Hundewiese, wozu sie gut sind, Fritzi & Fratzi: „Denen ist in der Welt etwas entstanden, das uns allen in die Kindheit scheint, Witzigmann, verstehen Sie?!“ Nein, das versteht er nicht – „Komm, Pompadourl!“ – und sucht sich ein anderes Karwochenopfer zum Witzigsein …

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Gewiss dürfen die auszugsweise und exemplarisch zitierten Journaleinträge nicht beanspruchen, eine fundierte Abschätzung der existenziellen Rolle des Vollmopses für unsere posthumanistische Epoche zu liefern. Dennoch indizieren sie zwei Erkenntnisse, die für alle künftige Überlebenskunst im Abendland, ja des Abendlandes selbst, dessen Untergang von Oswald Spengler bereits 1918 vorausgesagt wurde, von entscheidender Bedeutung sein könnten:

Erstens, die existenzielle Nähe von Meerschweinchen (Caviae porcelli) und Vollmöpsen (Homines sapientes mopsiensis) wurde bis heute, besonders im protestantisch geprägten Kulturraum, unterschätzt. Hedonismus und Erlösungssehnsucht sind keineswegs unversöhnliche Gegensätze, wie uns die asketisch geprägte Pflicht- und Arbeitsethik des Calvinismus glauben machen wollte.

Zweitens, es scheint sich herauszustellen, dass der Philosoph Ludwig Wittgenstein falschlag, als er behauptete, dass diejenigen, die den Sinn ihres Lebens gefunden hätten, dann nicht sagen könnten, worin dieser bestünde („Tractatus logico-philosophicus“, Satz 6 521). Würde Paul von seinem Ruhepolster herab etwas zum Sinn des Lebens sagen wollen – was er nicht will –, dann zweifellos dasselbe wie Fritzi & Fratzi, hätten sie, in ihren vollen Futterschüsselchen schlafend, nicht den Mund voller Biokörndln: Kein Tag ohne Erleichterung!

Von da aus erweist sich die höhere Überlebenskunstfrage zwanglos als die Schwellenfrage unserer Epoche. War es denn nicht genau jene Frage, die Michel Foucault in seinem Epochenschwellenwerk „Die Ordnung der Dinge“ („Les mots et les choses“, 1966) beschwor, als er die Diagnose stellte, der bisherige Mensch werde schon bald verschwunden sein „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“? Man geht also – bis zum Beweis des Gegenteils – gewiss nicht fehl, wenn man vermutet, dass die Transformation des Homo sapiens sapiens in den, nach neuestlateinischer Prägung, Homo sapiens mopsiensis ac cavianiensis porcellus (das lässt sich nicht übersetzen, und das ist auch gut so) mehr als wünschenswert wäre, nämlich eine echte Erleichterung.

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Denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch, hieß es noch in den „Deutschen Predigten“ des Meister Eckhart. Und so ist es eben nicht mehr! Was also hat uns der Vollmops zu sagen? Ist er uns, namentlich in seiner Welt, die seiner tiefen Weltsicht verwurzelt bleibt, noch ein „Buch“, worin wir lesen, aus dem wir unser eigenes Her- und Hinkünftigsein herauslesen können? Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennte, der brauchte an keine Predigt zu denken, hieß es bei Meister Eckhart. Unsere Zeit scheint einer derartigen Erkenntnis nicht gewogen.

Die Tiere, die wir nicht essen, sind uns zu Wesen des billigen, sentimentalischen Zeitvertreibs geworden, weniger als verhaustierte Tiere, einfach nur: „Haustiere.“ Sie sind uns keine Zwecke mehr an sich, so wie auch wir selbst uns nicht mehr als Kreaturen begreifen, die in Ansehung ihrer selbst keine Predigt brauchen, um das Buch der Schöpfung zu entziffern – und um darin, durchs Spiegelbild der Tiere (videmus nunc per speculum in enigmate), unserer Beheimatung hier und jetzt innezuwerden.

Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Dies Hölderlin’sche Wort soll uns begleiten. Von der Gefahr, wo auch das Rettende wächst – davon handeln die folgenden Geschichten und Reflexionen, die nicht mehr, aber auch nicht weniger sein wollen als ein Weisheitsbuch zur Lebens- und Überlebenskunst in einer Zeit der Wandlungen ins Ungewisse. Ihr Autor ist Pauls Herrchen, ein – man muss schon sagen – beamteter Sonderling der Sonderklasse, im akademischen Ausgedingezustand der Pragmatisierung befindlich, seines Zeichens Philosoph, über den schon andernorts Folgendes zu lesen war:

Immer wieder muss er sich auf dem Notbett seines begehbaren Medikamentenschranks von den Strapazen des Alltags erholen, nicht ohne Unmengen von Tabletten, Zäpfchen, Tropfen und Salben zu konsumieren, namentlich ein famoses Produkt namens „Prontopax Forte“.

Vor allem aber stehen seinem besorgten Leben verlässlich einige liebenswerte Geschöpfe zur Seite, allen voran sein Vollmops Paul (der sich, schenken wir dem dummen Gerücht Glauben, irgendwann aus einem Rollmops entwickelte), seine beiden Meerschweinchen Fritzi & Fratzi – eine Symbiose sondergleichen, deshalb das immerselbe „“ als Zeichen ihrer inneren, unschuldigen Verbundenheit – und, erstaunlich genug, sein Freund, der Trottel, von dem es heißt, dass er gar nicht blöd sei.

Und so breitet sich das Leben vor Pauls Herrchen aus: als eine Zitterpartie der Lebens- und Überlebenskunst. Verzittert, wie auf seifigen Dachgiebeln balancierend, begegnet er dem menschlich Allzumenschlichen mit der immerwährenden Hoffnung, deren schönste Verkörperung er in Paul, flankiert von der Schlafgemeinschaft Fritzi & Fratzi, zu erkennen glaubt: „Kein Tag ohne Erleichterung!“2

Derart adjustiert begann er im Schicksalsjahr 2006 seine Vollmopschronik. Es war zufällig das Jahr, in dem sich Günter Grass, Deutschlands Nobelpreisdichter, öffentlich daran erinnerte, als Jüngling bei der Waffen-SS gedient zu haben, womit er den bamstigen Ehrentitel „oberste moralische Autorität“ unter dem lauten Geschrei seiner Kritiker vom Himmel auf die Erde holte. Der Chronist wollte Journal führen gegen die wetterwendische, gesinnungswandelsüchtige böse Zeit im Namen jener Kreaturen, namentlich seines Vollmopses Paul, die für ihn das Menschlichste am Menschen verkörpern, nämlich das Geschöpfliche, das hineinweist ins gute Leben, weil es hinausweist auf den Horizont des verlorenen Paradieses.

Auf diese Weise entstand unserem Philosophen – wenn die vertrauliche Anrede zum Ende dieser Vorrede gestattet ist – schließlich eine Chronik der Eigenbröteleien und Donquichotterien, deren oftmals windschief zeitgenössische Helden, allesamt Alltagsnarren, vom Unvergänglichen, ja, das große Wort sei gewagt, Ewigen künden. Kurz: Es entstand ein abendländisches Weisheitsbuch der Lebens- und Überlebenskunst im Ambiente einer bescheidenen Beamtenwohnung, durchaus ein wenig weltläufig, von Graz in der Steiermark bis nach Caorle, ins Hotel Montecarlo, an der Oberen Adria.

Das Motto des Ganzen – wir kennen es schon – ist dem bisher unterschätzten, universalen Weltgeist des Austrobuddhismus geschuldet: Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues!

Im Tümpel tümpeln

Meine Bibliothek ist ja eine meiner alten Lieben. Aber da ich nicht anders kann, als mir alle Bücher aller Nobelpreisträger zu kaufen, quillt meine Bibliothek seit Jahren mit Büchern über, die ich alle noch lesen muss.

Und dabei bin ich dauernd schrecklich im Verzug, ohne dass ich im Augenblick meine Tabletten gegen meine Nervosität wegen des dauernden Schrecklich-im-Verzug-Seins finde. Ich bin erst bei Jelineks „Lust“, ich bitte Sie, auch so eine Marotte, weil ich die Nobelpreisträger von vorne nach hinten lese, ich meine, zeitlich gesehen. Während alle ihren Grass schon seit Jahren durchhaben, weiß ich nur, dass er, nach einer ganz, ganz kurzen, fast vollständig bewusstlosen Zeit bei der Waffen-SS, das geniale Buch „Die Rohrtrommel“, nein „Die Blechbommel“ – oder heißt es „Die Rohrdommel“? – geschrieben hat.

Egal, ich habe auch Tabletten gegen das Nobelpreis-büchertitelvergessen, nur finde ich sie gerade nicht. Außerdem verstehe ich nicht, wie die Heldin in Jelineks „Lust“, die von einem Lustgebirge an Mann über dem Badewannenrand immerfort aufs Lebensgefährlichste misshandelt wird, die ersten fünfzig Seiten des Buches überleben konnte. Ich bin jetzt auf Seite 51. Wenn es gegen diese männlichen Lustgebirgsmisshandlungen nicht irgendwelche Medikamente gibt, wird die Heldin auf Seite 52 tot sein. Das ist eine meiner fixen Ideen, ach, so darf man die Jelinek doch nicht lesen, oder?

Ich habe noch 200 Seiten Heldinnenleid vor mir, das halte ich nervlich und menschlich und erst gar mit dem von Kant geforderten „interesselosen Wohlgefallen“ des ästhetischen Genusses nie und nimmer aus. Mein Entschluss steht fest: Ich lasse mir in meiner bescheidenen Beamtenwohnung einen begehbaren Medikamentenschrank einbauen, auch wenn ich dann, aus Platzgründen, meine Nobelpreisträgerbibliothek an die städtische Leihbücherei verschenken müsste!

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Ich hab’s getan. Ich habe mir in meiner bescheidenen Beamtenwohnung einen begehbaren Medikamentenschrank einbauen lassen. Dazu musste ich meine Qualitätsbibliothek, in der ich ausschließlich Nobelpreisträger sammelte, aus Platzgründen an die städtische Leihbücherei verschenken. Doch so viel kann ich jetzt schon sagen: Es hat sich gelohnt, ich fühle mich besser (womit ich keinesfalls andeuten möchte, ich fühlte mich etwa nicht sterbenskrank).