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Briefe an meine Freunde

 

Wilhelm von Humboldt

 

 

 

 

 

Inhalt:

 

Wilhelm von Humboldt – Biografie und Bibliografie

 

Briefe an meine Freunde

 

Einleitung

Als Student und in der jungen Liebe (1787–1791)

Das eigene Heim. Der Schüler der Philosophie und der Freund der klassischen Dichter (1791-1802)

Rom (1802–1808)

Der Staatsmann in der Notzeit des Vaterlandes (1808–1819)

Der Selbstbildner des humanistischen Idealismus in der Epoche seiner Vollendung (1820–1829).

Der vereinsamte Weise. (1829-1835)

Ausklang

 

 

 

 

Briefe an meine Freunde, W. von Humboldt

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

 

ISBN: 9783849638658

 

www.jazzybee-verlag.de

admin@jazzybee-verlag.de

 

 

 

Wilhelm von Humboldt – Biografie und Bibliografie

 

Einer der geistreichsten Gelehrten und bedeutendsten Staatsmänner Deutschlands, geb. 22. Juni 1767 in Potsdam, gest. 8. April 1835 in Tegel bei Berlin, erhielt nach dem frühzeitigen Tode seines Vaters, der im Siebenjährigen Kriege Major und Adjutant des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, nachher königlicher Kammerherr gewesen war, mit seinem Bruder Alexander auf dem elterlichen Schloss Tegel und in Berlin eine treffliche Erziehung und studierte 1787–1788 in Frankfurt a. O., dann in Göttingen Rechts- und Staatswissenschaften sowie unter Heyne auch Altertumswissenschaft und auf Grund eigner Lektüre Kantsche Philosophie. 1789 reiste er mit seinem ehemaligen Lehrer Campe nach Paris und Versailles, wo er einigen Sitzungen der Nationalversammlung beiwohnte, und begab sich dann nach Weimar, wo er den Winter 1789–90 verbrachte. Hier lebte er in lebhaftem Verkehr mit dem Koadjutor v. Dalberg, dem späteren Fürsten-Primas, machte die Bekanntschaft von Karoline v. Dachröden, seiner späteren Gemahlin (s. unten, Literatur), und trat durch deren Vermittlung auch in Beziehungen zu Schiller. Im Sommer 1790 wurde er zu Berlin als Legationsrat und Assessor beim Kammergericht angestellt; doch gab er die neue Stellung im Frühling 1791 wieder auf und verlebte die folgenden Jahre auf seinen Gütern im Mansfeldischen und Thüringischen sowie in Erfurt, wo er sich im Geiste des mit ihm persönlich befreundeten F. A. Wolf mit Altertumsstudien beschäftigte. Auch schrieb er freisinnige »Ideen über Staatsverfassungen, durch die französische Revolution veranlasst« (»Berliner Monatsschrift«, 1792) und gleich nachher »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit eines Staates zu bestimmen«, die damals wegen Zensurschwierigkeiten bloß bruchstückweise in Zeitschriften erschienen (als Ganzes zuerst Bresl. 1851); als einzige Aufgabe des Staates betrachtet er hier, im Gegensatz zum Verfahren des aufgeklärten Despotismus, die Sicherung der persönlichen Freiheit. Seit 1794 lebte er in Jena in vertrautem Umgang mit Schiller und einem engen Kreis von gleichgesinnten Freunden in reger Geistestätigkeit. Ein schönes Denkmal dieser bis zu Schillers Tod dauernden Freundschaft bildet der später von H. veröffentlichte »Briefwechsel zwischen Schiller und W. v. H.« (Stuttg. 1830; 3. Ausg., besorgt von Leitzmann, 1899). Auch zu Goethe trat er in innige persönliche Beziehungen und erfreute ihn durch eine liebevolle Beurteilung des damals erschienenen Epos »Hermann und Dorothea«. Nach mehrfachen Reisen verweilte H. von 1797 bis 1799 mit seiner Familie in Paris, um dann einen längeren Aufenthalt in Spanien zu nehmen, wo er sich mit dem Studium des Baskischen beschäftigte und mit reicher wissenschaftlicher Ausbeute heimkehrte. 1801 nahm er auf den Wunsch der preußischen Regierung die Stelle eines Ministerresidenten in Rom an und blieb hier bis 1808, seit 1806 als bevollmächtigter Minister. Rom war für ihn ein geeignetes Feld zu seinen wissenschaftlichen Studien, die er hier, im lebendigen Verkehr mit Gelehrten und Künstlern, wie Thorwaldsen und Rauch, auch über philosophische, ästhetische, philologische und archäologische Gegenstände ausdehnte. 1809 mit der Leitung des preußischen Ministeriums des Kultus und des öffentlichen Unterrichts betraut, war er der eigentliche Gründer der Berliner Universität, die er nicht bloß mit tüchtigen Lehrern, sondern auch mit der umfassendsten Hör- und Lehrfreiheit auszustatten suchte 1810 ward er Geheimer Staatsminister, begleitete 1813–14 das königliche Hauptquartier, leitete im Sommer 1813 als preußischer Bevollmächtigter die Verhandlungen in Prag, die zum Anschluss Österreichs an die Alliierten führten, nahm vom 3. Febr. bis 15. März 1814 an dem erfolglosen Friedenskongress von Châtillon teil und war in Paris bei den Verhandlungen des ersten Pariser Friedens tätig. In Gemeinschaft mit dem Staatskanzler Hardenberg, der ihm aber völlig freie Hand ließ, lag ihm auf dem Wiener Kongress 1814–15 hauptsächlich die Behandlung der deutschen Frage ob; aber all sein Bemühen zur Erringung einer einheitlichen Verfassung und freier Institutionen für Deutschland scheiterte an den Gegenwirkungen namentlich der österreichischen Diplomatie. Nicht glücklicher war er bei den nach Napoleons zweitem Sturz 1815 eröffneten neuen Friedensunterhandlungen zu Paris, wo es ihm nicht gelang, die Abtretung des Elsass zu erreichen. Am 25. Nov. reiste H. von Paris ab, um als Mitglied der Territorialkommission zu Frankfurt a. M. die deutschen Gebietsverhandlungen ihrem Ende zuführen zu helfen. Als Ersatzmann des preußischen Bundestagsgesandten, des Grafen von der Goltz, war er bei der feierlichen Eröffnung des Bundestags 25. Nov. 1816 zugegen und trug viel zur Regelung von dessen Geschäftsordnung bei. Im Frühling 1817 ging er nach Berlin, ward hier unter die Mitglieder des neugebildeten Staatsrats aufgenommen sowie in den zur Entwerfung der verheißenen Verfassung niedergesetzten Ausschuss; berufen und zum Vorsitzenden der zur Beratung des Bülowschen Steuerverfassungs-Gesetzentwurfs niedergesetzten Kommission ernannt. Auch im Staatsrat tat er sich durch seine Freisinnigkeit hervor. 1817 wurde er als außerordentlicher Gesandter nach London und im Oktober 1818 nach Aachen geschickt. Nachdem durch die Kabinettsorder vom 11. Jan. 1819 das Ministerium des Innern eine neue Organisation erhalten hatte, übernahm er die Leitung der ständischen und Kommunalangelegenheiten mit einer Reihe andrer Verwaltungsgegenstände als eine eigne Branche mit Sitz und Stimme im Staatsministerium. Sein Drängen nach endlicher Durchführung des Verfassungswerks, sein Auftreten gegen die Karlsbader Beschlüsse, die er für »schändlich, unnational, ein denkendes Volk aufregend« erklärte, und seine Opposition gegen Hardenberg zogen ihm endlich die Ungnade des Königs zu und bewirkten 31. Dez. 1819 seinen Rücktritt ins Privatleben. Mit ihm traten Boyen und Beyme aus dem Ministerium; erst von 1830 an wurde er wieder zu den Sitzungen des Staatsrats berufen. Seit seinem Rücktritt lebte H. mit geringen Unterbrechungen durch Reisen nach Gastein und 1828 nach Paris und London auf Schloss Tegel, wo er eine auserlesene Sammlung von Meisterwerken der Skulptur besaß. Auf die Entwickelung des Kunstlebens in Preußen, namentlich auf die Organisation des Berliner Museums, hat er noch damals entscheidenden Einfluss ausgeübt. Zur Belohnung seiner Verdienste hatte er 1817 die schlesische Herrschaft Ottmachau erhalten. 1884 wurde ihm, wie seinem Bruder, vor der Universität in Berlin ein Denkmal (sitzende Marmorstatue von Paul Otto) errichtet.

 

Was Humboldts literarisch-kritische Arbeiten betrifft, so erschienen die frühesten in den »Ästhetischen Versuchen« (Braunschw. 1799, Bd. 1) gesammelt. Es sind Kritiken über Goethes »Hermann und Dorothea« und »Reineke Fuchs« sowie Schillers »Spaziergang«, von denen erstere auch separat (4. Aufl. mit Einleitung von Hettner, Braunschw. 1882) erschien. In das Gebiet der Ästhetik gehören ferner seine Rezension über Jacobis »Woldemar«, worin er sein philosophisches Ideal aufstellt, und die die Schellingsche Natur- und Identitätsphilosophie gleichsam antizipierenden Abhandlungen: »Über den Geschlechtsunterschied« und »Über männliche und weibliche Form«. Wichtige Beiträge zur Kenntnis der griechischen Sprache und Verskunst gibt. seine metrische Übersetzung des »Agamemnon« von Äschylos (Leipz. 1816, neue Ausg. 1857), der sich die Übertragung der zweiten olympischen Ode des Pindar, ferner des Simonidis und mehrerer Chöre aus den »Eumeniden« anschließt. Die gründlichsten und umfassendsten Studien wendete aber H. der vergleichenden Sprachforschung zu. Als Früchte seiner Forschungen über die baskische Sprache sind seine »Berichtigungen und Zusätze zu Adelungs Mithridates über die kantabrische oder baskische Sprache« (Berl. 1817) und die mustergültige »Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der vaskischen Sprache« (das. 1821) zu nennen. Seine erfolgreiche Beteiligung an den in Deutschland mit Eifer aufgenommenen altindischen Studien bewiesen seine größeren in der Berliner Akademie gelesenen Abhandlungen: »Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Maha Bharata« (Berl. 1826); »Über den Dualis« (das. 1828) und »Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen« (das. 1830). Sein Hauptwerk aber auf diesem Gebiet: »Über die Kawisprache auf der Insel Java« (Berl. 1836–40, 3 Bde.), ward erst nach seinem Tode von Buschmann (s. d.) herausgegeben. Die Einleitung zu diesem Werk, die u. d. T.: »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts« (Berl. 1836; 2. u. 3. Ausg. von Pott, mit einer Einleitung: »W. v. H. und die Sprachwissenschaft«, das. 1876 u. 1883) auch besonders erschien, machte in der Geschichte der neuern Sprachforschung Epoche (vgl. Schasler, »Die Elemente der philosophischen Sprachwissenschaft W. v. Humboldts«, Berl. 1847). Humboldts »Vocabulaire inédit de la langue taïtienne« wurde ebenfalls von Buschmann in dessen »Aperçu de la langue des îles Marquises et la langue taïtienne« (Berl. 1843) veröffentlicht. Eine neue Ausgabe von »Humboldts sprachphilosophischen Werken«, mit Kommentar, veranstaltete Steinthal (Berl. 1883). Seine die Sprachwissenschaft betreffende handschriftliche Sammlung ging an die königliche Bibliothek in Berlin über. Dass H. unter seinen tiefen Studien und diplomatischen Geschäften sich den edel menschlichen Zartsinn für Freundschaft und Liebe zu bewahren gewusst, beweisen die an Charlotte Diede (s. d.) gerichteten »Briefe an eine Freundin« (Leipz. 1847, 13. Aufl. 1898; vgl. Berdrow, »Frauenbilder aus der neuen deutschen Literaturgeschichte«, 2. Aufl., Stuttg. 1900). Seine »Gesammelten Werke« erschienen zuerst nach seinem Tode in 7 Bänden (Berl. 1841–52); eine große kritische Ausgabe der »Gesammelten Schriften« wird von der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften (das. 1903 ff.) veranstaltet. Die Werke enthalten auch einen Teil der zahlreichen Gedichte Humboldts, unter denen besonders die Elegie »Rom« (1806) und die durch tiefe Sinnigkeit ausgezeichneten »Sonette« (separat, Berl. 1853) hervorzuheben sind. Eine neue Ausgabe seiner »Abhandlungen über Geschichte und Politik« erschien Berlin 1870. Das »Tagebuch W. v. Humboldts von seiner Reise nach Norddeutschland im J. 1796« (Weim. 1894) und »Sechs ungedruckte Aufsätze über das klassische Altertum« (Leipz. 1896) gab Leitzmann heraus. Sein Briefwechsel mit Goethe wurde herausgegeben von Bratranek (Leipz. 1876), seine Briefe an den Philologen Schweighäuser in französischer Übersetzung von Laquiante (Par. u. Nancy 1893), an F. G. Welcker von Haym (Berl. 1859), die Briefe an Chr. G. Körner von Jonas (»Ansichten über Ästhetik und Literatur«, das. 1879), die Briefe an J. R. Forster von demselben (das. 1889), die Briefe an F. H. Jacobi von Leitzmann (Halle 1892), die Briefe an G. H. L. Nicolovius von R. Haym (Berl. 1894); »Lichtstrahlen aus seinen Briefen« veröffentlichte Elise Maier (6. Aufl., Leipz. 1881). Vgl. Schlesier, Erinnerungen an W. v. H. (Stuttg. 1843–45, 2 Bde.); Haym, Wilh. v. H., Lebensbild und Charakteristik (Berl. 1856); Distel, Aus W. v. Humboldts letz'en Lebensjahren (Briefe, Leipz. 1884); Cherbuliez, Profils littéraires (Par. 1889); Gebhardt, W. v. H. als Staatsmann (Stuttg. 1896 bis 1899, 2 Bde.); Kittel, W. v. Humboldts geschichtliche Weltanschauung im Lich'e des klassischen Subjektivismus der Denker und Dichter von Königsberg, Jena und Weimar (Leipz. 1901); ferner: »Briefwechsel zwischen Karoline von H., Rahel und Varnhagen« (Weim. 1896) und »Neue Briefe von Karoline von H.« (Halle 1901, beide hrsg. von Leitzmann); A. Stauffer, Karoline von H. in ihren Briefen an Alexander von Rennenkampff (Berl. 1904).

 

 

 

Briefe an meine Freunde

 

 

Das innere Weben der Seele bleibt immer das Höchste und Beste, und das Glücklichste ist, sich nur mit ihm in sich und anderen zu beschäftigen. In allem, was die Vorzeit und die Gegenwart, die Wirklichkeit und die Dichtung darbietet, ist das einige anziehende Bemühen doch nur zu erkennen, zu ahnden, welche innere Regungen die menschliche Brust in allen Gestalten der Menschheit füllten und bewegten.
Wilhelm von Humboldt (1818).

 

Einleitung

 

Wilhelm von Humboldt ist ein klassischer Meister des Briefes. Seine Briefe umspannen das tausendgestaltige Leben, und nichts Menschliches bleibt ihnen fremd. Der Liebeszauber umfängt ihn, und der Vaterschmerz um den Verlust des geliebtesten Kindes erschüttert ihn; er versenkt sich in die Kunstschätze Roms, und er leidet unter dem schwelenden Nebel von London; er schreitet in Madrid zum umständlich-feierlichen Handkuß vor das Königspaar und ist in Berlin beim Leichenzuge der Königin Luise; mit Schiller verhandelt er eingehend über dessen dichterisches Schaffen, und als Gast bei Goethe lernt er die Helena-Szenen aus dem »Faust« in der ersten handschriftlichen Fassung kennen; aus Petersburg bestellt er sich seltene Texte für seine Sprachstudien, und zur hauswirtschaftlichen Erleichterung seiner Gattin handelt er einen Zuckerhut ein, ihn schamhaft vor dem Personal um Mitternacht zerkleinernd; die schwierigsten philosophischen Probleme erörtert er mit den Akademikern, und wiederum muß Frau Karoline in Karlsbad erfahren, daß die Inder einen Gott eigens für die ungestörte Darmfunktion verehrten. Humboldt regt den Ausbau des Kölner Doms durch den Preußenkönig an, und rechnet die ihm von den einzelnen Staaten bevorstehenden kostbaren Dosen um in Schmuck für seine Frau oder in Mitgift für die Töchter; er betrachtet andächtig den Sternenhimmel und spottet über des Turnvaters Jahn Urwaldbart, den er sich abschneidet und der schlafenden Gattin zu deren Schreck als einheitlichen Körper auf die Bettdecke breitet. Goethes unleidliches Biertrinken belästigt sein ästhetisches Gefühl, die peinliche Schulläusegeschichte in Pforta ergötzt ihn, und mit dem General Boyen läßt er sich in ein unblutiges Duell verwickeln. Mitten in den schwierigsten Staatsgeschäften des Wiener Kongresses findet er Muße, die Jugendbekanntschaft von Pyrmont in Briefwechsel und Unterstützung zur Altersfreundschaft neu anzuknüpfen, und das großartige Dankgeschenk der Berliner Juden für sein Eintreten zu ihrer freieren Entwicklung lehnt er in jeder Form ab. Wir sehen den Gesandten auf der stürmischen Überfahrt nach England und begleiten ihn in Paris auf Einkäufen, damit die Gattin ihre Schals und Schnupftücher vorfindet. Der Niedergang der von ihm unter schweren Opfern ins Leben gerufenen Universität bekümmert ihn, des Vaterlandes eherne Zeit findet ihn zu jedem Dienst treubereit – und dennoch hält sich der Frühreife in seiner innersten Seele vom Beruf und Schicksal frei, letztlich nur auf sich gestellt und wahrhaft ein König!

 

Der Stil all dieser Briefe erweist die Reife eines künstlerischen Höhenmenschen: das Zarteste weiß er durchscheinen zu lassen, das Verwickelte zu entwirren; er steht jedem Ernst und pflegt ihn, er läßt sich keinen Humor entgehen und würzt ihn; lauterste Aufrichtigkeit gegen sich und die andern verbindet seine Lebensvirtuosität für jeden Briefempfänger zu einem geschmeidigen Feinsinn. Humboldts Briefe sind Kulturwerte des deutschen Geisteslebens.

 

Die Briefe reichen von 1787 bis 1835 – welche Fülle von Erlebnissen, Menschen, Symbolen!

 

Wilhelm, dem Karoline nicht ohne Verwunderung wiederholt, einer aus dem Seelenbund habe ihn »fein wie Postpapier« genannt, zeigt früh heroische Züge, antike Selbstaufgabe: als Göttinger Student gerät er beim Baden in einen Strudel, der ihn fortreißt; er hält sich für verloren und ruft dem Freunde zu: »Stieglitz« – der spätere hannoversche Leibarzt – »ich ertrinke, aber es tut nichts!« Der Mitbadende konnte ihn retten. Mit dieser tapfern Haltung vermögen wir nur schwer die ebenso echte romantische Süßlichkeit und hinfließende Vielgötterei zu vereinen; so wenn Humboldt von der launischen Henriette Herz berichtet, er und sein Seelenbruder »baten sie, anders zu sein, wenigstens gegen uns, die sie liebten – ich lag vor ihr wie sonst so oft, bat sie so freundlich und gut, und sie blieb wie erst, gab mir einen kalten Kuß, und fing einen neuen Zank an...« Da aber ein rechtes Herz gar nicht umzubringen ist, so fanden sich aus dem Seelenkuddelmuddel die rechten Herzen doch gemach zusammen, und Wilhelm geriet an seine Karoline, so daß kein Karl und keine Jette mit dem echten Schwang der Natur mitzuhalten vermochten.

 

Karoline »ahndet« ihres Wilhelm »begegnenden tränennassen Blick«, und sie kann sich nicht halten: »Ich weinte, ach meine Augen sind trübe von Tränen; ich wundere mich, daß ich noch Tränen habe, und ach, wenn ich nicht weinen könnte, müßte ich vergehen; sie sind mir, was der Tau der Nacht in schwülen Sommertagen der hinwelkenden Blume ist – sie fristen mein Leben.« Sonst aber ist's ihnen beiden selig wohl, und sie bauen sich gaukelnde Luftschlösser. Nicht reizlos erscheint aus dieser Zeit (Ausgang 1790) Karolinens Urteil über Goethe: die Geistes- und Herzensverschiebung seines Wesens ziehe sie an. »Aber dann kann er auch wieder wunderbar sein, drückend und leer, wenn er spricht, da, wo er glaubt sprechen zu müssen.« Offen, geistvoll und herzlich im vertrauten Kreise – und das fadeste Zeug auf Begehr ... Die Weimaraner plagen und verschrauben ihn mit dem unehelichen August, Karoline schilt die Unzartheit der regierenden Herzogin gegen Goethe »albern«.

 

In der Stadt der reinen Vernunft war Dr. Motherbys Haus, in dem er für die anreizende Hausfrau Feuer fing, Humboldts einzige Zuflucht – außer der eigentlichen Hofgesellschaft. Er nennt Königsberg die Bärenstadt, wo die Leute schlecht wohnen und schlecht essen, gar nicht lachen und nichts Vernünftiges tun in ihrem trockenen Ernst; in dieser schändlichen Stadt, wo es häßlich und kleinstädtisch, teuer und geschmacklos sei, mache er es wie Reinecke Fuchs unter den kleinen Meerkatzen, er lobe alles und mache ein Kreuz in der Stille. Doch liest er am Morgen zu seinem Trost den alten Quintus Calaber, der eine griechische Fortsetzung des Homer getätigt hat, mit einzelnen an das Original anklingenden Schönheiten, dichtet selber eine gespenstische Geschichte in elf Sonetten und findet auf einem Dreitageausflug die Kurische Nehrung so merkwürdig, daß man sie wie Spanien und Italien gesehen haben müsse, solle einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen. Die stürmische Mondnacht an der Küste bei Pillau macht ihn zum schwärmenden Poeten – just ein Jahr, seit er Rom verließ.

 

Den immer neu eintretenden langen und kurzen Zeiten der Getrenntheit der idealen Eheleute Humboldt verdanken wir das in tausend Farbentönen schwingende Miterleben ihres Werdens und ihres Seins; doch soll unser Dank sich weihen an der Kenntnis solcher bittern Bekümmernis, aus der heraus Wilhelm aus Berlin (Mai 1810) der in Pästum herumschwärmenden Gattin schreibt: »... Es ist die letzte Trennung und Ungewißheit des Schicksals in dieser Art. Ich gehe jetzt nicht wieder so von Dir. Nichts hat mehr Wert, wenn das Höchste und Beste fehlt. Ich habe die mühevolle Erfahrung in nunmehr 19 Monaten gemacht und setze mich nie wieder solchem Entbehren, solcher ewig unbefriedigten Sehnsucht aus. Es ist auch bloße Täuschung, wenn man glaubt, es sei nur Glück, das man entbehrt. Es ist unendlich mehr, es entgeht einem das Schönste in der tiefsten Seele. Ich empfinde es täglich. Du bist wie ein reines Element, das mich immer mit gleichem Zauber umgibt und ohne das ich mich gleich verlassen und dürftig und schwach fühle. Es ist nun die zweite Erfahrung, die ich von einer langen Trennung von Dir mache. Aber gewiß auch die letzte...« Es blieb nicht die letzte!

 

Jeder weiß von Humboldts Altersromantik der »Briefe an eine Freundin« – die der junge Mann einst an der Seite ihres väterlichen Pfarrherrn flüchtig kennen lernte und die ihm nach bewegten Schicksalen als dem berühmten Minister einen langen Schreibebrief mit dem ihr heiligen Albumblatt von seiner Hand zusendet, um sich äußerlich und innerlich an ihm den väterlichen Freund für ihre ferneren einsamen Lebenstage zu gewinnen. Diese anderthalbhundert Briefe Humboldts – die Ergüsse und Schilderungen von Charlotte Diede selber an Humboldt wurden auf ihren Wunsch verbrannt – sind unübertrefflich in der Altersweisheit des hochgestellten und hochgestimmten Schreibers, stilistisch wahre Kleinodien reinen deutschen Schrifttums und mit jedem neuen Jahre ihres Vorrückens deutlichere Zeugnisse für die Einfärbung der Gedankenwelt Humboldts mit der buddhistischen Weltanschauung Indiens – aus deren Schätzen er, als erster in Deutschland, 1825 in der Akademie der Wissenschaften die tiefdringende Studie über die Buch Bhagavadgita (aus dem Heldenepos Mahabarata) ans Licht zog. Charlotte, die als echtes Weib von dem Freunde so sehnlich gern einmal (und noch einmal) gehört hätte, daß sie ihm neben der Gattin Karoline und inmitten seines reichen Kinderglücks notwendig sei, muß sich immer wieder bescheiden: der Weise von Tegel bedarf der Menschen zu seiner inneren Befriedigung nicht, er ruht in sich selber, von Furcht und Hoffnung hat er sich befreit. Das seelische Band zwischen ihm und Charlotte wird treu gepflegt und lockert sich niemals; doch als die Freundin nach Karolinens Tode zum andern Male sich zart anbietet, nach Tegel überzusiedeln, um dem Witwer sein Los zu erleichtern – da winkt er deutlich ab. Man kann sogar sagen, daß Humboldt diese schöne Seele mit unverkennbarer pädagogischer Zurückhaltung und altväterischer Herbigkeit anfaßt, indem er sie auf unbedingten Gehorsam gegen sich auch in Kleinigkeiten verpflichtet und ihr kaum mit der weitherzigen Güte begegnet, die ihm gegen die Gattin und Töchter innerste Natur war. Es tat ihm wohl, sich geistig zu ergehen von seiner wissenschaftlichen und sonstigen Arbeit in der breitfließenden Aussprache über Gott und die Welt und so völlig schleierlos das lenksame weibliche Gemüt dieser Frau bis in jede letzte Falte in ihren Bekenntnissen und Erinnerungen ungescheut betrachten zu können. Doch peinlich hielt er die Verbindung in diesen festumzirkten Grenzen und gestattete ihr und sich keinen Schritt von diesem Wege. Albert Leitzmann in Jena hat in seiner kritischen Ausgabe der Briefe der guten Charlotte eine erhebliche Anzahl Textveränderungen aufgedeckt. So frei schaltete sie mit ihrem köstlichen Besitz – doch wir bleiben ihr dankbar für ihren Kultus am Altar der Freundschaft.

 

Geist funkelt aus Humboldts Briefen! Ich pflücke mit beiden Händen aus unabgedruckten Briefen meiner Sammlungen die Maximen und Reflexionen, wie Goethe sagen würde:

 

»Ich hasse nichts so sehr, als mit Grundsätzen Parade zu machen und ein Märtyrertum zu affektieren.

 

... Diesen widernatürlichen Zustand, der auch nicht dauern wird, segne ich, weil er in die Tiefe des Innern gräbt, was nie ohne Heil ist. Weder er selbst noch das Schicksal können je genug an dem Menschen arbeiten.

 

Es muß im Innern eine eigene Welt geben, über die die Wellen des Lebens nur hinwegschlagen und die still und verborgen sich fortbildet.

 

Ich bin den Menschen immer ein Geheimnis gewesen und habe nie verlangt, ihnen zu gefallen.

 

Ich habe eine Lust an der Verwickelung, die ich oft zurückhalten muß, und Teilnahme an großen und hinreißenden Begebenheiten reizt mich, wie den Mann das Eisen. Ich würde das an mir mißbilligen, wenn ich nicht auch gleich gern in ganz verborgener Einsamkeit lebte. Es geht mir mit den Lagen des Lebens wie mit den Städten; ich liebe immer die, in der ich bin.

 

Zwischen mir und Stein ist ein ordentlich närrischer Unterschied. Wir sind in der Liebe des Guten einstimmig. Das Schlechte begnüge ich mich als schlecht anzuerkennen. Schon der Haß kommt nicht in meine Seele. Indes ist das vielleicht nicht lobenswürdig. Aber er ist auch nicht zufrieden, wenn er den Haß nicht beständig ausläßt und gleichsam zur Schau trägt.

 

Es gibt nur zwei gute und wohltätige Potenzen in der Welt: Gott und das Volk. Was in der Mitte ist, taugt reinweg nichts und wir selbst nur insofern, als wir uns dem Volk nahestellen.

 

Alles Tiefe spielt um Schmerzensgefühle. Aber die gewöhnlichen Menschen empfinden das nicht und erheben sich mit Dünkel gegen Mühe und Schmerz, die sie sonst wie treue Gefährten suchen würden.

 

Das Schönste ist, recht, recht lange zusammen zu leben und dann so zu scheiden, daß der eine nicht länger nachbleibt, als um noch nachzuholen, was der Dahingegangene nicht selbst mehr tun konnte, und sich dann selber zur Folge anschickt.

 

Das Volk, des man bedarf, ohne das man in letzter Instanz eigentlich nie das Große ausführt, in dessen Sinn sollte man auch das geschehene Große recht im Andenken erhalten und es daran für die Zukunft erziehen.

 

Wir haben nach außen hin gar noch nicht den Aplomb, den wir der Größe des Staats nach, der Größe der Begebenheiten, die wir herbeigeführt oder entschieden, und dem Gewicht, was unsere Armeen sich so glorreich erworben haben, haben sollten. Das kann mich immer tief verdrießen; nicht aus Eitelkeit, Gott weiß es. Aber es gibt ein Gefühl der Würde, was man nie beiseite setzen muß. Indem der Staat es tut, kränkt er auch tief die Individuen, die alle ihre Kräfte für ihn aufwenden, und lähmt dadurch die moralische Kraft des Besseren.

 

Das Deutschlernen hilft nichts oder unendlich wenig. Man muß mit dem Deutschen geboren sein, und nur wenn man das ist, besitzt man auch die Fähigkeit, wieder alles Fremde wie Eigenes zu fassen, wenn man es auch nur erlernt. Man mag sagen, was man will, so ist die deutsche Sprache der einzige Schlüssel der Menschheit.

 

Die Zeit ist da, wie der Mensch, daß sie verrinne. Ein Vorurteil, wenn man von dem Wert der Zeit und ihrer Benutzung spricht und über ihr Vergehen klagt. Sie kann es ja nicht, ohne daß, wie er es auch anfangen möge, wider seinen eigenen Willen sogar, er darin reife, und sein Zweck auf Erden ist erfüllt, wenn er reif ins Grab sinkt. Das Beste in einem Menschen geht nie aus ihm heraus, als wenn es ein anderer in lebendiger Vertraulichkeit der Gedanken und Gefühle unmittelbar von ihm entnimmt, und dann kehrt es allemal wieder höher und reicher in ihn zurück.« –

 

Anna von Sydows Briefwerk in sieben Bänden, diese würdigste Verwaltung des kostbarsten Erbes der Ehegatten von Humboldt, öffnete für unsere Auswahl seine sieben Pforten: aus der Brautzeit (1787–91); von der Vermählung bis zu Humboldts Scheiden aus Rom (bis 1808); Weltbürgertum und preußischer Staatsdienst (bis 1810: Berlin, Königsberg, Berlin, Wien); Federn und Schwerter in den Freiheitskriegen (1812–1815: im Hauptquartier des Kaisers Franz; auf dem Kongreß zu Prag bis zur Beendigung des Waffenstillstandes und Wien; im österreichischen Hauptquartier; auf dem Kongreß in Chatillon; mit dem Hauptquartier auf dem Kriegsschauplatz, bis Paris; Paris, London, die Schweiz; auf dem Wiener Kongreß, bis Berlin); diplomatische Friedensarbeit (bis 1817: Paris, Frankfurt a. M., London); im Kampf mit Hardenberg (bis 1819: England; Kongreß in Aachen; Frankfurt a. M.; im Ministerium in Berlin bis zum Ausscheiden); reife Seelen (1820–35: letzte Wege; Einsamkeit). Wir teilen des Witwers bewegtes Staunen, da ihm die älteste Tochter nach dem Heimgang dieses getreuesten Wanderkameraden seine Lebensgeschichte in den weit über eintausend gegenseitigen Briefen, nach Jahrgängen geschichtet, auf den Schreibtisch lagert – diese Blätter, die nach der Franzosenplünderung in Tegel in trostlosem Zustand (nur zum Teil) sich zusammenfanden. Wir verstehen, daß der sich an diesem Quell Erlabende keine Zeile der unwiederholbaren Ehechronik vernichten mochte, nachdem hier der Geist so ewigschön sich den Körper gebaut als den Träger lebendiger Ideen; und wir würdigen seine letztwillige Bestimmung: der Briefschatz soll nur an seine Töchter fallen und auch von diesen und so fort nur an weibliche Abkömmlinge vererbt werden. »Was eine Frau aus der Fülle des Gemüts nur für einen bestimmt, kann man nur einem weiblichen Wesen und nur aus der Reihe der Ihrigen anvertrauen« (an Karoline von Wolzogen auf Norderney 1831). Auch das kunstlos sich als Mosaiksteinsammlung vor uns ausschüttende Lebensbild der Gabriele von Bülow geb. von Humboldt, von der gleichen Erbin unseres Humboldt, gab etliche edle Steine her. Doch die erheblichste Mühe erwuchs dem Herausgeber aus der Auffindung und Beibringung all der andern Briefe und Briefgruppen, von denen der gesamte Inhalt oder das Mark in unsern Band aufgenommen wurde. Ich habe mehr als zweitausend Humboldtbriefe – von ihm und an ihn – bisher gelesen; nur 186 Musterbriefe und Kernstellen aus solchen habe ich aufnehmen können. Die Mühe und die Lust des Auslesens mischte sich mit den Schmerzen der Beschränkung, in der ich den Meister zeigen sollte. Ich habe solche Qual der Wahl reichlich durchlitten, sie zog sich bis in die Wochen der Fahnenkorrektur hinein. Den herrlich anschaulichen Brief an Goethe aus Spanien von 1801 mußte ich ausschalten, er umfaßt 75 Druckseiten; dagegen rettete ich den bedeutenden Wallensteinbrief an Schiller von 1800, der wie mancher Gedankenaustausch mit Welcker, mit A. W. von Schlegel und Jacobi auf dem Wege zu kleinen Abhandlungen wandern. Die Briefe an Charlotte Diede-Hildebrand glaubte ich am getrostesten stiefväterlich behandeln zu dürfen, dieweil dieser Band oder Doppelband seit Jahrzehnten in so vieler Hand ist. Ich darf im übrigen auf die Büchertafel am Schluß verweisen.

 

Als Sammler und Herausgeber dieser Briefe übernehme ich die Verantwortung auch für ihre Form. Ich habe aus raumtechnischen Gründen diese Privaturkunden stark verkürzt; ich mußte auch sonst gelegentlich stilistisch eingreifen, um die Stücke leicht lesbar zu verknüpfen. Die zeitgenössische »Interpunktion« Humboldts ist durchweg auf den Stand von heute gebracht worden, wie seine »Orthographie«. Seine zahlreichen Fremdwörter ließ ich unangetastet, wo sie mir charakteristisch erschienen; doch habe ich viele schwerfällige und abgestorbene Flickwörter stillschweigend eingedeutscht, die Fußnote nur in Ausnahmefällen dafür bemühend. Ich glaube damit dem Leser den Genuß an diesem deutschen Hausschatz zu erhöhen.

 

Theodor Kappstein.

 

Als Student und in der jungen Liebe (1787–1791)

 

Wilhelm von Humboldt an seinen Jugendfreund Beer.

 

Frankfurt, 1787.

 

... Wollen Sie wissen, wie ich meinen Tag zubringe, Lieber? Um 5 Uhr oder etwas später, doch immer vor 6 steh ich auf und arbeite bis 10 Uhr. Dann hab ich bis Mittag eine Stunde Kirchengeschichte und eine andere Reichsgeschichte. Um 12 wird gegessen bis etwa halb zwei. Dann lauf ich allein spazieren oder gehe zu K. bis 2. Nachher bin ich wieder bis 6 in Kollegien, einem ökonomischen und drei juristischen. Nach 6, wenn ich nicht ausgebeten bin, was, so selten es auch ist, mir doch noch zu oft kommt, arbeit ich wieder bis gegen 8. Von 8 bis 10 wird gegessen und gewöhnlich bei Löfflers etwas vorgelesen. Dann arbeit ich noch bis 11, manchmal auch später, und so endigt sich mein Tag. Wenn Sie nun die Zeit bedenken, die zum eignen Studieren bei dieser Einteilung übrigbleibt, so sehn Sie wohl, daß sie zum Vorbereiten und Wiederholen aller dieser Stunden ziemlich klein ist. Und doch wird mir die Zeit lang. Es ist mir, als wär ich schon ein Jahr hier. Eine recht vergnügte Stunde hab ich hier noch nicht gehabt, oder wenigstens war es nicht Frankfurt, das mir sie machte. Indes bin ich mit meinem Aufenthalt hier doch immer nicht unzufrieden. Ich lebe in einer glücklicheren Lage als irgendein andrer Student hier, und ich bin hier, um zu lernen. Man muß seiner Bestimmung folgen, lieber Beer, sie sei, welche sie wolle. Ich werde unglücklich sein, wenn sie mich einmal in eine entferntere Gegend führt. Aber ich werde gehn und den Gram in mir verzehren.

 

Leben Sie wohl, mein teurer, bester Freund. Vergessen Sie mich nicht und lassen Sie uns Freunde bleiben, wie weit uns das Schicksal auch trennen mag.

 


 

Wäre es unter Freunden, wie wir sind, möglich, lieber Beer, uns noch so sehr mißzuverstehn, daß wir einer des andern längeres Stillschweigen einem Mangel an Liebe zuschrieben, so würde ich mich jetzt weitläufig entschuldigen müssen, daß ich Ihren letzten freundschaftlichen Brief erst heute beantworte. Aber so kennen Sie mich gewiß zu gut, als daß Sie von mir glauben sollten, daß meine Freundschaft für Sie durch Abwesenheit oder durch irgendeinen andern Umstand abnehmen könnte. Wozu also die Entschuldigungen? Sie denken sie sich gewiß alle so gut hinzu, als ich sie Ihnen sagen könnte. Denn sie liegen so natürlich in meiner Lage, die darin gewiß sehr viel Ähnliches mit der Ihrigen hat. Darin ist unsre Lage freilich ähnlich, daß wir beide viel zu tun haben. Aber auf der andern Seite ist eine sehr große Verschiedenheit. Ich muß in Frankfurt sitzen, und Sie können in Berlin in dem besten Hause, unter den edelsten Leuten leben. Wie gern möcht' ich mit Ihnen tauschen können! Unsre Freundin schreibt mir, sie hätte die Metaphysik aufgegeben. Ich bedaure Sie, mein Lieber. Sie haben eine treffliche Gesellschafterin an ihr verloren, die Ihnen gewiß, indem sie Ihnen bald Ihre Zweifel löste, bald Ihnen andre entgegensetzte, viel Nutzen geschafft hat. Indes hat sie recht, die Metaphysik zu verlassen, dünkt mich, so außerordentlich auch ihr Kopf ist. Es ist kein rechtes Studium für eine Dame, wenigstens kann sie gewiß mit mehr Glück in einem andern fortkommen. Scheint das Ihnen nicht selbst so, bester Freund? Von den hiesigen Professoren wüßte ich Ihnen nichts zu sagen. Denn die, die Sie interessieren, B. und H., kenne ich nicht. Eine Doktorpromotion hab ich hier gesehn. Wenn Sie jemand wissen, der gern Doktor werden will und nichts gelernt hat, schicken Sie ihn nur her. Hier braucht er nichts, als eine Stunde lang zu stehn und zu tun, als wollte er disputieren. Denn der Professor macht nicht bloß die Disputation für ihn, er hält sie auch hernach. Ich habe einer mit beigewohnt, wo der Doktorierende nicht ein Wort sprach. Üben Sie sich auch, lieber Beer, in Ihren lateinischen Stunden im Schreiben und Sprechen? Tun Sie's doch ja. Sie müssen doch auch einmal disputieren, und da brauchen Sie es notwendig. Gute Nacht, lieber Freund, schlafen Sie wohl und antworten Sie mir bald wieder; aber doch nicht eher, als Ihre Geschäfte es erlauben. Leben Sie wohl!

 

Ewig Ihr Freund Humboldt.

 

Göttingen, den 16. Junius 1788.

 

Wie gern, lieber Beer, hätte ich Ihnen schon neulich geschrieben, als ich dem Hofrat schrieb. Aber Sie wissen ja aus eigner Erfahrung, wie man immer so viel zu tun hat, daß man selbst an den liebsten Beschäftigungen gehindert wird, und so geht es mir auch jetzt häufig. Jedoch, hoff ich, wird mir Ihre Freundschaft verzeihen. Ich habe in den zwei Monaten, die ich nun wieder von Berlin abwesend bin, recht viele angenehme Tage gehabt. Ich habe so viele neue merkwürdige Gegenstände gesehn, so manchen interessanten Mann gesprochen, daß mir die Zeit, ich weiß nicht wie, dabei verstrichen ist. Und auch jetzt, da ich eine neue, ziemlich einförmige Lebensart hier führe, bin ich recht heiter. Es ist wirklich hier sehr gute Gelegenheit zum Studieren, und ich wünschte wohl, daß Sie einmal sie benutzen könnten. Die Studenten sind beinah durchgängig fleißig, und es herrscht ein sehr guter, gar nicht studentenmäßiger Ton unter ihnen. Gegen Frankfurt habe ich einen außerordentlichen Unterschied gefunden. Dabei hat man die vortreffliche Gelegenheit, die Bibliothek zu benutzen, so daß es einem nicht leicht an irgendeinem Hilfsmittel zum Studieren fehlt. Ich arbeite hier ziemlich viel, doch habe ich meine Zeit so eingeteilt, daß es meiner Gesundheit gewiß nicht schädlich sein wird. Sie arbeiten doch auch nicht zu viel, mein Bester? Es war sonst immer Ihr Fehler, noch weit mehr als der meinige. Tun Sie es doch ja nicht; Sie sind noch so jung und haben doch wirklich schon so viel Kenntnisse. Sie können, auch bei einem gemächlicheren Studieren, noch sehr viel leisten. Und bei dem gar zu angestrengten ist wirklich kein Vorteil weder für Leib noch Seele. Denn die Seele ist doch nun einmal so an den Leib gefesselt, daß Schlaffheit der Nerven des Körpers auch die Nerven der Seele schwach macht, mögen Sie nun diesen Zusammenhang, auf welche Art Sie wollen, erklären. Ich lese jetzt den Kant. Ich habe mir vorgenommen, ihn recht sorgfältig zu studieren. Ich schreibe mir jedesmal das, was ich gelesen habe, wieder selbst auf. In einem halben Jahre komme ich doch vielleicht mit der Kritik zu Ende. Sie ist sehr schwer, das muß ich gestehn; aber soweit ich nun gelesen habe, belohnt sie doch auch die Mühe sehr. Und daß Kant eigentlich so dunkel schriebe, das finde ich nicht. Er schreibt vielmehr sehr bestimmt, definiert und dividiert sehr genau. Die Schwierigkeit liegt wohl nur in den Sachen und in der neuen, ungewohnten Darstellungsart. Daß er sich eine neue Terminologie bildet, dünkt mich, verringert eher die Schwierigkeit, als daß sie dadurch größer werden sollte. Es ist doch besser, daß man ein Dutzend neue Wörter lernt, als daß man die alten braucht, die oft durch ihre unbestimmte Bedeutung eine große Verwirrung anrichten. Ich hoffe, Sie werden, wenn Sie einmal selbst den Kant lesen, das, was ich Ihnen hier sage, bestätigt finden. Wir dachten ja sonst über philosophische Gegenstände gewöhnlich einig.

 

Was machen, was studieren denn Sie jetzt, mein Lieber? Denn Studieren muß doch eigentlich in dem Alter, in dem wir noch beide sind, das wahre Leben, die einzige Freude sein. Und wie sollte sie es Ihnen nicht sein, da Sie durch Ihre schnellen Fortschritte schon so früh sich belohnt sehn. Glauben Sie nicht, daß nur meine parteiische Freundschaft Ihnen das sagt; sollte auch Ihre Bescheidenheit Sie selbst das weniger fühlen lassen, so sagten es Ihnen ja doch so viele andre, deren Urteile sie glauben können.

 

Antworten Sie mir doch, sobald es Ihnen eine müßige Stunde erlaubt. Denn Sie von irgendeiner nützlichen Arbeit zurückzuhalten, dazu ist meine Freundschaft, wie begierig sie auch ist, etwas von Ihnen zu hören, zu gewissenhaft.

 

Grüßen Sie tausendmal den Hofrat, die Hofrätin und die Veit und ihren Mann. Auch den jungen Mendelssohn vergessen Sie nicht.

 

An Karoline.

 

Im August 1788.

 

Eilet raschen Flugs dahin,
Eilt, ihr trägen Augenblicke,
Daß mein lieberfüllter Sinn
Meine Lina bald erblicke,
Sie, die meinem Herzen ach! so nah,
Nie mein schwermutsvolles Auge sah!

 

Daß ich an ihr klopfend Herz
Traulich-brüderlich mich schmiege,
Süß vergessend jeden Schmerz,
Jede Sorg in Schlummer wiege,
Und versenkt in Himmelsschwärmerei
Nur in Lina lebe, webe, sei!

 

Ha! wenn dann mich hochentzückt
Sie mit sehnendem Verlangen
An den Schwesterbusen drückt!
Wie wird dann auf meinen Wangen
Süß beglückter Liebe Feuer glühn!
Geist und Sinnen werden vor mir fliehn!

 

Trunken, meiner unbewußt,
Werd ich denken nur sie können;
Doch, durchglüht von reiner Lust,
Wird mein Blick sie Schwester nennen,
Ausdrucksvoll ihr sagen, was, zu schwach,
Sprache nachzubilden nicht vermag!

 

Schließe, Lina, schließ den Bund,
Der an Seele Seele kettet,
Der aus diesem Erdenrund
Uns in bess're Sphären rettet,
Den von seines Thrones Herrlichkeit
Hoch der Vater sieht und benedeit!

 

Nie zerreißt ein Liebesband,
Von der Tugend selbst geschlungen.
Siehst du nicht im Sternenland,
Wenn wir endlich ausgerungen
Dieses Pilgerleben, ausgeweint
Jedes Leiden, dort uns fest vereint?

 

Sie, die sich mit heißer Gier
Nach Unsterblichkeiten sehnet,
Diese Seele, die sich hier
Stets an jene Hoffnung lehnet –
Sieh! der ew'ge Vater gab uns sie,
Und er täuschte seine Kinder nie!

 

Karoline an Humboldt.

 

Erfurt, den 3. November 1788.

 

Ich danke dem Himmel, daß ich endlich aus der Ungewißheit gerissen bin, in der ich um Dich schwebte, mein Wilhelm. Es ist so traurig für ein liebendes Herz, nicht einmal zu wissen, wo es sich seine Geliebten denken soll, und das war mein Fall. Bei Deiner Rückkunft nach Göttingen wirst Du vermutlich die drei Briefe finden, die ich während dieser Zeit schrieb ...

 

Lieber! Mein ganzes Herz hat für Dich gelitten, daß Du nicht nach L. gedurft hast – Du Armer mußt Dich so lang ohne Erquickung unter den fremden Menschen herumtreiben, o ich weiß, was das ist, aber harre geduldig aus, eine schönere Zukunft erwartet dafür Deiner – und fühlst Du nicht auf den einsamen Wegen, die Du noch jetzt gehst, das Wehen unsrer Liebe, die Dich geleitet? Mögest Du immer die Nähe unsrer Seele, der meinen, empfinden; aus eigner Erfahrung weiß ich, daß dies auch in den trübsten Momenten Trost ist.

 

Ich hatte, seitdem ich Dir nicht schrieb, Stunden unendlicher Freude und Trauer. Karl war bei mir. Ich habe Dir mit den wenigen Worten alles gesagt. Alle Seligkeit, die ich für jenseits hoffe, lag in dem namenlosen Gefühl, mit dem ich ihn in meine Arme schloß – aber auch der bitterste Schmerz. O Wilhelm, ich gehörte mir selbst nicht mehr – nur die Liebe zu Euch, meine ewig Geliebten, hob mich wieder über die Wellen, mit denen ich sonst auf Gefahr, in ihnen zu versinken, fortgeschwommen wäre. Aber auch besser, uneigennütziger, reiner stehe ich von diesem Kampf auf, mit dem besten Entschluß, jeden Moment meines Lebens nur dazu anzuwenden, eine Stufe der Seelenstärke zu erlangen, auf der mich der Sturm nicht mehr so ergreifen kann, mich herabzuwerfen in eine solche Tiefe des Jammers. Ich sehe ein, daß ich bisher noch nicht den rechten Weg gegangen bin, obgleich mit reinem Herzen und Willen. Ich habe noch immer den Leiden, die einmal über mein Leben ausgegossen zu sein scheinen, die Oberhand gelassen – ich habe in dem Wahn gestanden, die höchste Tugend sei, sie mit stiller Ergebung zu tragen – aber ich komme davon zurück; ich sehe, sie werden mich so zu Boden drücken, daß keine sterbliche Macht mich wieder zu erheben vermögend sein wird, wenn ich nicht jeden Augenblick meines Lebens benutze, ihnen entgegenzuarbeiten. Ach, nur noch einige solcher Szenen wie die letzte mit Karl, und Ihr habt mich verloren! –

 

Ihr sollt mich aber nicht verlieren – sei ruhig, mein trauter, süßer Wilhelm – gib mir Deine liebe Hand und hilf mir mit aufwärts – sieh, ich bin allein wieder aufgestanden aus dem fürchterlichen Strudel, der mich beinahe mit fortgerissen hätte, denn ich liebte Euch zu sehr, um Euch zu sagen, in welchem Zustand ich war. Noch schaudert mir dafür, aber es ist vorbei, ich will nur vorwärts-, nicht zurücksehen, denn die Erinnerung würde mich in dem Laufe zum schönsten Ziel aufhalten, und ich bin es Euch, meine Verbündeten, bin es meiner Karoline (v. Beulwitz) schuldig, dahin zu gelangen. Du mußt dieses herrliche Weib sehen, wenn Du hierher kommst! Wilhelm, es gibt nichts so göttlich Reines wie ihr Herz. Und ich will, daß Du kommen sollst – o mein Bruder, dafür bürgt Dir jeder Schlag meines Herzens – laß Dich bald wieder daran schließen! Grenzenlos, unsterblich, wie wir es selbst sind, ist meine Liebe zu Dir. Laß mich Deinem Herzen nie ferne sein!

 

An Friedrich Heinrich Jacobi.

 

Göttingen, den 17. November 1788.

 

Endlich, teuerster Herr Geheimrat, habe ich Muße, Ihnen zu schreiben, Ihnen aus der Fülle meines Herzens für die fünf glücklichen Tage zu danken, die ich in Pempelfort bei Ihnen verlebte. Gewiß werden sie mir ewig unvergeßlich sein, diese Tage, gewiß werden sie immer zu denen gehören, bei welchen mein Andenken am längsten und liebsten verweilen wird. Auch für die Zukunft gewähren sie mir eine so frohe Hoffnung. Denn Sie erlaubten mir ja, die Verbindung mit Ihnen durch einen Briefwechsel zu unterhalten, und ich darf ja auch künftig von Ihnen Aufschluß und Belehrung über die wichtigsten Teile des menschlichen Wissens hoffen. Möchte ich es Ihnen ganz sagen können, verehrungswürdigster Freund, mit welchen Empfindungen mich diese Hoffnung erfüllt, mit welchen überhaupt Ihr ganzes gütiges, zuvorkommendes, freundschaftliches Betragen gegen mich, für das ich Ihnen so gern recht warm und innig dankte – wenn nicht gerade das, was des Dankes am meisten wert ist, auch am meisten über den Dank, wenigstens über den gesagten, erhaben wäre. Wenn Sie es aber je fühlten, wie sehr es unsern Geist und unser Herz erhebt, wenn uns Männer, für die wir von wahrer und tiefer Verehrung durchdrungen sind, einiger Aufmerksamkeit würdigen – und erzählen Sie es nicht selbst einmal in Ihrem Hume, daß Sie dies fühlten? –, so stellen Sie sich gewiß lebhaft den Eindruck vor, den mein Aufenthalt bei Ihnen auf mich gemacht hat.

 

Noch nie war eine so kurze Zeit für mich so reich an interessanten Gesprächen. Ihre Art, metaphysische Untersuchungen anzustellen, hat, noch abgerechnet, daß sie uns der Wahrheit näher bringen muß, so unendlich viel mehr Reiz als jene Methode, die durch die Wolfische Schule so allgemein verbreitet worden ist. Ich gestehe Ihnen, daß ich in der Zwischenzeit, da ich Wolf nun so ziemlich gefaßt hatte, und ehe ich Kant las, beinah einen Widerwillen gegen meine Metaphysik empfand. Es kam mir alles so trocken, so bloßes Gerippe, ohne Geist und Leben, vor, ich demonstrierte und demonstrierte, und nie brachten doch die Resultate eigentlich Überzeugung hervor. Wie konnten nun gar Männer von Scharfsinn und Tiefsinn – wie Sie einmal, dünkt mich, sehr glücklich unterschieden – Geschmack daran finden, völlig allgemeine Begriffe so lange zu zergliedern, zu vergleichen und, um mich eines Kantischen Ausdrucks zu bedienen, in der Schmelzküche der Vernunft zu kochen und zu läutern, bis der Geist verfliegt und endlich ein Nichts zurückbleibt. Überhaupt ist es mir in der Tat ein Phänomen, wie man, statt die Gegenstände selbst in ihrem ganzen Leben und ihrer Wahrheit anzuschauen, seine Augen vor ihnen verschloß, und analysierte, wie man das, was gar nicht auf Verhältnissen beruht, das Dasein der Dinge, durch etwas andres als durch Erfahrung zu erkennen glaubte. Der logischen Verhältnisse zwischen den Begriffen gibt es eine bestimmte Anzahl; man muß also da notwendig einmal auf einen Punkt kommen, von dem aus keine Erweiterung der Kenntnisse mehr möglich ist. Wendet man sich hingegen zu den Gegenständen selbst, hält man nichts eher für wahr, als bis man es selbst angeschaut hat, so mag der Weg vielleicht langsamer sein, aber er ist auch sichrer und reizender und der Stoff des Nachdenkens ebenso unerschöpflich als die Menge der Gegenstände in der Natur. Nur eine Frage wünschte ich hier recht genau und vollständig beantwortet. Da bei dieser Art zu philosophieren alles auf Anschauung, auf Gefühl, also auf etwas ankommt, das nicht so ganz mehr mit Worten ausgedrückt werden kann, so muß auch dabei Irrtum eher als da, wo bloß von Verhältnissen die Rede ist, möglich sein. Vielleicht läßt sich analog von den äußeren Sinnen auf das innere Anschauungsvermögen schließen. So wie jene oft zu empfinden glauben, ohne daß ein Gegenstand der Empfindung wirklich da ist, ebenso kann es wenigstens auch bei diesem der