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Inhalt

Aufbauarbeit

Schritt für Schritt

Konflikt in Smolensk

Schlag ins Leere

Straßenschlachten und Spielfiguren

Künstliche Krise

Die Warägergarde

Blutzoll für Ivas

Frust und ein seltsamer Professor

Feindesland Puschkin

In den Hexenkessel

Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Entscheidung in St. Petersburg

Aus und vorbei?

Alexander Merow

BEUTEWELT IV

Die Gegenrevolution

Roman

Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2011

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86268-686-5

Aufbauarbeit

Frank blickte für einen kurzen Augenblick hinauf in den finsteren, von grauschwarzen Wolken bedeckten Himmel. Dann schaute er wieder nach vorn und sah einige dunkle Schatten hinter der immer dichter werdenden Wand aus strömendem Regen näherkommen. Das Herz des Rebellen hämmerte vor Aufregung und Angst mit all seiner verbliebenen Kraft und Kohlhaas merkte, wie ihm die Panik die Luft abdrückte. Das Adrenalin schoss durch seine Blutbahn und brannte in seinen Gliedern wie eine ätzende Säure. Die Schatten kamen näher. Neben Frank standen noch Dutzende weitere Männer, die genau wie er vor Todesangst erstarrt waren.

In diesen Sekunden dachte er an Julia und versuchte seine Gedanken auf ihr wundervolles Gesicht zu konzentrieren. Er würde sie niemals mehr wiedersehen, denn heute würde sein Leben beendet werden.

„Anlegen!“, schallte es durch den Regen und die schemenhaften Gestalten traten noch einen Schritt nach vorne.

Für die Zeit eines Wimpernschlages dachte Kohlhaas an nichts mehr. Dann zerriss das laute Tackern einer Gewehrsalve die grausame Stille und ein quälender, stechender Schmerz ergriff Franks Körper. Er brach zusammen und fiel kopfüber auf die regennasse Wiese …

Außenminister Wilden packte Frank an der Schulter, als dieser wie von einer Giftspinne gestochen aus seinem Stuhl aufsprang und ein lautes Rumpeln durch den Konferenzsaal dröhnte.

„Was? Was ist?“, stammelte der junge Mann verwirrt, während sich zahlreiche Augenpaare auf ihn richteten.

„Das frage ich dich, Frank!“, sagte Wilden etwas peinlich berührt und sah zu Artur Tschistokjow und den anderen Anwesenden herüber.

„Schon gut, ich…ich habe mich nur erschrocken …“, erklärte Kohlhaas kleinlaut auf Russisch, während man ihn noch immer fragend anstarrte.

Der weißrussische Rebellenführer räusperte sich, konnte aber ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Dass Frank während der Konferenz vor sich hin gedöst hatte, war ihm schon vor einer Viertelstunde aufgefallen.

„Ist das nicht interessant, was wir sprechen?“, fragte Tschistokjow auf Deutsch und versuchte wieder streng und autoritär zu wirken.

„Schon gut!“, flüsterte Frank und schaute etwas beschämt an die Decke.

Thorsten Wilden schüttelte den Kopf und murmelte: „Also wirklich, Frank …“

Der Anführer der Ordnertruppe der Freiheitsbewegung gähnte lediglich leise, nahm eine kleine Flasche vom Tisch und goss sich einen Schluck Orangensaft ein. Frank saß an einem prunkvollen, langen Holztisch im Präsidentenpalast von Minsk und um ihn herum hatten sich einige Vertreter von Artur Tschistokjows neuer Regierung und das Staatsoberhaupt von Weißrussland selbst auf den mit dunkelroten Samtbezügen versehenen Stühlen niedergelassen.

Thorsten Wilden, der Chef der Dorfgemeinschaft von Ivas, lächelte Frank jetzt mit vielsagender Miene zu und überflog einige Papiere. Artur Tschistokjow, der Anführer der Freiheitsbewegung der Rus, die im Februar 2036 in Weißrussland und Litauen an die Macht gelangt war, räusperte sich erneut und erklärte den beiden Deutschen: „Die politische Feinde in unser Land sind so gut wie überwunden. Meine Leute haben die wichtige Positionen überall besetzt. Ich habe die Zeitung von der Freiheitsbewegung der Rus gestern zu offiziellen Staatorgan gemacht. Sie wird unser Ideen bis in die letzte Kopf befördern!“

„Die Japaner haben uns ein Bündnisangebot gemacht. Ebenso die Philippinen. Ich habe gestern mit dem japanischen Außenminister Mori telefoniert“, warf Wilden in die Runde.

„Gut, die Verträge werde ich noch in diese Woche unterzeichnen“, versicherte ihm Tschistokjow.

Wilden nickte und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen. Derweil erläuterte der Präsident die gegenwärtige Lage näher und sprach wieder Russisch.

„Wir werden sämtliche Steuereinnahmen der nächsten Monate zur Beseitigung des sozialen Elends und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze nutzen. Der Global Trust Fond wird keinen müden Globe mehr aus Weißrussland und Litauen sehen – aber das ist ja ohnehin klar. Zudem sind die Tage des Globe in unserem Land sowieso gezählt. Wir werden wieder den Rubel als unabhängige Währung einführen und natürlich auch eine eigene Staatsbank gründen“, sagte der Präsident seinen russischen Kabinettsmitgliedern in ihrer Muttersprache.

„Ich entwerfe zurzeit einen Plan, der den Aufbau der Schwerindustrie und die Wiederaufrichtung des Mittelstandes zum Ziel hat. Ich übergebe Ihnen die Unterlagen übermorgen, Herr Tschistokjow!“, erklärte Wirtschaftsminister Dr. Gugin.

„Denken Sie daran, was ich gesagt habe. Wir werden einen Teil der Bevölkerung wieder in den ländlichen Regionen als Landwirte ansiedeln, so dass sie sich selbst versorgen können. Über die Verstaatlichung einiger Banken reden wir in den nächsten Tagen“, antwortete ihm der Revolutionsführer.

„Wie Sie meinen, Herr Präsident!“, meinte Dr. Gugin und nickte zustimmend.

Frank musterte seine schicke Uniform. Er war jetzt General. Allerdings gab es für ihn in einer Zeit des langsamen Aufbaus eines so zerrütteten Landes wie Weißrussland glücklicherweise nicht viel zu tun. Es war zurzeit friedlich und der 33jährige Mann hoffte, dass es auch so blieb.

„Was ist mit der Unterstützung der Jugend? Ich habe mir den Aufbau einer staatlichen Jugendorganisation überlegt“, bemerkte der Minister für Familien und Jugend, ein kräftiger, braunhaariger Mann namens Iwan Morosow.

„Kommen Sie morgen in mein Büro. Dann gehen wir alles zusammen durch. Diese Sache ist sehr wichtig und duldet keinen Aufschub!“

Tschistokjow hob den Zeigefinger und seine hellen Augen leuchteten.

„Was sagt internationale Presse zu unsere Revolution?“, fragte der Präsident auf Deutsch und wandte sich mit einem Lächeln an Frank und Außenminister Wilden.

„Sie kennen die meisten Berichte ja selbst, Herr Präsident. Die Reaktion der weltweiten Medien war bekanntlich relativ verhalten. Scheinbar schenkt man Weißrussland auch nicht mehr Aufmerksamkeit als den Philippinen. Dort ist die Lage stabil, wie mir Herr Mori versichert hat. Japan hat weitere 50.000 Soldaten zur Unterstützung der Regierung dort zur Verfügung gestellt“, erläuterte der Außenminister.

„Gut, also nicht Neues! Die übliche Hetze gegen mich, aber nicht so schlimm wie Kampagne gegen Matsumoto damals“, sprach Tschistokjow und lehnte sich beruhigt in seinem bequemen Sessel zurück.

Kohlhaas sah sich derweil gedankenverloren in dem Konferenzraum um und bewunderte die alten Fresken an der Decke, welche mit dunklem Eichenholz verkleidet waren. Dann blickte er nachdenklich aus dem Fenster und grinste plötzlich in sich hinein.

Thorsten Wilden nannte seinen guten Freund Artur Tschistokjow in dieser offiziellen Runde „Herr Präsident“. Frank musste darüber gelegentlich schmunzeln. Ein älterer Russe, der Minister für Verkehrswesen, Maximilian Lebed, sah ihn bei jedem Grinsen an und zuckte fragend mit den Achseln.

Das weißrussische Staatsoberhaupt erklärte jetzt die nächsten Schritte bezüglich der Festigung seiner politischen Macht, der Beseitigung der Arbeitslosigkeit und der Stärkung der einheimischen Industrie.

Die Ausführungen zogen sich noch über Stunden hin. Zuletzt wies er darauf hin, dass der Minister für Gesundheit und Sport ein Ärzteteam zusammenstellen sollte, um allen Bürgern, die sich bereits mit den Implantationschips der Weltregierung hatten registrieren lassen, die gefährlichen Datenträger wieder zu entfernen. Die Zahl dieser Personen wurde in Weißrussland auf etwa 200000 geschätzt.

„Und? Wie war’s?“, fragte Alfred Bäumer, Franks bester Freund, als der junge Mann die zahllosen Stufen, die zum Haupteingang des Präsidentenpalastes führten, langsam hinabstieg.

„Artur hat sich einiges vorgenommen. Er ist schon faszinierend. Wilden ist noch immer bei ihm“, antwortete Kohlhaas.

„Bleibt er für heute in Minsk?“

„Ja, er fährt später zu seiner Wohnung!“

Bäumer zeigte auf die Vorderseite des Präsidentenpalastes und schmunzelte: „Sieh mal!“

Frank reckte den Kopf. „Du meinst die Einschusslöcher dort neben dem Fenster, was?“

„Ja!“

„Ist schon eine verrückte Welt!“

Alf grinste. „Ich war es nicht!“

„Und ich auch nicht. Von mir stammen höchstens ein paar Einschusslöcher an der Ostseite des Palastes“, scherzte Kohlhaas.

Die beiden fuhren in ihr Heimatdorf Ivas zurück und genossen es, ohne die Gefühle von Angst und Verfolgung nach Litauen hineinfahren zu können.

Der Volksaufstand im Frühjahr diesen Jahres war erfolgreich gewesen und sie hatten es tatsächlich geschafft, die Vasallenregierungen in Weißrussland und Litauen zur Abdankung zu zwingen. Frank und Alfred hatten maßgeblich mitgeholfen, zwei winzige Territorien mit kaum 14 Millionen Einwohnern zu befreien und wieder selbstständig zu machen. Um sie herum herrschte die übermächtige Weltregierung über den Rest des Planeten – von Japan und den Philippinen abgesehen. Nun galt es erst einmal abzuwarten, was die nächsten Wochen und Monate bringen würden.

Frank hatte Tage der hemmungslosen Euphorie hinter sich. Ja, für sie alle waren die geglückte Revolution und die Aussicht auf ein Leben in einem Land, das ihnen gehörte, noch immer wie ein kaum zu begreifender Traum. Doch nüchtern betrachtet, hatten sie nur einen winzigen Fleck Erde für sich gewonnen. Was bedeuteten Weißrussland und Litauen schon? Alf war inzwischen, im Gegensatz zu Kohlhaas, der nach wie vor recht enthusiastisch war, wieder auf den Boden der Realität zurückgekehrt.

„Sie können uns jederzeit vernichten. Also gewöhne dich nicht an den Glauben, dass wir jetzt unsere Ruhe haben werden“, gab er seinem Freund in letzter Zeit immer häufiger zu bedenken.

Die von roten, verzierten Säulen gestützte Halle des Logenhauses war zum Bersten voll. Heute hatte sich der Rat der 300 zu seiner Jahreshauptversammlung im zentralen Gebäude der Loge „Der leuchtende Stern“ in New York zusammengefunden.

Kein Geringerer als der Weltpräsident selbst war als Vertreter des obersten Gremiums, des Rates der Weisen, an diesem Tag erschienen, um seinen Untergebenen neue Anweisungen zu geben.

Milliardenschwere Konzernbosse, Inhaber von Medienanstalten und zahlreiche andere einflussreiche Persönlichkeiten schauten gespannt auf den dunkelhaarigen Mann in schwarzer Robe, der wortlos an ihnen vorbeischritt und sich hinter einem Rednerpult postierte.

Der Weltpräsident musterte seine Zuhörer mit kalten Augen, rückte sich die große, goldene Kette um seinen Hals zurecht und begann mit seiner Rede.

„Meine lieben Brüder!

Ich begrüße euch alle zur Hauptversammlung des Rates der 300. Ich habe heute wichtige Entscheidungen der Weisen mitzuteilen und es gibt eine Menge Dinge zu besprechen.

Die letzten Monate waren erneut von unglaublichen Erfolgen gekrönt, welche uns alle den heiligen Zielen wieder ein Stück näher gebracht haben. Allerdings gab es auch einige Probleme, die unbedingt gelöst werden müssen!

Bevor ich die jüngsten Erfolge in unser aller Gedächtnis zurückrufe, werde ich mit den Problemen beginnen. Nach Japan haben sich auch die Philippinen und bald darauf Weißrussland, inklusive Litauen, vorübergehend unabhängig gemacht und ihre alten Staaten wiedergegründet.

Hatte der Rat der Weisen dem Aufstand in Weißrussland zuletzt wenig Aufmerksamkeit entgegen gebracht, so haben uns interne GSA-Studien dazu veranlasst, die Situation dort noch einmal genauer zu betrachten.

Weißrussland ist nur ein kleines Land von absolut geringer weltpolitischer Bedeutung. Das ist eine Tatsache, die hier wohl niemand bestreiten wird. Dennoch ist die Revolution dieses Artur Tschistokjow dort auf den zweiten Blick als durchaus bemerkenswert und in gewisser Weise auch besorgniserregend zu interpretieren.

Dieser Mann hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft, eine schlagkräftige Massenbewegung ins Leben zu rufen und etwas zu schaffen, was uns in großem Stil eines Tages wirklich gefährlich werden könnte.

Tschistokjow kennt uns und unsere Pläne und hat es brillant verstanden, die Millionen Unzufriedenen in seinem Land unter seiner zentralen Führung zu vereinen, um damit wie mit einem Hammer die dort bestehende Ordnung zu zerschlagen.

Er hat seinen Anhängern mehr als nur eine gewöhnliche Rebellion gegeben. Er hat ihnen eine neue Weltanschauung gepredigt und ihnen Visionen geschenkt. Zudem hat er mit einer intelligenten Propaganda, welche die patriotischen und sozialen Instinkte der Bevölkerung angesprochen hat, die Massen auf seine Seite gezogen! Er hat dies in den Augen der GSA-Experten sogar noch besser verstanden als Matsumoto!

Er ist fanatisch, furchtlos und unbestechlich, was es uns erschweren wird, ihn mit einfachen Mitteln auszuschalten. Weiterhin geht er, wie mir einige Brüder berichteten, mit einer Radikalität gegen uns vor, wie wir sie seit langem nicht mehr erlebt haben. Offenbar ist er zu allem entschlossen und das macht ihn gefährlich!

„Nur derjenige, der unsere Pläne kennt und zu den Massen zu sprechen weiß, kann für uns zu einer Gefahr heranwachsen!“, so steht es in den alten Schriften.

Der weißrussische Präsident ist so eine Person. Wenn er seinen Einfluss auf Russland und die Ukraine ausdehnen kann, dann drohen uns unangenehme Zeiten, meine Brüder!

Die soziale Lage ist auch in diesen Regionen vollkommen desolat und dementsprechend sind Millionen Russen und Ukrainer ebenfalls anfällig für die Lehren Tschistokjows.

Unsere besten GSA-Mitarbeiter rechnen in Osteuropa in den folgenden Monaten und Jahren mit schweren Unruhen. Wenn es der Freiheitsbewegung der Rus gelingt, auch außerhalb von Weißrussland und Litauen die verarmten Massen gegen uns zu vereinen, dann hat das weltpolitische Auswirkungen.

Verzweifelte und zornige Massen waren für uns allerdings niemals ein Problem, so lange sie führerlos blieben. Vereint unter dem Banner einer straff geleiteten Organisation und eines entschlossenen Anführers, können sie aber zu einer tödlichen Waffe werden!

Vor allem Russland muss unter allen Umständen unter unserer Kontrolle bleiben. Der Rat der Weisen wird in den kommenden Wochen darüber beraten, wann die GCF in Weißrussland und Litauen einmarschieren wird, um Tschistokjow und sein Regime auszulöschen. Das dürfte kein Problem sein. Weißrussland ist nicht Japan!

Trotzdem haben wir uns aber auch einen „Plan B“ zurechtgelegt. Die Gefahr, dass sich Millionen frustrierte Menschen irgendwo eines Tages gegen uns erheben, kann nicht allein durch GCF-Truppen gebannt werden. Wir benötigen etwas anderes: Eine revolutionäre Bewegung, die von uns geschaffen wurde und die uns gehorcht!

Was wir in früheren Zeiten bereits erfolgreich vollbracht haben, das werden wir jetzt wieder tun. Wo die Massen arm und verzweifelt sind, und drohen sich gegen uns zu erheben, dort wird unsere eigene Revolutionsbewegung ihren Zorn auffangen und umleiten!

Wir werden den Unzufriedenen daher eine neue Idee predigen und ihre revolutionäre Energie in unserem Sinne entschärfen: Wir geben ihnen den Kollektivismus!“

Ein Rumoren ging durch die Zuhörerschaft und viele der Anwesenden schienen etwas verwirrt zu sein. Der Vorsitzende des Weltverbundes fuhr mit seinen Ausführungen jedoch unbeirrt fort. Er erläuterte die wichtigsten ideologischen Grundlagen des „Kollektivismus“ und erntete tosenden Applaus.

Anschließend sprach er noch einige Stunden über alle erdenklichen Aspekte der Weltpolitik und verkündete die nächsten Etappenziele der globalen Bruderschaft und ihrer hohen Herren. Die teuflischen Ideen und Pläne der Mächtigen verhallten hinter den verschlossenen Türen des Logenhauses und niemand sonst bekam sie zu hören.

Der Fernseher dröhnte durch das schäbige Wohnzimmer von Franks Haus in Ivas. Der junge Mann war wieder für ein paar Tage in sein Heimatdorf zurückgekehrt und genoss den täglichen Müßiggang.

Heute sah er sich einen Bericht des neuen litauischen Fernsehens über den weißrussischen Präsidenten an, er hatte den Titel: „Artur Tschistokjow rettet unser Land!“.

Über eine Stunde lang wurden dem Zuschauer alle Aufbaumaßnahmen der neuen Regierung vor Augen geführt. Der blonde Rebellenführer wurde bei der Wiedereröffnung eines Industriebetriebes in Minsk gezeigt und glückliche Werktätige lobten ihn für die neu geschaffenen Arbeitsplätze.

Kurz darauf sah man Tschistokjow, wie er in einer Schule mit weißrussischen Kindern herumscherzte. Anschließend wurden Bürger interviewt, die ihm dafür dankten, dass er die von der entmachteten Medschenko-Regierung angesiedelten Fremden aus Weißrussland und Litauen ausgewiesen hatte. Sie meinten, dass seitdem die Kriminalität in den Großstädten des Landes deutlich zurückgegangen sei.

Gegen Ende des Berichtes wurde das Staatsoberhaupt schließlich selbst zur aktuellen Lage interviewt und versprach seinem Volk alles dafür einzusetzen, ihm eine bessere Zukunft zu schaffen.

Frank lächelte und sagte zu sich selbst: „Tja, wäre schön, wenn alles schon so rosig wäre, wie es Artur darzustellen versucht. Aber irgendwann werden wir es schon schaffen!“

Artur Tschistokjow und Thorsten Wilden schlenderten nachdenklich durch einen der langen Gänge des Präsidentenpalastes von Minsk. Draußen hatte endlich das Tauwetter eingesetzt und die riesigen Schneehaufen vor dem Fenster lösten sich langsam unter den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne auf.

„Japan ist jetzt offiziell unser Verbündeter. Ich habe gestern lange mit Außenminister Mori telefoniert. Matsumoto hat uns eine weitere finanzielle Unterstützung in Höhe von mehreren Millionen Yen zugesagt“, erklärte Wilden.

Artur schien in Gedanken versunken zu sein und nickte ihm lediglich kurz zu, dann ging er weiter.

„Gut!“, sagte er nur.

„Du machst dir Sorgen, nicht wahr?“

„Ja, die Weltregierung wird alles, was wir haben gebaut, mit eine großen Schlag zerstören. Die GCF wird bald kommen. Da kann uns Japan nicht helfen!“, brummte der Rebellenführer auf Deutsch.

„Aber was sollen wir dagegen tun, Artur? Einen Krieg gegen die ‚Global Control Force’ können wir niemals gewinnen!“

„Die Revolution muss in Russland, Ukraine und in restliche Baltikum weitergehen. Nur so wir haben ein Chance!“, erwiderte Tschistokjow.

„Gestern kam es in Prag zu einem Hungeraufstand. Einige Tausend Menschen haben eine illegale Demonstration durchgeführt“, sagte Außenminister Wilden.

„Ich habe in Fernsehen gesehen“, gab Artur Tschistokjow zurück.

Der neue Präsident Weißrusslands sah seinen deutschen Freund mit traurigen Augen an. Dann eilte er schnellen Schrittes in sein Büro und Wilden folgte ihm. Tschistokjow zeigte ihm einige Papiere.

„Hier! Ich werde nach Russland gehen und dort die Freiheitsbewegung der Rus noch größer machen. Einige von meine Leute sind schon da und bereiten Demonstrationen vor“, bemerkte der blonde Mann.

„Aber wir müssen uns doch zuerst hier in Weißrussland etablieren und das Land aufbauen. Wir haben noch so unendlich viel zu tun, Artur!“, entgegnete sein ergrauter Außenminister besorgt.

„Das wird sein deine Aufgabe. Ich muss die Revolution nach Russland und in Ukraine bringen. Wenn wir aufhören damit, dann werden sie Weißrussland schnell durch ein Schlag mit Militär erobern.“

Thorsten Wilden wirkte verunsichert, aber er sah ein, dass Tschistokjow Recht hatte. Weißrussland zu halten war auf Dauer unmöglich, wenn vor allem in Russland selbst keine revolutionäre Bewegung die Mächtigen attackieren, auf Trab halten und somit auch von Weißrussland ablenken konnte.

Potential in Form von armen und hoffnungslosen Massen war dort ausreichend vorhanden, aber eine Auseinandersetzung mit dem System in Russland würde zu einem unsagbar langen und harten Kampf führen.

„Wenn wir jetzt gehen nur in Defensive, dann werden wir bald zerstört sein“, erklärte Tschistokjow mit Nachdruck. „Uns bleibt nur der Angriff!“

Wilden nickte. Die Freude über den geglückten Umsturz im kleinen Weißrussland war mittlerweile der berechtigten Sorge um den Erhalt des Erreichten gewichen. Sie alle hatten mit den Revolutionen in Weißrussland und Litauen weltpolitisch gesehen noch so gut wie nichts erreicht.

Artur schritt in den nächsten Tagen sofort zur Tat und machte sich auf den Weg nach Smolensk, um dort seine Mitstreiter zusammen zu rufen. Seine Anhänger begannen derweil mit dem Verteilen von Flugblättern und anderen Werbeaktionen im angrenzenden russischen Gebiet.

Anfang April kam es zu einer kurzen spontanen Kundgebung von mehreren hundert Rus in der kleinen Grenzstadt Klincy. Die spärlich vertretene Polizei reagierte verhalten und es gab lediglich einige Schlägereien. Die Medien in Russland berichteten in der üblichen Weise über die Aktion und verleumdeten Tschistokjows Anhänger als „politische Wirrköpfe“ und „Chaoten“.

Arturs Gefolgsleute infiltrierten anschließend systematisch die Dörfer und Kleinstädte entlang der Ostgrenze Weißrusslands und verteilten Zehntausende von Flugschriften und Zeitungen innerhalb kürzester Zeit. Sie ernteten großen Zuspruch in der Bevölkerung, während sich die russische Polizei in den kleineren Ortschaften fast überhaupt nicht blicken ließ oder die Eindringlinge sogar wohlwollend ignorierte. Der Anführer der Freiheitsbewegung selbst reiste nach einem kurzen Zwischenstopp in Minsk weiter nach Velikie Luki und brachte dort seine Gruppe auf Vordermann. Sein Führungsstab in Weißrussland setzte derweil die politischen Vorgaben des Präsidenten in die Tat um.

Millionen Rubel wurden zur Arbeitsbeschaffung aufgewendet und außerdem ein notdürftiges Sozialversicherungssystem eingeführt.

Es gelang Tschistokjows Ministern, mehrere Industriebetriebe vor dem Kollaps zu retten und zahlreiche Arbeitsplätze zu erhalten. Die beachtliche Werbemaschinerie, welche die Rus jetzt in Form von Zeitungen und Fernsehsendern in den Händen hielten, leistete ganze Arbeit und trug die Ideen der neuen Regierung in die Köpfe von Millionen Menschen.

Der größte Teil des Volkes empfand deutliche Sympathien für Tschistokjow und die ersten sozialen Maßnahmen, welche die bittere Not von Hunderttausenden linderten, festigten seine Stellung innerhalb der Bevölkerung in beträchtlicher Weise.

Trotz allem änderte das jedoch nichts an der Tatsache, dass Tschistokjows wirtschaftliche Notmaßnahmen die soziale Krise nur kurzzeitig etwas abschwächen konnten. Weißrussland wurde diplomatisch und wirtschaftlich vollkommen isoliert und lediglich Japan und die Philippinen gaben dem kleinen Land überhaupt die Möglichkeit, Waren zu exportieren.

„Nach Russland?“, stöhnte Frank. „Das darf doch nicht wahr sein!“

„Es geht nicht anders! Artur hat schon nach Alf und dir gefragt. Der Kampf geht weiter!“, betonte Wilden ernst.

„Also wieder Demos, Flugblätter und Kämpfe?“, bemerkte Alfred Bäumer unwillig und schnaufte.

„Ja, was sonst! Oder hast du etwa geglaubt, dass wir uns jetzt gemütlich ausruhen können? Meinst du vielleicht, Weißrussland wird es noch lange geben, wenn wir nicht weitermachen?“, fragte der Dorfchef von Ivas, der von Tschistokjow zum Außenminister ernannt worden war.

„Können wir nicht wenigstens noch einen Monat verschnaufen?“, bat Kohlhaas.

„Nein! Das kommt gar nicht in Frage! Entweder wir fahren mit dem politischen Kampf auf russischem Boden zügig fort und gehen selbst in die Offensive – oder die GCF wird hier eben mal einmarschieren und uns vernichten!“, rief Wilden erregt. „Ausruhen können wir uns eines Tages noch genug in unseren Holzkisten!“

„Ja, aber …“, brachte Alf nur heraus und fing sich von Wilden einen wütenden Blick ein.

„Unser nächstes Ziel muss Moskau sein!“, zischte dieser.

Frank lächelte verächtlich. „Moskau? Das ist doch ein schlechter Witz!“

„Nein, ist es nicht! Artur und ich haben die Situation genau analysiert. Es gibt auf Dauer keinen anderen Weg. Von Weißrussland allein können wir uns wenig kaufen! Wir sind ein Nichts in dieser Welt!“

Kohlhaas verdrehte die Augen und sah aus dem Fenster. Wilden starrte ihn mit durchdringendem Blick an: „Morgen sehe ich euch alle in Wizebsk! Ich fahre jetzt zurück nach Minsk! Sagt Sven und den anderen Bescheid, wir brauchen jeden Mann!“

Das Oberhaupt der Dorfgemeinschaft von Ivas ließ die beiden Rebellen in ihrer Küche stehen und verschwand. Alf fluchte leise in seinen Bart und Frank schwieg.

Am nächsten Tag machten sie sich mit den anderen auf den Weg nach Wizebsk. Zusammen mit etwa fünfzig Rus wurden Frank und Alfred nach ihrer Ankunft weiter nach Veliz geschickt und arbeiteten sich von dort aus bis in den Süden der russischen Großstadt Velikie Luki vor. Anschließend begaben sie sich in den Osten von Lettland. Die Männer verteilten zahllose Flugblätter in den trostlosen Kleinstädten und Dörfern.

Frank fluchte öfters über diese „Kuliarbeiten“, doch er wusste, dass sie notwendig waren, denn ohne eine entsprechende geistige Vorbereitung, war auch hier kein politischer Umschwung möglich.

Artur Tschistokjow selbst führte Mitte April eine Demonstration in Jelgava durch. Etwa 5.000 seiner Anhänger kamen und Kohlhaas führte wieder einmal die Ordnertruppe an. Während des Aufmarsches kam es mehrfach zu Rangeleien mit der örtlichen Polizei, die sich irgendwann aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit zurückziehen musste. Der Zuspruch aus der Bevölkerung war hingegen beträchtlich.

Die Lebenssituation der Einwohner Lettlands und Estlands hatte sich in den letzten Monaten zunehmend verschlechtert. Alles war teurer geworden, vom Brötchen bis zum Storm. Allerdings waren die Löhne nicht gestiegen, wenn man überhaupt noch irgendwo Arbeit fand.

Tschistokjows über das weißrussische und litauische Fernsehen ausgestrahlte Stimmungsmache konnte auch in den Nachbarregionen empfangen werden und vielen Verzweifelten spendete sie Hoffnung. Zwar war es in diesen Gebieten illegal, das weißrussische Fernsehprogramm zu sehen, doch hielten sich Hunderttausende von Menschen nicht an die gesetzlichen Vorschriften und machten sich selbst ein Bild von der Politik des weißrussischen Präsidenten.

Ende des Monats führte der Anführer der Rus nicht weniger als 30000 Menschen in der südlettischen Großstadt Daugapils zusammen und zog mit ihnen bis zum Sitz der städtischen Hauptverwaltung. Es kam zu Straßenkämpfen mit der verunsicherten Polizei und etwa 300 Menschen wurden verletzt oder gar getötet. Am Ende des Tages hatten sich die Rus durchgesetzt und die örtlichen Beamten in die Flucht geschlagen. Frank und Alf hatten erneut in der ersten Reihe gestanden, waren allerdings unverletzt geblieben. Danach setzten sie ihre rastlosen Werbeaktionen unermüdlich fort. Tag und Nacht waren sie aktiv, bis sich ihre Kräfte vollkommen erschöpft hatten.

Als der Frühsommer des Jahres 2036 mit dem sonnigen Monat Mai anbrach, flog Außenminister Wilden nach Japan, um mit Präsident Matsumoto wichtige Fragen einer zukünftigen Bündnispolitik abzusprechen. Seine Familie, die in Ivas geblieben war, hatte der ehemalige Geschäftsmann aus Westfalen bereits seit Wochen nicht mehr gesehen.

Mit einem lauten Schnaufen ließ sich Frank auf dem zerbeulten Plastiksitz einer heruntergekommenen Bushaltestelle am Stadtrand von Roslavl nieder und schleuderte seinen Rucksack, der bis oben hin mit Flugblättern und Werbeschriften der Freiheitsbewegung angefüllt war, in die Ecke des Wartehäuschens aus grauem Beton. Alfred Bäumer und einige Russen kamen zu ihm herüber und stellten sich mit fragenden Blicken vor ihn.

„Wir müssen noch in einigen Straßenzügen Material verteilen, General Kohlhaas“, sagte ein abgehetzt wirkender junger Mann und sah Frank etwas verunsichert an.

„Verdammt! Ich bin doch kein Postbote, mir reicht es langsam. Für heute habe ich die Schnauze voll!“, murrte Kohlhaas und sank erschöpft in sich zusammen.

„Nur noch ein paar Straßen, Alter, die andere Truppe ist doch auch noch …“, bemerkte Bäumer und fing sich von seinem Freund einen verärgerten Blick ein.

„Nein, ich will nicht mehr! Für heute ist Feierabend! Ruft den Rest der Männer zusammen und dann machen wir uns wieder in Richtung Weißrussland auf die Socken“, meinte Frank genervt.

Alf, dem man unschwer ansehen konnte, dass auch er langsam keine Lust mehr hatte, mahnte Frank zur Disziplin, doch dieser verharrte auf dem Plastiksitz wie ein störrischer Maulesel.

„General Kohlhaas mit den abgelaufenen Hacken hat keinen Bock mehr!“, stöhnte er.

„Artur Tschistokjow hat gesagt, dass jeder Mann für unsere Werbeoffensive notwendig ist. Auch die Männer der Ordnertrupps“, sagte Bäumer.

„Gute Nacht!“, erwiderte Kohlhaas mit einem müden Grinsen und schloss die Augen.

Nach einigen Minuten zogen Alf und die anderen Aktivisten der Rus leicht verstimmt ab und machten sich wieder daran, das Werbematerial zu verteilen. Frank beachtete sie nicht weiter und war nach einer Weile eingenickt.

Roslavl war eine trostlos wirkende Stadt in der unmittelbaren Nähe der weißrussischen Ostgrenze. Hier draußen in den Vororten traf man heute nur wenige Anwohner auf den Straßen an. Alles erschien grau und bedrückend, genau wie der bewölkte Himmel, durch den an diesem Tag kaum ein Sonnenstrahl dringen konnte.

Etwa eine Stunde später kamen Bäumer und die anderen Männer zurück, sie hatten nun auch endgültig die Lust am Flugblätterverteilen verloren. Kohlhaas war inzwischen eingeschlafen, lag ausgestreckt über drei Plastiksitze und erinnerte von weitem an einen Obdachlosen, der sich im Wartehäuschen einer Bushaltestelle eingenistet hatte.

„Steh auf, du Penner!“, flüsterte Alf seinem Freund leise ins Ohr, während die Russen laut zu lachen begannen.

Knurrend richtete sich Frank auf und rieb sich die Augen, schließlich grinste er breit.

„Ich könnte nur noch schlafen und schlafen und schlafen“, meinte Kohlhaas, als sie den Nachhauseweg antraten. Jetzt ging es erst einmal zurück nach Minsk.

„Es geht mir ja auch nicht anders, aber wir müssen uns zusammenreißen, Frank!“, sagte Bäumer.

„Sollen wir jetzt bis nach Sibirien überall diese dämlichen Flugblätter verteilen? Ich dachte, wir sind Ordner und keine Laufburschen …“

„Ohne eine geistige Vorarbeit ist nun einmal keine Revolution möglich. Das hat Artur doch schon mehrfach erklärt, Frank.“

„Ja, aber Frank hat einfach keinen Bock mehr, diesen Mist auch noch zu machen, Frank ist nämlich kein Roboter mit einer Superbatterie im Arsch“, maulte Kohlhaas.

„Aber Artur hat gesagt …“

„Artur ist nicht mein Papa!“

„Trotzdem muss so etwas auch sein“, erklärte Alf energisch.

Sein Freund winkte ab und antwortete: „Ich will doch nur einmal für ein paar Tage meine Ruhe haben. Artur hat einen Sprung in der Schüssel, wenn er glaubt, dass wir jetzt einfach mal Russland befreien können. Das ist das größte Land der Erde!“

„Strategisch gesehen meinen Artur und auch Wilden, dass sich die Freiheitsbewegung zunächst im Westen …“, setzte Alf an, doch Kohlhaas übertönte seine Worte mit einem langgezogenen Murren.

„Halte jetzt endlich die Fresse, du Dortmunder Riesenbaby! General Kohlhaas will jetzt ein Nickerchen machen!“, brummte der junge Mann und lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe der Beifahrertür des Autos, das sie langsam wieder zurück nach Minsk brachte.

„Aber der Einmarsch in Weißrussland und Litauen war doch für Ende des Monats geplant, oder?“, bemerkte ein grauhaariger Herr am Ende des großen Tisches.

„Ja, aber wir werden umdisponieren!“, erklärte der Vorsitzende des Rates der Weisen.

„Es droht ein Bürgerkrieg im Iran! Unser Sub-Gouverneur wird dort zunehmend von den Rebellen unter Druck gesetzt!“, fügte der Weltpräsident hinzu.

„Was heißt das denn jetzt?“, hörte er neben sich.

„Das heißt, dass wir vorerst GCF-Truppenverbände aus dem russischen Teil in den Iran verlegen müssen. Wenn die Lage dort eskaliert, dann ist das etwas anderes, als wenn ein paar Palästinenser im Gazastreifen Steine werfen!“, donnerte das Oberhaupt des Weltverbundes.

Der Vorsitzende des Rates nickte zustimmend. Dann fuhr der Weltpräsident fort: „Diesen Emporkömmling Tschistokjow und seine lächerliche Bande können wir auch noch in den nächsten Monaten erledigen. Zudem haben wir es doch schon in der letzten Sitzung durchgesprochen. Wir werden jetzt die Ideologie des Kollektivismus vor allem in Russland, aber auch in anderen Ländern, verbreiten und durch einen unserer Leute vertreten lassen. Das wird Tschistokjow schnell den Wind aus den Segeln nehmen und zugleich die Gefahr von wirklichen Aufständen in Russland minimieren!“

„Und davon versprechen Sie sich so einen Erfolg?“, wollte der Inhaber eines Medienkonzerns wissen.

Der Vorsitzende musterte ihn mit vielsagender Miene und erwiderte: „Ich denke auch, dass diese Methode gerade bei Leuten wie Tschistokjow wesentlich erfolgsversprechender ist als GCF-Truppen, die alles zusammenschießen.

Wir werden die Armen und die einzelnen Volksschichten gegeneinander aufhetzen, so dass sie sich mit all ihrem Hass bekämpfen. Das hat früher funktioniert und das wird es auch heute!“

„Was ist mit Matsumoto? Dieser Kerl hat heute Morgen dem Weltverbund gedroht, die Insel Sakhalin und andere Teile Sibiriens mit Truppen zu besetzen, wenn wir Weißrussland angreifen!“, bemerkte einer der Herren.

„Er wird nichts machen. Ich glaube kaum, dass er in Sibirien einmarschieren und damit einen Krieg außerhalb seiner verfluchten Inseln riskieren wird! Um Weißrussland zu helfen? Einem so kleinen Land? Er versucht lediglich mit den Muskeln zu spielen, das ist alles!“, brummte der Vorsitzende des Rates der 13.

Der Weltpräsident setzte ein selbstgerechtes Grinsen auf und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Dann sprach er: „Liebe Brüder, jetzt lassen wir mal Weißrussland und Litauen links liegen und widmen uns wichtigeren Dingen. Beispielsweise der Massenregistrierung durch unsere Implantationschips. Wie sehen Sie die Gesamtentwicklung der Operation, meine Herren?“

Der Vorsitzende des Rates blickte die um ihn Versammelten mit ernster Miene an und wartete auf Antworten. Ein Mann in feinem Zwirn hob seine Hand zu einer Wortmeldung …

Artur Tschistokjow war kurzzeitig nach Minsk zurückgekehrt und hatte einige wichtige Regierungsangelegenheiten geklärt. Er wunderte sich, dass bisher keine GCF-Truppen an den Grenzen seines Landes zusammengezogen worden waren. Zudem hielt sich die ausländische Medienhetze gegen ihn auch weiterhin in Grenzen.

Der Mai neigte sich mittlerweile seinem Ende zu. Seit vier Monaten war der Anführer der Rus bereits in Weißrussland und Litauen an der Macht und von einem geplanten Militärschlag gegen seine Herrschaft war bisher nichts zu sehen. Er rätselte vor sich hin. Selbst eine kleine GCF-Armee hätte sein winziges Land wie eine Wanze zerquetschen können, doch es war gespenstisch ruhig geblieben.

So schätzte er sich einfach glücklich über diese Tatsache, unternahm alles, um Weißrussland mit seinen beschränkten Mitteln wieder aufzubauen und versuchte, die Rebellion gegen das Weltversklavungssystem über die Grenzen seines kleinen Herrschaftsbereiches auszudehnen. Er machte unbeirrt weiter. So wie er es immer getan hatte.

Lettland wurde von der Freiheitsbewegung der Rus als nächstes Ziel für einen politischen Umsturz ausgesucht. Frank, Alf, Sven und mehrere tausend Mitstreiter überschwemmten das Land täglich mit Werbematerial und nahmen an einer Massendemonstration in Liepaja teil. Hier versammelten sich 20.000 Menschen unter dem Banner des Drachenkopfes und zogen durch die Hafenstadt. Die Veranstaltung verlief ohne größere Zusammenstöße mit der Polizei. Artur Tschistokjow hatte für die kommenden Wochen einen Vorstoß nach Riga geplant, der die dort ansässige Vasallenregierung stürzen sollte. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren und die mittlerweile militärisch organisierten Ordnertrupps waren mit weiteren Kriegswaffen aus Japan ausgerüstet worden.

Der Anführer der Rus beabsichtigte, mit mindestens 30000 bewaffneten Männern nach Riga zu kommen. Vorher sollten, wie bereits in der weißrussischen Revolution erprobt, wichtige strategische Ziele unter Kontrolle gebracht werden. Wilden war inzwischen wieder nach Minsk zurückgekehrt und überbrachte gute Neuigkeiten aus dem fernen Osten.

Der japanische Präsident Matsumoto hatte versichert, Weißrussland und Litauen im Falle eines GCF-Angriffs nicht im Stich zu lassen. Was er genau damit meinte, konnte der Außenminister allerdings nicht sagen. Aber es klang zumindest gut und so glomm in Tschistokjows Kabinett in Minsk ein wenig Zuversicht auf.

Schritt für Schritt

Frank drückte sich den Telefonhörer noch ein wenig fester an sein Ohr und lauschte erwartungsvoll dem leisen Tuten. Nach etwa einer Minute hob Agatha Wilden, Julias Mutter, endlich ab. Die Frau des Außenministers begrüßte Kohlhaas etwas verhalten und ging dann in die obere Etage, um ihre Tochter ans Telefon zu holen.

„Hallo?“, schallte es kurz darauf aus dem Hörer.

„Hallo, Julia! Ich bin’s! Ich wollte mich nur mal melden“, sagte Frank aufgeregt und lehnte sich gegen die schmutzige Glasscheibe der Telefonzelle.

„Na, wie ist die Lage?“, fragte Julia trocken.

„Hör bloß auf, wir sind mal wieder rund um die Uhr unterwegs. Wir bereiten gerade eine große Sache vor, mehr darf ich aber nicht sagen. Falls einer mithört, weißt du?“, erklärte Kohlhaas.

„Noch eine große Sache?“

„Ja, ich bin an der Grenze zu Lettland. Alf ist auch dabei. Wir wollen morgen …“, sagte der junge Mann und unterbrach sich dann selbst.

„Aha!“, gab Julia nüchtern zurück.

„Und was machst du so?“, wollte Kohlhaas wissen.

Die Tochter des Dorfchefs schwieg für einen kurzen Moment, schließlich antwortete sie: „Schön, dass du auch mal danach fragst, Frank. Ich lese gerade einige Bücher über Pädagogik. Es ist übrigens äußerst bemerkenswert, was Artur Tschistokjow in „Der Weg der Rus“ über die Erziehung der Jugend schreibt, aber das nur am Rande. Gerade lese ich jedoch ein anderes Buch zu diesem sehr interessanten Thema“, erläuterte Julia.

„Pädagogik?“, wunderte sich Frank.

„Ja, genau!“

„Artur schreibt, dass alle Erziehung nur einem Ziel dienen soll: Die Jugend muss …“, rezitierte Frank, doch die junge Frau fiel ihm ins Wort.

„Ich weiß, aber ich möchte mich zunächst einmal noch mit anderen Büchern befassen. Etwas allgemeineren Büchern, ich will nämlich Lehrerin werden.“

„Was?“

„Ich möchte Lehrerin werden. Daher auch mein Interesse an diesen Themen. Vielleicht gehe ich in ein paar Monaten nach Wilna, um dort zu studieren. Das wäre doch nicht schlecht, oder?“, sagte Julia und schien gespannt auf Franks Reaktion zu warten.

„Warum das denn? Nach Wilna?“, erwiderte Kohlhaas verwirrt.

„Ja, die Universität in Wilna ist eine hervorragende Institution, das meint übrigens auch mein Vater. Ich glaube, dass ich das Zeug zu einer guten Lehrerin habe. Was sagst du dazu?“

Frank brummte leise vor sich hin. „Warum bleibst du denn nicht in Ivas?“