Zehnter Band
Nesthäkchen im weißen Haar

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1. Kapitel. Marietta.
2. Kapitel. Am Scheidewege.
3. Kapitel. Kinderhort.
4. Kapitel. Radio.
5. Kapitel. Aus den Tropen.
6. Kapitel. Weihnachtslichter.
7. Kapitel. Die Fäden entwirren sich.
8. Kapitel. Wiederfinden.
9. Kapitel. Ostereier.
10. Kapitel. Eine Vogelgeschichte.
11. Kapitel. Ferienkinder.
12. Kapitel. Dunkel wird’s.
13. Kapitel. Kennst du das Land?
14. Kapitel. Unter Palmen.
15. Kapitel. Goldene Abendsonne.

1. Kapitel.
Marietta.

Inhaltsverzeichnis


Oktobersonne blinzelte durch hohe, unverhangene Fenster. Sie malte goldene Strahlenkegel an die schlichtgetünchte Wand des Klassenraumes. Sie streichelte mit warmen Fingern junge Mädchengesichter, die sich voll Andacht und Eifer dem Katheder zuwandten. Dort stand eine Frau, die mit ernsten, warmen Worten die jungen Zuhörerinnen in Bann hielt. Eine von den Frauen, die ihre starke Persönlichkeit schon beim ersten Zusammensein offenbaren. Sie war weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich. Ein feingeschnittener, kluger Kopf mit ruhigen, in die Tiefe schauenden Augen. Das war Fräulein Dr. Engelhart, die Leiterin der sozialen Frauenschule.

Zum erstenmal hatte sich die unterste Fachklasse zu Beginn des neuen Lehrjahres versammelt. Herzklopfend, in seltsamer Befangenheit, wie man einst als kleine Abcschützen den ersten Schritt in das Schulleben hinein getan, so hatten die fast zwanzigjährigen Mädchen heute die soziale Frauenschule betreten. Aber bei den gütigen Begrüßungsworten der Vorsteherin wich jede Befangenheit. Heiligen Ernst, erwartungsvolle Arbeitsfreudigkeit offenbarten die jungen Gesichter der Zuhörerinnen. O ja, sie wußten es, daß es ein schweres Feld war, das es für sie zu beackern galt.

»Der soziale Beruf sollte nur von denen ergriffen werden, die der Ruf einer inneren Stimme dazu treibt, die sich im wahren Sinne des Wortes dazu berufen fühlen. Soziale Hilfsbereitschaft verlangt volle Hingabe, dienende Liebe. Sie verlangt Menschen, die ihr eigenes Selbst hintenansetzen, in der Allgemeinheit aufgehen können. Nur wer mit diesen Vorbedingungen in den sozialen Beruf eintritt, wird eine beglückende, erfüllende Aufgabe finden.« So klang es ernst und verheißungsvoll von den Lippen der Sprechenden.

Fräulein Dr. Engelharts Blick, der die neuen Zöglinge prüfend überflog, blieb in der vorletzten Reihe haften. War es das goldbraune Kraushaar, über das die Oktobersonne all ihr flimmerndes Gold ausgestreut zu haben schien, das wie ein Heiligenschein ein schmales, zartes Mädchengesicht umstrahlte, was den Blick der Vorsteherin hielt? Oder waren es die großen schwarzen Augen, die in selbstvergessener Hingabe an den Lippen der Sprechenden hingen? Fräulein Dr. Engelhart, daran gewöhnt, schnell und sicher zu sondieren, empfand sofort Fäden der Sympathie und Gemeinschaft, die von dem unbekannten, neuen Zögling sich zu ihrer eigenen Person herüberspannen. Aber auch die klaren, blaugrauen Augen der Danebensitzenden mit dem schlichten Blondscheitel, die ihren Ausführungen so verständnisvoll folgten, fesselten die Menschenkennerin.

»Es ist notwendig, meine Damen,« fuhr sie in ihrer Rede fort, »daß sich jede von Ihnen sobald wie möglich, schon bei Beginn ihrer sozialen Laufbahn, klar darüber wird, zu welchem Ziele Sie der einzuschlagende Weg führen soll, welchem Sondergebiet der sozialen Fürsorge Sie sich widmen wollen. Es ist dies für die praktische Tätigkeit, die Hand in Hand mit unseren theoretischen Lehrkursen geht, unumgänglich. Wir unterscheiden drei Hauptgruppen, für die wir Wohlfahrtspflegerinnen ausbilden. Die erste ist die Gesundheitsfürsorge. Sie können auf dem Boden dieser Abteilung Beamtin an Säuglingsfürsorgestellen, städtische Armenpflegerin, Lungenfürsorgeschwester, Wohnungsinspektorin werden. Es ist ein großes Feld für soziale Tätigkeit. – Die zweite Hauptgruppe umfaßt die Jugendwohlfahrtspflege. Diese Gruppe bildet Schul-, Jugend-und Waisenpflegerinnen aus. Die dritte und letzte Gruppe ist der allgemeinen und wirtschaftlichen Wohlfahrtspflege gewidmet, insbesondere der Arbeiterinfürsorge. Fabrikpflegerinnen und Beamtinnen für Arbeiterinnenheime und Vereine gehen aus ihr hervor.«

»Das ist für dich das Richtige, Marietta, – die Arbeiterfürsorge«, flüsterte die Besitzerin der blaugrauen Augen da hinten auf der vorletzten Bank ihrer Nachbarin mit dem goldbraunen Heiligenschein zu.

»Wollen Sie sich irgendwie dazu äußern, Fräulein – wie war doch Ihr Name?« wandte sich Fräulein Dr. Engelhart freundlich an die Flüsternde.

»Ebert – Gerda Ebert.« Das blasse Mädchengesicht überzog leichte Röte. »Ich meinte nur, Arbeiterfürsorge wäre das richtige Feld für meine Kusine Marietta Tavares. Und ich selbst möchte – –«

»Nun – nun, Fräulein Ebert, ich verlange nicht, daß Sie diese für die Zukunft schwerwiegende Frage sofort entscheiden sollen. Gut Ding will gute Weile haben. Erst müssen Sie einen Einblick in unsere verschiedenen Abteilungen mit ihren Anforderungen und Pflichten bekommen, bevor Sie einen endgültigen Entschluß fassen. Dabei muß Sie Ihre eigene Veranlagung leiten. Sie selbst müssen es fühlen, zu welcher sozialen Betätigung Sie Ihr Inneres treibt. Keiner der Wege ist leicht, jeder ist gleich schwer, das darf ich Ihnen nicht verhehlen. Nur wer sich selbst geprüft hat, wer zielbewußte Pflichttreue und volle Aufopferung dazu mitbringt, ist uns als Weggenossin im Dienste der Menschheit willkommen. So, meine Damen,« – Fräulein Engelhart schlug jetzt einen sachlichen Ton an, – »nun notieren Sie bitte den Stundenplan.«

Da wurde es mancher der jungen Novizen im Reiche der sozialen Hilfsgemeinschaft etwas schwül zumute. Schon bei den eindringlich mahnenden Worten der Anstaltsleiterin hatte sich diese und jene bange gefragt, ob man auch wirklich die notwendigen Vorbedingungen für den schweren sozialen Beruf mitbringe. Himmel, man war doch knapp zwanzig Jahre alt, das Leben mit all seinen Freuden lag vor einem. Man lachte gern, man belustigte sich, und man tanzte nur allzu gern. Und doch wollte man helfen, Tränen stillen, Schmerzen lindern. Aber man hatte es sich leichter gedacht. Schon der Stundenplan. Da gab es Berufskunde und soziale Literatur, Gesundheitslehre und Gesundheitsfürsorge, Pädagogik und Jugendfürsorge. Da gab es Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, Worte, bei denen einem allein schon himmelangst werden konnte. Unter denen man sich vorläufig nur einen steilen Berg, den man niemals erklimmen würde, vorzustellen vermochte.

Die schwarzen Augen unter dem goldbraunen Kraushaar in der vorletzten Reihe schienen diese bange Beklommenheit besonders sprechend zum Ausdruck zu bringen. Fräulein Engelhart, die gerade »Buchführung und Verwaltungskunde« diktierte, unterbrach sich lächelnd: »Fräulein Tavares, Sie brauchen nicht solche bangen Augen zu machen. Das hört sich für den Neuling schlimmer an, als es ist. Das Labyrinth der Ihnen fremden Sozialgebiete wird Ihnen allmählich schon vertraut werden. In einem Tag ist auch Rom nicht erbaut worden. Nur guten Willen, ernstes Pflichtbewußtsein müssen Sie als Wanderstab mitbringen. Aber auch des Jugendfrohsinnes, frischen fröhlichen Muts bedarf es zu Ihrer Aufgabe, die Sie vor Verflachung schützt, Sie über persönliche Interessen hinaus Gemeinschaftszielen zum Wohle Ihrer Mitmenschen entgegenführt. Wer einen Teil seines Lebens wahrhaft hingibt, wird ungeahnte Schätze dabei heimtragen. Lassen Sie mich zum Schluß Ihnen als Weggeleit ein Wort Marie von Ebner-Eschenbachs mitgeben: ›Wenn uns auf Erden etwas mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt wird, so ist es unsere Menschenliebe.‹« Die Leiterin der sozialen Frauenschule neigte leicht grüßend den Kopf und verließ den Klassenraum.

»Eine wundervolle Frau!« Man wußte nicht, wer es gesagt, wer das ausgesprochen, was eine jede der Schülerinnen empfand.

Die beiden aus der vorletzten Reihe schritten Arm in Arm durch das schmiedeeiserne Gittertor hinaus in den herbstelnden Vorgarten. Die eine, groß und überschlank, ging fest und sicher, die blaugrauen Augen geradeaus auf ein unsichtbares Ziel gerichtet. Die andere, fast um einen Kopf kleiner, von elfenhafter Anmut, blickte noch immer zaghaft. Sie kam sich vor wie das losgelöste Blatt zu ihren Füßen, das der Wind hierhin und dorthin wehte. Und doch hielt sie selbst jetzt ihr Schicksal in der Hand, konnte es hinsteuern, zu welchem Ziele sie wollte.

»Mit einer solchen Frau wie Fräulein Dr. Engelhart gemeinsam zu wirken, ist allein schon ein Gewinn für das Leben«, unterbrach die größere der Kusinen das minutenlange Schweigen. »Ich freue mich auf die Arbeit. Je schwerer sie ist, um so größer ist der Erfolg.«

Marietta blickte bewundernd zu ihrer Gefährtin auf. Wie sicher Gerda des Erfolges war, während sie selbst sich bange fragte, ob es nicht eine Anmaßung von ihr sei, sich auf solch ein schwieriges Gebiet zu begeben.

»Du bist so still, Jetta. Hat dich der erste Tag in der sozialen Frauenschule oder gar deren Leiterin enttäuscht? Es erscheint mir undenkbar.«

»Nein, Gerda!« Das goldbraune Kraushaar flatterte im Winde, so lebhaft wurde der Kopf geschüttelt. »Nur von mir selbst bin ich enttäuscht. Ich fürchte, den großen Anforderungen, welche die soziale Frauenschule verlangt, nicht gewachsen zu sein.« Marietta sprach ein fehlerloses Deutsch. Nur leichter, fremdländischer Anklang erinnerte daran, daß sie ein Kind ferner Zonen war.

»Du mit deinem warmen, die ganze Menschheit umfassenden Herzen? Ich wüßte nicht, wer mehr für soziale Tätigkeit geeignet wäre als du, Jetta«, protestierte die andere.

»Wenn es nur mit dem Herzen zu schaffen wäre. Aber der Verstand scheint mir für unseren Stundenplan notwendiger zu sein. Ich weiß nicht, ob ich den schweren Lehrkursen werde folgen können. Ja, wenn ich so klug wäre wie du.«

»Du leidest wieder mal an falscher Bescheidenheit, Jetta. Das Theoretische wirst du so gut wie jede andere bewältigen. Und für die Praxis bedarf es vor allem starker Menschenliebe und Selbstaufopferung, die du in vollstem Maße besitzt. Hat meine Mutter es nicht oft genug während deiner zweijährigen Hilfstätigkeit in ihren Kleinkinderkrippen und Jugendhorten geäußert, daß keine andere sich so ganz einsetzt wie du? Na also! Dir fehlt nur Selbstvertrauen. Du darfst nicht auf den mühevollen Weg schauen, sondern auf das Ziel, das es zu erreichen gilt. Denke nur, Jetta, wenn du die Arbeiterfürsorge bei euch drüben in Brasilien nach europäischen Mustern wirst ausbauen können, was für ein reiches, soziales Feld da vor dir liegt.« Gerda Ebert sprach klug und fließend.

Marietta war stehengeblieben. Sie kämpfte augenscheinlich, ob sie das, was sie bewegte, in Worte fassen wollte. Das Blut kam und ging in ihrem zarten Gesicht.

»Nun?« fragte Gerda erstaunt. Sie blickte von der Kusine zu dem Schaufenster mit Lichten, Seifen, Waschpulvern und Bürsten, vor dem sie gerade haltgemacht. Was konnte denn die Kusine hier fesseln?

»Es ist nicht allein Mangel an Selbstvertrauen, Gerda. Es ist vor allem der Entschluß über unsere Zukunft, den Fräulein Engelhart von uns verlangt und der mich beschwert. Du glaubst nicht, wie haltlos und unsicher es mich macht, daß ich jetzt vor eine Entscheidung gestellt bin.« Marietta schien erregt.

Am Gegensatz dazu stand die ruhige Verwunderung der Gefährtin. »Entscheidung? Wir sind doch beide längst entschieden, welchen sozialen Zielen wir zustreben. Schon als Backfisch hast du davon geschwärmt, euren Plantagenarbeitern in Brasilien bessere Lebensmöglichkeiten zu schaffen, eine soziale Helferin der bedrückten Arbeiterklassen in Sao Paulo zu werden.«

»Ja, davon habe ich früher stets geträumt, es mir als Zukunftsideal ausgemalt. Aber jetzt, wo ich den Weg dazu einschlagen soll, da sehe ich nur, daß er mich über das große Wasser zurückführt, fort von allem, was mir in den fünf Jahren meines Aufenthaltes in Europa teuer und lieb geworden ist. Es erscheint mir geradezu als Unmöglichkeit, wieder in die Tropen zurückzugehen.«

»Kindchen, du weißt ja nicht, was du willst«, lachte sie die Kusine aus. »Brasilien ist doch deine Heimat, du hast deine Eltern, deine Geschwister in Sao Paulo. Und du tust, als ob du in die Fremde solltest.«

»Ich bin dort fremd geworden, Gerda. Ich bin wohl niemals dort richtig daheim gewesen. Das ist mir erst zum Bewußtsein gekommen, als ich deutschen Boden betreten. Das mütterliche deutsche Blut in mir ist stärker als das väterliche. Als meine Eltern mich vor einem Jahr bei ihrem letzten europäischen Besuch wieder mit hinübernehmen wollten, habe ich sie himmelhoch gebeten, mich hier in Deutschland meine sozialen Studien vollenden zu lassen. Nur einen Aufschub wollte ich – und ich habe es ja auch durchgesetzt. Aber nun muß ich mich entscheiden. Was soll ich tun? Niemals war ich unentschlossener.«

»Ich weiß immer, was ich will«, sagte Gerda kopfschüttelnd. »Ich habe stets der Gesundheitsfürsorge besonderes Interesse entgegengebracht. Meine Arbeit soll der Hebung der Volksgesundheit gehören. Willst du hier in Deutschland Fabrikpflegerin oder Beamtin an einem Arbeiterheim werden, wenn du nicht nach Brasilien zurückgehst?« Alles, was Gerda sagte, war klar und sachlich.

Marietta schüttelte den Kopf. »Wenn ich hierbleibe, würde ich die Jugendfürsorge für mich als Beruf wählen. Ich habe es während der praktischen Arbeit in Gemeinschaft mit deiner Mutter erkannt, daß es besonders die Kinder sind, zu denen mich mein Herz zieht. Aber es kommt mir wie ein Verrat an unseren armen, brasilianischen Arbeitern vor.«

»Ja, Kindchen,« – trotzdem Gerda die jüngere war, erschien sie als die überlegenere, – »ja, das mußt du mit dir allein abmachen. In so wichtigen Lebensfragen kann einem kein Mensch raten. Was ich an deiner Stelle täte, wüßte ich. Mich würde es viel mehr reizen, drüben in Brasilien soziale Hilfstätigkeit zu organisieren, Neues zu schaffen, als hier ausgetretenen Pfaden nachzugehen. Aber da kommt meine Elektrische. Überleg’ es dir, Jetta – auf Wiedersehen morgen. Und grüße den Großpapa und die Großmama.«

Das Letzte klang schon von der Plattform der sich in Bewegung setzenden Elektrischen herunter.

Marietta blickte der zurückwinkenden Kusine nach. Ach, wer doch auch so sicher und unbeirrt seines Weges ginge! Warum wurde es ihr nur besonders schwer, das Rechte zu finden? Anita, ihre Zwillingsschwester, quälte sich niemals mit langen Überlegungen ab. Die tat das, was ihr gerade einfiel, und vor allem, was ihr gefiel. Und auch Kusine Gerda, mit der sie die ganzen Jahre über Freundschaft gehalten, schien nie im Zweifel zu sein über das, was sie wollte. Wer half ihr den richtigen Entschluß fassen?

Die Großmama – Gerdas letztes Wort klang ihr noch im Ohre nach. Ja, die Großmama wußte immer zu helfen, so oft eins der Enkelkinder sich in Nöten befand. Galt es bei den Eltern etwas zu erbitten oder für ein schlechtes Zeugnis ein gutes Wort einzulegen, immer war es Großmamas liebevolles Herz, an das man sich wandte. Und besonders Marietta, die im Hause der Großeltern ihre Heimat auf deutschem Boden gefunden, verband innige Zuneigung mit der stets gütigen, alten Frau. Sie hatte ihr die fernen Eltern und Geschwister ersetzt, war ihr, trotz der Schulfreundinnen, stets die beste Freundin gewesen. Warum zögerte sie nur, sich, wie sie es sonst stets getan, in ihrer Bedrängnis an die Großmama zu wenden? Sich von ihr beraten zu lassen?

Die Verbindungsbahn von Berlin nach dem Vorort Lichterfelde, die Marietta zur großväterlichen Wohnung benutzen mußte, hatte sich inzwischen schrill pfeifend in Bewegung gesetzt. Mauern mit farbenschreienden Reklamen sausten vorüber, Neubauten, herbstlich buntgefärbte Laubenkolonien. Das junge Mädchen nahm den unterbrochenen Faden seiner Gedanken wieder auf.

War es Feigheit, daß sie sich in dieser für ihre Zukunft ausschlaggebenden Frage nicht von der Großmama raten lassen wollte? Fürchtete sie, die Großmama könnte in ihrer Selbstlosigkeit Verzicht leisten, um sie nicht größeren Lebensaufgaben zu entziehen? Hatte sie doch schon öfters geäußert, ob es auch recht von ihr sei, die junge Enkelin so ganz an sich zu ketten, sie ihren Eltern und Geschwistern zu nehmen. Nein, es war nicht nur Feigheit vor dem stets ehrlich-geraden Urteil der Großmama. Sie dachte mehr dabei an die liebe alte Frau, als an sich selbst. Sie durfte sie nicht vor einen Entschluß stellen, der sie Herzblut kosten würde. Gerda Ebert hatte recht – allein mußte sie damit fertig werden.

Beinahe wäre Marietta über ihr Ziel hinausgefahren. Sie war so in ihre Überlegungen vertieft, daß sie erst im letzten Augenblick ans Aussteigen dachte. Nun schritt sie langsam die mit samtroten Blutbuchen bestandene Villenstraße entlang. In den Gärten trug Baum und Busch metallflimmerndes Herbstkleid. Oh, diese Farben! Vom zartesten Goldton bis zum leuchtendsten Kupfer. Ganz besonders liebte Marietta den deutschen Herbst mit seinem letzten Aufglühen der Natur, bevor Winterstille sie umfing. Unter Silberwolken schossen im Bogenflug blaue Schwalben. Sie sammelten sich zur Reise in ferne Sonnenländer.

Und sie selbst zog es nicht heim, in das Sonnenland ihrer Kindheit? Wo die Palmen ihre Blätterdächer vor sengendem Strahl schützend wölbten. Wo die Blumen und Früchte in ganz anderer Schönheit, Größe und Farbenpracht glühten. In das schloßartige Marmorhaus mit den schwarzen Dienern und Dienerinnen, mit all seinem Luxus, all seinem Reichtum?

Nein – Marietta schüttelte den Kopf, als habe sie irgend jemand Antwort auf die stumme Frage zu geben. Nein, das hatte sie niemals hier in Deutschland, in der schlicht bürgerlichen Häuslichkeit der Großeltern entbehrt. Die einfachen Lebensbedingungen hier entsprachen viel mehr ihrer bescheidenen Sinnesart. Freilich, nach den Eltern, vor allem nach der Mutter, war ihr im Anfang recht bange gewesen. Und Anita, ihre Zwillingsschwester, fehlte ihr auf Schritt und Tritt. Auch nach Klein-Juan erwachte öfters die Sehnsucht, besonders an den Sonntagnachmittagen, wenn sich die kleinen Vettern in Lichterfelde bei den Großeltern einfanden. Aber solche Stimmungen waren nur selten. Die wußte die Großmama stets feinfühlend durch Lektüre eines guten Buches, durch irgendeinen gemeinsamen Kunstgenuß oder auch nur durch ein liebes Wort zu zerstreuen. Nein, Marietta hatte es niemals bereut, daß sie als fünfzehnjähriges Backfischchen den Entschluß gefaßt hatte, die Eltern und Geschwister allein über das große Wasser zurückgehen zu lassen, bei den Großeltern in Deutschland zu bleiben. Das Beste in ihr hatten diese Jahre ihr gegeben, das Streben, sich innerliche Werte zu eigen zu machen. Das war ihr besonders bewußt geworden, als Anita als Siebzehnjährige zum zweiten Male nach Europa herüberkam, um ihre Violinstudien zu vervollkommnen und vor allem, wie sie lachend sagte, ihren treulosen Zwilling heimzuholen. Da hatte sie es täglich, fast stündlich, empfunden, daß sie sich bei all ihrer Liebe zu der Schwester mit dieser ganz auseinandergelebt hatte. Anita war inzwischen eine fertige junge Dame geworden, die sich ihrer Schönheit und ihrer gesellschaftlichen Stellung durchaus bewußt war. Kaum, daß sie ihre Musikstudien ernst nahm. Sie war nur darauf bedacht, Vergnügungen zu genießen und durch ihre Toilettenpracht, durch ihre sprühende Lebhaftigkeit ihre Umgebung zu blenden. Was Marietta Freude machte, ihre guten Bücher, von denen jedes ihr ein Freund war, die Berliner Galerien und Museen mit ihren Kunstschätzen, ihre armen Kinder im Hort und in der Kleinkinderkrippe, für die sie nach absolvierter Schulzeit mütterlich sorgte, das alles tat Anita mit einem geringschätzigen Achselzucken ab. »Spießbürgerlich« hatte sie das alles genannt, Mariettas einfachen, aber geschmackvollen Anzug »unmöglich«. »Es wird höchste Zeit, daß du wieder nach Sao Paulo zurückkehrst, Jetta«, so hatte sie sich geäußert. »Ich muß dich wieder ganz ummodeln. Sonst halten dich unsere Bekannten am Ende noch für Juans deutsche Erzieherin.« Es sollte scherzhaft klingen, aber der Blick, der Mariettas schlichtes Äußere musterte, war mißbilligend. Und als Marietta ihr antwortete, daß sie besseres zu tun habe, als sich den ganzen Tag mit bunten Seidenfahnen zu behängen und in den Spiegel zu schauen, da verstand Anita sie gar nicht. Was konnte es denn besseres geben, als sich so hübsch wie möglich zu machen. Sie hatte Anita für ihre kleinen Schützlinge zu interessieren gesucht, sie mitgenommen in den Kinderhort, ihr erzählt, welch ein Segen diese Einrichtung für die arbeitenden Mütter bedeutete, wenn sie ihre Kleinen inzwischen gut versorgt wußten. Naserümpfend hatte Anita zugesehen, wie die ärmlich gekleideten Kinder freudestrahlend auf die Schwester zuliefen, sie mit zärtlichen Ärmchen zu umfangen. Sie hatte ihre eleganten Sachen zusammengerafft, daß sie nur nicht in Berührung mit den Armen kämen. Aber als Marietta all die Händchen vor dem Essen wusch und das Kleinste gar selbst auf den Schoß nahm, um es zu füttern, wurde es Anita doch zu stark. »Das ist keine Arbeit für eine Tavares! Wie kannst du deine Familie nur derart erniedrigen, Jetta. Nimm dir eine Dienerin, die derartige Arbeit macht.« Als wäre es heute, hörte Marietta sich darauf antworten: »Arbeit erniedrigt nicht, Nita, noch dazu eine Arbeit im Dienste der Menschenliebe. Aber eine Gesinnung, die voll Hochmut nur sich selbst kennt, nur für Äußerliches Interesse hat, die erniedrigt. Fühlst du denn nicht, was für eine innere Befriedigung mir daraus erwächst, wenn ich diesen armen, kleinen Wesen die Mutter ersetzen kann?« Anita hatte den Kopf geschüttelt, dann aber doch etwas beschämt in die Tasche gegriffen: »Hier ist Geld. Kaufe den armen Kindern hübsche Kleider.« – »Sie brauchen Notwendigeres, Nita, Wäsche und Schuhe.« Aber sie hatte das Geld nicht zurückgewiesen, um die Schwester nicht zu kränken. »Anita ist nicht schlecht, nur grenzenlos verwöhnt und von ihrer eigenen Person vollständig ausgefüllt. Wir sind nicht mehr auf denselben Ton gestimmt. Unsere Interessen gehen ganz und gar auseinander.« Es war eine bittere Stunde, in der Marietta diese sie schmerzende Wahrheit zum ersten Male empfunden, daß sie sich von der Genossin ihrer Kinderzeit auch innerlich weit entfernt hatte. Und mit dieser Erkenntnis kam die daraus erwachsende ihr zum Bewußtsein: Ebensowenig wie sie zu Anita paßte, war sie noch für Brasilien geeignet. Sie würde sich dort nicht mehr wohlfühlen, trotzdem es ihr Vaterland war. Das glühende Tropenklima, das die Schaffenskraft lähmte, die damit Hand in Hand gehende Verwöhnung der Frauen, der Luxus und die auf Äußerlichkeiten gestellte Geselligkeit würden sie nicht mehr befriedigen. Die Mutter hatte dort ihren Mann und ihre Kinder, sie hatte ihre Musik, die sie ausfüllte. Aber sie? – »Du hättest deine soziale Arbeit, du könntest dort für die Arbeiter eintreten und ihre menschenunwürdige Lage verbessern.« Wie oft hatte sie sich das gesagt. Den Arbeitern des großen Kaffeehauses Tavares ging es nicht schlecht, dafür hatte sich ihre Mutter schon eingesetzt. Die hatten gesunde Wohnungen und ihr Auskommen. Aber auf den anderen Plantagen sah es bös aus. Durfte sie sich den Mut, die Kraft zutrauen, Fremde für ihre sozialen Bestrebungen zu gewinnen? Man kannte drüben nur das Geld. Wenn es gegen die materiellen Interessen der Besitzenden ging, war der Kampf ziemlich aussichtslos. Nein, Marietta hatte sich bisher noch nicht reif und stark genug gefühlt, um ein derartiges Werk zu unternehmen. Sie hatte die Eltern gebeten, sie weiter in Deutschland zu lassen, um später die soziale Frauenschule zu besuchen. Vielleicht erwuchsen ihr daraus ungeahnte Kräfte. Gern war ihr die Zustimmung der Eltern nicht zuteil geworden. Der kluge Vater erkannte, daß sich die Tochter amerikanischem Wesen und heimischen Sitten entfremdete, daß sie in Deutschland Wurzel schlug. Und die Mutter? Nun, eine Mutter leidet stets, wenn sie eins ihrer Kinder entbehren muß. Trotzdem war sie es, die als Fürsprecherin für die Tochter eingetreten. Marietta war im Kern ihres Wesens deutsch, das wußte sie am besten.

An dem Gitter des großväterlichen Gartens war Marietta stehengeblieben. Dort lag das liebe Rosenhaus, jetzt seines schönsten Schmuckes entkleidet. Die Kletterrosen, die es umrankten, hatten abgeblüht. Nur hier und da auf dem großen Rasenrondell, das von Großpapas Edelrosen umsäumt wurde, hatte der warme Oktobersonnenschein noch eine Spätrose hervorgelockt. Aber die Astern und Georginen blühten dafür in übermütigster Buntheit, als wüßten sie es nicht, daß sie die letzten Grüße des scheidenden Sommers bedeuteten. In flimmerndem Goldkleid stand die Linde da – Marietta mußte an das Bäumlein denken, das andere Blätter hat gewollt. Die Großmama hatte ihr und Anita vor Jahren das Gedicht vorgelesen, damals, als sie aus Brasilien herübergekommen. Die ganze Poesie der deutschen Märchen hatte die Großmama über die aufhorchenden Kinder ausgeschüttet. Was hatte sie ihr nicht gegeben, die liebe Großmama? Alles, was schön und wertvoll in ihrem Mädchenleben gewesen, war ihr von dort gekommen. Durfte sie immer nur nehmen, mußte sie nicht auch zurückgeben?

O ja, sie wußte es, daß sie den alternden Großeltern zum Sonnenschein geworden war, der ihr Haus erhellte und erwärmte. Daß sie selbst wieder jung wurden in dem Bestreben, mit der jungen Enkelin Schritt zu halten, ihr auf all den Wegen, die eine neue Zeit erschloß, zu folgen. Und das alles wollte sie ihnen entziehen? Noch waren sie rüstig, die lieben beiden, die Großmama bei weitem mehr als der Großpapa. Aber wie der Herbst dort die Blätter von der Linde streifte, so würden auch sie mehr und mehr entblättern, ihre Kräfte allmählich hinschwinden fühlen. Es war der Lauf der Natur. Und dann wollte sie die Großeltern treulos im Stich lassen als Lohn für all ihre Liebe? Im fernen Lande fremden Menschen helfen, während ihr Herz hier in Deutschland bei den Großeltern fest verankert war?

Wer sagte ihr, wo ihre Pflicht lag?

2. Kapitel.
Am Scheidewege.

Inhaltsverzeichnis


Großmama und Großpapa hielten ihr Nachmittagsschläfchen. Der alte Geheimrat auf dem Sofa, Frau Annemarie daneben in dem bequemen Ledersessel, wie sie es nun schon seit Jahren gewöhnt waren. Die Zeitung war der geäderten Hand des Schlafenden entfallen. Seine tiefen Atemzüge mischten sich mit dem Summen einer respektlosen Fliege.

Frau Annemarie schlief nicht. Sie blickte von der Uhr drüben an der Wand unruhig zum Fenster, das die schon schrägen Sonnenstrahlen einfing. Wo das Kind nur blieb? Mußte es nicht längst hier sein? Eine halbe Stunde Fahrt, der Weg zum Bahnhof und das letzte Stück hier draußen – wieder befragte sie mit angstvollen Augen die Uhr. Nein, wirklich, um eine halbe Stunde hatte sie sich verspätet. Wenn da nur nichts passiert war. Man las jetzt so viel von Unglücksfällen. Gut, daß ihr Mann schlief und nichts von ihrer Unruhe merkte. Rudi würde sie auslachen wie stets, wenn sie um Mariettas Ausbleiben sorgte. »Binde doch das Mädel an dein Schürzenband fest, daß es dir nicht entlaufen kann. Seitdem die Frau auf die Siebzig lossteuert, wird sie immer wunderlicher.« Trotzdem Frau Annemarie knapp die Mitte der Sechziger überschritten hatte, pflegte ihr Mann sie damit aufzuziehen. Das heißt, wenn er guter Laune war. Dies war jetzt durchaus nicht immer der Fall. Frau Annemaries Blick wanderte von der unaufhaltsam weiter tickenden Uhr zu dem Gesicht des Schlafenden. Sie konnte es sich nicht verhehlen, daß er stark gealtert war seit der schweren Krankheit damals vor fünf Jahren. Die Stirn reichte fast bis zum Hinterkopf. Jahre verantwortungsvoller Arbeit hatten Falten und Fältchen um Augen und Mund eingegraben. Und immer noch gab es keinen Feierabend für den gewissenhaften Arzt. Wenn auch die Praxis allmählich abbröckelte, an Jüngere überging, der Stamm seiner Patienten war dem alten Geheimrat Hartenstein treu geblieben. Ja, es gab viele, die sich in der chirurgischen Klinik, der er noch immer vorstand, lieber den altbewährten Händen anvertrauten als den jüngeren seiner Assistenten. Wenn nur die Augen mit seiner Willenskraft gleichen Schritt gehalten hätten. Aber die ließen seit geraumer Zeit nach und machten Frau Annemarie fast noch größere Sorgen als ihrem Manne selbst. Augenblicklich aber war es die Enkelin, die all ihre Gedanken in Anspruch nahm. Denn irgend etwas zum Sorgen mußte sie immer haben, sonst wäre ihr nicht wohl, behauptete ihr Mann. Es ging auf drei – – was mochte Marietta nur passiert sein?

Geräuschlos erhob sich die alte Dame. Ganz so leichtfüßig wie früher war sie auch nicht mehr. Das linke Bein streikte, besonders wenn sie eine Weile gesessen hatte, dann mußte es erst wieder in Gang kommen. Ja, ja, man wurde eben nicht jünger. Behutsam, um den Schlafenden nicht zu wecken, begab sich Frau Annemarie zum Fenster. Und als ob sie die Enkelin mit der Kraft ihrer Gedanken magnetisch herbeigezogen hätte, ging da gerade die Gartentür. All der Sonnenglanz, den das Fenster einließ, schien sich in den noch heute leuchtend blauen Augen der alten Frau zu spiegeln.

»Da ist es, unser Kind. Ich hab’s ja gewußt, daß es nichts weiter auf sich haben würde.« Obgleich sie eigentlich gerade das Gegenteil angenommen hatte. Viel hätte nicht gefehlt, dann hätte Frau Annemarie temperamentvoll gegen die Scheibe geklopft, um der heimkehrenden einen Gruß zuzuwinken. Aber fünfundvierzig Ehejahre hatten sie doch zu gut erzogen. Der Schlaf ihres Mannes war ihr heilig. Warum schaute das Kind denn gar nicht auf? Es ging so in Gedanken verloren, als habe es Gott weiß was für schwere Rätsel zu lösen. War es von seiner neuen Tätigkeit nicht befriedigt?

Das steife Knie der Großmama mußte mit, ob es wollte oder nicht. Vorsichtig zur Tür – ihr Mann rührte sich nicht. So – nun war sie draußen. Ob Frau Trudchen auch alles für Marietta recht heiß gehalten hatte?

Sie steckte den Kopf zur Küche hinein, wo Frau Trudchen, die getreue Schaffnerin des geheimrätlichen Hauses, die dampfende Suppe auffüllte, während ihre Adoptivtochter, die dreizehnjährige Lotte, bereits mit dem Tablett darauf wartete.

»Nun, Trudchen, alles in Ordnung? Ist auch die Soße inzwischen nicht zu sehr eingepruzzelt? Vergessen Sie nicht, das Ei zum Spinat zu kochen. Unser Kind sieht blaß aus. Wir müssen es ein bißchen pflegen.«

»Mein Jott, nu hat Frau Jeheimrat schon wieder keine Ruhe nich jehabt. Als ob Lotteken und ich Fräulein Marietta nich jut versorgen täten. Frau Jeheimrat is doch kein Jüngling mehr und braucht ihr Nachmittagsschläfchen wie jeder bejahrte Jreis.« Wirklich, Frau Trudchen, die allzeit treu sorgende, war recht unzufrieden mit ihrer Herrin.

Die klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Nanu, was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen, Trudchen? Ein Jüngling bin ich mein Lebtag nicht gewesen, und ein bejahrter Greis werde ich auch niemals sein.« Sie lachte herzlich, daß es auch über das breite Gesicht der Dienerin wie Sonnenleuchten durch gewitterschwere Wolken ging. Lottchen aber stimmte so belustigt in das Lachen der alten Dame ein, daß auch die Suppe in dem Teller ausgelassen über den Rand schwippte. So ansteckend wirkte Frau Annemaries Lachen noch immer.

»Na, da haben wir’s ja, Lotteken, kannste dich nich ’n bißchen vorsehen. Und Frau Jeheimrat braucht auch jar nich so zu lachen, wenn man’s jut mit ihr meinen tut«, ereiferte sich Frau Trudchen.

»Das weiß ich ja, daß das Krakeelen nur auswendig ist, Trudchen. So, Lottchen, nun trage die Suppe rein. Ei, da bist du ja, mein Seelchen. Es ist recht spät geworden.« Die letzten Worte waren an Marietta gerichtet, die in diesem Augenblick auf der zum oberen Stockwerk führenden Treppe auftauchte. Sie hatte oben ihr Stübchen, dasselbe, das ihre Mutter einst bewohnt, wo sie inzwischen abgelegt und sich gewaschen hatte.

»Großmuttchen, du nicht in deinem Lehnsessel? Das ist aber unrecht, daß du mir deinen Nachmittagsschlaf opferst. Das darfst du nie wieder tun. Versprich es mir.« Liebevoll zog Marietta den Arm der Großmama durch den ihrigen und betrat mit ihr das Speisezimmer, wo Lotte und die Suppe schon auf sie warteten.

»Fängst du auch noch an, deine alte Großmutter herunterzuputzen? Frau Trudchen hat das schon zur Genüge besorgt«, scherzte die Großmama. »Schlaf du mal, wenn du in Sorge bist, daß irgend etwas passiert sei.«

»Ja, was soll denn passiert sein? Großmuttchen, du siehst am hellen Tage Gespenster.« Marietta unterbrach Lottchen, die ihr freudestrahlend berichtete, daß sie unter dem Exerzitium, das Marietta ihr durchgesehen, » très bien« bekommen. »Ich kann gar nicht früher zu Hause sein. Hast du die Absicht, dich jeden Tag um mein spätes Heimkommen aufzuregen? Dann esse ich lieber im Internat der Frauenschule, Großmuttchen. Es wäre vielleicht überhaupt richtiger, daß ich Frau Trudchen nicht doppelte Mühe mache«, überlegte das junge Mädchen, zum Löffel greifend.

»Du bist wohl nicht ganz bei Troste, Kind! Willst deiner Großmama das Geld vertragen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Und Frau Trudchen würde dir das sicher übelnehmen. Nun iß, Seelchen, iß und laß dir’s schmecken.« Die Großmama begleitete jeden Löffel Suppe, den Marietta an die Lippen führte, liebevoll mit ihren Blicken. Es schien ihr im Geiste besser zu munden als der Enkelin selbst.

»Von dem Spinat mußt du noch nehmen, Jetta. Er ist besonders gut. Spinat ist eisenhaltig, der geht ins Blut. Wie blaß du wieder aussiehst. Habt ihr auch gesunde, luftige Schulräume dort? Nein, nein, nicht erzählen, erst essen.« Obgleich Frau Annemarie begierig war, Näheres über den ersten Tag in der sozialen Frauenschule zu hören, überwog doch ihre Fürsorge. »Ich hätte ja gern mit dem Essen auf dich gewartet. Aber du weißt ja, Großpapa ist ungemütlich, wenn es nur fünf Minuten nach halb zwei wird. Du brauchst keine Angst zu haben, wir bleiben bei unserer Tischzeit. So, Seelchen, nun iß noch das Kompott, eingelegte Kirschen von unseren Schattenmorellen draußen im Garten. Und dann erzähle!« Frau Annemarie tat der Enkelin eigenhändig die Früchte auf. Sie wartete.

Aber Marietta hatte es nicht gar so eilig mit dem Berichten. Nachdenklich schaute sie auf jeden Kirschstein, den sie an den Rand des Tellers in gleichmäßigen Abständen legte. Wie rührend die Großmama um ihr Wohl besorgt war. Durfte sie da noch schwanken?

Marietta wußte nicht, daß sie eine ganze Zeit lang den Kompottlöffel an die Lippen gehalten hatte, ohne die daraufliegende leckere Kirsche in den Mund spazieren zu lassen. Ihre Gedanken waren weit fort. Die pendelten zwischen den Arbeiter-Lehmhütten auf den brasilianischen Kaffeeplantagen und dem großelterlichen Rosenhaus hin und her. Wo brauchte man sie notwendiger?

In die Augen der alten Dame, die mit großmütterlicher Freude an der liebreizenden Enkelin hingen, trat von Sekunde zu Sekunde wachsende Unruhe. Da war etwas nicht im Lot. Dazu bedurfte es nicht erst ihres erfahrenen Blickes, um das zu erkennen. So lebhaft wie Mariettas Mutter, Frau Annemaries Ursel, einst gewesen, war deren Tochter ja nie. Anita, die Zwillingsschwester, glich darin mehr der Mutter. Marietta war von einer gleichmäßigeren, stilleren Heiterkeit. Um so mehr befremdete die Großmama ihr einsilbiges, sichtlich bedrücktes Wesen. Hatte sie in dem neuen, selbsterwählten Berufskreise Verdruß oder Enttäuschungen gehabt?

Eigentlich war Frau Annemarie überhaupt nicht so sehr für die soziale Frauenschule gewesen. Marietta war zart, die Tätigkeit, welche die soziale Ausbildung dort erforderte, war eine recht anstrengende. Sie hatte ja durchaus nichts dagegen, daß das Kind seine Zeit und Arbeit gemeinnützigen Zwecken weihte. Aber das konnte sie doch wie bisher, unter Anleitung ihrer Tochter Vronli, die in so vielen Wohlfahrtseinrichtungen ehrenamtlich tätig war, weiter fortsetzen. Wozu bedurfte es dazu erst noch jahrelanger Studien? Gerda hatte der Kusine den Floh ins Ohr gesetzt. Weil Gerda die soziale Frauenschule besuchte, mußte auch Marietta das gleiche tun. Dabei lag doch die Sache für beide ganz verschieden. Ihre Enkelin Gerda mußte darauf sehen, sich als Lehrerstochter möglichst bald auf eigene Füße zu stellen, sich vom Vater unabhängig zu machen. Sie mußte daran denken, eine Anstellung als soziale Beamtin zu erhalten. Bei Marietta war das doch nicht nötig. Die Tochter des reichen Kaffeekönigs in Brasilien konnte sich den Luxus einer unbezahlten Tätigkeit, die ihren Neigungen entsprach, gestatten. Man konnte genug Gutes tun, wenn das Herz und der Geldbeutel nur groß genug dazu waren. Dazu brauchte man nicht erst die soziale Frauenschule zu besuchen. Aber daß das Kind so wieder heim kam, so still und bedrückt, das hatte sie nicht erwartet. Das schlug dem Faß den Boden aus.

»Also so wenig begeistert bist du von deiner neuen Tätigkeit, Jetta?« Wie stets ging Frau Annemarie grade auf ihr Ziel los. »Macht nichts. Seelchen. Besser, du siehst gleich im Anfang ein, daß es nichts für dich ist, als daß du dir die besten Jahre deines Lebens damit verdirbst. Mir ist es ganz recht, daß es so gekommen ist.«

»Wie denn?« Ganz erstaunt ließ Marietta die Kirsche vom Löffel wieder auf den Teller zurückgleiten.

»Na, ich denke, du bist unbefriedigt von der sozialen Frauenschule. Sie entspricht gewiß nicht deinen Erwartungen. Sind dir die Lehrkräfte oder die Mitschülerinnen nicht sympathisch?«

Jetzt mußte Marietta lachen. Es klang so silberhell wie stets. »Weder das eine noch das andere, Großmuttchen. Was du für eine rege Phantasie hast. Es hat mir sehr gut in der sozialen Frauenschule gefallen. Die Vorsteherin, Fräulein Dr. Engelhart, scheint eine herrliche Frau zu sein. Wir sind alle ganz begeistert von ihrer Auffassung der sozialen Aufgabe.«

»Hm« –, die Großmama zog die Brille hervor, die sie sonst eigentlich nur beim Lesen gebrauchte. »Hm« – – –, aufmerksam betrachtete sie dadurch ihr junges Gegenüber.

Marietta wurde es ungemütlich unter dem prüfenden Blick der alten Dame. Die Großmama hatte so klare Augen, sie schienen auf den Grund der Seele zu lesen. Marietta setzte ihre Teller zusammen und trug sie in die Küche. »Damit Frau Trudchen nicht noch hinterherräumen muß.«

Frau Annemarie lächelte verständnisvoll. Sie lächelte über die hauswirtschaftliche Tüchtigkeit der einst als Tropenprinzeßchen in ihr Haus gekommenen Enkelin und über den wahren Grund ihres Ordnungssinnes. Nun, wenn das Kind nicht Rede stehen wollte, sie würde es nicht dazu zwingen. Über kurz oder lang kam Marietta wohl von selbst zu ihr. Sie hatte noch stets mit allem, was sie bewegte, den Weg zu ihr gefunden.

Frau Annemarie begab sich in ihr Biedermeierzimmer, ihr ureigenstes Reich. Dort war jeder Gegenstand, jedes Möbel fest mit ihr verwachsen, durch Überlieferung und Erinnerung ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden. An dem breiten Erkerfenster standen in weißen Porzellantöpfchen Alpenveilchen in allen Farbenstufen; vom zartesten Rosa bis zum tiefsten Purpurrot. Großmamas Blumenfenster war vorbildlich. Keiner hatte solche segensreiche Hand wie sie für die Blumenpflege. Wenn der Garten draußen seine Blütenkinder Herbststürmen preisgeben mußte, dann begann es drinnen an Großmamas Erkerfenster zu treiben und zu blühen. Ihren »Wintergarten« pflegte sie ihren Erkerplatz scherzhaft zu nennen. Im Bauer über dem runden Mahagoni-Nähtisch schmetterte Mätzchen ihr seine Jubelhymne entgegen. Und ein letzter Sonnenstrahl verweilte noch einige Sekunden, um Großmamas Lieblingsplätzchen zu vergolden.

Sie ließ sich in den mit grünem Rips überzogenen Lehnstuhl nieder. Mätzchen hielt in seinen musikalischen Übungen inne und äugte erstaunt auf seine Herrin herab. Nanu? Keine Arbeit in den stets fleißigen Fingern? Still lagen die Hände ihr im Schoß. Nachdenklich suchten ihre Augen das Weite.

Großmama dachte nach. Sie überlegte, kombinierte, schüttelte den Kopf und nickte dann einige Male vor sich hin. Natürlich, so war’s. Die Lösung war ganz einfach. Daß sie auch nicht gleich darauf gekommen. Sicherlich hatte es irgendeine Kabbelei mit Gerda gesetzt. Gerda war manchmal ein wenig rechthaberisch und wollte alles besser wissen. Marietta, aus weicherem Holz, war etwas empfindsam. Viel zu weich war das Mädel für das Leben, das einen doch oft recht derbe anpackte. Sie hatte sich gewiß die Unstimmigkeit mehr zu Kerzen genommen, als die Angelegenheit wert war. Frau Annemarie war ordentlich froh, daß sie jetzt das Rätsel gelöst hatte. Da griffen ihre Hände auch schon nach dem Ausbesserkorb. Langes Feiern war nicht ihre Sache.

Sie hielt die schadhafte Damastserviette gegen das Licht. Eine Jagd war als kunstvolles Muster in das seidigglänzende Gewebe hineingewebt. Diese Jagd mit Kirschen, Kunden und Jägern hatte schon ihre Begeisterung erregt, als sie noch Doktor Brauns kleines Nesthäkchen gewesen und mit ehrfürchtigen Augen vor dem mullverhangenen Wäscheschrank der eigenen Großmutter gestanden hatte. »Dieses Jagdgedeck sollst du mal bekommen, Annemarie, wenn du groß bist und dich verheiratest. Ich habe für jede Enkelin ein Damastgedeck bestimmt.« Als wäre es heute, so genau erinnerte sich Frau Annemarie jener Szene aus ihrer Kinderzeit. Merkwürdig – sie lebte jetzt überhaupt viel mehr in der Vergangenheit als früher. Längst vergessene Bilder, die jahrzehntelang entschwunden, tauchten manchmal wieder auf. Das ging wohl jedem so mit zunehmendem Alter. Die Gegenwart erforderte nicht mehr volles Sicheinsetzen, die Zukunft hatte nicht mehr viel zu bringen. Was blieb da noch? Die Vergangenheit eines langen, an Freud und Leid reichen Lebens. Beinahe zärtlich streichelte die fein geäderte Hand über den alten Damast. Nein, sie sollte noch nicht ausrangiert werden, ihre Jagdserviette. War man nicht selbst auch allenthalben rissig und brüchig geworden? Emsig begann sie den Faden durch die schadhaften Stellen zu ziehen.

Droben im Stübchen grade über dem Biedermeierzimmer der Großmama saßen sich indessen Marietta und Lottchen gegenüber. Hier war jetzt Schulstunde. Lottchen, die seit einem halben Jahr von der Volksschule auf das Mädchenlyzeum umgeschult war, zeigte trotz heller Auffassungsgabe in den fremden Sprachen manche Lücke. Marietta hatte sich vorgenommen, dieselben auszufüllen. Ihr, die schon als Kind fünf verschiedene Sprachen gelernt hatte, machte das weiter keine Mühe. Sie betrachtete Lottchen immer noch als ihren kleinen Findling, für den sie verantwortlich war. Hatte sie nicht damals in Brasilien der sterbenden Mutter der Kleinen versprochen, sich ihres verwaisten Kindes anzunehmen, es nach Deutschland zu befördern, zu den in Schlesien lebenden Verwandten? Die Nachforschungen nach denselben waren erfolglos geblieben. Lottchen hatte in Lichterfelde ebenfalls eine Heimat gefunden. Frau Trudchen und ihr Mann, das Kunzesche Ehepaar, das schon über zwanzig Jahre in Haus und Klinik des Großvaters tätig war, hatten die kleine Waise an Kindes Statt angenommen. Die Großmama mit ihrem warmen Herzen betrachtete auch das fremde Kind wie eins ihrer zahlreichen Enkelkinder. Für die materiellen Anschaffungen der Kleinen, Kleidung, Schulgeld usw., aber sorgte Mariettas Vater, der reiche Plantagenbesitzer in Brasilien. Oder vielmehr seine Tochter tat es. Der Scheck, den Marietta allmonatlich vom Vater zur Verfügung gestellt bekam, bedeutete für deutsche Begriffe eine recht beträchtliche Summe. Die persönlichen Bedürfnisse des einst so eleganten Tropenprinzeßchens waren in Deutschland in dem bürgerlich-bescheidenen Heim der Großeltern ebenfalls bescheidener geworden. Trotzdem Marietta nur gewöhnt war, das Beste zu kaufen und sich vornehm elegant kleidete, entsprach Schlichtheit dem Grundzuge ihres Wesens. Den Hauptteil des väterlichen Schecks verwandte sie dazu, um anderen eine Freude zu machen. Ihre kleinen Schützlinge im Kinderhort und in der Krippe waren ihre besten Abnehmer. Sie hatte es auch angeregt, daß Lottchen in ein Lyzeum umgeschult wurde. Der Großvater stimmte nicht dafür. »Unsere Volksschulen sind so vortrefflich, daß sie eine solide, ausreichende Grundlage für den späteren Beruf geben. Wozu soll das Kind über seinen Stand hinaus? Es braucht nicht französisch und englisch zu lernen.« Aber Marietta mit ihren sozialen Grundsätzen hatte ihm auseinandergesetzt, daß jedem Menschen mit guter Veranlagung die Gelegenheit geboten werden müsse, so viel wie möglich zu lernen. Der Großpapa dachte doch sonst so human – alt und jung verstanden sich darin nicht. Die Großmama mußte wieder mal vermitteln. Sie schlug sich auf Mariettas Seite. Warum sollte man dem Kinde, wenn die dazu erforderlichen Geldmittel da waren, nicht die Möglichkeit geben, sich durch gute Bildung in eine höhere Lebenssphäre hinaufzuarbeiten? Es war ganz ausgeschlossen, daß sich Lottchens Anverwandte, nach denen man jahrelang Nachforschungen angestellt, noch melden würden. Lottchen war ein liebes, bescheidenes Kind, das seinen Pflegeeltern auch dankbar bleiben würde, wenn ihr Lebensweg sie in gebildete Kreise führte. So war Lotte Lyzeumsschülerin geworden und gehörte dort zu den besten. Freilich, Marietta setzte auch ihre Ehre darein, das Kind in jeder Weise zu fördern, daß sie ihrer Fürsprache keine Schande machte.

Heute war die junge Lehrerin nicht so bei der Sache wie sonst. Und diese Gedankenabwesenheit übertrug sich auf die Schülerin. Denn ein Kind merkt es sofort, ob der Lehrende sich ganz einsetzt, oder ob seine Gedanken woanders weilen.

» To say – said – said, to forgot – forget – forgetten – – – stimmt das, Fräulein Marietta? Ach, Sie haben ja gar nicht aufgepaßt. Hier steht’s ›ich habe vergessen‹ heißt › I have forgotten‹«, beschwerte sich die Schülerin über die Lehrerin, das Pauken der unregelmäßigen englischen Verben unterbrechend.

Marietta fuhr beschämt hoch. »Wirklich, Lottchen, ich habe eben nicht aufgepaßt«, gab sie ehrlich zu. »Fange noch mal von vorn an.« Und sie gab sich redlich Mühe, ihre Gedanken fest auf die unregelmäßigen Verben zu richten. Aber das Herunterleiern derselben war eintönig und langweilig. Lottchen konnte sie wie am Schnürchen. Während Marietta die Blicke auf das blühende Kindergesicht richtete, mußte sie unwillkürlich daran denken, wie elend und bleich, wie mager und abgezehrt das Kind gewesen, als sie es in den Tropen in ihr Haus genommen. Freilich, daran waren die ungesunden Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter in Brasilien schuld. Lottchens Eltern, die als deutsche Auswanderer dort drüben ihr Glück zu finden glaubten, hatten das Tropenklima und die unhygienischen Wasserverhältnisse das Leben gekostet. Sie waren einem typhösen Fieber erlegen. Wieder sah Marietta die fensterlose Lehmhütte in dem Plantagendorfe der Orlandos, einer der reichsten Familien drüben, vor sich, zu der ihr kleiner Findling sie einst geführt. Damals war zuerst der Wunsch in dem vierzehnjährigen Mädchen erwacht, soziale Hilfe zu leisten, den Armen, Bedrückten zu helfen.

» To know – knew – knewed – nein, knowd wie heißt denn ›gewußt‹, Fräulein Marietta?« Lottchen blickte ganz verwundert auf ihre sonst so pflichteifrige Lehrerin, die schon wieder nicht aufmerksam zu sein schien.

» Known muß es heißen, Lottchen – to know – knew – known«, beeilte sich Marietta ihren Fehler wieder gutzumachen. Ihre Gedanken kehrten endgültig von den Kaffeeplantagen zu Lottchens unregelmäßigen Verben zurück. Die Stunde nahm nun ohne Störung ihren Fortgang, bis Frau Trudchen unten mit den Kaffeetassen klapperte.

Die Nachmittagskaffeestunde liebte Frau Annemarie jetzt ganz besonders. Sie war ihr die gemütlichste am Tage, da dieselbe ihre Lieben um sie vereinte. Sonst fehlte meistens einer bei den Mahlzeiten oder hetzte, um fortzukommen. Seitdem der Geheimrat nur noch vormittags in der Klinik seine Sprechstunde abhielt, war er nachmittags frei, wenn nicht gerade ausnahmsweise noch ärztliche Besuche vorlagen, oder sich ein kühner Patient erdreistete, den Nachmittagsfrieden der alten Herrschaften durch unerwünschtes Klingeln zu unterbrechen. Das heißt unerwünscht nur bei Frau Annemarie. Sie wollte, daß ihr Mann sich allmählich zur Ruhe setzen sollte, daß er mit seinen Kräften haushielt. Er hatte lange genug, Tag und Nacht bei Wind und Wetter seine Pflicht getan. Aber der alte Herr knurrte, daß man ihn jetzt zum alten Eisen warf. Er war überhaupt in seiner Stimmung nicht mehr so gleichmäßig wie früher. Es war für Frau Annemarie oft gar nicht leicht, heiter und geduldig zu bleiben. Wenn Marietta daheim war, hob sich sein Stimmungsbarometer erstaunlich. »Ich werde auf meine alten Tage noch eifersüchtig werden«, drohte die Großmama oft.