Wolf Richard Günzel

 

DER ROTE LÖWE
VON KENIA

 

Anfang

1

Der Löwe hatte sie nun schon eine halbe Stunde lang beobachtet, den Mann und seine Frau, die sich vor ihm fürchteten und deren Geschmack er noch nicht kannte. Er lag auf der Motorhaube ihres Wagens, starrte mit unschlüssiger Neugierde durch die Windschutzscheibe und wenn er mit der Schwanzquaste aufs Blech schlug, klang es im Auto wie ein Paukenschlag und die Frau fing wieder an zu weinen.

Die ganze Fahrt über hatte sich die Frau in diesem Auto schon nicht wohl gefühlt, und ihrem Mann ging es wahrscheinlich genau so, aber er dachte nicht daran, es zuzugeben. Ursprünglich wollten sie ja an einer organisierten Safari vom Hotel aus teilnehmen: zu sechs Personen in einem zebragestreiften VW-Bus, wie das so üblich war. Aber ihr Mann hatte seine Meinung plötzlich geändert – unglaublich, was Männern so einfiel, wenn sie um die fünfzig waren. Er hatte sich im Hotel ein bisschen mit einer blonden Dame angefreundet, etwa so alt wie seine Tochter. Er unterhielt sich so gern mit ihr, weil sie so intelligent war, hatte er seiner Frau gesagt. Meistens lag sie barbusig am Swimming-Pool, und als er erfahren hatte, dass sie gerade an einer dieser organisierten Standardsafaris teilgenommen hatte, war er mit eingezogenem Bauch auf sie zugegangen, um sich zu informieren. Sie hatte sich die Stöpsel ihres Walkmans aus den Ohren gezogen, die Sonnenbrille ins Haar geschoben und empört gesagt: „Ganze drei Zebras haben wir unterwegs gesehen! Dann das niedrige Niveau dieser Rentnertruppe. Diese fröhlichen alten Leute mit ihrer Schein-Vitalität, wirklich ätzend. Das muss man sich nicht antun. Wozu gibt es Leihwagen?“

Daraufhin hatte der Mann diesen Nissan bei einem Inder in Mombasa gemietet, womit er die größte Dummheit seines Lebens beging. Ein grundsolides Fahrzeug, hatte ihm der dicke Inder versichert und freundlich hinterher gewinkt, als er mit seiner Frau davongefahren war. Der Nissan war tatsächlich bis nach Voi problemlos über die asphaltierte A 109 geschnurrt. Als der Mann in Richtung Namanga abbog und die Schlaglöcher häufiger wurden, ließ es sich aber nicht immer verhindern, dass der Kopf seiner Frau wie ein Fußball unter das Blechdach knallte. Dann lief ihnen plötzlich ein Warzenschwein quer über den Weg und es ereignete sich etwas Seltsames: Der Mann riss das Steuer herum und wollte bremsen. Aber das Pedal ließ sich ohne Widerstand nach unten drücken bis aufs Bodenblech. Der Wagen raste weiter: durch den Straßengraben, einen flachen Hang hinauf, hinein in die baumlose Savanne. Als die Vorderachse einen kleineren Granitblock rammte, gab es noch einmal ein sehr hässliches Geräusch, doch der Wagen stand und es war alles noch mal gut gegangen.

Der Mann lag jetzt unter dem Nissan und starrte auf die Achse. Er konnte ganz gut mit einer Computermaus umgehen. Aber ansonsten war er kaum imstande, einen Nagel in die Wand zu schlagen, und was er da unten sah, machte ihm zumindest klar: es lohnte sich nicht, hier nur irgendetwas eigenhändig anzufassen. „Das sieht nicht gut aus, Schatz“, rief er nach oben. „Ohne einen hydraulischen Wagenheber geht hier gar nichts. Und den haben wir natürlich nicht.“ Er wusste, dass er Unsinn redete. Aber er wollte wenigstens etwas sagen, um nicht als völlig ahnungsloser Trottel dazustehen.

Die Frau im Auto hatte ihr inneres Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden und reagierte ziemlich ungehalten: „War das hier meine Idee? Du hättest die kluge Blondine aus dem Hotel mitnehmen sollen, die dir diese Privatsafari eingeredet hat. Die hätte dir jetzt sicher helfen können. Solche Frauen haben immer einen hydraulischen Wagenheber dabei.“

Der Mann murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und begann zu überlegen, was die Situation, in der sie sich hier befanden, bedeutete: keine ganz große Katastrophe, aber eine mittlere schon. Man musste jemanden finden, der das Auto abschleppte und sie zurück in ihr Hotel an der Küste brachte. Das alles kostete Zeit und Geld und Nerven. Und dann war da noch die hübsche Blonde in seinem Hotel. Ihr Bericht über die alten Leute mit ihrer Schein-Vitalität hatte ihn an einer höchst empfindlichen Stelle erwischt und er war eigentlich nur ihretwegen zu dieser Safari aufgebrochen. Bloß, um ihr zu imponieren! Bloß, um zu unterstreichen, dass noch alles in Ordnung war mit ihm und er bei einem Alleingang in die Wildnis noch lange nicht in Panik verfiel. Und wo er schon einmal den Sack in seinem Inneren aufschnürte, umstülpte und nach der Wahrheit suchte, musste er jetzt einsehen, dass er sich über das, was hier passiert war, normalerweise nicht zu wundern brauchte.

Als der Löwe kam, lag der Mann noch unter dem Nissan und verrenkte sich den Hals, weil seine Frau im Wagen plötzlich lauthals schrie. Sie konnte den Löwen genau beobachten. Er kam mit ein paar Sätzen heran, den Kopf erhoben und sein schlaffer Bauch schwang rhythmisch beim Laufen mit. Vor ihrem Fenster erhob er sich auf die Hinterläufe und kratzte mit den dicken Vorderpfoten auf dem Tür-Blech herum. Sein massiger Kopf erschien im Fensterrahmen. Er sog vibrierend die Luft ein, seine breiten Nüstern zogen sich zusammen, und das war der Moment, als die Frau zum ersten Mal in Ohnmacht fiel. Gleichzeitig machte der Mann unter dem Nissan eine sehr seltsame Entdeckung. Er starrte plötzlich auf zwei riesige behaarte Pranken und wie er schließlich in den Wagen gelangt war, konnte er später nicht mehr sagen. Irgendwie hatte er sich jedenfalls ins Wageninnere retten können und nun hörte er, wie der Löwe fauchend um den Nissan rannte, dann an den Reifen nagte und die Luft zischend entwich. Dann erschien er vor dem Wagen und sprang auf die Motorhaube, und das war der Moment, als die Frau und der Mann gemeinsam in Ohnmacht fielen.

Als der Mann aus der Ohnmacht erwachte, saß der Löwe, brav wie eine große Katze, auf den Hinterläufen und schaute ihn mit seinen gelben Augen an. Er hatte inzwischen die Scheibenwischer abgebissen, und der Mann sah, dass sich die Motorhaube unter dem Gewicht des Tieres zu einer Mulde verformte. Seine gewaltige Mähne, sein Fell und die flauschigen Brusthaare waren rot, ganz ungewöhnlich für ein Tier seiner Rasse, und bildeten einen sonderbaren Kontrast zur schwarzen Nase und den weißen Kinnborsten. Plötzlich wackelte der Wagen wie unter der Wucht eines Dampfhammers, aber der Löwe hatte nur mit dem Schwanz aufs Blech geschlagen. Jetzt erwachte auch die Frau aus ihrer Ohnmacht, schloss aber sofort wieder die Augen, als sie den Löwen erblickte. Für den Löwen waren die Menschen im Auto nichts anderes als eine Beute. Doch der Mechanismus einer lebenslangen Gewohnheit, die aus Töten und Fressen bestand, funktionierte plötzlich nicht mehr. Die Frau und der Mann waren umgeben von einer fremdartigen, durchsichtigen Mauer, und dieses geheimnisvolle Hindernis machte ihn unsicher. Vor kurzem noch hätte er mit seinen Pranken einfach darauf eingeschlagen, fauchend und ungestüm, wie es seine Art war. Jetzt stieß er mit seiner Vorderpfote nur zögernd dagegen und zog sie sofort zurück, weil er wieder diesen Schmerz spürte, etwas Neuartiges in seinem Leben, mit dem er noch nicht vertraut war. Dann versuchte er in die Scheibe hineinzubeißen, rutschte mit den Zähnen ab und besabberte sie mit Speichel. Der Geruch der Menschen im Auto war überwältigend, stärker als der Geruch von Benzin und altem Motorenöl, das auf den Boden tropfte. Aber der Löwe begann zu resignieren, wälzte sich eine Weile auf dem verbeulten Blech herum, legte schließlich die Schnauze auf die dicken Pfoten, presste die feuchte Nase an die Glasscheibe und konnte so wenigstens hineinsehen in diese Konservendose mit Menschenfleisch.

2

Eine vorbeifahrende Touristengruppe hatte schließlich den Löwen auf der verbeulten Motorhaube des Nissan entdeckt. Der Busfahrer hatte sofort gestoppt und fuhr dann näher an den Nissan heran, denn ein solches Motiv bekamen seine Fahrgäste nicht jeden Tag vor ihre Kameras. Als der Bus immer näher kam, fauchte der Löwe und reckte seinen Schädel drohend nach oben. Dann sprang er von der Motorhaube und suchte hinkend das Weite. Erst jetzt sahen die Touristen, dass im Nissan zwei Menschen saßen. Beide schienen eine Zeit lang wie gelähmt. Dann stieg der Mann als erster aus. Er massierte sich verlegen den Nacken und die Angst, die ihn noch immer beherrschte, trieb ihn zu einer neuen, unbekannten Ehrlichkeit. „Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte er. „Man weiß ja nie, was diesem Biest noch eingefallen wäre.“

Der Mann und seine Frau waren inzwischen wieder in ihrem Hotel an der Küste und die Nachricht von ihrem Abenteuer hatte sich hier schnell herumgesprochen. Man redete eigentlich kaum noch über etwas anderes. Die Frau stand noch drei volle Tage unter Schock und konnte ihr Hotelzimmer nicht verlassen. Der Mann hatte sich damals, als der Löwe vor ihm auf der Motorhaube saß, geschworen: wenn er endlich von der Haube springt, wenn sich meine Panik gelegt hat und ich mich wieder bewegen kann, werde ich für den Rest meines Lebens vernünftig sein. Aber ihm war keine Vernunft geblieben. Er war schon am nächsten Morgen wieder durch die Hotelanlage geschlendert. Auch er fühlte sich innerlich noch etwas benommen, war aber ansonsten schon wieder der Alte. Die hübsche Blonde am Swimming-Pool hatte ihn schon aus der Ferne entdeckt, sich die Stöpsel ihres Walkmans aus den Ohren gezogen und die Sonnenbrille ins Haar geschoben. Grauenvoll, was er und seine Frau durchgemacht haben, dachte sie. Sie hatte die Absicht, ihm ihr Mitgefühl auszudrücken. Ihr Mitgefühl konnte der Mann aber jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Er kam auf sie zu, lächelnd, eine Hand salopp in der Hosentasche versenkt. Wenn man mich so sieht, dachte er, könnte man da nicht auf die Idee kommen, dass hier einer kommt, der sich durch einen blutrünstigen Löwen nicht verwirren lässt und Nerven wie Stahlseile hat?

Der Mensch lernt selten aus seinen Fehlern und sieht mit geduldiger Machtlosigkeit zu, wie er ins eigene Unglück rennt. Das Tier unterscheidet zwischen den guten und schlechten Erfahrungen, die es im Laufe seines Lebens macht. Obwohl es nicht in der Lage ist, das eigene Bewusstsein zu verstehen und keine großartigen Pläne macht, werden seine Handlungen zielbewusster, denn es will einfach nur überleben und es ist ihm egal, was irgendein anderes Lebewesen von ihm denkt. Auch der Löwe wollte nur überleben und es kam ihm nicht zu Bewusstsein, dass es mit ihm in letzter Zeit nur noch bergab gegangen war. Mit seinem Status im Löwenclan war es bergab gegangen, mit seiner Kampfkraft, seinem Siegeswillen, seiner Vitalität und Wendigkeit. Vor allem aber in seinen Jagdgewohnheiten und den Ansprüchen an seine Beute war er tief nach unten gestürzt. Jetzt schlich er lautlos durch die Dunkelheit und er bewegte sich, wie wohlüberlegt, genau an jener Grenze, wo ein paar weiß bemalte Steine das Camp und die Savanne voneinander trennten. Der Löwe war nicht zum ersten Mal an diesem Ort, denn manchmal fand er hier, auf dem kahlen Seitenstreifen, wo die Zelte unter dem Schein des Lagerfeuers lange Schatten warfen, etwas Fressbares. Nicht die große Beute, die einem König, wie ihm, zugestanden hätte. Aber wenn er Glück hatte, war es ein Stück zähes Grillfleisch, das ein übersättigter Tourist fortgeworfen hatte.

In dieser Nacht war allerdings auf dem schmalen Sandstreifen hinter der Zeltlandschaft für den Löwen nichts zu finden, denn vor ein paar Stunden hatte ein schwarzer Boy hier gründlich aufgeräumt. Er hatte zerknautschtes Stanniolpapier, Papierservietten, abgenagte Hühnerknochen, leere Bierdosen, ein schimmeliges Stück Käse und eine Handvoll Zigarettenkippen eingesammelt, den harten Boden mit einem Rechen aufgelockert und ihn schließlich mit ein paar akkuraten Zinkenmustern dekoriert.

Der Löwe öffnete das Maul, entblößte die Zähne und beschnüffelte ein zerknülltes Tempotaschentuch. Durch die Schneise zwischen den Zelten sah er eine Gestalt, in eine Wolldecke gehüllt, vor dem Lagerfeuer sitzen. Er nahm das monotone Tuckern des Generators wahr, der das Camp mit Strom versorgte und den Funkenregen, der plötzlich aus der Glut aufstieg und die Augen der Gestalt am Feuer glitzern ließ. Dann verstummte das Tuckern des Generators für kurze Zeit und die Stille machte den Löwen noch eine Spur sensibler für alle Eindrücke, die durch Gerüche, Geräusche und ein kaum wahrnehmbares Vibrieren der Erde an ihn heran getragen wurden. Er schüttelte den Kopf und sog die Luft prüfend mit der Nase ein. Dann reckte er den Hals nach hinten und als er den Geruch, der aus dieser Richtung kam, mit einer Beute in Verbindung brachte, duckte er sich so tief nach unten, dass sein Bauchlappen die frisch geharkte Erde streifte. Er blieb unbeweglich stehen und ließ die Schwanzquaste lautlos um seine Hinterläufe kreisen. Er duckte sich noch tiefer zur Erde und spannte seine Muskeln an wie vor einem Sprung. Doch dann entspannten sich seine Muskeln wieder und er nahm erneut die Witterung mit seiner Nase auf. Irgendetwas schien in der Luft zu liegen, das ihn unsicher machte; es war ein sonderbarer, fremdartiger Geruch und noch nie im Leben hatte er dergleichen wahrgenommen. Er hob noch einmal schnuppernd die Nase und machte ein paar vorsichtige Schritte nach vorn und als ihn für einen Moment der Schein des Feuers streifte, sah man, dass er verletzt war und mit einer Pfote hinkte.

3

Als die Frau in der Dunkelheit erwachte, hörte sie in der Ferne das Jaulen einer hungrigen Hyäne. Sie öffnete die Augen und suchte benommen die dunklen Ecken des Zeltes ab. Dann betrachtete sie die Leuchtziffern auf ihrer Armbanduhr und registrierte überrascht, dass es erst eine Stunde her sein konnte, seit sie berauscht ins Bett gefallen war. Das Jaulen der Hyäne und die anderen Tierlaute, die man jetzt in der Savanne hörte, kündigten den neuen Morgen an, und die Frau dachte daran, dass der kommende Tag für sie zu einer Katastrophe werden würde. Ihr war schlecht und unter ihrer Schädeldecke kündigte ein schriller Klingelton einen großen Katzenjammer an. Schon beim Candlelight-Dinner am gestrigen Abend hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann zwei Flaschen Wein geleert. Wie immer, wenn sie getrunken hatte, war die Welt ein Kinderspielplatz und herzensgut zu ihr. Sie hatte sich mit einem sentimentalen Seufzer an den Arm ihres Mannes gekrallt und war dann wie eine steifbeinige Spinne zur Cocktailbar gestakst, auf deren Schilfdach sich zwei Meerkatzen um eine Zuckerdose stritten. Sie war zum ersten Mal in Afrika, und die Hochstimmung, in der sie sich jetzt befand, war unbeschreiblich. Ein paar Schritte vor der Bar hielt ein alter Massai ein gewaltiges Lagerfeuer in Gang. Die zuckenden Flammen fraßen sich gierig ins trockene Holz, und die Frau versuchte mit ihren Blicken die roten Funken einzufangen, die aus der Glut aufstiegen und dann knisternd in der Dunkelheit verglühten. In den Zweigen einer abgestorbenen Schirmakazie hockten zwei große Vögel als düstere Silhouetten. Die schneebedeckte Kuppe des Kilimandscharo hatte sich den ganzen Tag über in weiße Wolken gehüllt. Jetzt frischte der Wind ein wenig auf. Er fegte die Wolken fort, und der Mond tauchte die ferne Gletscherlandschaft in ein diffuses gelbes Licht. Die Frau sah große dunkle Tiere aus dem weißen Dunst am Fuß des Berges kommen. Sie erkannte die verwackelten Konturen einer Elefantenherde, und als sie sich zur Seite drehte, schwebte der ganze Kontinent vor ihren Augen.

Jetzt saß sie benommen auf der Bettkante und ließ die Beine baumeln. Der Schweiß strömte aus allen Poren ihres nackten Körpers und drinnen saugte ihr ein Heer von Parasiten die Eingeweide aus. Sie streifte ihr Nachthemd über und schlüpfte in die Sandalen ihres Mannes. Die Luft im Zelt war stickig und die Frau krümmte sich vor Übelkeit. Erst als sie das Zelt verließ und die klare Nachtluft atmete, fühlte sie sich etwas besser. Im blassen Mondlicht sah sie den alten Massai unbeweglich vor dem Lagerfeuer sitzen. Er hatte sich in eine graue Wolldecke gehüllt und es war nicht erkennbar, ob er wachte oder schlief. Die Frau tastete nach einem Korbstuhl auf der Terrasse vor dem Zelt. Dann überkam sie ein quälender Brechreiz. Sie lief würgend um das Zelt herum, überquerte den frischgeharkten Randstreifen und erbrach sich hinter einem staubigen Krotonbusch. Orientierungslos wie eine verirrte Krabbe, die eine Sturmflut auf den Strand geworfen hat, tappte sie eine Weile durch die Dunkelheit, und jede ihrer Bewegungen registrierte der Löwe, der sich zur Erde duckte, nicht nur schemenhaft, sondern mit mikroskopischer Genauigkeit. Eine kleine Unsicherheit, die von der Frau ausging, ließ ihn noch zögern, anzugreifen. Es ging um die Definition seines Opfers. Der Löwe konnte keine normale Beute mehr jagen: kein Zebra, kein Gnu oder gar einen wehrhaften Büffel. Er suchte Opfer, die weder schnell noch stark waren. Darauf konzentrierten sich seine Sinne. Doch er war auch misstrauischer geworden als zuvor, denn er wusste, dass die zahlreichen vergeblichen Jagdversuche, die er unternommen hatte, seine Kräfte immer weiter schwinden ließen. So schlich er sich auch jetzt, wo ihm der Speichel vor Hunger aus dem Maul triefte, mit größter Vorsicht an die gebückte Frau heran. Dann erhob er sich, spannte seine Muskeln und machte schnaubend ein paar Sätze auf sein Opfer zu.

Die Frau bemerkte, dass die Erde unter ihren Füßen zu zittern begann. Dann warf sie ein gewaltiger Prankenhieb in die Krotonbüsche wie eine federleichte Puppe.

4

Im Camp deutete vier Stunden später nichts auf eine Katastrophe hin. Die vornehme Gesellschaft, die ihre Reise bei Bush-Baby-Safaris gebucht hatte, war fast vollständig im Speiseraum beim Breakfast versammelt. Nur der Mann jener unglücklichen Frau, die hier niemand wiedersehen sollte, stand noch in seinem Zelt und überprüfte die Temperatur des Wassers, das aus der Dusche lief, mit den Fingerspitzen. Beim Aufstehen registrierte er, dass seine Frau vor ihm das Zelt verlassen hatte, und daran war auf den ersten Blick nichts Auffälliges. Auch er hatte in der Nacht zuvor zu viel getrunken und er brauchte wohl noch eine Weile, bis er wieder ganz bei Sinnen war.

Drüben im Speiseraum hatte das Küchenpersonal die Romantik vergangener White-Hunter-Zeiten mit einem kulinarischen Streifzug durch die afrikanische Küche kombiniert. Die Köche standen in blütenweißen Jacken und Mützen hinter dem Büfett und die Tische bogen sich unter der Last von Braten, Schinken, flambierten Meerestieren, Hähnchenspießen, knusprigen Teigtaschen, Süßkartoffeln und gebratenen Bananen. Während die Gäste speisten, standen die Kellner etwas steif vor verstaubten Büffelköpfen, die an den Wänden hingen. Sie hielten die Hände auf dem Rücken verborgen, wippten sanft mit den Knien oder zupften nervös an ihren Fliegen, wenn sie an ihrer Dienstkleidung etwas Verdächtiges entdeckten. Die Gäste waren nicht blind und was ihnen sofort ins Auge fiel, war ein Wellblechkragen an einem Hemd oder die aufgesprungene Naht an einer Smoking-Hose.

Auf dem Air-Strip hinter dem Camp standen eine Cessna 206 und eine Britten Norman Islander startbereit. Wie an jedem Morgen waren die Maschinen in aller Herrgottsfrühe gewaschen worden und der goldene Löwe am Rumpf der Flotte glitzerte im Sonnenlicht. Gerade war eine Putzkolonne mit Staubsaugern, Scheuerlappen und Bürsten in den Maschinen verschwunden. Ein Mädchen hatte eine frische Jacaranda-Blüte auf jeden Sitz gelegt und ein Boy kroch wie ein Spürhund zwischen den Sitzen herum und hatte schon eine halbe Plastiktüte voller Zahnstocher, Haarnadeln und abgesprungener Knöpfe eingesammelt. Bei Bus-Baby-Safaris sorgte man sich bis ins Detail um das Wohl seiner Gäste. Walter Heymann, der Chef des exklusiven Unternehmens, verlangte von seinen Angestellten nicht nur einen über das Übliche hinausgehenden Arbeitswillen, Loyalität und Höflichkeit, sondern auch gesunden Menschenverstand, damit man in gewissen Situationen gefasst und ruhig blieb und sich über einige Gewohnheiten und Wünsche der Safariteilnehmer nicht zu wundern brauchte. So lächelten auch die beiden afrikanischen Buschpiloten an diesem Morgen, an dem die Sonne gnadenlos vom blauen Himmel brannte, tapfer, als sie den Sitz ihrer Schlipsknoten überprüften und ihre blauen Uniformjacken überzogen. Denn die Gäste von Bush-Baby-Safaris hätten womöglich Flugangst bekommen, wenn ein Schwarzer mit T-Shirt und Jeans bekleidet im Cockpit hockte.

5

Als der Mann im Zelt sich angezogen hatte und nach seinen Sandalen suchte, beschlich ihn das klamme Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Seine Frau war noch immer nicht zurück. Er sah ihr Kleid und ihre Unterwäsche zerknüllt am Boden liegen, und das war Grund genug, um sich Sorgen zu machen. Auch wenn sie am gestrigen Abend zu viel getrunken hatte, beseitigte sie ein solches Chaos am nächsten Morgen auf der Stelle. Dafür kannte er sie schon zu lange.

Der Mann trat auf die Terrasse vor dem Zelt und die grelle Morgensonne stach ihm in die Augen. Unschlüssig stand er eine Weile vor dem Zelt und wusste nicht, ob er nach drüben ins große Cottage gehen sollte, wo die anderen Gäste des Camps beim Breakfast saßen. Schließlich machte er ein paar Schritte um das Zelt und als er einen weißen Stofffetzen nur wenige Meter weiter in der Savanne liegen sah, hatte er erstmals das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Als er zögernd auf den Stofffetzen zuging, schlug ihm das Herz in der Brust wie eine Pauke, denn er erkannte ein Stück vom Nachthemd seiner Frau. Aus dem Camp kamen jetzt ein paar Leute auf ihn zugelaufen. Er deutete auf den Stofffetzen, aber die Leute beachteten ihn kaum und folgten Spuren, die zu den Krotonbüschen in der Savanne führten. Von dort hörte der Mann irgendjemanden schreien, der offensichtlich etwas gefunden hatte. Der Mann merkte, wie ihm jemand tröstend den Arm um seine Schulter legte und etwas zu ihm sagte. Aber er nahm diese Worte kaum wahr. Er ließ seinen Blick über die Graslandschaft gleiten, die hinter den Zelten begann und in der Ferne sah er die Konturen eines Elefanten, der im Frühdunst auf ihn zugewandert kam.

6

Vier Stunden später waren alle Gäste und das Personal vollständig im Camp versammelt. Niemand hatte an diesem Tage Lust auf eine Pirschfahrt. Niemand schwamm im Swimming-Pool, alle schienen wie gelähmt und versuchten das innere Gleichgewicht wiederzufinden. Obwohl sich die Spekulationen in den Köpfen der Leute längst zu riesigen Geschwülsten ausgewachsen hatten, sprachen sie leise, fast flüsternd, miteinander. Ein Löwe hatte eine Frau, mit der man gestern vielleicht noch am Frühstückstisch gesessen und sich unterhalten hatte, getötet und wahrscheinlich aufgefressen. – Das musste erst einmal eingeordnet werden in ein Ambiente von Glanz und Eleganz, wo man bei einem Champagner-Brunch in malerischer Landschaft oder abends beim Portwein vor dem knisternden Kaminfeuer die Romantik vergangener Zeiten zelebrierte.

Walter Heymann, der Besitzer des Camps, hatte sich gerade in seiner Villa, die auf einem Korallenfelsen an der Küste vor Mombasa lag, auf eine Reise nach Arusha vorbereitet. Als ihn sein Camp-Manager Frank Bornemann anrief, hatte er sich sofort in seine Piper gesetzt und war ins Camp geflogen. Frank hatte ihn am Air-Strip abgeholt und schon auf der Fahrt zur Lodge über die Einzelheiten des Unglücks unterrichtet.

Im Camp stellte Heymann fest, dass es für die Sensationsgier der Menschheit auch in der Wildnis keine Schranken gibt. Irgendwie hatten eine Reporterin von der Daily Nation und ein deutsches TV-Team, das in einem Massai-Kraal in der Nähe drehte, von der Sache Wind bekommen. Als Heymann im Camp erschien, wurde er mit Fragen überfallen.

„Können Sie uns etwas Näheres zum Geschehen sagen, Mr. Heymann?“ erkundigte sich einer der Männer aus dem Fernsehteam.

„Wie konnte es zu einem derart schrecklichen Ereignis kommen, Mr. Heymann?“ fragte die Reporterin von der Daily Nation. Die junge Frau hatte einen Notizblock in der Hand, sah ihm direkt in die Augen und gab ihm mit einem höflichen Lächeln unterschwellig zu verstehen, dass sie ihn nicht leiden konnte.

„Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte Heymann gereizt. „Fehlt Ihnen wieder mal der Stoff für eine ordentliche Reportage?“

Heymann drängte Frank Bornemann zu seinem privaten strohgedeckten Cottage, auf dessen Terrasse man einen wunderbaren Panoramablick auf die Savanne hatte.

„Warum muss diese Frau auch derart viel trinken, wenn sie es nicht vertragen kann?“ knurrte Heymann. „Kein Mensch mit Verstand läuft in stockdunkler Nacht allein hinter den Zelten herum, um sich zu übergeben. Ein hungriger Löwe ist natürlich eine tödliche Bedrohung, wenn man ihm, nur mit einem Nachthemd bekleidet, im Mondlicht begegnet.“

Frank und Walter kannten sich schon sehr lange, und Frank wusste inzwischen, dass es sinnlos war, in Walters tieferen Schichten zu buddeln, um Dinge wie Schuldgefühle oder Mitleid zu finden.

„Ihr war einfach schlecht.“ Frank zuckte mit den Schultern.

„Und was ist mit dem alten Massai, der nachts das Camp bewacht? Ist er am Lagerfeuer eingenickt? Oder taugt seine Nase nichts mehr? Diese Massai behaupten doch immer, sie könnten einen Löwen über drei Meilen Entfernung riechen.“

„Da ist schon was dran. Aber wenn die Windrichtung nicht stimmt, nutzt auch die sensibelste Massai-Nase nichts. Ich habe mir zusammen mit dem alten Massai die Löwenfährte angeschaut. Es muss ein gewaltiger Bursche sein, und es ist klar zu erkennen, dass er mit der rechten Vorderpfote hinkt und somit verletzt sein muss. Normalerweise achten Löwen bei der Jagd überhaupt nicht auf die Windrichtung. Sie vertrauen allein auf ihre Schnelligkeit und Kraft, mit der sie ihre Beute niederreißen. Ein verletzter Löwe besinnt sich auf seine anderen Jagdinstinkte. Er schleicht sich gegen den Wind an seine Opfer an. Er tritt sanft und behutsam auf wie eine große Katze. Wenn du in der Wildnis übernachtest, ist er imstande, dir deine Frau aus dem Schlafsack zu ziehen, während du daneben liegst und selig träumst.“

„Schon gut“, knurrte Walter Heymann. „Hör auf mit deinen Schauergeschichten. Überlass das dieser emanzipierten Reporterin von der Daily Nation. Für sie ist diese Sache hier natürlich ein gefundenes Fressen.“

„Du kennst sie?“, fragte Frank erstaunt.

„Während du am Mount Kenia warst, hat sie eine Reportage über unser Unternehmen gemacht. Sie heißt Faiht Raschid und hatte mich aus ihrer Redaktion in Nairobi angerufen. Zwei Tage später tauchte sie mit zwei Fotografen in meiner Villa auf. Ich habe sie und die beiden Herren durch unsere Hotelanlagen geführt. Sie hat sich Notizen gemacht, und die Fotografen guckten den Touristinnen auf den Hintern und haben die Affen gefüttert. Ich habe ihnen die Flugzeuge, Safarifahrzeuge und unsere Yachten gezeigt. Schließlich hat die Dame gesagt, sie habe genug gesehen und ist wieder abgereist. Die Fotografen hingegen haben es sich auf meine Kosten noch ein paar Tage gemütlich gemacht. Sie haben meine Chips im „Interconti“ verspielt. Dreimal bin ich mit ihnen zum Hochseefischen rausgefahren, und am Abend haben sie in unserem Club die großen Paschas gespielt, schlürften Austern und Champagner bis zum geht nicht mehr, und sind gegen Morgen mit zwei Huren im Arm in ihre Zimmer gewankt. Die sympathische junge Dame dort draußen hatte mir eine objektive Reportage versprochen. Ist es aber nicht geworden...“

Walter Heymann verschwand im Salon, kam mit einer Zeitung in der Hand wieder zurück und knallte sie vor Frank auf den Tisch.

Frank blätterte die Zeitung auf und begann flüchtig zu lesen.

„Die Geschichte vom weißen Herrenmenschen“, sagte Walter währenddessen zynisch. „Heymann, der Kolonialist, der fast tausend Schwarze skrupellos ausbeutet und sich damit ein goldene Nase verdient.“

Frank nickte geistesabwesend und lehnte sich mit der Zeitung in seinem Sessel zurück. Er kannte Walter viel zu lange, um nicht zu wissen, dass er einen gewissen Instinkt für den Untergang einer herrschenden Klasse besaß. Allerdings hatte er auch im Alter von zweiundsechzig Jahren noch immer die Gesetze des Dschungels im Kopf und deshalb war es ihm wohl wichtig, einige Dinge klarzustellen: „In diesem Lande wird es dir sogar angekreidet, wenn du deine Angestellten weit über den geforderten Mindestlohn bezahlst. Leute, wie diese ehrgeizige Journalistin, sehen nur immer das, was du besitzt. Sie haben keine Ahnung, wie du dafür schuften musst und natürlich auch nicht, dass du mit deinem Unternehmen oft genug am Rand der Pleite balancierst. Die Buchungen in unseren Hotels an der Küste sind im letzten Jahr um zwanzig Prozent zurückgegangen. Hier im Camp ist nicht einmal die Hälfte der Betten belegt. Trotzdem wird niemand entlassen, denn auch unsere Gäste mit ihrem Entwicklungshilfekomplex hätten dafür kein Verständnis. Sie könnten nicht so unbeschwert in ihrem Luxus schwelgen, wenn sie nicht gleichzeitig das Gefühl hätten, etwas Gutes für diese armen Schwarzen zu tun. Und deshalb kann ich den netten Gärtner oder Barkeeper, den sie in ihr Herz geschlossen haben, nicht einfach auf die Straße setzen. Ich sehe mir lieber an, wie unsere Kristallgläser und das Tafelsilber allmählich blind werden vom vielen Putzen und die Gärtner darauf lauern, dass ein Blatt vom Baum fällt, um es aufzuheben. Die Kellner kommen schon nicht mehr geschlossen in den Speisesaal, weil sie auf die wenigen Gäste wie eine Bedrohung wirken. Sie lungern in der Küche herum oder vertreten sich die Füße anderswo. Wenn diese Dame dort draußen nicht so arrogant wäre, würde ich ihr meine Bilanz vorlegen. Aber sie träumt ja in ihrer Borniertheit davon, eines Tages den letzten Weißen aus dem Land zu werfen. Offenbar will sie jetzt sogar diese Löwengeschichte für ihre Dekolonialisierungskampagne verwenden.“

Heymann schwieg sichtlich verärgert und gekränkt, und es kam nicht oft vor, dass er sich derart aufs Kleinformatige reduzierte. Man war es von ihm einfach nicht gewöhnt. Er selbst hatte wie kein anderer seit nunmehr dreißig Jahren den Mythos vom tatkräftigen und unerschrockenen Weißen gepflegt, der immer dann die Ärmel hochrollte, wenn die schwarze Welt um ihn herum im Chaos zu versinken drohte. Er stammte aus Hamburg und war vor dreißig Jahren zum ersten Mal als Tourist nach Kenia gekommen. Hamburg sah ihn nie mehr wieder, weil er auf diese Weise zwei Probleme auf einmal loswurde: einen Gerichtsvollzieher, der die Anwaltskosten für die Scheidung von seiner Frau eintreiben wollte und eine marode Firma, die mit gebrauchten Autoteilen handelte. In Mombasa kaufte er einen schrottreifen Land-Rover. Das Unternehmen Bush-Baby-Safaris startete zwar mit Heymanns festem Willen, aber ohne festen Plan und eigentlich nur auf der Lebenserfahrung begründet, dass sich in der Regel irgendetwas ergab, wenn man nur abwartete. Auf blanken Reifen und mit mahlendem Getriebe kutschierte Heymann damals seine ersten Touristen durch die Gegend.

Jetzt war er Herr über tausend Angestellte. Ihm gehörten vier Luxus-Hotels an der Küste, eine Safari-Lodge, acht Flugzeuge, vier Hochseeyachten und rund achtzig Landfahrzeuge. Privat besaß er die Villa an der Küste mit dreißigtausend Quadratmetern Grundbesitz und einen Landsitz am Mount Kenya. Als Faiht Raschid, die Reporterin von der Daily Nation, ihn auf seine privaten Besitztümer angesprochen hatte, hatte er allerdings lächelnd geantwortet: „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie mich das alles belastet. Private Besitztümer bedeuten mir nämlich nicht viel. Allerdings arbeite ich nicht gern ins Ungewisse, wie viele Afrikaner. Wenn man zielstrebig ist und Freude am eigenen Schaffen hat, kommt Reichtum ganz von allein und ist völlig legitim.“

7

Der Löwe hatte in seinen besten Jahren vierzig Kilo Fleisch auf einmal verschlungen, und so etwas passierte nicht selten, denn seine Löwinnen waren eine soziale Gemeinschaft von guten Jägerinnen und hatten für ausreichende Beute gesorgt.

Der Harem, in dem er lebte, bestand aus fünf Weibchen, und es passierte wiederum nicht selten, dass sie gemeinsam in Hitze gerieten. Dann war die Zeit vorbei, in der er sich satt und faul zur Sonne räkeln konnte. Er wurde unruhig und gereizt. Allerdings nicht, weil er zur selben Zeit mit allen Weibchen kopulieren musste, sondern weil andere, jüngere Männchen nur darauf lauerten, ihm seinen Harem abzujagen.

Das Rudel hatte sein Revier am Tsavo-River. Es lag auf einem Plateau, von dem die Raubkatzen zum einen den Blick auf die endlose Weite des Parks und nach unten hin auf eine am Fluss gelegene Tränke hatten. Am gegenüberliegenden Ufer türmten sich mächtige Felsen, so dass ein Fluchtweg in diese Richtung ausgeschlossen war, und dieser besonderen topographischen Lage verdankten die fünf Löwinnen ihre Jagderfolge. Ihre Methode hatte sich im Laufe der Jahre zu einer fast perfekten Strategie entwickelt. Sobald eine kleine Zebra- oder Gazellen-Herde an der Tränke erschien, folgten die Jägerinnen einem inneren Instinkt und übernahmen ihre Rollen im gemeinschaftlichen Hetzen, Niederringen und Töten einer Beute. Die Löwinnen teilten sich in zwei Gruppen. Zwei Weibchen stürzten gemeinsam vom Plateau herab und trieben die Herde über den schmalen Pfad, der sich am Ufer hinzog. Inzwischen hetzten die drei anderen Löwinnen über das Plateau, bis sie eine Stelle erreichten, die flach nach unten führte. Dort fielen sie über die fliehende Herde her und lösten eine Panik aus. Die verängstigten Huftiere versuchten jetzt in die andere Richtung zu fliehen und sahen sich nun wieder den beiden Löwinnen, denen sie entkommen wollten, gegenüber. Sie drehten ab und rasten von einer tödlichen Bedrohung in die andere. Dann erfolgte irgendwann im Chaos der Prankenhieb einer Löwin, der eines der Tiere zu Boden warf. Damit war sein Schicksal besiegelt und die Löwinnen stürzten sich gemeinsam auf die Beute.

Der rote Löwe war auch an diesem Tage auf dem Plateau geblieben und hatte die Jagd seiner Weibchen von oben aufmerksam verfolgt. Gerade noch hatte er ein idyllisches Bild geboten, denn seine drei Jungen aus dem letzten Wurf waren auf tapsigen Pfoten um ihn herumgetollt, hatten ihn an der Mähne gezaust und in den Schwanz gebissen. Als ihm der Blutgeruch von unten in die Nüstern kam, schüttelte er die Jungen ab. Dann lief er erregt nach unten, und die unbeholfenen Jungen folgten ihm. Sie waren vier Monate alt, fingen gerade an Fleisch zu fressen und purzelten nun vor lauter Aufregung den Hang hinunter. Der rote Löwe fauchte die Weibchen an und vertrieb sie mit ein paar Prankenhieben von der frisch gerissenen Beute. In der Hierarchie des Fressens standen ihm, dem Rudelherrn, die besten Brocken zu, und wenn er die ersten warmen und bluttriefenden Fleischfetzen herunterschlang, war er für eine Weile von Gier betäubt und er nahm kaum noch etwas anderes wahr. Aber seit einiger Zeit blieben seine Sinne selbst im Blutrausch angespannt, denn in den betörenden Duft von frischem Blut mischte sich der bedrohliche Uringeruch von fremden Löwenmännchen. Zwei junge Mähnenlöwen, strotzend vor Kraft und Angriffslust, waren in sein Revier eingedrungen. Sie hatten seine Grenzmarkierungen, Urinspritzer, die er überall an Bäumen, Büschen oder Felsen hinterließ, ignoriert und die gleichen Stellen mit ihrem eigenen Urin markiert. Nach dem biologischen Dschungelgesetz war das keine harmlose Respektlosigkeit, sondern eine radikale Kampfansage.