Danksagung:
An meine lieben Eltern, die mir das ganze Jahr erst ermöglichten, und mich Tag und Nacht unterstützt haben. Herzlichen Dank an meine tolle Familie und meine Freunde, die mir über weite Distanzen hinweg zur Seite standen. I love you guys!
Mein Blick schweift über meine schnarchende Sitznachbarin weit aus dem Fenster und verliert sich im Wolkenmeer. Der Himmel scheint unendlich zu sein und das Flugzeug schon unendlich weit weg von zu Hause. Die Abschiedsbriefe liegen noch ungelesen auf meinem Schoß, zu groß das Risiko, in Tränen auszubrechen und somit meine Mascara schon zum zweiten Mal zu ruinieren.
Jetzt sitze ich hier alleine im Flugzeug. Hinter mir die Schweiz, unter mir der Atlantik und vor mir das große Unbekannte.
Die Stewardess mit den knallroten Lippen schiebt ihren Wagen durch die viel zu engen Gänge. Zu pappigen Käsesandwiches fehlt mir jedoch jeglicher Appetit. Meine italienische Sitznachbarin ist inzwischen aufgewacht und lässt sich lauthals über den wässrigen, untrinkbaren Kaffee aus. Sogar die hilfsbereite Stewardess scheint am Ende ihrer Geduld zu sein mit dieser unzufriedenen Lady.
Mein Abenteuer hat begonnen.
Der Abschied von der Familie ist geschafft und war weitaus schwieriger als vorgestellt. Die ganze Familie brachte mich um vier Uhr morgens zum Flughafen. Mein Gesicht muss meinen Abschiedsschmerz gespiegelt haben, denn die Angestellte ließ meine drei Kilo Übergewicht beim Gepäck kommentarlos durchgehen. Das Warten war das Schlimmste. Die quälenden Stunden vor dem erwarteten Abschied zogen sich wie Kaugummi. Aber mein Gefühlscocktail aus Adrenalin, Vorfreude und Abschiedsschmerz wirkte wie eine Droge und ließ mich funktionieren.
Im Vorfeld musste ich mich schon von all meinen Freunden und Schulkameraden verabschieden – eine sehr emotionale Angelegenheit:. So endete die Grillparty am See tränenreich. Meine Freundin Lara und ich verdarben allen die Stimmung. Wie ein Häufchen Elend saßen wir eng umschlungen da und weinten und heulten um die Wette. Ich wurde nach diesem dramatischen Abschied noch mehrmals von Bekannten und Freunden angesprochen, ob irgendetwas Schlimmes passiert sei, sie hätten uns beide so schrecklich weinen sehen. Es gibt doch nichts Besseres, als das eigene Image ein wenig aufzupeppen, bevor man für ein Jahr nach Amerika verreist.
Den endgültigen Abschied am Flughafen realisierte ich nicht wirklich: Ich umarmte noch einmal meine vier liebsten Menschen, ließ mich mit Küssen überschütten, dann rannte ich beinahe durch die Zollkontrolle.
Erst in London Heathrow wird mir klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Dieses Mal handelt es sich nicht nur um eine kleine Reise oder eine Klassenfahrt. Zehn Monate weg von zu Hause, dreihundert Tage ohne meine Familie und Freunde, ohne meine fürsorgliche Mama. Ein Weihnachten ohne traditionelle Weihnachtsbäckerei und einmal Ostern ohne Schweizer Schokolade. Ein knappes Jahr ohne irgendetwas Klares, Beständiges oder Vertrautes. Das macht mir Angst. Ich frage mich das erste Mal, ob das Austauschjahr die richtige Entscheidung für mich ist.
Die ganze Anmeldeprozedur fing schon vor einem Jahr an, als ich mich mit meinen Freundinnen Anja und Carmen über die große weite Welt unterhielt. Die Erde ist ein einziges Überraschungspaket. Fast zweihundert Länder, einzigartige Kulturen und atemberaubende Landschaften, die nur darauf warten, erkundet zu werden. Wie soll man sich da noch auf die Schule konzentrieren können. Unsere Mitschüler konnten es. Aber wir waren hellauf begeistert von der Idee, uns ein Jahr lang eine Auszeit vom eintönigen Schulalltag zu gönnen und in eine neue Kultur einzutauchen. Weit weg von alten Beziehungskisten und launischen Lehrern irgendwo frisch anzufangen. Für Carmen war es keine Frage, wohin ihr Austauschjahr gehen würde: Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Traum und Ziel von vielen Auswanderern, war auch ihre Traumdestination. Ich selbst hatte noch nie viel für das Land des Fast Foods übrig und meinte nur zynisch zu ihr: „Viel Spaß beim Fettwerden.“ Wer hätte gedacht, dass meine Wahl später auch mal auf die USA fallen würde. Die verrückte Anja wählte ein exotisches Ziel, ihre Reise sollte nach São Paulo, Brasilien, gehen.
Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wohin es mich verschlagen würde, aber meine Reiselust war geweckt. Sogar von meinem ab und an aufflackernden Heimweh ließ ich mich nicht beirren. Aber die vielen Entscheidungen, die es zu treffen galt! Damit habe ich mich noch nie leicht getan. Stunden verbrachte ich mit dem Erstellen von Pro- und Kontra-Listen für verschiedene Länder. England war zu nah, Argentinien zu spanisch und Kanada zu kalt. So fiel meine Wahl, nicht zuletzt wegen des Überraschungseffekts, auf so ein riesiges Land wie Amerika, trotz der Cheeseburger und der vielen Autos.
Aufgeregt füllte ich die Online-Anmeldung aus mit einigen Wahlstaaten an der Nordostküste, die kulturell Europa am ähnlichsten sind. Um meine eigenen Bedenken zu übergehen, warf ich mich sozusagen selbst ins kalte Wasser und meldete mich an. Zu weit weg war der Moment des Abschiedes, um real zu sein, lange genug die Zeit, bis es endlich losging, um sich an den Gedanken zu gewöhnen.
Als der große Schritt der Anmeldung endlich gewagt war, verbrachte ich Wochen mit dem Warten auf die Rückmeldung meiner Organisation. Doch der Zufall wollte es, dass meine Anmeldung verloren ging, und so musste ich mit der ganzen Prozedur noch einmal von vorne beginnen. Das war nur der Anfang von vielen weiteren dummen Zu- und Zwischenfällen, die sich wie ein roter Faden durch mein Auslandsjahr ziehen sollten. Davon wusste ich aber damals noch nichts und füllte unbekümmert noch einmal die Anmeldung aus. Hätte ich auch nur ein wenig Aberglaube in mir, wäre ich sicherlich von all den schlechten Omen aufgerüttelt worden und hätte mein Austauschjahr gecancelt.
„Vegetarisch oder das Fleischmenü für Sie?“, reisst mich die Stewardess mit den roten Lippen aus meiner Tagträumerei, und ich schrecke von meinem Tagebuch hoch. „Vegetarisch, bitte“, und dann ist sie auch schon wieder mit meiner Nachbarin beschäftigt, deren Leben anscheinend davon abhängt, Parmesan für ihre Pasta zu bekommen. Ich krame meine iPod-Stöpsel aus dem Rucksack und versuche, mit lautem Hip-Hop mein Umfeld auszulöschen.
Im Februar kam die erste große Nachricht. Gerade als ich meinen Rucksack schwungvoll in die Ecke werfen wollte, kam meine Mama angerannt und umarmte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb. Mit Tränen in den Augen berichtete sie mir, dass mich eine Gastfamilie in Petaluma, einem Vorort von San Francisco, aufnehmen wolle. Was für ein Zufall, denn genau in diesem Ort hatte auch meine Mutter vor fünfundzwanzig Jahren einen Sprachaufenthalt verbracht! Ich war so überwältigt, meine Emotionen blieben irgendwo zwischen Lachen und Weinen stecken. San Francisco liegt zwar nicht gerade an der Nordostküste, aber wer sagt schon nein zu Kalifornien? Untypisch ist es, so früh platziert zu werden, und so war ich auch die erste unter meinen Freunden, die mit dieser Neuigkeit zur Schule kam. Durch den E-Mail-Kontakt mit der Gastfamilie stieg meine Vorfreude. Erste Fotos wurden ausgetauscht, und die Familie schien trotz knappgehaltener E-Mails sympathisch zu sein. Schreibfaulheit sei sowieso typisch amerikanisch tröstete mich meine Mutter.
Einen Monat später kam jedoch die enttäuschende Nachricht, in der mir knapp die Lage geschildert wurde. Die Gastmutter hatte ihren Job als Lehrerin verloren und dadurch war es der Familie finanziell nicht mehr möglich, mich aufzunehmen. Wie eine Seifenblase zerplatzte mein Traum von einem Austauschjahr in Nordkalifornien, mit Ausflügen an den Strand und Shoppen in San Francisco. Ich war untröstlich und wollte von Amerika erst mal gar nichts mehr wissen. Auch der interessante Vorschlag der Gastmutter, eine Tupperware-Party für mich zu schmeißen, um so eine passende Gastfamilie zu finden, erschien mir nicht besonders prickelnd. Ein Austauschschüler lässt sich nun mal nicht so einfach wie das neueste multifunktionale Küchengerät höchstbietend versteigern. So kam meine Anmeldung zurück in den Pott. Doch die Vorfreude auf mein Amerika-Jahr war getrübt.
Der Pilot scheint einen schlechten Tag zu haben, denn schon zum dritten Mal wird das Flugzeug mächtig durchgeschüttelt. Aber mir ist das momentan einerlei, obwohl es nicht die schönste Vorstellung ist, im Atlantik zu ertrinken. Schade, dass ich keine Beruhigungsmusik mit Delfinstimmen auf meinem iPod habe. Wenigstens scheint meine Nachbarin durch die Turbulenzen stillgestellt zu sein. Weiss um die Nase wühlt sie hektisch in ihrer großen Tasche, bis sie ihre Schlaftabletten gefunden hat.
Ich atme tief ein und öffne den Umschlag von Mamas Abschiedsbrief. Durch Tränenschleier lese ich die lieben Zeilen. Sogar mein kleiner Bruder hat mit seiner krakeligen Handschrift ein Briefchen geschrieben, wie sehr er mich vermissen werde. Was für eine schlechte Idee, mir alle Briefe für den Flug aufzuheben. Alles, was zurückbleibt, ist ein flaues Gefühl im Magen und schon erste Anzeichen von Heimweh. Die Italienerin scheint in einen komaartigen Schlaf gefallen zu sein. Wie friedlich doch Schlafende aussehen. Mir soll es recht sein, denn für Small Talk fehlen mir momentan jegliche Nerven.
Ich unterdrücke ein Gähnen. Reisen ist doch immer viel zu anstrengend. Die letzten Wochen, ja beinahe Monate, habe ich nicht gerade viel geschlafen. Viel zu viele Freunde, mit denen ich unbedingt noch einmal etwas unternehmen wollte, Festivals, die nicht zu verpassen waren, und nebenbei noch eine liebe Tochter und Schwester sein, um in den nächsten zehn Monaten in guter Erinnerung zu bleiben. Die Zeit bekommt einen ganz anderen Wert, wenn das Abreisedatum bekannt ist. Jede Minute wird wertvoll genutzt und die Tage mit Programmen ausgefüllt. Nach dem Motto, alles noch einmal so richtig genießen, lebte ich die letzten zwei Monate in der Schweiz auf der Überholspur, was nicht nur gut war. So genoss ich Partys und Alkohol noch einmal in vollen Zügen, wo ich doch für eine längere Zeit darauf verzichten würde müssen. Tequila und Zitrone zeigten bei mir immer schön ihre Wirkung – aber welche Geschichte fängt schon mit einer Limonade an?
Sich noch einmal richtig von Oma verwöhnen lassen und auf einen Ausflug mit den Großeltern gehen, trotz Feier am Vorabend. Mit meinem Aktivitätsdrang hielt ich die ganze Familie auf Trab. Aber wie sie mir später erzählten, vermissten sie diesen dann doch bei all der Ruhe, die ich zurückließ. Ich muss zugeben, das war eine tolle Zeit, und ich bin ausgefüllt mit vielen schönen und lustigen Erinnerungen. Aber wie schnell diese Monate verflogen sind, man kann sich an gar nichts festhalten. Darum schreibe ich Tagebuch, dann weiß ich wenigstens, wie die Zeit verflossen ist. Mein Tagebuch ist wie eine Konservendose für Erinnerungen und es wird in den kommenden Monaten sicherlich auch als Prellbock für meinen Ärger und meine Aggressionen herhalten müssen.
Ein paar Monate nach der großen Enttäuschung mit der Gastfamilie in San Francisco landete wieder eine E-Mail in meinem Postfach: "Gratuliere zu deiner neuen Gastfamilie", stand im Betreff. Ich war auf alles gefasst, aber nicht auf Keller. Das ist ein Vorort von Fort Worth, in der Nähe von Dallas, Texas. Die Aufregung ist nicht halb so groß wie beim ersten Mal. Texas? Was für eine Ironie des Schicksals, dass es mich jetzt auch noch in den tiefsten Süden der USA verschlagen soll, dachte ich mir. Sprichwörtlich in den Keller der USA. Da half auch das gute Zureden von meinem Vater nichts, der meinte, dort habe die NASA einen bekannten Kontrollsitz, was doch sehr spannend sei. Wenigstens ein Raketenstützpunkt in der Nähe, wie cool. Vor meinem inneren Auge sah ich mich selbst mit Cowboyhut auf einem bockigen Pferd sitzen zwischen zwei Kakteen, umgeben von der einsamen Weite der Wüste. Da ich mit Pferden noch nie gut klar kam, hatte diese Vorstellung für mich so gar nichts Verlockendes an sich. Jeder, der mich nur halbwegs kennt, konnte sich ein Lachen nicht verdrücken, wenn ich von meiner neuen Destination erzählte.
„Sprechen die überhaupt Englisch?“, fragte mich hämisch grinsend ein Bekannter. Meine Freunde erzählten mir von Kakteen, Kühen und Pferden, von sonnengegerbten Cowboys, die mit ihren Rinderherden durch die sandige trockene Wüste reiten und abends bei Countrymusik zum Barbecue zusammensitzen. „Außer Steaks und Burger gibt es da nichts zu essen“, warnte mich eine Freundin – für mich als Vegetarierin keine schöne Vorstellung. Selbst meine Mutter bemerkte fürsorglich, ich solle mich auf keinen Fall auf politische Diskussionen mit den Einheimischen einlassen. Irgendwann war ich ganz schön genervt und verunsichert von der Engstirnigkeit meines Umfeldes. Ob ich wenigstens schon reiten oder schießen könne? Diese Fragen trieben mich in den Wahnsinn. Doch was sollte ich anderes tun, als mich mit der Situation abzufinden? Ich sollte später noch am eigenen Leib erleben, dass man als Austauschschüler nicht viel zu sagen hat.
So recherchierte ich im Internet, in der Hoffnung, mich etwas beruhigen zu können. Die Gastfamilie schien sympathisch zu sein. Die jungen Gasteltern bewohnten mit ihren zwei kleinen Kindern ein großes Einfamilienhaus. Wenigstens ein kleiner Trost, dachte ich mir. Meine Schule hätte ich besser nicht auf Google Earth angeschaut, denn das gefängnismäßige Flachdachgebäude, umgeben von trockenem, sandigen Land und Parkplätzen, trübte meine Highschool-Musical-Fantasien doch sehr. Das Internet hatte viel über den zweitgrößten Staat von Amerika zu sagen. „Texas, der Staat mit den meisten Hinrichtungen“, stand da, „Texas, der Staat, in dem Kreationismus (Glaube an Adam und Eva) auf dem Vormarsch ist“. Zudem stieß ich bei meinen Recherchen auf Begriffe wie Übergewicht, Konsumsucht und Patriotismus. Außerdem sollte die Mehrheit der sonst sehr gastfreundlichen Texaner ihren Revolver stets griffbereit am Gürtel tragen.
Es knistert in den Lautsprechern: „Wir treffen in voraussichtlich dreißig Minuten in New York ein. Lokale Temperaturen sind achtzig Grad Fahrenheit und das lokale Wetter ist sonnig mit wenigen Wolkenfeldern.“
New York. Der Traum von jedermann und jeder Frau. Meine riesige Vorfreude auf die Metropole überdeckt meine Skepsis gegenüber dem, was mich in Texas erwarten wird. Der Big Apple versprüht einen unvergleichlichen Zauber und schon hier, noch zweitausend Meter in der Luft, kann man, so meine ich, die Freiheit spüren. Mit hundert anderen Austauschschülern aus aller Welt habe ich mich zu einem Vorbereitungscamp der Austauschorganisation in New York angemeldet. Auf dem Programm stehen Sightseeing, erstes Überlebenstraining auf Englisch und, nicht zuletzt, die Akklimatisierung an die amerikanische Mentalität und Kultur.
Das Flugzeug setzt zum Landen an. Mein Magen krampft vor Aufregung. Jetzt geht es los. Vor lauter Tagträumerei habe ich mich weder geschminkt, noch meine Haare gebändigt. Es wäre die Mühe sowieso nicht wert, mit dem knallgelben Erkennungs-Shirt, das alle Austauschschüler der Organisation zu tragen haben. Aber Natürlichkeit soll ja sympathisch sein, hoffentlich auch in Amerika. Meine Knie knacken, als ich aufstehe. „Arrivederci la bella ragazza!“, verabschiedete sich meine Nachbarin von mir und drängelte sich als Erste einen Weg aus dem Flugzeug. Der erste Abschied seit Langem, der mir sichtlich leicht fällt.
Es ist nicht schwer, die anderen Jugendlichen aus meinem Programm zu finden. Wie verlorene Leuchtstifte stechen wir aus der grauen Menge an der Gepäckausgabe. Ich atme erleichtert auf, als ich ein bekanntes Gesicht erspähe. Die hübsche Schweizerin Klara, die ich schon in London kennengelernt habe, winkt mich zu sich. Zusammen hieven wir unsere tonnenschweren Taschen vom Laufband. Als sich alle Leuchtstifte aus Norwegen, Italien und ganz Mitteleuropa versammelt haben, führt uns der schwedische Gruppenleiter zum Bus. Der Abschiedsschmerz ist auf einmal wie weggeblasen und die Abenteuerlust ist auf allen Gesichtern zu sehen. Mit dem Bus fahren wir aus der Stadt und bleiben auch vom New Yorker Feierabendverkehr nicht verschont. Doch zu sehen gibt es genug. „Schau, da hinten die Bronx“, raunt Klara mir zu und zeigt mit dem Finger auf das dicht besiedelte, braune Häusermeer zu unserer linken Seite, das in der Abendsonne einen friedlichen Eindruck macht. Mit dem iPod versuche ich ein Foto durch die dreckige Scheibe des Busses zu schießen.
Wir sind in dem hundertjährigen College in New Rochelle untergebracht, einem sicheren Studentenstadtteil, etwas außerhalb der lauten New York City. Bei der Zimmeraufteilung werden alle Ländergruppen vermischt und so teile ich mein Zimmer mit einer Italienerin und einem blonden Mädchen aus Norwegen. Da aber die Englischkenntnisse fehlen, bleibt es beim Small Talk. Trotz aller Mühe der jungen Leiter wollen sich die Nationalitäten nicht so recht mischen. Die strikte Regel, nur Englisch zu sprechen, wird kaum eingehalten. Klara und ich gesellen uns zu der kleinen Schweizer Gruppe, wo natürlich nur Schweizerdeutsch gesprochen wird. Die blonden Norweger scheinen sich auch schon gefunden zu haben und die italienische Vertretung steckt ihre Köpfe zusammen, als würde sie sich schon ewig kennen.
Beim ersten Abendessen bin ich richtig in den USA angekommen. Hello America, denke ich mir nur, als ich lustlos in meinen Hamburger ohne ham beiße. Der Teamleiter will mir nicht glauben, dass ich Vegetarierin bin, wo doch Fleisch das Beste am Essen sei. „Wartest du jetzt auf einen Beweis oder hast du schon jemals jemanden freiwillig ein trockenes Hamburgerbrötchen mit einem Salatblatt essen sehen?“, ist meine patzige Antwort darauf. Wenigstens biete ich immer das Tischgespräch Nummer eins, wenn ich die Salami von meiner Pizza picke oder meinen eigenen vegetarischen Hotdog improvisiere. Über die Essgewohnheiten anderer zu philosophieren, scheint die Lieblingsbeschäftigung vieler zu sein. Da erlaube ich mir auch gerne hin und wieder einen makabren Scherz, und fange an, über Massentierhaltung oder über die Hormone im Fleisch zu erzählen, die sich vor allem bei Frauen gerne an der Hüfte ablagern. Keines der Mädchen hat ihren Hamburger fertiggegessen, und das Gesprächsthema schweift wieder ab zu den Vorurteilen gegenüber Amerika. Wo ist der Stand-by-Knopf meiner Geschmacksknospen? Beim Essen scheinen sich alle Vorurteile zu bestätigen: fett, fad und nie ohne Fleisch.
Am nächsten Morgen geht es früh los. Alle sind schon da, nur die Italiener lassen wieder einmal auf sich warten. Und, wie es die Regel besagt, müssen sie nach zehn Minuten Verspätung die heimische Nationalhymne vor versammelter Gruppe singen. Die erste Strophe der italienischen kann ich schon fast auswendig. Wir fahren wieder mit dem Bus, diesmal nach Manhattan. Der Song „New York“ von Alicia Keys beschreibt die Stimmung, die im Bus herrscht. Klara, Jenny und der Rest unseres kleinen Schweizerclubs, alle sind wir aufgeregt. Eitelkeit ist fehl am Platz. Wir Mädchen hätten uns gerne was Schönes angezogen, um richtig in das Gossip-Girl-Feeling reinzukommen, doch wir müssen wieder die gelben Shirts anziehen. Ich kann kaum leugnen, dass ich mir ein wenig vorkomme wie das unschuldige Mädchen aus dem kleinen Schweizer Dorf alleine in der Big City. Die Wallstreet, der Ground Zero und China Town, das alles mit eigenen Augen zu sehen, scheint wie im Film. Trotz des bedeckten Himmels und des schwülen Wetters ist der Blick vom Central Park auf die Skyline von Manhattan atemberaubend. Es wird fürs Foto posiert, und die vielen gut trainierten Jogger sind ein genauso beliebtes Fotoobjekt wie die Skyline selbst. Die Sportler schnaufen in der schwülen Hitze um die Wette und schaffen es trotzdem noch, umwerfend auszusehen. Das findet man nur in New York.
Beim Broadway angekommen, laufen alle Kameras heiß. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst sehen soll. Selbst bei Tageslicht sind die vielen Farben und Bildschirme, die verschiedenen Menschen und Läden einfach umwerfend. In Dreiergruppen dürfen wir alleine losziehen, und man kann sich vorstellen, was passiert, wenn man zum ersten Mal in Kontakt mit amerikanischen Kleiderläden kommt. Jenny, Klara und ich starten unseren Marathon bei Forever 21, das ist der amerikanische Kleiderladen, den man einfach kennen muss. Mit den Aussichten, bald auf eine texanische Highschool mit Dresscode zu gehen, weiß ich nicht, was ich dort zu erwarten habe, und halte mich beim Einkaufen ein wenig zurück. Starbucks-Cafés sprießen hier aus dem Boden wie Unkraut. Es ist fast ein Muss, dort einen Kaffee zu trinken. Es gefällt mir immer besser, und Klara ist sowieso glücklich, wenn sie ihre iced chai tea latte bekommt.
Auf den New Yorker Straßen trifft man alles an. Kunterbunt gemischt und alles auf engem Raum. Die gestressten Businessleute, die mit dem iPhone am Ohr gerade dabei sind, das Geschäft ihres Lebens ans Ufer zu ziehen, und gleichzeitig noch nach einem Taxi Ausschau halten. Dann gibt es aber auch die entspannteren New Yorker, die mit dem Kaffee in der Hand im Park mit ihrem Hündchen Gassi gehen. Durchgestylte Hipster, die mit ihren MacBooks im Straßencafé sitzen, oder Penner, die ihr Frühstücksbier auf der Gasse trinken. Es scheint, den Durchschnitts-New-Yorker gibt es nicht, denn alle hier sind so sehr damit beschäftigt, sich als Individuum zu verwirklichen.
Klara, Jenny und ich erkunden die Fifth Avenue zu Fuß und verirren uns trotz schön nummerierter Straßen. Der Stadtplan ist auch keine große Hilfe, wenn niemand einen Orientierungssinn hat. Bei all den Hochhäusern und Wolkenkratzern fühlt man sich klein wie eine Ameise. Auch die gelben Taxis sind an jeder Ecke vertreten, schön im Partnerlook mit unseren gelben Shirts. Verloren laufen wir durch die Häuserschluchten des Großstadtdschungels und plötzlich sind wir umzingelt von geschäftigen Businessleuten. Irgendwie hat es uns ins Bankenviertel verschlagen. Jenny meint nüchtern: „Ich fühle mich ziemlich underdressed hier mit meinen Shorts.“ Gerade wohl fühle ich mich auch nicht, vor allem nicht, als Klara meint, sie müsse Geldwechseln gehen. So bleibt uns beiden nichts anders übrig, als mit Klara durch eine der schweren goldenen Türen in eine Bank zu gehen, wo wir aber sogleich vom Securitypersonal abgefangen werden. Zugegeben, mit unseren leuchtstiftgelben Shirts und Turnschuhe entsprechen wir nicht gerade dem Bild des durchschnittlichen Kunden. „You girls better stay outside“, meint der Mann auf unsere Frage, ob wir Schweizerfranken in Dollars wechseln können. Das ist mir zu viel. Ich schnappe mir die beiden, und wir rennen nach draußen, wo wir uns alle krümmen vor Lachen. Also: „No more shopping for Klara“.
Ich liebe New York. Die Stadt scheint erstaunlicherweise sehr grün zu sein. Alleen und die vielen Parks geben der Metropole diesen grünen Touch. Sogar Fast Food kann hier lecker sein. So esse ich heute Mittag im Hardrock-Café den besten veggie burger, den ich jemals gegessen habe. Stolz posiere ich mit meinem riesigen Burger vor der Kamera und poste das Bild sofort auf Instagram. Der große Spaß bei der ganzen Reiserei ist doch, alle seine Freunde zu Hause eifersüchtig zu machen. Die Organisatoren haben alles schön durchgeplant. Vollgegessen laufen wir aus dem Restaurant, wo bereits eine Limousine wartet, die uns zum Bootshafen fährt. Jenny und ich singen schon den ganzen Tag den gleichen Song. Als dieser dann auch noch im Radio in der Limo läuft, ist der Moment perfekt. Jenny, Klara und die anderen von meiner Gruppe singen lauthals mit. Wir fühlen uns wie Jay-Z persönlich auf dem Weg zum Club.
Als wir am Schiffshafen ankommen ist die ganze Gruppe schon high vor lauter Glück und jeder schreit, singt oder tanzt herum. Kann man an einem Tag auch eine Überdosis zu vieler guter Erlebnisse haben? Mit dem Boot geht es um die Halbinsel Manhattan herum, bei wunderschöner Abendstimmung. Die Skyline scheint in der Sonne zu glitzern und uns bleibt bei dieser wunderschönen Sicht beinahe das Subway-Sandwich im Halse stecken. Ich schieße Hunderte von Bildern. Kurz vor der Freiheitsstatue gibt meine Kamera den Geist auf. Doch der Moment ist viel zu kostbar, um sich an so einer trivialen Dummheit zu ärgern. Die Freiheitsstatue strahlt Hoffnung, Erfolg und nicht zuletzt Freiheit aus. Ich glaube, zu fühlen, was den vielen Einwanderern vor Ellis Island durch den Kopf gegangen sein muss, als sie die massive Kupferstatue zum ersten Mal erblickten. Alle Bootsinsassen schauen ehrfürchtig auf die historische Statue, und ich denke mir zum zweiten Mal: Hello America, I'm ready for you!
Bei dem vollen Programm habe ich keine Zeit für Heimweh. Abends sinke ich todmüde ins Bett und beim Tagebuchschreiben fallen mir beinahe die Augen zu. Doch gerade, als ich für drei Minuten eingenickt bin, schrecke ich hoch und kriege fast eine Herzattacke: Auf meinem Tagebuch sitzt eine fette schwarze Spinne! Mit einem unterdrückten Schrei springe ich von meinem Bett auf und auch meine Mitbewohnerinnen, die mir zu Hilfe eilen wollen, suchen schnell das Weite. Alle Versuche, das Riesenvieh aus dem Fenster zu bugsieren, gehen schief, und die Spinne verzieht sich auf Nimmerwiedersehen unter mein Bett, in dem ich wohl oder übel noch die nächsten Nächte schlafen muss. Heroisch überwinde ich mich und lege mich dennoch hinein – und schlafe auch tatsächlich irgendwann ein.
Neben sight seeing haben wir in den nächsten Tagen auch noch andere Programmblöcke. Wir bekommen eine Einführung ins Cheerleading und spielen American Football. Das ist gar nicht so einfach. Es scheint mehr Regeln als Punkte zu geben. Da ist mir Baseball schon lieber. Eine kräftige autoritäre Frau, Coach genannt, führt uns in das Spiel ein. Bevor wir anfangen zu spielen, müssen wir alle schwören, dass bei einem Unfall die Trainer nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ihre Regeln scheinen härter als der Ball selbst zu sein. Zu meinem Glück mag mich der Coach und ich darf meine Mannschaft selbst auswählen. Ein bisschen Sport ist ja auch gesund bei all dem Fast Food.
In den wenigen Unterrichtsstunden lernen wir das must know für einen Austauschschüler. Der wichtigste Punkt ist, offen zu sein, und Amerika nicht mit dem Heimatland zu vergleichen. Am einfachsten ist es, alles zu akzeptieren und die Unterschiede nicht als schlecht, sondern einfach als anders zu bewerten. Das ist schon die halbe Miete. Wichtig zu wissen ist auch, dass die meisten Amerikaner ein stolzes und patriotisches Völkchen sind. Mit Kritik an Land oder Kultur macht man sich keine Freunde. Und keine neuen Freunde zu finden, ist die Angst eines jeden Austauschschülers hier im Camp.
Wir alle hier sind in nervöser Erwartungshaltung auf unsere neuen Schulen, wo wir ein Jahr lang verbringen werden. Der Abschied von all den neuen Bekannten hier im Camp ist hart, auch wenn man sich verspricht, in Kontakt zu bleiben. Ich habe innerhalb einer Woche so gute Freunde gefunden, so viel gelacht und zusammen mit ihnen die Stadt unsicher gemacht. Jedoch allem Guten ist ein Ende gesetzt. Freundschaften sind eine Investition in die Zukunft, das werde ich im Laufe dieses Jahres deutlich merken. Durch Verabredungen via Skype im Laufe der nächsten zehn Monate wachsen mir Klara und Jenny sehr ans Herz und werden zu meinen besten Freundinnen am anderen Ende von Amerika.
Als Austauschschüler gewöhnt man sich besser gleich von Anfang an ans Abschiednehmen. Denn man verabschiedet sich permanent. Von lieben Freunden, tollen Menschen und starken Persönlichkeiten, die alle mehr als nur gute Erinnerungen in einem hinterlassen. Der letzte Abend im Camp ist gekommen, und wir haben eine kleine improvisierte Abschieds-Disco im Speisesaal. Zuerst bin ich nicht so begeistert von der Idee, dass die Leiter zwanghaft gute Partylaune zu verbreiten versuchen, aber mit der Zeit werde ich von der Musik mitgerissen und tanze mir alle Sorgen und Ängste von der Seele. Es scheint den meisten so zu gehen – oder Austauschschüler sind einfach besondere Partytiere! Die Stimmung jedenfalls wird sehr ausgelassen.
Als der Moment des Tschüss-Sagens am nächsten Morgen gekommen ist, fließen auch bei mir die Tränen. Ich schließe Klara in die Arme, die die nächsten zehn Monate im Staate New York verbringen wird. Jenny wird nach Minnesota fliegen, eine nicht ganz so lange Reise wie nach Texas. Aber zum Glück muss ich nicht alleine reisen. Und so vergeht die Flugreise sehr schnell. Mit den Gedanken bleibe ich an den vielen tollen Erinnerungen hängen, die ich von jetzt an mit New York verbinden werde. Ich sage: „Goodbye, New York, see you again soon!“
Trotz unserer Einführung im Camp zum besseren Verständnis der amerikanischen Mentalität, muss ich zugeben, dass die Amerikaner mir noch immer ein Rätsel sind. Ständig fallen mir Kleinigkeiten auf: Was für eine Logik steckt zum Beispiel dahinter, eine low fat latte zu bestellen, sich dazu aber einen double chocolate muffin zu gönnen?! Aber ich will hier ja nicht lästern, wahrscheinlich werde ich in Amerika selbst aufgehen wie ein Schokoladenmuffin.
Außerdem ist mir in den letzten Tagen aufgefallen, wie viel Abfall hier produziert wird. Allein unsere Gruppe hat Hunderte von Abfallsäcken gefüllt mit Papptellern und Plastikbesteck. Bin ich zu kritisch? Ich hoffe einfach nur, dass in Texas die Klimaerwärmung nicht als Märchen angesehen wird, im Land der Kreationisten ist das keine Selbstverständlichkeit. Diese Gedanken ziehen mir durch den Kopf, als ich an meinem Fensterplatz im Flugzeug Richtung Texas sitze.
Die Aufregung steigt immer mehr, denn jetzt wird es Ernst, jetzt lerne ich bald die Gastfamilie kennen! Ich freue mich darauf, endlich meinen Koffer auspacken und mich einrichten zu können. Melissa, die mit mir nach Dallas fliegt, und ich vergleichen unsere zitternden Hände, als das Flugzeug zum Landen ansetzt. Dieses Mal überlasse ich mein Aussehen nicht dem Zufall, auch wenn es jetzt, fünf Minuten vor der Landung, reichlich spät dafür ist. Ich schleiche mich an der Stewardess vorbei und versuche mich auf dem engen Flugzeugklo zu schminken, wo ich aber mehr als nur ein wenig durchgeschüttelt werde.
Schwerfällig hieve ich meinen Koffer vom Gepäckband und verabschiede mich von Melissa mit dem Versprechen, sie in einem Jahr dann in Hamburg zu besuchen. Es durchfährt mich wie ein Blitz, als ich meine Gastfamilie zwischen all den anderen aufgeregten Austauschschülern erblicke. Die vier kenne ich nur von Bildern, die wir in den letzten Wochen immer wieder ausgetauscht haben. Mit einem selbst gemalten Plakat heißen mich die fünfjährige Alice und der achtjährige Jason willkommen, und auch meine jungen Gasteltern sagen mit einem auffälligen Südstaatenakzent: „Welcome to Texas“. Sie sind überrascht – mit so einem großen Schweizer Mädchen haben sie nicht gerechnet.
Eine schwüle Hitze schlägt mir ins Gesicht, als wir nach draußen treten, und meine Gastmutter schmunzelt über meine dicke Wolljacke, über die ich vor einer halben Stunde im Flugzeug noch sehr froh war. Damit ist der Damm gebrochen und auch die Kinder scheinen etwas Vertrauen zu ihrer neuen großen Schwester zu fassen. „Wie ist das Wetter in der Schweiz?“ – „Hast du eine PSP Konsole zu Hause?“ – „Hast du die Diamanten gesehen, die ich für dich auf das Poster gemalt habe?“. So viele Fragen auf einmal und alle auf Englisch. Das kann ja heiter werden, denke ich mir. Bei dieser Redegeschwindigkeit habe ich Schwierigkeiten, auch nur jedes dritte Wort zu verstehen, und nebenbei muss ich auch noch mit Alice und ihrer Puppe spielen. Und ich dachte immer, meine Englischkenntnisse seien gut.
Mit dem Auto fahren wir Richtung Keller. Mein erster Eindruck ist: RIESIG. In Texas scheint alles nicht nur doppelt, sondern um drei Nummern größer zu sein als anderswo. Die grauen Autobahnen, highways