Lust auf mehr?
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Bevor die richtige Weihnachtszeit kommt, ist immer erst Totensonntag, und das ist ziemlich dumm. »Wollen wir nicht einfach mal ein paar Weihnachtskekse backen, Mama?«, fragt Jesper. Es hat schon den ganzen Nachmittag geregnet, und Jesper fällt wirklich überhaupt nichts mehr zum Spielen ein.
»Bloß ein ganz paar?«
Mama schüttelt den Kopf. Sie hat sich das Bügelbrett in die Küche gestellt und hört Radio. »Erst wenn Totensonntag vorbei ist, mein Schatz«, sagt sie und bügelt Jannas Rosenkleid für das Weihnachtsmärchen.
»Das weißt du doch. Erst kommt Totensonntag, dann kommt der erste Advent …«
»Nur ein ganz paar?«, fragt Jesper vorsichtig noch einmal. Aber Mama schüttelt nur wieder den Kopf und dreht das Radio leiser.
»Aber die Fensterbilder können wir vielleicht schon mal hochholen? Oder die Kerzenkerle?«, sagt Jesper.
Die Kerzenkerle sind zwei große Männer aus Holz, die haben komische rote Hosen an und schwarze Jacken, und in jeder Hand tragen sie eine Kerze. Das macht zusammen vier, für jeden Advent eine.
»Auch nicht die Kerzenkerle«, sagt Mama. »Und nicht den Adventskranz und auch keine Weihnachtsmusik. Die paar Tage bis nach Totensonntag wirst du doch wohl warten können!« Und jetzt bügelt sie Jespers feierliches weißes Hemd, zu dem er sich immer eine Fliege umbindet und aus dem der kleine Kirschsaftfleck unter dem Kragen bei dieser Wäsche wieder nicht rausgegangen ist. Da stecken sie dann immer ein Taschentuch in die Brusttasche, dass man ihn nicht so doll sieht.
»Na gut, na gut, na gut!«, sagt Jesper und verschwindet auf dem Flur. »Dann eben nicht!«
Im Kinderzimmer liegt Janna auf dem Fußboden und malt ein Weihnachtsbild. Janna kann viel bessere Bilder malen als Jesper, und dabei ist sie fast zwei Jahre jünger. Aber Jesper kennt sich dafür mit Dinosauriern aus, und außerdem kann er »Fu ruft Ufu« schreiben.
»Das darfst du nicht malen!«, schreit Jesper und kommt mit dem Fuß ein kleines bisschen auf die Ecke von Jannas Bild. »Erst wenn Totensonntag war!«
»Darf ich wohl!«, brüllt Janna und reißt ihm das Bild unter dem Fuß weg. Jetzt ist die Ecke ab. »Im Kindergarten dürfen wir das auch!«
»Im Kindergarten, ja im Kindergarten!«, sagt Jesper und guckt, ob er in dem Rummelhaufen auf dem Fußboden irgendwo sein Dinosaurier-Klebebilder-Album finden kann. »Das ist ja auch für Babys! Da wissen sie wohl nicht, was sich gehört! In der Schule dürfen wir das nicht, niemals vor Totensonntag!« Dann schreit er auf. In ihrem Gitterbett sitzt Jule und blättert in seinem Dinosaurier-Album.
»Gib das sofort her!«, schreit Jesper. »Du sollst nicht an meine Sachen gehen, hab ich gesagt!«
»Und Weihnachtslieder singen wir da auch, jawohl!«, sagt Janna. Mit dem Filzstift malt sie dem Weihnachtsmann eine spitze rote Mütze. »›Ihr Kinderlein, kommet‹ und ›Stihille Nacht‹ …«
Da kommt Mama ins Kinderzimmer gestürmt. »Ihr Lieben!«, ruft sie. »Wir haben ja Oma Amerika vergessen! Wie gut, dass Jesper eben so gedrängelt hat, da ist es mir wieder eingefallen«, und sie will ihn schnell ein bisschen drücken. Aber Jesper muss erst mal nachgucken, ob Jule auch keine Bilder aus seinem Album gerissen hat.
»Wollen wir was basteln?«, fragt Janna und hört auf zu malen. »Für Oma Amerika?«
Mama nickt. »Unbedingt, und zwar sofort«, sagt sie. »Sonst kommt es nicht mehr rechtzeitig an. Vielleicht mit Bügelperlen?«
Oma Amerika ist eigentlich gar keine richtige Oma. Sie ist die Schwester von Papas Oma, und als junge Frau ist sie nach Amerika ausgewandert, vor hundert Jahren ungefähr. Amerika ist furchtbar weit weg, das weiß Jesper schon lange. Irgendwo hinter dem Atlantischen Ozean, auf dem bei seinem Wasserball-Globus ein Flicken klebt, weil Jule ihn im letzten Sommer mit einer Stecknadel angepikst hat. Genau zwischen England und Amerika.
Und weil es so weit weg ist und weil Oma Amerika schon so alt ist, kriegt sie zu Weihnachten immer schreckliches Heimweh. Darum muss man ihr Pakete schicken mit selbst gebastelten Sachen und Weihnachtskarten mit Rehen und Schneebergen drauf. Und selbst gebackene Kekse tun sie auch immer dazu. »Keinen Fall!«, sagt Jesper böse. »Keinen Fall bastel ich Oma Amerika was Weihnachtliches! Nicht vor Totensonntag.« Und er legt die Arme vor der Brust über Kreuz, damit Mama auch weiß, es ist ihm ernst damit.
Sowieso bastelt Jesper nicht so gerne. Beim Ausschneiden muss man immer aufpassen, dass man auf der Linie bleibt, und wenn man mal kurz danebenschneidet, ist gleich alles kaputt. Da baut Jesper lieber mit Legos.
»Es heißt ›auf keinen Fall‹«, sagt Mama. »Und du weißt genau, bei den Geschenken für Oma Amerika können wir uns nicht daran halten. Die müssen wir vor Totensonntag basteln, weil das Paket sonst den weiten Weg nach Amerika nicht mehr bis Weihnachten schafft. Nun komm schon, Jesper, sei nett. Du weißt doch, wie Oma Amerika sich immer freut.«
»Kommt nicht infrage, keinen Fall! «, sagt Jesper, und jetzt dreht er Mama auch noch den Rücken zu. Wenn sie noch lange weiterredet, wird er bestimmt ganz fürchterlich wütend. Er merkt jetzt schon, wie es in seinen Beinen kribbelt. Das ist ja wieder mal typisch ungerecht! Wenn Jesper die Kerzenkerle aufstellen möchte oder nur ein ganz paar klitzekleine Weihnachtskekse backen, geht das nicht wegen Totensonntag. Aber wenn Mama plötzlich will, dass man für Oma Amerika bastelt, ist auf einmal alles erlaubt.
»Kannst du ja selber machen!«, sagt Jesper böse. »Pöööh, ich bastel das nicht!«
Aber Janna ist schon aufgestanden. »Oh ja, Bügelperlen, Mama!«, sagt sie und schmeißt ihren Stift auf den Boden. »Da mach ich ein Herz und einen Stern und so ein Viereck. Das kann Oma Amerika sich dann in ihren Tannenbaum hängen, nicht, Mama? Alles rosa! Haben wir noch Rosa?«
»Müssen wir mal gucken«, sagt Mama und verschwindet mit Janna in Richtung Küche. »Sonst nimmst du eben andere Farben.«
Jesper setzt sich im Kinderzimmer auf den Boden. Sie hat sich nicht mal geärgert, denkt er düster. Mama hat sich nicht mal geärgert, dass ich ihr nichts basteln will aus ihren blöden Bügelperlen.
»Hopsen!«, schreit Jule und hüpft in ihrem Gitterbett auf und ab. Jule ist natürlich noch zu klein zum Basteln. Von Jule schicken sie Oma Amerika immer nur ein Foto und einen Gruß. »Hopsen, Jule!«
»Komm, Jule, ich les dir was vor«, sagt Jesper. Neben seinem umgekippten Ranzen liegt die Fibel auf dem Boden. »Komm, dann darfst du zuhören.«
Jesper schlägt die Seite auf, die er schon kann, und Jule kommt mit Anna-Pouchette auf dem Arm und hockt sich neben ihn.
»Pass auf!«, sagt Jesper und zeigt mit dem Finger immer auf die Wörter. Sie sind richtig schön groß. Wie Bilder. »Pass auf, Jule, jetzt les ich dir das. ›Fu ruft Ufu.‹ Siehst du das da? ›Fu ruft Ufu.‹ Kann ich schon lesen.«
»Ufu, ja!«, ruft Jule und haut Pouchette mit dem Kopf auf die Fibel. »Ufu, Pouchette!«
Aber auf die Fibel darf man ruhig hauen, da ist Jesper nicht gleich wütend wie bei seinem Dinosaurier-Album. Die Fibel ist längst nicht so wertvoll.
»Ja, Ufu, genau«, sagt Jesper und schiebt Pouchettes Kopf zur Seite. In der Küche hört er Mama und Janna lachen. »Das kannst du jetzt auch schon lesen, Julemaus.«
»Ufu, ja!«, schreit Jule wichtig und verschwindet mit Pouchette wieder in ihrem Gitterbett. »Hopsen, Jule!«
Jesper seufzt. »Das muss aber noch besser werden, Jule!«, sagt er mit vernünftiger Stimme. »Mit deiner Konzentration. Dass du länger zuhören kannst. Und stillsitzen. Das muss aber noch besser werden, unbedingt!« Und er hebt seinen Zeigefinger in die Luft, wie seine Lehrerin das auch immer macht.
Aus der Küche kommen jetzt Geräusche, die klingen wie Weihnachtslieder, aber das kann ja wohl nicht sein. Dass Mama einfach doch eine Weihnachtskassette eingelegt hat, vor Totensonntag, das kann ja wohl nicht sein.
Da steckt Janna den Kopf durch die Kinderzimmertür. »Komm in die Küche, Jule!«, sagt sie. »In diesem Jahr darfst du auch schon was basteln für Oma Amerika!«
Jule klettert aus ihrem Gitterbett und schmeißt Pouchette auf den Boden. »Ja!«, schreit Jule. »Jule auch Omarika!« Dann verschwindet sie mit Janna in der Küche.
Im Kinderzimmer ist Jesper jetzt ganz allein. Mich hat sie gar nicht gefragt, denkt er böse. Mich hätte sie ja auch mal fragen können, ob ich jetzt nicht vielleicht doch was für Oma Amerika basteln will. Was ganz Kleines vielleicht. Vielleicht hätte ich Ja gesagt. Aber wenn sie nicht fragt, ist Janna eben selber schuld.
Aus der Küche kommt wieder die Musik, und jetzt hört Jesper ganz genau, dass es Weihnachtslieder sind. Das ist ja wieder mal typisch ungerecht, denkt er böse. Wenn ich Mama frage, sagt sie, keine Weihnachtsmusik, aber jetzt, wo sie für Oma Amerika basteln …
Und dann hört er ein Geräusch, das ist noch viel, viel gemeiner als die Weihnachtslieder. Mamas Küchenmaschine! In der Küche hat Mama ihre Küchenmaschine angeschaltet, und das kann doch wohl nur eins bedeuten. Das kann doch wohl nur bedeuten, dass sie da jetzt Weihnachtskekse backen. In der Küche hören sie Weihnachtsmusik und backen Weihnachtskekse, und im Kinderzimmer sitzt Jesper ganz allein fast im Dunkeln und hat gar nichts. Aber so ist es ja immer. Ganz typisch ungerecht. Wenn Jesper jetzt nicht aufpasst, muss er vielleicht auch noch weinen.
Da geht plötzlich die Kinderzimmertür auf. »Na, Jesper?«, sagt Mama. »Möchtest du jetzt vielleicht nicht doch in die Küche kommen …«
»Pöööh!«, schreit Jesper und will ganz fest auf den Boden hauen. »Pöööh, will ich – will ich vielleicht doch«, sagt er und guckt Mama vorsichtig an. Aber Mama macht ein ganz normales Gesicht.
»Will ich vielleicht doch«, sagt Jesper und steht schnell auf. »Ich könnte dir vielleicht bei den Keksen helfen, Mama. Ausstechen. Ich könnte ja vielleicht Weihnachtskekse für Oma Amerika ausstechen, und Janna bastelt mit Bügelperlen.«