Martin Rupps

Helmut Schmidt

Ein Jahrhundertleben

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Impressum

Titel der Originalausgabe: Helmut Schmidt

Ein Jahrhundertleben

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008, 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlagkonzeption und -gestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © dpa/picture alliance

Foto des Autors: © Felicitas von Lutzau

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80387-1

ISBN (Buch): 978-3-451-06682-5

Für J. Röhm
in Dankbarkeit

Inhalt

Aussöhnung nach 36 Jahren

Ein wechselvolles Leben

Persönliche Bilder vom Kanzler Helmut Schmidt

Ein ernster, pflichtbewusster Mann

Durch harte Arbeit zu etwas kommen

»Politik ist nichts für euch«

Der verheimlichte jüdische Großvater

Im Krieg »irgendwie Glück gehabt«

Gewissheit im Glauben

Gelernter Sozialdemokrat

Der kommende Mann

Drei Politikfelder zur Auswahl

In einer Lebenskrise

Vier Hausapotheker

Anleihen bei einem römischen Kaiser

Schmidts kategorischer Imperativ

»Im Dienen verzehre ich mich«

Pragmatismus in sittlicher Absicht

Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik

Plädoyer für schrittweise Veränderungen

»Ich finde Koalitionen etwas Mieses«

Tugendlehre für Politiker

Konzentration auf das Machbare

Kargheit nach dem Überfluss

Nüchternheit total

Die SPD und Helmut Schmidt – eine erbitterte Freundschaft

Andere Schwerpunkte als Brandt

Die Handschrift eines Kanzlers

Gesellschaft im Wandel

Wozu die Kirche berufen ist und wozu nicht

Jedermann sei untertan der Obrigkeit

Wie viel Orientierung braucht das Volk?

Geistige Führung durch persönliches Beispiel

Grenzerfahrungen

Eingeständnis eines Irrtums

Vom Kanzler gewarnt, aber nicht gerettet: Hanns Martin Schleyer

Die Einsamkeit des Entscheiders

Klein, aber oho!

Attacke aus Israel

Ende oder Wende!

Ein »Technokrat« auf dem Kanzlerstuhl?

Neue soziale Bewegungen

»Eindimensional, naiv, gefährlich«

Zankapfel NATO-Doppelbeschluss

Phalanx gegen eine Kanzlerinitiative

Ohne Gleichgewicht gibt es keinen Frieden

Politik machen im Geist der Bergpredigt?

Angst als Vorstellung, Angst als Erfahrung

Feldherr ohne Truppen

Die SPD rückt von ihrem Kanzler ab

Schmidt zwischen Leben und Tod

In der Weltpolitik zu Hause

Der Bundeskanzlerpräsident

Helmut Schmidt und die Menschen

Späte Genugtuung

Sinkende Qualität der Politiker

Annäherung an Brandt und Kohl

Plädoyer für eine öffentliche Moral – in Deutschland und in der Welt

Wieder ein sozialdemokratischer Kanzler

Der letzte Raucher

Ein Lotse für die Berliner Republik

Was bleibt?

Ein Wort des Dankes

Zum Weiterlesen: Bücher und DVDs von und über Helmut Schmidt – Eine Auswahl –

Personenverzeichnis

»Dahinter steht eine lebenslange gewaltige Arbeit mit sich selbst, ein Ringen mit den Konflikten des Menschen in seiner Zeit, eine Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Verstand und Gefühl, Leidenschaft und Disziplin, Idee und kritischer Rationalität, Interesse und Moral, Gesinnung und Verantwortung, dem großen Wurf und dem kleinen Schritt.«

Aus der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 70. Geburtstag von Helmut Schmidt am 22. Dezember 1988 in Bonn

»In der SPD ist es wie früher: Am Ende hat Helmut Schmidt immer recht.«

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel am 28. September 2012 bei der Pressekonferenz anlässlich der Berufung von Peer Steinbrück zum SPD-Kanzlerkandidaten in Berlin

»Das Rauchen ist ein harmloses Laster.«

Helmut Schmidt im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo, ZEIT-Magazin Nr. 52/2012

Aussöhnung nach 36 Jahren

Stuttgart, 26. April 2013. Dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt wird der Hanns Martin Schleyer-Preis des Jahres 2012 verliehen. Der Preis trägt den Namen des im Herbst 1977 von Terroristen der Roten Armee Fraktion entführten und später ermordeten Präsidenten der Arbeitgeberverbände und würdigt Menschen wegen ihrer »Verdienste um die Festigung und Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens«. Hanns Martin Schleyer-Preise werden von der Hanns Martin Schleyer-Stiftung seit 1985 alle zwei Jahre verliehen. Frühere Preisträger aus der Politik waren Karl Carstens, Klaus von Dohnanyi und Helmut Kohl.

Dieses Mal ausgerechnet Helmut Schmidt – jener Politiker, in dessen persönlicher Entscheidung und Verantwortung das Handeln der Bundesregierung im Fall Schleyer und in dessen Händen damit vermeintlich das Schicksal des Mannes lag. Schleyer selbst drängte in bewegenden Videobotschaften immer wieder auf eine Entscheidung, wirkte mit jeder neuen Entführungswoche verzweifelter. Doch der Kanzler hatte sich und das politische Bonn auf eine Verzögerungstaktik eingeschworen. Die Politik musste Zeit gewinnen, damit die größte Fahndungsaktion in der deutschen Nachkriegsgeschichte Erfolg haben könnte.

Helmut Schmidt war in jenem »Deutschen Herbst«, als der diese Zeit in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen wird, Bundeskanzler und Vorsitzender der politischen Krisenstäbe. Als er die Nachricht von Schleyers Entführung erhält, weiß er rasch, dass er die Forderungen der Entführer nicht erfüllen, dass er hart bleiben wird – für dieses Mal hart bleiben wird. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte er, krank und geschwächt von 40 Grad Fieber, der Freilassung von Terroristen zugestimmt, im Austausch gegen den entführten CDU-Politiker Peter Lorenz. Die freigepressten Terroristen hatten nachweislich wieder Straftaten begangen. Noch einmal würde, so war sich Helmut Schmidt seit dem Fall Lorenz sicher, eine von ihm geführte Bundesregierung nicht mehr in die Knie gehen. »Das hat man euch natürlich nicht erzählen wollen«, so Helmut Schmidt über die Kommunikationsstrategie gegenüber der Familie in einem Gespräch mit Hanns-Eberhard Schleyer, das im Juli 2013 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erscheint.

»Der Staat muss darauf mit aller Härte antworten«, sagt Helmut Schmidt schon vier Stunden nach den Morden an Schleyers Begleitern und der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten in einer Fernsehansprache. Schmidts Ausdruck ist dabei tief ernst und entschlossen. Die meisten Deutschen finden diesen Ausdruck angemessen. Auf wenige wirkt er hartherzig, ja kalt. Bei seiner Haltung wird Helmut Schmidt bleiben.

Die Familie von Hanns Martin Schleyer, seine Ehefrau Waltrude und die vier Söhne Hanns-Eberhard (33), Arnd (28), Dirk (25) und Jörg (23) führen einen verzweifelten, einsamen Kampf. Zu ihrem Sprecher wird Hanns-Eberhard, Jurist, noch jung im Beruf, ein persönlich beherrschter, besonnener Mann. Mit Hilfe der BILD-Zeitung bringt die Familie ihre Forderung an die Öffentlichkeit, die Bundesregierung möge alles tun, um das Leben des Vaters zu retten. Hanns-Eberhard Schleyer verhandelt direkt mit den Entführern. »Wir töten Ihren Vater!«, sagen sie zu ihm am Telefon. Zweimal versucht er Geld zu übergeben, was von der Bundesregierung jeweils durchkreuzt wird. Helmut Schmidt schickt Justizminister Hans-Jochen Vogel zu Waltrude Schleyer, um ihr namens der Bundesregierung die Botschaft zu bringen: Der Staat darf nicht nachgeben. (Was so viel heißt wie: Der Staat wird nicht nachgeben.) Und Vogel, der in diesen Tagen zum Glauben zurückfindet, ergänzt ganz persönlich: Bitten Sie Gott um Hilfe. Doch die Familie will sich nicht allein auf Gott verlassen und ruft das Bundesverfassungsgericht an, vergeblich. Das Gericht stellt der Bundesregierung die Entscheidung im Fall Schleyer anheim.

Es werden qualvolle Wochen für Hanns Martin Schleyer und seine Familie, auch bedrückende für die deutsche Öffentlichkeit, die am Schicksal dieses Mannes ohnmächtig Anteil nimmt. Als palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine »Landshut«, die überwiegend deutsche Urlauber von Palma de Mallorca nach Frankfurt fliegen soll, in ihre Gewalt bringen, um die Forderung der Schleyer-Entführer zu unterstützen, schöpft die Familie wieder Hoffnung, weil sie nicht glaubt, dass die Bundesregierung das Leben von Passagieren und Besatzung aufs Spiel setzen wird. Hanns-Eberhard Schleyer hofft auf einen Trick der Bundesregierung, mit dem alle Ziele – die Befreiung seines Vaters und der »Landshut«-Geiseln, die Wahrung der inneren Sicherheit – erreicht würden: Die Terroristen kommen zum Schein frei; nachdem auch alle Geiseln frei sind, werden die Terroristen wieder verhaftet. Aber diese Handlungsvariante bleibt im Bonner Krisenstab ein Gedankenspiel, sie wird nie zur ernsthaft erwogenen Option. Offenbar überwiegt die Sorge, dass eine solch komplexe, riskante Aktion scheitern könnte.

Als sich die »Landshut« in der Gewalt der Entführer befindet, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Eine über 100 Stunden dauernde Odyssee endet am Horn von Afrika, in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Schmidt sieht sich vor die Wahl gestellt, die Menschen in der Maschine oder Hanns Martin Schleyer zu retten. »Von dem Augenblick an, als das Flugzeug entführt worden war, waren die 87 Personen an Bord wichtiger als die eine Person«, wird Helmut Schmidt im Juli 2013 sagen. Er entscheidet, die »Landshut« von einer deutschen Spezialeinheit stürmen zu lassen. Die Geiseln, mit Ausnahme des Piloten Jürgen Schumann, der von den Terroristen bereits auf dem Flughafen von Aden erschossen worden war, kommen mit allenfalls leichten Verletzungen frei. Welch ein Wunder! Zugleich ist es das wahrscheinliche Todesurteil für Hanns Martin Schleyer. Darüber macht sich auch die Familie keine Illusionen. Sie muss glauben, dass die Bundesregierung den Ehemann und Vater aufgegeben hat. Am nächsten Tag wird die Leiche des Arbeitgeberpräsidenten gefunden. Die Familie, besonders Waltrude Schleyer, macht Helmut Schmidt persönlich für den Tod des Ehemanns und Vaters verantwortlich. Hätte er einen Austausch gegen die inhaftierten Terroristen angeordnet, wäre Hanns Martin Schleyer freigekommen. Waltrude Schleyer verhindert, dass der Bundeskanzler bei der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer spricht. »Wir wissen, wir sind in Hanns Martin Schleyers Schuld«, sagt stattdessen Bundespräsident Walter Scheel. Helmut Schmidt sitzt tief gebeugt neben Schleyers Witwe. Zuvor hatte er ihr kondoliert, aber dabei nicht in ihre Augen, sondern zu Boden geblickt.

Auch Helmut Schmidt wird in Reden immer wieder bekennen, am Tod von Hanns Martin Schleyer eine Mitschuld empfunden zu haben. Das nötigt der Familie Respekt ab, »ein Trost war es nicht«, so Hanns-Eberhard Schleyer im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom Juli 2013.

Ein Jahr später sehen sich Hanns-Eberhard Schleyer und Helmut Schmidt wieder. Als Helmut Schmidt erfährt, dass Hanns-Eberhard Schleyer zur selben Veranstaltung kommt, bittet er ihn, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Doch zwischen den beiden Männern kommt so recht kein Gespräch in Gang. »Helmut Schmidt hat sehr wenig gesagt. Er war gehemmt. Vielleicht gab es damals einfach noch nichts zu sagen«, so Hanns-Eberhard Schleyer über diese Begegnung. Weitere Begegnungen folgen, aber eine Annäherung in der Sache bleibt offenbar aus. Er habe Helmut Schmidt deutlich gemacht, »dass es eine Position der Familie gibt«, sagt Hanns-Eberhard Schleyer in einem Fernsehgespräch mit Peter Voß im Oktober 2012.

Waltrude Schleyer und die vier Kinder müssen mit dem Trauma leben lernen. Die Ereignisse der Herbsttage 1977 werden auch die politischen Entscheider weiter verfolgen. Sie lässt die Frage, ob sie richtig entschieden und gehandelt haben, nicht mehr los. Helmut Schmidt rechtfertigt sich immer wieder (er würde das Wort »rechtfertigen« zurückweisen mit dem Hinweis, er sei ja nicht angeklagt; er würde von einer Erläuterung sprechen), er rechtfertigt sich noch in dem späten Buch »Außer Dienst«, das er 2008 als fast 90-Jähriger veröffentlicht.

Waltrude Schleyer wird zur prominentesten Vertreterin der immer wieder geäußerten These, Hanns Martin Schleyer sei für die Staatsräson geopfert worden, sozusagen ein Menschenopfer für die Demonstration eines starken Staates. »Ich muss das zwar akzeptieren«, sagt Waltrude Schleyer im Jahr 1978, »aber verstehen kann ich es nicht. Wie kann man nur einen unschuldigen Menschen opfern, um stark sein zu wollen?« Es dauert zehn Jahre, bis Waltrude Schleyer erstmals Worte des Verständnisses für Helmut Schmidt findet: Sie habe seinerzeit bei ihm eine »furchtbare Last der Verantwortung« und »echte Trauer gespürt«. »Die Terroristen haben damals gemerkt, dass der Staat nicht erpressbar ist. Das würde vielleicht als einziger Sinn ein solches Opfer rechtfertigen.« Waltrude Schleyer sagt: vielleicht. Gegen Ende ihres Lebens, die Ermordung ihres Mannes jährt sich zum 30. Mal, verhärtet sich ihre Position wieder. Mit der Überzeugung, dass der Staat seinerzeit versagt habe, stirbt Waltrude Schleyer im März 2008 92-jährig in Stuttgart. Im selben Jahr sagt auch Hanns-Eberhard Schleyer noch: »Man hat uns im Grunde genommen hängen und in Ungewissheit bangen und hoffen lassen. Letzteres ist vielleicht das Schlimmste gewesen.«

Erst nach dem Tod der Mutter ist der Weg frei, dass die Familie in neuer, versöhnlicher, weil verzeihender Weise dem Entscheider von damals begegnet. Hanns-Eberhard Schleyer, der für die Familie schon 1977 die Zügel in die Hand nahm, ergreift die Initiative. Eine Rolle mag spielen, dass Helmut Schmidt sehr alt geworden ist und eine Aussöhnung noch persönlich erleben kann. Hinzukommen mag, dass Hanns-Eberhard Schleyer Schmidts unvermindertes Ringen mit diesem Thema anerkennt. »Ich sah damals, wie er mit sich gerungen hat. Es hat ihn ja noch Jahrzehnte gequält«, sagt Hanns-Eberhard Schleyer. Der Entscheider von einst begründet seine damalige Kraft, dem moralischen Druck standzuhalten, mit dem eigenen Kriegserlebnis und dem seiner Mit-Entscheider im politischen Bonn: »Der Krieg war eine große Scheiße, aber in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren, das hat man damals gelernt.« Doch die Entscheidungssituation von einst – zwangsläufig in Schuld verstrickt zu sein, wie immer die Entscheidung ausfällt – lässt auch den über 90-Jährigen nicht los. Noch in seinem Buch »Ein letzter Besuch« (2013) bezeichnet er die Ermordung Schleyers als »meine größte Niederlage«.

Hanns-Eberhard Schleyer fährt im Herbst 2012 zum Altbundeskanzler nach Hamburg, um ihm den nach seinem Vater benannten Preis anzutragen. Es handelt sich um nichts weniger als die Absolution der Familie. Anders als bei der Begegnung von 1978 haben sich die beiden Männer etwas zu sagen. »Dieses Treffen nun war sehr bewegend«, so Hanns-Eberhard Schleyer in der Süddeutschen Zeitung. »Wir haben miteinander gesprochen – wirklich gesprochen.« Helmut Schmidt wird in seinen Dankensworten am Tag der Verleihung sagen: Hanns-Eberhard Schleyers Besuch habe ihn »tief berührt«. Er nimmt in diesem Gespräch den Preis an.

Am 26. April 2013 kommt es im Neuen Schloss in Stuttgart zur Preisverleihung – in jener Stadt, wo die Familie Schleyer lebte und Hanns Martin Schleyer beerdigt ist. Unter den Gästen sind Protagonisten der Zeit, die nun noch einmal in Erinnerung gerufen wird: Helmut Schmidts Regierungssprecher Klaus Bölling und der damalige Kommandeur der Grenzschutzgruppe 9, Ulrich Wegener – er befehligte die Truppe, der die Geiseln in der entführten Lufthansa-Maschine »Landshut« ihre Rettung verdanken. Es sind auch Opfer des deutschen Terrorismus im Saal, Corinna Ponto, Tochter des ebenfalls 1977 von RAF-Mitgliedern ermordeten Dresdner-Bank-Chefs Jürgen Ponto. Gabriele von Lutzau ist hier, Stewardess in der entführten Maschine, tapfere Vermittlerin zwischen Entführern und Passagieren, später von der Presse zum »Engel von Mogadischu« ernannt. Und Jürgen Vietor ist da, der Copilot der entführten Maschine, der das Flugzeug während der gesamten Entführung geflogen hat, nach der Ermordung von Kapitän Jürgen Schumann sogar allein.

Dass es an diesem Freitag um eine Aussöhnung geht, um das Heilen einer offengebliebenen Wunde, wird von den Akteuren eher verklausuliert ausgedrückt. »Es schließt sich ein Kreis«, hatte Hanns-Eberhard Schleyer zuvor gesagt. Die Preisverleihung an Helmut Schmidt sei »auch ein Zeichen der Aufarbeitung des Terrors der sogenannten Rote Armee Fraktion«, erläutert Wilfried Porth, Vorsitzender der Jury, die über die Träger des Hanns Martin Schleyer-Preises entscheidet, gegenüber den »Stuttgarter Nachrichten«. Es bleibe »eine wesentliche Aufgabe unserer Gesellschaft, sich immer wieder neu mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen«.

Der frühere Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing hält die Laudatio auf Helmut Schmidt. Mit keinem Staatsmann war Schmidt während seiner Kanzlerschaft persönlich enger verbunden. Die Freundschaft wird über die politisch aktive Zeit hinaus Bestand haben. Giscard nennt Hanns Martin Schleyer und seine bei der Entführungsaktion erschossenen Begleiter »heldenhafte Menschen«. Allen hier im Saal sei bewusst, »Zeugen eines bedeutenden Versöhnungsakts zu sein«. Auch bei dieser Gelegenheit – oder gerade bei dieser Gelegenheit? – sagt er an Helmut Schmidt gerichtet einen Satz, den er in Abwandlungen oft äußert: »Sie waren ein großer Kanzler.«

Schließlich ergreift der mit dem Preis Geehrte selbst das Wort. Er spricht leise, aber deutlich. Es ist mucksmäuschenstill im Saal. Ihm sei »sehr klar bewusst«, sagt Helmut Schmidt, »dass ich – trotz aller redlichen Bemühungen – am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig bin. Denn theoretisch hätten wir auf das Austauschangebot der RAF eingehen können.« Er habe die Klage durch Frau Waltrude Schleyer und ihre Kinder vor dem Verfassungsgericht sehr gut verstehen können. Allerdings hätten die Verantwortlichen in Bonn »nicht abermals zulassen können, dass freigepresste Verbrecher ihre mörderische Tätigkeit fortsetzen würden«. Helmut Schmidt beklagt, dass »immer noch und immer wieder die terroristischen Mörder im Vordergrund des öffentlichen Interesses stehen« und nennt es »unsere gemeinsame Verantwortung, dass die Opfer mit ihren Anverwandten unsere Sympathie, unser Mitgefühl und unsere Fürsorge erhalten«.

Nach der Veranstaltung zeigt sich der 94-Jährige »so gelöst wie schon lange nicht mehr« – so jedenfalls empfindet es jemand, der den Altkanzler sehr gut kennt.

Ein wechselvolles Leben

Von den drei »großen« Sozialdemokraten dieser Republik – Herbert Wehner, Willy Brandt, Helmut Schmidt – hat der letzte ein scheinbar unspektakuläres Leben geführt. Keine Brüche durch Krieg und Exil, keine persönlichen Verfemungen, kein politischer Sturz über Nacht. Um die Person Herbert Wehner wird möglicherweise Mysteriöses, nie Aufzuklärendes bleiben – ist er wirklich vom Kommunisten zum überzeugten Demokraten geworden? Welche Nähe hat er auch noch als Demokrat zu Kommunisten gepflegt? Willy Brandt ging mit seiner Ostpolitik in die Geschichte ein, dem Friedensschluss mit den Gegnern des Zweiten Weltkrieges und einer Anerkennung der Grenzen, die dieser Krieg geschaffen hat. In Erinnerung bleiben zugleich die Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume und der Rücktritt so kurz nach einem triumphalen Wahlsieg.

Lässt man die »Stationen« von Helmut Schmidts Leben im Zeitraffer ablaufen, dann ist es ihm scheinbar besser ergangen: Er ist zu jung, um sich für oder gegen das Nazi-Regime aussprechen zu können; er übersteht den Krieg überwiegend hinter der Front, von gefährlichen Monaten im Osten abgesehen. Er macht mit wenigen Umwegen und Verzögerungen Karriere, wird vier Jahre nach seinem Studium Bundestagsabgeordneter der SPD, später Senator in Hamburg, dann Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Minister, »Superminister«, schließlich Bundeskanzler. Von Mitte der sechziger Jahre an ist er der kommende Mann der SPD, nach der Wahl 1972 endgültig Willy Brandts Kronprinz. Schmidt regiert achteinhalb Jahre, deutlich länger als Brandt.

Die parlamentarische Abwahl schmälert keinesfalls sein persönliches Ansehen. Er ist und bleibt der Krisenmanager, dessen beherztes Handeln bei der Hamburger Flut von 1962 Tausenden von Menschen das Leben rettete, und der mit seiner harten Haltung im Deutschen Herbst 1977 zwar nicht Hanns Martin Schleyer retten, aber einen entscheidenden Schlag gegen den RAF-Terrorismus führen konnte. Zu seiner Domäne wird die Weltpolitik. Als die deutsche Wiedervereinigung kommt, wollen ihn viele Deutsche als Regierungschef zurückhaben. Wäre er gesundheitlich dazu in der Lage, würde er es sich vielleicht überlegen. Er bleibt aber Zeitungsherausgeber und Publizist und erzielt mit seinen Büchern höhere Auflagenzahlen als jeder andere schreibende deutsche Politiker der Nachkriegszeit.

Als am 11. September 2001 islamische Terroristen Flugzeuge in das New Yorker World Trade Center und das Gebäude des amerikanischen Verteidigungsministeriums lenken, bittet die Journalistin Sandra Maischberger kurzfristig Helmut Schmidt zum Gespräch. Er ordnet das Ereignis vor tief verstörten Fernsehzuschauern in einen weltpolitischen Zusammenhang ein.

Im Frühjahr 2002 ergibt eine Meinungsumfrage, dass Helmut Schmidt als der »weiseste« deutsche Politiker gesehen wird (knapp vor dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker). 2008 stellt eine andere Umfrage fest, Helmut Schmidt sei der »coolste Kerl« Deutschlands, wobei er Prominente wie Til Schweiger und Jürgen Vogel auf die Plätze verweist. Zum Jahresende 2010 kürt die BILD-Zeitung die »100 schönsten Deutschen« – außer Mario Adorf, Manfred von Richthofen und Monsignore Georg Gänswein ist auch Helmut Schmidt dabei.

Es fällt auf, dass Helmut Schmidt längst als Person der Zeitgeschichte gilt, aber durch seine Bücher, seine Artikel in der ZEIT und seine Fernsehgespräche eine Stimme der Gegenwart bleibt. Wer heute fünfzig und älter ist, hat eine klare, meist von Respekt geprägte Vorstellung von Helmut Schmidt. Dabei war er lange genug Kanzler, um sich auch in das Bewusstsein von Jüngeren einprägen zu können.

Willy Brandt und Helmut Schmidt haben politisch ganze Generationen von Westdeutschen geprägt. Brandt öffnete die SPD für die Achtundsechziger-Bewegung und wurde auch vielen Angehörigen der »Generation Z«, das sind die »Zaungäste« der Achtundsechziger, zu einer Leitfigur. Unter Helmut Schmidts Kanzlerschaft wurden die deutschen »Babyboomer« groß, die geburtenstarken Jahrgänge 1959 bis 1964. Wer heute zwischen Ende Vierzig und Ende Fünfzig ist, erlebte die zweite Phase der sozialliberalen Koalition bewusst mit. Viele Babyboomer entwickelten ihr politisches Bewusstsein sogar in Abgrenzung zu dieser Koalition und ihrem Kanzler – sie nahmen an Demonstrationen gegen die sogenannte Nachrüstung von Mittelstreckenwaffen teil, etwa an den kilometerlangen »Menschenketten«.

Doch auch die Generationen »Golf« und folgende, die Helmut Schmidt nicht mehr als Kanzler erlebt haben, lesen seine Artikel und zeigen Interesse an seiner Person. Als sich Helmut Schmidt im Mai 2000 einem Interview über das Internet stellt – prominente und nichtprominente Bürger mailen ihm Fragen, die er spontan beantworten muss –, ist das Echo groß, sogar so groß, dass das Projekt eine Fortsetzung findet. Im Dezember 2001 kommt Sandra Maischberger mit einer Gruppe Jugendlicher in Schmidts Haus, um ihn vor laufender Kamera über Politisches und Unpolitisches zu fragen. Daraus entstehen eine Fernsehdokumentation und ein Buch.

Von Zeit zu Zeit besucht Helmut Schmidt die Gesprächssendungen von Sandra Maischberger, Günther Jauch und Reinhold Beckmann, um jeweils ein neues Buch vorzustellen. Hohe Einschaltquoten sind garantiert! Für die Reihe »Menschen bei Maischberger« ist es jeweils die Spitzenquote eines Jahres. Was Helmut Schmidt sagt und wie er es sagt, interessiert jüngere wie ältere Zuschauer – und wie viele Zigaretten er währenddessen raucht. Mit seinem provozierenden Auftreten steht er zwar für eine andere, vergangene Zeit, aber sein unabhängiges, manchmal schnoddrig vorgetragenes Urteil über tagespolitische Fragen hat Gewicht.

Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust hat einmal versucht, dieser Popularität auf die Spur zu kommen. Sinngemäß sagt er: Die Leute wissen, Helmut Schmidt ist ein besonderer Charakter, bestimmt kein einfacher Mensch. »Wir Deutsche sehen in ihm all das, was gut für uns ist.« Fleiß, Anstand, Ehrlichkeit, Fairness, aber auch eine typisch Hamburgerische Art des Charmes und des Humors. »Nicht immer unverletzend, aber klar und eindeutig.«

Die humorige Seite, auch der Humor über sich selbst, ist bei Helmut Schmidt nach seiner Kanzlerzeit stärker hervorgetreten, jedenfalls in dieser sympathischen Deutlichkeit. Das ist aber nicht zu verwechseln mit einer Milde im Urteil. In seinen Auffassungen, auch über politische Zeitgenossen, wurde Helmut Schmidt keinesfalls milder.

Dass Helmut Schmidt den Deutschen weiterhin viel bedeutet, hat nicht zuletzt mit der journalistischen Arbeit von Sandra Maischberger zu tun, die das Vertrauen von Loki und Helmut Schmidt gewinnt. Schon das Gesprächsbuch »Hand aufs Herz« gibt Privates preis – wie die Schmidts ihr Haus in Hamburg-Langenhorn eingerichtet haben, ob sie je Haustiere hatten oder wie es um die Kochkünste von Helmut Schmidt bestellt ist. Das Gespräch kommt auch auf Helmut Walter Schmidt, den gemeinsamen Sohn, der mit neun Monaten gestorben ist. Helmut Schmidt gibt erstmals seinem Schmerz darüber Ausdruck. Diese neue Offenheit – »mir lag am Herzen, persönliche Auskunft zu geben«, schreibt Schmidt im Vorwort – bringt diese Persönlichkeit näher, die sonst Distanz wahrt und von Anderen Distanz verlangt.

Von dieser Offenheit ist auch die Dokumentation »Helmut Schmidt außer Dienst« getragen, die Sandra Maischberger in den Jahren 2003 bis 2006 produziert, wobei ihr Mann Jan Kerhart die Kamera führt. Helmut Schmidt gibt wie immer politisch Auskunft, wird bei Vorträgen im Inund Ausland begleitet. Loki Schmidt spricht offen wie nie zuvor – etwa dass sie im Lauf ihres Lebens mehrere Fehlgeburten hatte, sprich der Wunsch nach einer großen Familie unerfüllt blieb. Besonders eindrucksvoll, ja anrührend, ist das Portrait darüber, wie Loki und Helmut Schmidt miteinander umgehen. Schmidts langjähriger Weggefährte bei der ZEIT, Theo Sommer, nennt die zwei in dem Film »Philemon und Baucis«, in der Bedeutung, wie Goethe das Namenspaar gebraucht hat: zwei Hochbetagte, die nicht nur bis zu ihrem Ende gemeinsam leben, sondern auch miteinander sterben wollen.

Die Anteilnahme ist groß, als Loki Schmidt am 21. Oktober 2010 stirbt. 68 Jahre lang waren Loki und Helmut Schmidt miteinander verheiratet. Besonders die Norddeutschen haben die typische Hanseatin Loki Schmidt geliebt, Sympathie und Zuneigung waren ihr gleichwohl aus allen Teilen des Landes sicher. Als Kanzlergattin trat sie nicht nur gewinnend und gewandt auf, sie war eine selbstbewusste, eigenständige Frau, die sich nicht über den Beruf und die Prominenz ihres Mannes definierte. Loki Schmidt war in Vielem den Frauen ihrer Zeit voraus. Das war einerseits ein Glück für die deutsche Politik, der sie eine fröhliche, weltoffene Note gab, andererseits ein Pech, denn in ihrem modernen Rollenverständnis als Frau und ihrem Engagement für den Naturschutz sah der damalige Bundeskanzler politische Forderungen nach Gleichberechtigung oder Umweltschutz gesellschaftlich bereits umgesetzt. Wer wollte, konnte diese Forderungen selbst verwirklichen, entsprechende soziale Bewegungen waren folglich nach Schmidts Überzeugung überflüssig. Entsprechend verständnislos begegnete Schmidt diesen Bewegungen in seinem politischen Handeln.

Der Europapolitiker und Freund von Helmut Schmidt, Jean-Claude Juncker, schrieb im Dezember 2010 im »Handelsblatt«, Helmut Schmidt habe ohne pathetisches Getöse immer erkennen lassen, dass er nicht nur aus sich selbst bestehe. »Seine in diesem Jahr verstorbene Frau gehörte cosubstanziell zu ihm.« Für die Zeit, als Helmut Schmidt in politischen Ämtern stand, galt dies noch nicht: Kanzler und Kanzlergattin traten mit jeweils eigenen Schwerpunkten unabhängig voneinander auf. Als Paar, das viele Termine gemeinsam wahrnimmt, gelangten Loki und Helmut Schmidt erst später in das Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Bleibt zu fragen, wie man sich das Familienleben der Schmidts mit Tochter Susanne, Jahrgang 1947, vorstellen kann. Loki und Helmut Schmidt haben dieses Thema bis auf wenige Andeutungen ausgespart, und auch Tochter Susanne spricht nicht darüber: Die wenigen Andeutungen legen nahe anzunehmen: Helmut Schmidt war ein typischer Vater seiner Generation, der hart arbeitete und sich kaum Zeit für die Familie nahm. Die Erziehung von Susanne überließ er seiner Frau. Helmut Schmidt war, um es auf den Punkt zu bringen, ein nicht anwesender Vater. Eines der wenigen Details, die Loki Schmidt aus dem Familienleben preisgab: Häufig, wenn der Vater wegen politischer Termine auswärts übernachtete, durfte Susanne bei der Mutter im Ehebett schlafen.

Helmut Schmidts Arbeitswut beeinträchtigt das Familienleben von Anfang an. In den sechziger Jahren nutzt Helmut Schmidt die Parlamentsferien für Reisen in osteuropäische Länder, nach Israel und in weitere Staaten der Welt, um politische Gespräche zu führen. Gattin Loki und Tochter begleiten ihn dorthin. Auf diese Weise wird Susanne um das Sandbuddeln mit den Eltern in Italien, um die normale Urlaubserfahrung eines Kindes mit seinen Eltern gebracht. Susanne ist schon von klein auf die Tochter eines vielbeschäftigten, prominenten Politikers. Dass sich gleichwohl ein herzliches, ja inniges Verhältnis zwischen Susanne und ihrem Vater entwickelt haben mag – eine solche Vorstellung fällt schwer.

In den Dokumentationen über den prominenten Politiker Helmut Schmidt kommt Susanne kaum vor. In Thilo Kochs TV-Portrait von 1976 sieht man Susanne und Helmut, wie sie einander im elterlichen Haus begrüßen, der Vater nimmt die Tochter nicht in Arm, legt nicht einmal die Hand um sie, sondern boxt mit ihr.

Seit Mitte der siebziger Jahre macht dem Familienleben der Schmidts ein weiterer Faktor zu schaffen, die strengen Sicherheitsvorkehrungen gegen terroristische Anschläge. Dabei entsteht offenbar ein Leidensdruck. Schon während ihrer Schulzeit geht Susanne Schmidt nach London, um sich freier bewegen zu können, und weil sie wohl ahnt, dass sie in Deutschland immer nur die Tochter von Helmut Schmidt bleiben wird. Sie hat den ökonomischen Sachverstand des Vaters geerbt, arbeitet bei einer Bank und als Wirtschaftsjournalistin. Sie macht sich im Fernsehen einen Namen und publiziert. Sie führt ein eigenständiges Leben, so wie sich schon ihre Mutter – freilich auf andere Weise – ihre Eigenständigkeit gegenüber Helmut Schmidt bewahrt hat.

Helmut Schmidt sagte einmal zu Giovanni di Lorenzo, es habe »eine schwierige Phase« zwischen seiner Tochter und ihm gegeben, sprich eine Entfremdung. Auch die Schmidts erlebten einen ganz privaten Generationenkonflikt, so wie die Brandts und viele andere Politikerfamilien dieser Zeit. Susanne Schmidt hat aber schon längst das getan, was auch die Deutschen außerhalb der Familie Schmidt getan haben: Sie nimmt Helmut Schmidt, wie er ist.

Knapp zwei Jahre nach Lokis Tod wird bekannt, dass es an Helmut Schmidts Seite eine neue Frau gibt, die langjährige Vertraute der Familie und frühere Mitarbeiterin Ruth Loah. Er ist 93, sie knapp 80. Die Deutschen nehmen diese Nachricht mit Freude und Erleichterung auf, hatten doch nicht wenige befürchtet, dass Helmut seiner Frau bald nachfolgen würde, wie bei Philemon und Baucis.

Im April 2013, als ihm der Hanns Martin Schleyer-Preis verliehen wird, bekennt Helmut Schmidt, im Laufe des Lebens hätten ihn drei Erlebnisse »bis in die Grundfesten meiner Existenz erschüttert«. Als erstes Ereignis nennt er den Tod seiner Frau (weiter seinen Besuch als Bundeskanzler in Auschwitz und das deutsche Terror-Jahr 1977). »Meine Frau wollte nach mehreren Operationen nicht mehr leben, und ich habe das verstanden.«

Gälte Helmut Schmidt als Politrentner, der nur über seine aktive politische Zeit zu urteilen wüsste und der die immer gleichen Anekdoten mit den Großen der Welt erzählen sollte – man würde ihm nicht auch heute noch fortwährend solche Foren der Meinungsäußerung bieten. Doch Helmut Schmidt ist ein Politiker aus der Vergangenheit in der Gegenwart. Er hat ein selten langes, reiches politisches Leben hinter sich. Ein Jahrhundertleben, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn des Wortes!

Aber sind – um zum Eingangsstatement zurückzukommen – sein Lebensweg, seine Politik und die Prinzipien, für die er steht, über seine politisch aktive Zeit hinaus von Bedeutung? Was daran ist zeitgebunden, und was von Helmut Schmidt wird über seine Lebenszeit hinaus wichtig bleiben?

Anders als bei der Biographie von Herbert Wehner oder Willy Brandt erschließt sich das Lesenswerte, Besondere, Faszinierende an Schmidts Leben erst auf den zweiten Blick. Helmut Schmidt ist wie kein anderer Bundeskanzler mit inneren und äußeren Herausforderungen an die westdeutsche Gesellschaft konfrontiert. Unentwegt hat er Krisensituationen zu bewältigen – sei es, dass Terroristen Staat und Gesellschaft in ihren Fundamenten erschüttern, sei es, dass der jahrzehntelange Konsens dieser Gesellschaft über sogenannte Lebensfragen, etwa die Wirtschafts-, Verteidigungsund Sicherheitspolitik, zu bröckeln beginnt. Die Terroranschläge 1977 werden zur härtesten Bewährungsprobe der deutschen Demokratie seit 1945. Doch in diese Jahre fällt auch eine Zeitenwende des Bewusstseins: Immer weniger Westdeutsche sind davon überzeugt, dass Wirtschaftswachstum, die Voraussetzung für Fortschritt und stetige Wohlstandsmehrung, der Garant für ein sinnerfülltes Dasein ist. Anfang der achtziger Jahre bringt die Debatte um den NATO-Doppelbeschluss Millionen Westdeutsche auf die Straße, so viele wie nie zuvor für ein politisches Thema. Plötzlich stehen jahrzehntelang gültige sicherheitspolitische Maximen, etwa das »Gleichgewicht des Schreckens«, in der Kritik. Umweltbewegung und neue Friedensbewegung fördern maßgeblich das Entstehen einer vierten Partei, der Grünen, die das Land friedlich umkrempelt.

Diese Ereignisse während Schmidts Kanzlerschaft verändern das Gesicht der Republik. Am Ende des von Terroranschlägen gekennzeichneten Jahres 1977 ist das Gefühl der Westdeutschen dahin, in Ruhe und Sicherheit zu leben. In dieser Zeit kommt das, was man heute die »alte« Bundesrepublik nennt, zur vollen Ausprägung, aber es gibt auch eine Zäsur. Die Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss ist der letzte große gesellschaftliche Konflikt, bei dem, wie Werner Weidenfeld einmal geschrieben hat, »die Parteien eine Art von geistiger Führung umsetzen konnten. Bei späteren historischen Ereignissen wurde einfach machtpolitisch vollzogen – nicht mehr kulturell geprägt«. Noch zu Schmidts Zeiten gibt es in der Bevölkerung eine Sehnsucht nach Widerspruch, auch nach einem Widerspruch zu diesem Widerspruch, es gibt Bewegungen, die ein Ziel sehen und einen Auftrag spüren.

Helmut Schmidt ist heute das Symbol für ein »Bonn«, das nicht kraft seiner Größe, sondern dank seines Ansehens Gastgeber eines Weltwirtschaftsgipfels sein darf. Die Bilder, die zeigen, wie der kleingewachsene Helmut Schmidt vor den politisch Großen steht, gehen um die Welt. Ein Jahr später auf Guadeloupe erreicht ein deutscher Bundeskanzler in Klausur mit den Staatschefs der USA, Großbritanniens und Frankreichs, dass die NATO seinem Vorschlag einer sogenannten Nachrüstung von Mittelstreckenwaffen in Westeuropa folgt. Jahrzehnte später, im April 2013, wird einer der Teilnehmer von damals, Valéry Giscard d’Estaing, sagen (in seiner Laudatio auf den Träger des Hanns Martin Schleyer-Preises 2013, Helmut Schmidt): »Die symbolische Rückkehr Deutschlands in den Kreis der Großmächte kann man im Januar 1979 ansetzen, als es mit den drei alliierten Nuklearmächten USA, Frankreich und Großbritannien am Gipfel von Guadeloupe teilnahm.«

Schmidts Jahre sind die Jahre einer deutschen Normalität, allerdings einer notwendigen Normalität, nachdem Konrad Adenauer die Westbindung geschaffen und Willy Brandt spektakulär die Türen nach Osten aufgestoßen hat, und bevor Helmut Kohl die Wiedervereinigung, die höchst überraschend kommt, vollziehen wird. Voraussetzung für diese Vereinigung ist das Vertrauen in die Deutschen und ihr Land, das in den Jahren von Helmut Schmidts Kanzlerschaft weiter gewachsen ist.

Vor, während und nach seiner Kanzlerschaft ist Helmut Schmidt nicht nur der »Macher«, als der er gern etikettiert wird und als der er sich – natürlich nur im guten Sinn des Worts – auch selbst sieht. Er handelt, um ein Wort des Historikers Eberhard Jäckel zu bemühen, als »Krisenmanager mit moralischen Maßstäben«. Kein Bundeskanzler, auch darauf weist Jäckel zu Recht hin, hat sich öffentlich so häufig über moralische Maßstäbe in der Politik Gedanken gemacht wie Helmut Schmidt, keiner vor ihm und keiner danach. Von dem Politiker und zeitweiligen Kanzler Schmidt gibt es Reden über die Philosophie der Herrschaft, über Kunst, Literatur und Musik, über das Christentum und die anderen großen Religionen – keine Gelegenheitsreden, von Schreibbüros für den Augenblick zugeliefert, sondern substantielle, reflektierte Aussagen.

Wenn der fast 89-jährige Schmidt in der Alten Aula der Marburger Universität über »Gewissen und Verantwortung des Politikers« spricht und dabei Papst Benedikt XVI. für eine »selbstgerecht religiöse Gewissheit« kritisiert (es ging um eine Aussage von Kardinal Ratzinger, bevor er Papst wurde), verdient das Gehör, denn es kommt von einem, der über seinem starken politischen Gestaltungswillen nicht die Reflexion vergessen hat.

Solche Wortmeldungen machen Schmidt zwar nicht zu einem philosophischen Denker, aber doch zum seltenen Beispiel eines Politikers, der die Prinzipien seines Handelns erläutert, sodass sein Handeln an diesen Prinzipien gemessen werden kann. Dieser Mann, der das rhetorische Zeug zum Demagogen hätte, der auch bekennt, das Volk und den Einzelnen für verführbar zu halten, erzieht sich immer wieder neu zum Demokraten. Die naheliegende Frage, ob Helmut Schmidt sich selbst einmal als politisch verführbar erlebt hat, beantwortet er zeit seines Lebens mit einem klaren Nein.

Helmut Schmidt prägt die politischen Ämter, die er ausfüllt, aber sie prägen und verändern auch ihn, am meisten natürlich das Amt des Bundeskanzlers. Schneidig, besserwisserisch und hochmütig gegenüber Ansichten, die er nicht teilt, übernimmt er im Mai 1974 von Willy Brandt das Ruder. Der Kampf gegen den Terrorismus und der Protest hunderttausender, meist ernsthaft argumentierender Gegner seiner Politik, entlassen ihn im Oktober 1982 als nachdenklichen, nun auch zum Zuhören bereiten Mann.

Als er von der politischen Bühne abtritt, ist er der bei Weitem angesehenste deutsche Politiker, in der Bundesrepublik Deutschland genauso wie in der Welt. Seine Abwahl durch die Abgeordneten des Deutschen Bundestags anlässlich eines konstruktiven Misstrauensvotums wird nicht nur von sozialdemokratischen Wählern bedauert – schließlich genießt Schmidt bis weit in die Union hinein hohes Ansehen. Was für ein Werdegang, an dessen Ende politische Tragik und persönlicher Triumph so nah beieinander liegen!

Vom Spannenden, auch Spektakulären der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt, das häufig zunächst ganz unauffällig daherkommt, und natürlich vom Spannenden an Schmidts Leben, in dem sich fast ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte spiegelt, handelt dieses Buch. Darüber hinaus geht es um die Funktion eines Lotsen, die Helmut Schmidt – vielleicht zu seiner eigenen Überraschung – in der Berliner Republik wahrnimmt, und um das Unvergängliche, dauerhaft Gültige von Schmidts Lebensarbeit. Das Buch liefert dabei keine klassische Chronologie der Ereignisse – 95 Lebensjahre, versehen mit dem Panorama einer aufgewühlten Zeitgeschichte, verlangen danach, Schwerpunkte zu setzen. In der Rückschau ist auch nicht jede Lebensphase gleich wichtig.

Mein Augenmerk richtet sich auf das Erwachsenwerden von Helmut Schmidt, seine Prägungen und Schlüsselerfahrungen, und seine Formung zu einer politischen Persönlichkeit. Viel Aufmerksamkeit verdient weiter die Zeit, in der Helmut Schmidt den größten Einfluss auf die deutsche Politik genommen hat. Als Bundeskanzler segelte er fast immer hart am Wind – nationale und weltweite Rezession am Anfang, der Höhepunkt des RAF-Terrorismus in der Mitte, das Anschwellen der sogenannten Friedensbewegung am Schluss. Helmut Schmidts politische Arbeit nach Ausscheiden aus dem Kanzleramt kann als weitere, eigenständige Phase seines Lebens gewertet und beschrieben werden. Noch als er in den Neunzigern steht, leistet er einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Berufung eines SPD-Kanzlerkandidaten.

Mein starkes Interesse gilt nicht zuletzt dem geistigen Weltbild von Helmut Schmidt, dem theoretischen Fundament seines politischen Handelns. Wie wenige andere Politiker im letzten Jahrhundert hat er auf zeitlos wichtige Fragen, die sich jede Politikerin und jeder Politiker stellen muss, eine Antwort gegeben und dabei Denken und Handeln miteinander zu verklammern gesucht. Ob man nun Schmidts Auffassungen teilt oder nicht – diese Prüfung von Grundsätzen am praktischen Handeln ist faszinierend und aktuell. Helmut Schmidt kann als Beispiel dafür dienen, wie sich jemand in wechselvoller Zeit eine sittliche Grundlage für politisches Tun schafft.

Helmut Schmidts Weltbild lässt sich natürlich nicht an einem bestimmten Datum festmachen, deshalb habe ich zum Beispiel die Beschreibung seiner »Hausapotheker« vor die Übernahme seines wichtigsten Amtes, dem des Bundeskanzlers, eingefügt.

Persönliche Bilder vom Kanzler Helmut Schmidt

Wer sich lange mit einem Politikerleben beschäftigt, ist als Autor erklärungspflichtig: Warum gerade diese Persönlichkeit, weshalb ausgerechnet jener historische Kontext? Ich skizziere kurz die Vorgeschichte in der Hoffnung, dass der Leser, soweit er alt genug ist, ähnliche – oder auch ganz andere – Erinnerungen an die Jahre wachrufen kann, als Helmut Schmidt hohe politische Verantwortung trug. Ich bin Jahrgang 1964, also ein Angehöriger der Babyboomer-Jahrgänge. Dass es so etwas wie Politik gibt, erfahre ich erstmals als Grundschüler: Die Lehrerin macht mit uns einen Bildungsspaziergang durch den Heimatort Stetten auf den Fildern und erklärt Plakate zur Bundestagswahl 1972. Und ich sehe noch, als sei es gestern gewesen, wie meine Mutter zwei Jahre später mittags am Küchentisch das Kofferradio (ein Nordmende »Galaxy«) lauter dreht, als die Nachricht kommt, dass Bundeskanzler Willy Brandt zurückgetreten ist. Meine Mutter wirkt betroffen, obwohl sie, glaube ich, Brandt nie gewählt hat.

Aus den ersten Schmidt-Jahren ist mir die Schwüle der Herbstwochen 1977 in Erinnerung, als die Entführung von Hanns Martin Schleyer eine gespenstische Stille und Angst über das Land legt. Auf den Straßen Panzer und viel Polizei. In irgendeiner Nacht, kurz nach zwölf, gibt Regierungssprecher Klaus Bölling über das Radio bekannt, dass die Geiseln von Mogadischu frei seien. Die Nachricht wird auch am nächsten Tag ständig wiederholt, genauso wie Fernsehbilder, auf denen sich Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, in der Flughafenhalle zwischen den befreiten Geiseln sitzend, über die feuchte Stirn wischt. Ich glaube, es ist der Tag, an dem Bundespräsident Walter Scheel im Fernsehen an die Schleyer-Entführer appelliert, den Arbeitgeberpräsidenten am Leben zu lassen: »Geben Sie Hanns Martin Schleyer frei!« Alle fürchten und rechnen damit, dass Scheels Bitte die Terroristen nicht beeindrucken wird.

Dann dieses schreckliche Bild vom grünen Audi 100, in dessen Kofferraum Schleyer tot gefunden wird. Scheel hält bei der Trauerfeier eine ergreifende Rede, die ich, wahrscheinlich aus innerer Bewegung, mit meinem kleinen Telefunken-Kassettenrecorder vom Fernsehton aufnehme. Die Kassette habe ich heute noch. Helmut Schmidt sitzt steif und mit gesenktem Kopf neben Schleyers Witwe; er scheint die Not der zurückliegenden Entscheidungssituation am ganzen Leib zu spüren.

1980 klebe ich Abziehbilder von Franz Josef Strauß, dem Kanzlerkandidaten der Union, auf meinen Schulkoffer, weil mehrere meiner Lehrer offen Stimmung gegen ihn machen. Von diesen Lehrern werde ich erbost angesprochen.

Im Herbst 1982 schwänze ich die Schule, um mit dem sündhaft teuren VHS-Videorecorder, den mein Vater gerade gekauft hat, die Bundestagsdebatten zum Koalitionsbruch und zum konstruktiven Misstrauensvotum aufzuzeichnen. Ich bin innerlich gespalten, wie alle, mit denen ich in jenen Tagen spreche: Schade eigentlich, denke ich, dass der angesehene Staatsmann Schmidt abtritt, aber das monatelange Hickhack um die Koalition mit der FDP muss endlich ein Ende haben. Leute auf dem Tennisplatz, auf dem ich damals nicht wenig meiner Freizeit verbringe, sagen: Schmidt war der beste CDU-Kanzler, den die SPD je hatte.

Der Bürgerprotest gegen den NATO-Doppelbeschluss setzt während Schmidts Amtszeit ein, ungefähr 1981/82, und überdauert seine Kanzlerschaft. 1984 bin ich Wehrpflichtiger in der Pressestelle des Wehrbereichskommandos V, damals die Bundeswehrzentrale für Baden-Württemberg. Gemeinsam mit anderen Wehrpflichtigen stelle ich dem General jeden Morgen eine Pressemappe zusammen. Es gibt noch keine Computer und Scanner, wir lesen stapelweise Zeitungen und schneiden Artikel über verteidigungs- und sicherheitspolitische Fragen aus. Es fällt in diesen Tagen, da sicherheitspolitische Fragen in aller Munde sind, viel Arbeit an. Verteidigungsminister Manfred Wörner legt ein »Weißbuch« vor, in dem er die Zustimmung der deutschen Bundesregierung zur sogenannten Nachrüstung auf vielen hundert Seiten begründet. In Zeitschriften und Zeitungen wird leidenschaftlich dafür und dagegen argumentiert.

Ich lese vieles und gewinne den Eindruck, dass es hier um mehr geht als um abstrakte sicherheitspolitische Fragen, dass hier zwei Denkweisen, zwei Generationen, zwei völlig unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinanderprallen. Und ich werde Zeuge, wie sich diese zwei Lager plötzlich ganz wörtlich gegenüberstehen: An einem Samstag im Herbst erhalte ich eine »G 3« ausgehändigt, das Standardgewehr der Bundeswehr, und werde zur Wache auf dem Stuttgarter Kasernendach eingeteilt. Alle Offiziere, Unteroffiziere und Wehrpflichtigen haben das Gelände an diesem Nachmittag vor Eindringlingen zu schützen. Um die Kaserne herum bildet sich eine sogenannte Menschenkette – friedlich demonstrierende Nachrüstungsgegner. Es gibt keine Reden, nur Transparente: »Frieden schaffen ohne Waffen«. Junge und ältere Menschen mit lila Halstüchern und Buttons halten sich an den Händen und drücken schweigend ihre Angst vor Krieg und atomarer Vernichtung aus.

Ich denke: Seltsame Welt! Einerseits soll ich als Wehrpflichtiger 15 Monate lang einen Friedensdienst leisten. Andererseits halte ich mit dem Gewehr Demonstranten in Schach, die nicht weniger davon überzeugt sind, dass ihr Engagement dem Frieden dient. Welche Seite hat recht? Die »Friedensbewegten«, wie sie im Bundeswehrjargon abschätzig heißen, halten mich – wie jeden Soldaten – für Kanonenfutter deutscher und amerikanischer Militärs. Ich selbst misstraue den vielen Zahlen und Schaubildern aus dem »Weißbuch«, finde aber, dass die Bundeswehr für ein politisches System steht, in dem Menschenketten überhaupt erst möglich sind. In der DDR oder in der Sowjetunion würden solche Aktionen im Keim erstickt. Und mich stören die Ich-Bezogenheit und die zur Schau getragenen persönlichen Empfindungen der Protestierer. Irritiert verlasse ich nach der Wache die Kaserne.