VI

Die schwarze Nacht stieß einen tiefen Seufzer aus und, gleich einem Meer, das von einem Orkan erfasst mit seiner ganzen schweren tosenden Masse auf ein Riff aufschlägt, erbebte die gesamte sichtbare Welt und warf sich gegen die Mauer mit tausendfach geschwellter rasender Brust. Ein blutiger Schaum spritzte hoch bis zu den Wolken, die schwer dahinrollten, färbte sie, und schrecklich flammten diese auf, einen roten Widerschein hinunterwerfend. Dorthin, wo etwas kaum Wahrnehmbares, jedoch Unzähliges, Schwarzes und Wildes grollte, brauste und ächzte. Diese Masse flutete zurück mit einem Röcheln voll unsäglicher Pein, und die Mauer ragte immer noch, unerschütterlich und stumm. Doch ihre Stille war nicht schüchtern noch schamhaft, der Blick ihrer formlosen Augen war dunkel, von bedrohlicher Ruhe, und mit Hoffart, wie eine Königin, schüttelte sie von ihren Schultern die Mantille, purpurn triefend von Blut, und ihre äußersten Enden verloren sich zwischen den verstümmelten Kadavern.

Doch indem wir zu jeder Sekunde dahinstarben, waren wir unsterblich wie Götter. Der machtvolle Strom von menschlichen Körpern brüllte von Neuem auf und warf sich mit allen Kräften gegen die Mauer. Dann flutete er aufs Neue zurück, und das wiederholte sich noch manches Mal, bis zum Augenblick, wo Ermattung, bleierner Schlaf und die Stille uns übermannten. Ich, der Aussätzige, fand mich wieder ganz nah der Wand, und ich sah, wie sie zu wanken begann, sie, diese stolze Königin, ich sah ihre Steine durchlaufen vom Schauder des Entsetzens vor einem drohenden Einsturz.

»Sie fällt!« schrie ich auf, »Brüder, sie fällt!«

»Du täuschst dich, Aussätziger«, erwiderten mir meine Brüder.

Da flehte ich sie an:

»Noch steht sie vielleicht, aber ist nicht jede Leiche eine Stufe, die zu ihrem Gipfel führt? Wir sind zahlreich, das Leben ist uns eine Last. Bedecken wir die Erde mit unseren Leichen; noch andere werden wir darauf werfen und werden so bis an den Gipfel gelangen. Und wenn nur einer übrig bleibt, dieser wird die neue Welt sehen.«

Erfüllt von freudiger Hoffnung blickte ich um mich, und sah nur Rücken, gleichgültig, fett, müde. Die vier drehten sich in ihrem endlosen Tanz im Kreis, näherten sich und entfernten sich, die schwarze Nacht spie ihren feuchten Sand, wie eine Kranke, und die Mauer ragte auf in ihrer ganzen unerschütterlichen Masse.

»Brüder!« flehte ich, »Brüder!«

Doch meine Stimme war näselnd und mein Atem übelriechend, niemand wollte auf mich hören, mich, einen Aussätzigen.

Weh! Weh! Weh!




September 1901

Leopold von Verschuer: Auf Andrejews Mauer zu