Tim Bonyhady

WOHLLEBENGASSE

Die Geschichte meiner
Wiener Familie

Aus dem Englischen
von Brigitte Hilzensauer

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

Good Living Street. The Fortunes of My Viennese Family

im Verlag Allen & Unwin, Sydney.

Gefördert von:

Förderlogo

ISBN 978-3-552-05660-2

© 2011 by Tim Bonyhady

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

Dominic Wilhelm, unter Verwendung eines Fotos von © Archiv Tim Bonyhady

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

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Stammbaum

Für Bruce

Inhalt

Einleitung

I
Hermine

Klimt

Gott

Gaslicht

Familie

Gala

Bilder

Räume

II
Gretl

Tagebücher

Tango

Liebe

Krieg

Hoffmann

Tod

Sex

Ehe

III
Annelore

Erinnerung

Austrofaschismus

»Anschluss«

Visa

Ausflüchte

Verlust

Gefangennahme

IV
Anne

1939

Feindliche Ausländer

Briefe

Eric

Rückkehr

Auflösung

Restitution

Identität

Anhang

Anmerkungen

Dank

Namensregister

Bildnachweis

Einleitung

1938 WAR EIN GUTES Jahr für die Wiener Möbelpacker. Nach der Annexion Österreichs durch Deutschland flohen Zehntausende aus der Stadt; die Nazis bemächtigten sich ihrer Betriebe, verlangten von ihnen Strafzahlungen, wenn sie ausreisen wollten, verboten ihnen, das Geld, das ihnen geblieben war, in Devisen umzutauschen, und raubten viele ihrer Kunstgegenstände. Üblicherweise konnten die Flüchtlinge jedoch ihre restlichen Haushaltsgegenstände mitnehmen, war den Nazis doch daran gelegen, den Anschein zu erwecken, die österreichischen Juden würden freiwillig ausreisen, zudem sollten sie von anderen Staaten aufgenommen werden. Und so waren nun Spediteure in einer Stadt höchst gefragt, in der man üblicherweise ein Leben lang seine Mietwohnung behielt.

Die Neue Freie Presse, die führende Wiener Zeitung, brauchte über diesen neuen, auf Verfolgung aufbauenden Wirtschaftszweig nicht zu berichten, in dem nun viele Umzugsunternehmen neue Angestellte anheuerten und bald zu Spezialisten im Fluchtgewerbe wurden; schon die Anzeigenspalten erzählten die Geschichte. Vor dem »Anschluss« im März war in jeder Ausgabe der Presse höchstens eine kleine Annonce eines Möbelpackers, meist aber überhaupt keine zu sehen gewesen; binnen vierzehn Tagen danach erschienen drei Anzeigen von Speditionen, die den neuen Markt möglichst rasch nutzen wollten. Ende April brachte die Zeitung schon bis zu sieben Inserate, Ende Mai waren es elf.

Die bemerkenswerteste Lieferung, die aus Wien abging, gehörte zwei Schwestern, die eine unverheiratet, die andere geschieden, beide unbekannt außerhalb der engen Kreise der Wiener Gesellschaft, in denen sie sich bewegten. Dr. Käthe Gallia, eine der ersten Absolventinnen der Wiener Universität, hatte mehr als ein Jahrzehnt zuvor ihren Beruf als Chemikerin aufgegeben, um eine Familienfirma zu managen, die Gasöfen verkaufte. Ihre Schwester Margarete Herschmann-Gallia, genannt Gretl, war kurze Zeit mit einem Wiener Lederhändler, Dr. Paul Herschmann, verheiratet und wie die meisten verheirateten Frauen ihrer Klasse nie berufstätig gewesen.

Käthe zählte zu den ersten Opfern der Nazis. Zuerst verlor sie ihre Arbeit. Dann plünderten SS und Gestapo ihre Wohnung und setzten sie in Haft. Als sie schließlich nach beinahe zwei Monaten wieder freigelassen wurde, fassten sie und ihre Schwester den Entschluss, zusammen mit Gretls sechzehnjähriger Tochter Annelore aus Österreich zu fliehen. Die Vereinigten Staaten hätten sie aufgenommen, doch die Schwestern wählten Australien, weil auch andere Verwandte sich dorthin aufgemacht hatten. Anfang November 1938 waren sie bereit, sich den 50.000 Menschen anzuschließen, die seit dem »Anschluss« aus Österreich geflohen waren. Da Gretl und Käthe alle nötigen Bewilligungen und Freigaben hatten, erwarteten sie eine relativ unkomplizierte Ausreise. Sobald die Möbelpacker ihre Einrichtung verstaut hatten, würden sie den Zug in die Schweiz nehmen.

Die Schwestern rechneten nicht mit der sogenannten »Kristallnacht«, dem von Joseph Goebbels befohlenen Pogrom, das in den frühen Morgenstunden des 10. November im ganzen, erst jüngst größer gewordenen Deutschen Reich ausbrach und in Wien gewalttätiger verlief als beinahe überall sonst. Die Nazis brachten mindestens 27 Wiener Juden um, verletzten weitere 88 schwer und verhafteten rund 6550, sie plünderten mehr als 4000 Geschäfte und beinahe 2000 Wohnungen und steckten fast alle Synagogen und Bethäuser der Stadt in Brand. Einzige Ausnahme war der Stadttempel im ersten Bezirk, den die Nazis verschonten, weil ein Feuer dort auch andere Gebäude in Mitleidenschaft gezogen hätte und weil sie die Aufzeichnungen des Tempels benötigten, um festzustellen, wer nach ihrer Definition Jude war.

Als Gretl, Käthe und Annelore klar wurde, dass ein Pogrom stattfand, hatten sie Angst, ebenfalls von den Nazis aufs Korn genommen zu werden. Und selbst wenn es ihnen gelang, der Gewalt zu entkommen: Würden sie gezwungen sein, mit leeren Händen zu fliehen? Sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ihre Spediteure, die ein, zwei Tage vor der »Kristallnacht« mit der Arbeit begonnen hatten, machten am 10. und 11. November ganz normal weiter, sodass Gretl und Annelore am 12. abreisen konnten; Käthe folgte am 15. Während die Nazis in der ganzen Stadt Juden terrorisierten, hüllten die Packer die Möbel der Gallias in Decken, wickelten ihr Silber, Glas und Porzellan in Seidenpapier und machten es bereit für den Transport rund um den Erdball.

Ihre Transportkisten enthielten alle nur vorstellbaren Einrichtungs- und persönlichen Gegenstände, von Kronleuchtern bis zu Fußabstreifern, von Kuchenformen bis zu Ferngläsern, Spitzen und Leinen, Schlittschuhen und Skiern, Briefen und Tagebüchern, Rechnungen und Quittungen. Ein Klavier genügte nicht, Gretl und Käthe nahmen zwei mit: ein Pianino und einen Flügel. Und Bilder: Porträts, Landschaften, Seestücke, Stillleben, Genrebilder, eine Straßenszene, ein Interieur. Jede ihrer drei Garnituren Silberbesteck bestand aus mehr als 150 Teilen. Die größte ihrer drei Vitrinen war mehr als eineinhalb Meter breit und beinahe zwei Meter hoch, ihr größter Bücherschrank mehr als sechs Meter lang.

Einige dieser Sachen hatten die Schwestern von ihrem Onkel Adolf Gallia und seiner Frau Ida geerbt; diese hatten zu einer Zeit, als nur drei von hundert Wienern eine eigene Wohnung besaßen, in einem riesigen Gebäude an der Wiener Ringstraße, das ihnen gehörte, das prächtigste Appartement bewohnt. Fast alles andere stammte von den Eltern der Schwestern, Moriz und Hermine, die in der Wohllebengasse im vierten Bezirk gewohnt hatten, unweit vom Ring. Die Gasse war zwar nach einem Wiener Bürgermeister vom Anfang des 19. Jahrhunderts benannt, Stefan Edler von Wohlleben, doch das Wort symbolisierte auch zutreffend, welches Gepräge die weitläufige und elegante Straße ein Jahrhundert später aufwies.

In der Familie war es üblich, die feinsten Waren zu kaufen, die besten Sorten, die renommiertesten Marken. So war das Dinnerservice, das Gretl von ihrer Tante Ida erbte, eine der frühesten Garnituren von »Flora Danica«, dem berühmten, in Handarbeit hergestellten, mit dänischen Pflanzen handbemalten Porzellan aus der Manufaktur Royal Copenhagen, so war der von ihrer Mutter geerbte Flügel ein Steinway. Unter ihren Pelzen fanden sich Chinchilla- und Zobelstolas und ein Mantel aus Seehundfell. Ihre bemerkenswertesten Besitztümer aber waren die Gemälde, Möbel, das Silber, die Keramik und Glaswaren, die einmal Moriz und Hermine gehört hatten. Beinahe alles stammte aus der Zeit der Jahrhundertwende, als Wien eines der dynamischsten Kultur- und Geisteszentren weltweit gewesen war, eine der für die Entwicklung der Moderne maßgeblichen Städte, wo nicht nur, wie seit Jahrhunderten, herrliche Musik entstand, sondern auch große Kunst, Design, Architektur, Literatur, Wissenschaft und Philosophie.

Die Großfamilie Gallia gehörte während der kulturellen Hochblüte von 1898 bis 1918 zu den wichtigsten Mäzenen für hochwertige Kunst und das beste Design der Stadt. Bei ihrer Flucht 1938 nahmen Gretl und Käthe das meiste von dem mit, was Moriz und Hermine gesammelt und in Auftrag gegeben hatten. Ihre Kisten mit den Sachen aus der Wohllebengasse enthielten die bedeutendste Privatsammlung von Kunst und Design, die das nationalsozialistische Österreich verlassen konnte.

Abbildung

Das Haus Wohllebengasse 4. Um 1913.1

Ihr Bestimmungsort war ein Wohnblock in Cremorne, einem Vorort von Sydney; er war gebaut wie hundert andere in der Stadt, als wäre Design unwichtig, zahle Architektur sich nicht aus, und Ästhetik wäre für anderswo bestimmt. Das Material war die ortsübliche Kombination aus mattroten Ziegeln und grellbunten Terrakottafliesen. Der Zugang zur Eingangstür über einen schmalen Weg an der Seite des Gebäudes war unzweckmäßig, das Treppenhaus kalt und eng. Das einzig Bemerkenswerte an dem Gebäude – die Aussicht über den Hafen, die beinahe von Sydney Heads bis zum Stadtzentrum am Circular Quay reichte – verdankte alles der Natur und nichts der Kultur.

Eine Radierung im Vorzimmer von Wohnung Nummer 3 ließ erkennen, dass die Einrichtung hier anders aussah. Das kleine Bild zeigte einen Mann im Profil, die dichte Haarmähne aus der hohen Stirn nach hinten gestrichen, eine randlose Brille auf der Nase, die Fliege verrutscht, der Gesichtsausdruck entschlossen. Wäre der Dargestellte unbekannt gewesen, es wäre immer noch ein fesselndes Porträt gewesen; doch es war sein Ruhm, der das Bild in Ausstellungen und auf Buchumschläge brachte. Es war erstmals 1903 in der Secession zu sehen gewesen, der von Gustav Klimt angeführten Gruppe von Malern, Architekten und Designern, welche die Wiener Kunst zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts erneuert hatte. Das Bild stammte von Emil Orlik, einem prominenten Secessionsmitglied; er hatte seine Signatur und das Datum in kaum erkennbaren Bleistiftstrichen angebracht, als wäre seine Person vollkommen unwichtig. Der Dargestellte war Gustav Mahler, der es in dicker schwarzer Tinte signiert hatte.

Der Rest der Wohnung war voller Gemälde anderer österreichischer Maler, beinahe alle Mitglieder der Secession. Typisch war etwa das größte Zimmer mit Blick auf den Hafen. Das eindrucksvollste, auffälligste Bild hier war das lebensgroße Porträt einer Frau in Weiß. Wie Orliks Mahler-Radierung war das Gemälde 1903 in der Secession gezeigt worden, doch hatte es wegen des Malers und nicht wegen des Sujets Interesse erregt. Es gehörte zu der kleinen Gruppe von Porträts, die Gustav Klimt vom Ende der 1890er Jahre bis zu seinem Tod 1918 gemalt und von denen er im Durchschnitt nur eines pro Jahr vollendet hatte. Es stellte Hermine Gallia dar, die Mutter von Gretl und Käthe.

Die Möbel stammten fast alle von Josef Hoffmann, dem Architekten, der häufig die Einrichtungen für Klimts Mäzene entwarf. In der verglasten Veranda stand ein Ensemble mit Tischen, Stühlen und Vitrinen, alles weiß gestrichen mit Blattgoldverzierung. Die restlichen Zimmer waren mit schwarzen Möbeln vollgestellt, beinahe alles gebeizt, sodass die Maserung durchschimmerte. Hier fanden sich schwarze Tische, schwarze Stühle, schwarze Buffets, schwarze Uhren, eine schwarze Vitrine, eine schwarze Lampe, ein schwarzer Klavierschemel, dazu an den Wänden der beiden Schlafzimmer und des langgezogenen Flurs, der zum Bad und zur Toilette führte, sieben schwarze Bücherschränke mit Glastüren.

Auch die Teppiche in der Wohnung hatte Hoffmann entworfen, ebenso fast das ganze Silber in der schwarzen Kommode und auf den schwarzen Bücherschränken. Dieses Silber stammte aus der berühmten Wiener Werkstätte; Hoffmann war 1903 einer ihrer Mitgründer gewesen. Sein Ziel war es, »gutes, einfaches Hausgerät« zu schaffen im Gegensatz zu Sachen aus »schlechter Massenproduktion«; wenn Hoffmann allerdings von »einfach« sprach, meinte er Silber statt Gold und Halbedelsteine statt Diamanten. Die Kunden der Werkstätte waren reich, das verstand sich für ihn von selbst. So wie Klimt sich bewusst elitär gab, als er eine seiner ersten Ausstellungen in der Secession mit einem leicht abgewandelten Schiller-Zitat eröffnete – »Kannst du nicht allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk – Mach es Wenigen recht. Vielen gefallen ist schlimmer« –, so tat dies auch Hoffmann, als er die Werkstätte gründete. »Zwar fürchte ich, dass der Kampf ein ungleicher sein wird, ja dass es überhaupt nicht mehr möglich ist, die Masse zu bekehren«, erklärte er; »dann aber ist es umsomehr unsere Pflicht, die Wenigen, die sich uns zuwenden, glücklich zu machen.«

Die Keramik-, Glas- und Emailobjekte, die die beiden Vitrinen in der Veranda füllten, waren weitaus unterschiedlicher. Die meisten Stücke waren Royal-Copenhagen-Porzellan, dazu gab es Vasen von Gallé und Lalique aus Paris, böhmisches und venezianisches Glas, dänische und französische Emailarbeiten und etliche Schalen, Vasen, Becher und Figurinen von Wiener Designern vom Anfang des 20. Jahrhunderts, darunter Hoffmann. Eine Vorliebe für Sentimentales, wenn nicht Kitsch, war deutlich erkennbar, nicht nur in einer Menagerie von Hündchen, Enten und Mäusen aus Royal-Copenhagen-Porzellan, sondern auch im größten, auffälligsten Objekt, geschaffen von Michael Powolny, jenem Wiener Keramikkünstler nach 1900, der eine besonders extravagant-dekorative Linie vertrat. Es war eine ovale Dose, am Deckel kniete auf einer Blumenwiese ein Ritter in goldener Rüstung und umarmte ein nacktes Mädchen mit langen gelben Haaren – eine Keramik-Version des berühmten Klimt-Gemäldes »Der Kuss«.

Die Bücher in den Schränken mit den Glastüren reichten von den deutschen Klassikern, die Moriz und Hermine sammelten, bis zu modernen britischen Autoren, die Gretl gekauft, und modernen australischen, die Kathe (wie Käthe sich in Australien umbenannt hatte, während aus Annelore Anne wurde) beigesteuert hatte. Auch Erstausgaben der bahnbrechenden, einflussreichsten Wiener Schriftsteller der Zeit um 1900 und danach – literarische Zeitgenossen von Klimt und Hoffmann – waren zu finden, darunter Werke des großen Polemikers und Satirikers Karl Kraus, des Kritikers, Essayisten und Dramatikers Hermann Bahr (selbsternannter Kopf der literarischen Bewegung »Jung Wien«) und des Romanciers und Dramatikers Arthur Schnitzler, den Sigmund Freud als seinen Kollegen in der Erforschung der »thörichte[n] und frevelhafte[n] Geringschätzung, welche die Menschen heute für die Erotik bereit halten«, bezeichnet hatte.

Die Wohnung war deshalb so bemerkenswert, weil große Teile der Einrichtung von Hoffmann als Gesamtkunstwerk entworfen worden waren, wie es sich die Wiener Secession und die Wiener Werkstätte zum Ziel gesetzt hatten. Moriz und Hermine hatten mehr als ein Jahrzehnt lang Hoffmanns Werke gekauft, das meiste aber, das er für sie schuf, stammte aus einem einzigen Auftrag: fünf der straßenseitigen Räume ihrer Wohnung in der Wohllebengasse einzurichten. Da Hoffmann nach eigener Einschätzung Gesamtinterieurs schuf, in denen jedes Element von Bedeutung war und nur an eine bestimmte Stelle passte, konnte man diese Einrichtungen nie komplett von einem Gebäude in ein anderes übertragen, schon gar nicht von einer Seite der Erde auf die andere. Gretl und Kathe allerdings kamen dem bemerkenswert nahe, als sie nach der Landung in Sydney 1939 beschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, und die Hoffmann-Sachen, die jede von Moriz und Hermine geerbt hatte, wieder zusammenführten. Dreißig Jahre lang, solange das Appartement in Cremorne den Gallias Heimstätte war, gab es keine vergleichbare Wohnung in New York, Zürich oder London, Budapest oder Prag. Und auch in Wien selbst existierte nichts Derartiges, da die meisten Hoffmann-Einrichtungen zerstört oder zerstreut worden waren. Die Einrichtung dieser Wohnung war der Triumph eines Möbelpackers, ein großartiger Teil des Wien der Jahrhundertwende, versetzt an die Botany Bay.

Ich kam zum ersten Mal als Baby in diese Wohnung. Anne nahm mich kurz nach meiner Geburt 1957 mit, und bald ging ich regelmäßig hin, meist mit meinem älteren Bruder Bruce. Erwachsene, die zu Besuch kamen, hatten die Räume als klaustrophobisch in Erinnerung, sie waren so vollgestopft und die meisten Möbel schwarz, ich aber fühlte mich als Junge dort absolut wohl. Ich hatte keine Ahnung, dass viele der Einrichtungsgegenstände Gretls und Kathes für Räume gestaltet worden waren, die mindestens zwei- bis dreimal, wenn nicht viermal so groß waren: Räume mit hohen Plafonds, an denen Kronleuchter gut zur Geltung kamen, Räume mit kannelierten Säulen und Marmorverkleidungen, die zu denen an den Möbeln passten, Räume, die mindestens ebenso sehr für Besuche wie für ein Familienleben geschaffen waren, Räume, in denen Hausmädchen in Dienstkleidung servierten. Ich wusste zwar, dass Gretl und Kathe Österreich als Flüchtlinge verlassen hatten, empfand aber nie, ihre Sachen seien am falschen Platz. Ich dachte, alles in der Wohnung sei am perfekten Ort, genau wie vorgesehen.

Ich hatte auch kein Auge dafür, in welchem Zustand viele Möbel waren. Falls es mir auffiel, dass nur die größere der beiden Anrichten eine marmorne Platte hatte, dann kam es mir jedenfalls nie in den Sinn, dass die kleinere ebenfalls eine gehabt haben musste; sie war beim Transport zerbrochen. Ich hatte keine Ahnung, dass der größte Tisch beschnitten worden war, um in das Wohnzimmer zu passen. Ich sah nicht, dass der Stoff an der Rückseite der einen Vitrine in der Veranda kirschrot war, der andere jedoch unter der Sonne von Sydney zu einem blassen Rosa ausgebleicht. Ich wusste nicht, dass der Küchentisch, den Gretl und Kathe mit einer roten Laminatoberfläche versehen und weiß gestrichen hatten, zu der für Hermines Schlafzimmer entworfenen weiß-goldenen Hoffmann-Garnitur gehört hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass einige der Stühle einst mit burgunderrotem Maroquinleder gepolstert gewesen waren, andere mit leuchtend grünem Wollstoff, umfasst von einer schwarzweißen Kordel, wieder andere waren Hocker mit roter Seide und derselben schwarzweißen Einfassung. Ich nahm an, dass diese Stühle, so wie ich sie kannte, immer rote Vinylsitze gehabt hatten.

Ich kam sehr gerne in die Wohnung, und zwar wegen Gretl. Obwohl mir das damals nicht bewusst war, hatten Kathe und sie ein Abkommen getroffen. Sie hatten um Anne rivalisiert, seit diese ein kleines Mädchen war; mit Bruce und mir würden sie es nicht so machen. Kathe würde für uns kochen, Gretl sich um alles andere kümmern. Keine Großmutter konnte hingebungsvoller, großzügiger oder besitzergreifender sein. Sie hatte grenzenlos Zeit für mich, obwohl sie immer noch von zuhause aus arbeitete: Sie brachte Einwanderern aus Südeuropa per Fernkurs Englisch bei. Tag für Tag unterhielt und erzog sie mich – sie ließ den Kreisel tanzen, bastelte Papierketten, lehrte mich Brettspiele, Kartenspiele, Wortspiele. Sie beeindruckte mich mit ihrer Kunst, Rauchringe zu produzieren, und zeigte mir, wie man Seifenblasen macht. Als ich sechs oder sieben war, fabrizierte sie ein Buch für mich. Mein erstes Werk über Kunst schenkte sie mir, als ich neun war. Und sie lieferte mir den Stoff für das erste Buch, das ich selber schrieb, ich war zehn oder elf Jahre alt.

Die Wohnung bedeutete mir noch mehr, weil sie einfach immer zur Verfügung stand. Anne, Bruce und ich zogen ständig um, nachdem Anne und mein Vater Eric sich kurz nach meinem fünften Geburtstag 1962 getrennt hatten, Gretl und Kathe aber blieben in Cremorne, die Möbel standen am selben Platz, der Inhalt der Vitrinen änderte sich nie. Mehr als 45 Jahre danach geht mir die Telefonnummer von Gretl und Kathe so leicht von der Zunge wie andere, die ich jetzt kenne, während mir keine einzige von denen mehr einfällt, die wir hatten, als ich ein Junge war.

Meine schönsten Weihnachten feierte ich in der Wohnung mit Gretl, Kathe, Anne und Bruce. Wir schmückten einen Baum – ursprünglich bloß ein großer Fichtenzweig, dann eine kleine Plastiknachbildung – und stellten eine alte bemalte Holzkrippe mit Figuren von Maria und Josef auf den Tisch. Wir stellten die Karten zur Schau, die Gretl von den »Neuaustraliern« bekommen hatte, denen sie per Fernkurs Englisch beibrachte, einige arrangierten wir auf dem Kaminsims und den Anrichten, andere nagelten wir am Türrahmen fest, noch mehr baumelten an Fäden. Bis zum Weihnachtsabend, an dem wir uns nach europäischem Brauch beschenkten und unser Weihnachtsessen verzehrten – Schweinebraten mit Apfelsauce, Plumpudding mit eingebackenen Dreipennystücken –, waren es Hunderte Karten geworden.

Am meisten von allen Schaustücken mochte ich den »Nickchinesen«, der in der großen Vitrine in der Veranda einen Ehrenplatz einnahm. Der Prototyp war von der berühmten deutschen Porzellanmanufaktur Meißen zu Beginn des 18. Jahrhunderts hergestellt worden; der unsere stammte vom Ende des 19. Jahrhunderts. In ihrer Kinderzeit war er der Liebling von Gretl und Kathe gewesen, später dann von Anne und schließlich von Bruce und mir. Gretl und Kathe besaßen etliche andere Porzellanfiguren, der Nickchinese aber war die einzige mit beweglichen Teilen, bei weitem die unterhaltsamste, einem Spielzeug ähnlichste. Man musste bloß seinen Kopf und seine Hände berühren, um ihn in Bewegung zu setzen. Da saß er dann mit gekreuzten Beinen im geblümten Gewand mit Goldkragen, mit einem unerhört dicken Bauch, riesigen Ohren und hauchdünnen Augenbrauen, sein Kopf wackelte vor- und rückwärts, seine Zunge glitt raus und rein, und seine Hände schlenkerten hinauf und hinunter.

Ich hatte noch etliche andere Lieblingssachen. Es gab eine Kugel aus silbernem Gitterwerk, sie sollte eigentlich einen Knäuel Bindfaden aufnehmen, in meiner Kindheit jedoch war sie immer leer; sie lag der Form, nicht der Funktion wegen da. Es gab Gretls Schmuckschatullen, voll mit Amethysten, Granaten, Rosenquarz und anderen Halbedelsteinen, die ich zu sortieren versuchte, was mir aber nie gelang, zu voll waren die Schatullen. Ich hatte ein eigenes Schatzkästchen, überzogen mit schön marmoriertem Papier, mit einem bemalten Glasdeckel und einem Spiegel am Boden, das mir Gretl schenkte, obwohl es zu zierlich zum Gebrauch war und so klein, dass man kaum etwas hineintun konnte. Es gab fünf große geriffelte Silbervasen, die ich deswegen sehr mochte, weil nach dem Putzen mit Silvo die angelaufene Oberfläche wieder so schön glänzte. Bruce und ich fanden auch heraus, wie man die größere der beiden schwarzen Anrichten neu nutzen konnte; unten waren links und rechts zwei Abteile, dazwischen vier Schubladen, in denen das beste Familiensilberbesteck verstaut war. Bruce und ich waren fasziniert davon, dass jedes Tafelgerät seine speziell geformte Aussparung in den vier Schubladen besaß, doch es war der Raum unter diesen Laden, der uns am meisten anzog. Er war knapp dreißig Zentimeter hoch, dreißig Zentimeter breit und fünfzig Zentimeter tief – zu klein, um für Erwachsene von Nutzen zu sein, aber ideal für kleine Kinder. Er wurde unser liebster Zufluchtsort, wenn wir Verstecken spielten, besser noch als die Beine des großen Tisches, die so dick waren, dass ich mich dahinter unsichtbar wähnte.

Ich frage mich heute, wie ich all diese Sachen sah. Nahm ich sie als gegeben hin, weil sie so vertraut waren? Wusste ich ihre Merkwürdigkeit zu schätzen? Ich glaube, ich betrachtete sie als genau das, was man bei einer Großmutter eben erwartet, während mir klar war, dass sie sich von der Einrichtung anderer Häuser oder Wohnungen, die ich besuchte, ganz und gar unterschieden. Ich weiß, dass mir nie in den Sinn kam, sie könnten wertvoll sein, da sie es nach Ansicht Gretls, Kathes und Annes ja nicht waren. Sie wussten zwar, dass die meisten Sammelstücke der Familie vor ihrer Flucht aus Österreich aus der Mode gekommen waren, die internationale Neubewertung der Wiener Jahrhundertwende aber, die in meiner Kinderzeit begann, ging an ihnen mehr oder minder vorbei. Sie wussten nicht, dass die erste größere Ausstellung der Werke Gustav Klimts 1965 vom Guggenheim Museum in New York veranstaltet wurde, weil Klimt »in den Fokus der modernen Wahrnehmung« gerückt war. Sie wussten nicht, dass Wiener Kunsthistoriker sich allmählich fragten, was aus den Bildern ihrer Familie geworden war; »gegenwärtiger Aufenthaltsort unbekannt«, hieß es.

Nicht die Wohnung, wo die Türen einfache Schlösser hatten und Gretl und Kathe kaum auf Sicherheit achteten, betrachtete ich als die Schatzkammer der Familie, sondern ein Bankschließfach in einem riesigen marmorverkleideten, mosaikgeschmückten Gewölbe im Stadtzentrum. Wenn ich mit Gretl dorthin ging, blickte ich voller Ehrfurcht zu den uniformierten Wächtern, dem vergitterten Eingang und der immensen Stahltür hoch. Gretls und Kathes Schließfach hatte die doppelte Standardgröße. Wie die Schatullen Gretls in der Wohnung in Cremorne waren sie vollgestopft mit Schmuck. Doch hier lagen keine Halbedelsteine, sondern Diamanten, Saphire, Rubine, Smaragde und Perlen in Gold- und Silberfassungen. Wenn ich diese Halsketten, Ohrringe, Broschen und Ringe zu Gesicht bekam, zu flüchtig, um mein Herz an sie zu hängen, erkannte ich an der Art, wie Gretl mit ihnen umging, dass sie viel wertvoller waren als die Stücke in der Wohnung: Sie nahm immer bloß eines heraus, um es im Konzert oder Theater zu tragen, und brachte es wieder zurück, wenn sie ein anderes anlegen wollte.

Wäre es nach Gretl gegangen, hätte sie Bruce und mich, da bin ich mir sicher, gern mit Geschichten über ihr Leben in Wien unterhalten, so wie ihren besten australischen Freund John Earngey, den sie im Laufe der Jahre als Stiefsohn betrachtete. Sie hätte erzählen können, während wir in der Wohnung in Cremorne saßen, umgeben von ihren wienerischen Erbstücken. Noch mehr hätte sie mir berichten können, wenn wir in die Stadt fuhren und ein Geschäft nach dem anderen besuchten, das von österreichischen Flüchtlingen geführt wurde, wovon ich keine Ahnung hatte. Aber Anne hatte Gretl gebeten, es nicht zu tun, wir sollten so australisch wie möglich werden, und Gretl hatte sich daran gehalten.

Nicht einmal »The Sound of Music« brachte sie zum Reden, als sie 1965 mit Bruce und mir ins Kino ging und wir zum ersten Mal einen Film sahen, in dem nicht nur der »Anschluss« vorkam, sondern der auch in Gegenden spielte, die Gretl am meisten bedeuteten – Salzburg und das Salzkammergut, wo sie 27 Sommer verbracht hatte. Ich erinnere mich, wie wir aus dem Kino in die Wohnung zurückkehrten, wie ich meinen Block holte und die Nazis mit ihren Pistolen zeichnete, die die Trapps an der Flucht zu hindern versuchten. Meiner Erinnerung nach machte ich diese Zeichnungen, ohne eine Ahnung zu haben, dass Gretls, Kathes und Annes Entkommen weitaus bemerkenswerter gewesen war als das der Trapps. Mir war nicht klar, dass der Baron, Maria und die Kinder nie im Leben vom Salzkammergut über die Alpen in die Freiheit der Schweiz hätten gehen können, denn die lag mehr als 160 Kilometer Luftlinie entfernt im Westen. Ich wusste nicht, dass die Trapps einfach zum Bahnhof gegangen waren und den Zug nach Italien genommen hatten, was kein Problem war, da sie ja die österreichische wie die italienische Staatsbürgerschaft besaßen. Ich weiß, dass Gretl zwar das Buch »Die Trapp-Familie. Vom Kloster zum Welterfolg« gelesen hatte, aus dem deutlich hervorging, dass das meiste im Film Erfindung war, typischerweise aber nichts sagte.

Meiner Erinnerung nach handelte die einzige Geschichte, die Gretl mir je über ihre Flucht erzählte – beinahe das Einzige, was sie mir über ihre ersten 42 Jahre in Österreich berichtete –, von vier dünnen runden Plättchen, alle gleich groß, alle mit demselben dunkelblauen Stoff überzogen, die sie im Schließfach aufbewahrte. Sie beschäftigten mich auf eine Weise, wie es all der Schmuck nicht tat, weil es nicht klar war, warum sie hier lagen. Gretl erklärte, das seien Goldmünzen, die sie vor ihrer Abreise aus Wien kaschiert hatte, um sie in die Schweiz mitnehmen zu können, ohne dass die Grenzpolizei der Nazis sie ertappte. Sie überzog die Münzen mit Stoff und nähte sie dann statt der ursprünglichen Knöpfe an ihren Reisemantel; aber auch nach der Ankunft in Sydney nahm sie sie nicht aus der Stoffhülle, und so blieben sie ein Talisman ihres Entkommens, ein Symbol ihres Erfolges, den Nazis ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Abbildung

Emil Orlik, Gustav Mahler, 1903. Möglicherweise das einzige Exemplar dieses Porträts mit Widmung und Signatur Mahlers.

Das Mahler-Porträt von Emil Orlik aus der Wohnung in Cremorne war einer der wenigen Gegenstände, die ich Anne nach Gretls Tod 1975 zu behalten bat; im Jahr darauf starb auch Kathe. Ich wusste wenig über Mahler und nichts über Orlik, doch mir gefiel der Kontrast zwischen der Akribie, mit der Orlik Mahlers Gesicht und Haare wiedergegeben, und den wenigen dünnen, nervösen Strichen, mit denen er Mahlers Rock und Weste angedeutet hatte. Zudem genoss ich den Hauch von Ruhm, der von Mahlers Handschrift auf der Radierung herrührte. Als ich Ende der 1980er Jahre das Porträt im Vorzimmer meines Hauses in Canberra aufhängte, war ich überrascht, dass Besucher, die Mahler nicht erkannten, gelegentlich dachten, er müsse mit mir verwandt sein, da ich ebenfalls hager, knochig und dunkelhaarig war und eine Brille trug.

Ein Jahrzehnt später initiierte das Porträt meinen ersten Ausflug in die Familiengeschichte. Der Auslöser war Mahlers Widmung; sie galt nicht einem der Gallias, sondern Mahlers »liebem Freunde« Dr. Theobald Pollak »zur Erinnerung an das Original«. Anne hatte mir erzählt, dass Theobald Pollak einer von Gretls Nennonkeln war, sie nannte ihn Onkel Baldi; sonst wusste ich nichts. Ich wollte mehr über Pollak erfahren, um ein Gespür dafür zu bekommen, zu welcher Art Menschen Moriz und Hermine ein Naheverhältnis gehabt hatten. Und ich wollte unbedingt wissen, warum Mahler Pollak die Radierung gegeben hatte und wie oft er seine Porträts jemandem widmete. Hatten Moriz und Hermine Mahler gekannt?

Theobald Pollak war in der Australischen Nationalbibliothek leicht zu finden. Ich musste bloß in den Namensregistern der Bücher über Wien um 1900 nachschlagen und erfuhr, dass Pollak in der riesigen Sekundärliteratur über Mahler einen kleinen Platz einnahm. In den Tagebüchern von Mahlers Frau Alma Schindler kam er häufig vor. Er tauchte im Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Alban Berg auf, beide Schlüsselfiguren in der Entwicklung der Zwölftonmusik. In den Büchern war zu lesen, dass Pollak Hofrat im k.k. Eisenbahnministerium war, seine Abende, Wochenenden und Urlaube aber mit vielen der bekanntesten Wiener Maler, Musiker, Architekten und Designer verbrachte, darunter Gustav Klimt und Josef Hoffmann. Zu Pollaks engsten Freunden gehörte Emil Jakob Schindler, Almas Vater, der führende österreichische Landschaftsmaler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein weiterer Freund war Carl Moll, der bedeutendste Kunstunternehmer um die Jahrhundertwende und zugleich einer der besten Maler.

Das eindringlichste schriftliche Porträt Pollaks lieferte 1911 Alban Berg, als er versuchte, Geld für den beinahe mittellosen Arnold Schönberg aufzutreiben. Viele der reichsten Wiener Kulturmäzene lehnten es ab, etwas zu geben, Pollak aber beeindruckte Berg dadurch, dass er sofort zustimmte, monatlich einen kleinen Betrag beizusteuern. Berg beschrieb Pollak als »eigentümlichen« Mann mit einem »unerhört korrekten, ja vielleicht pedantischen Ehrbegriff u. Ehrgefühl«. Pollaks Leben habe »mit den beispiellosesten Entbehrungen« begonnen, dann habe er sich »dank seinem Fleiß und seinem Trieb nach Höherem in innerlicher sowohl als äußerlicher Beziehung« weit emporgearbeitet. Pollaks Beziehung zu Mahler ergab sich schrittweise aus dessen Korrespondenz. Die frühesten Briefe von 1903, als Mahler Pollak wahrscheinlich das Orlik-Porträt schenkte, enthüllen, dass die beiden einander öfter sahen, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, die sich aus ihren unterschiedlichen Lebenssituationen ergaben: Mahler war Direktor der Wiener Hofoper, Pollak als Staatsbahnrat für Personal und sanitäre Angelegenheiten bei der Eisenbahn zuständig. Die letzten Briefe aus dem Jahr 1910, als Pollak an Tuberkulose litt und Mahlers Gesundheit ebenfalls stark angegriffen war, lassen vermuten, dass Pollak Mahler sehr viel bedeutete; er unternahm alles ihm Mögliche, um sicherzustellen, dass dieser die bestmögliche medizinische Behandlung erhielt.

Pollak stand auch Alma Schindler nahe, der Frau, der die größten Wiener Künstler, Schriftsteller und Musiker der Jahrhundertwende zu Füßen lagen. Das hatte teilweise mit ihrem Aussehen zu tun – für den Dirigenten Bruno Walter war Alma, »groß und schlank und eine blendende Schönheit«, das »schönste Mädchen Wiens« –, teilweise mit ihrer kaum verhohlenen Sinnlichkeit und außerordentlichen Frühreife. Ihre Tagebücher aus den Jahren 1898 bis 1902 zeigen, dass Pollak, obwohl mehr als zwanzig Jahre älter, damals ihr wichtigster Vertrauter war. Sie sprachen über alles, Religion, Musik, Kunst, Literatur und Almas zahlreiche Bewunderer, darunter Klimt, der 1899 gerne eine Affäre mit der Neunzehnjährigen angefangen hätte, und Mahler, ab 1902 der erste ihrer drei Ehemänner.

Pollaks Name ist vor allem deshalb in die Geschichte eingegangen, weil er Mahler »Die Chinesische Flöte« gegeben hatte, eine von dem Berliner Dichter Hans Bethge herausgegebene Anthologie mit achtzig Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie, 1907 in Leipzig erschienen und elegant in Seide gebunden, offenkundig zu Geschenkzwecken gedacht. Pollak hatte Mahler ein Exemplar verehrt, höchstwahrscheinlich als Abschiedsgeschenk, als dieser im Dezember Wien verließ, um Chefdirigent der New Yorker Metropolitan Opera zu werden, und Mahler hatte sieben der Gedichte als Grundlage für sein berühmtestes Werk gewählt, »Das Lied von der Erde«, Symphonie und Liederzyklus zugleich, eine neue Kompositionsform.

Wie andere Berühmtheiten der Jahrhundertwende setzte Mahler oft seine Unterschrift oder Widmung auf eine seiner Fotografien, die er Freunden und Kollegen schenkte. Die Orlik-Radierung war etwas anderes; nicht nur kostete sie weit mehr als eine Fotografie und war deswegen ein viel spezielleres Geschenk, sie galt auch um die Jahrhundertwende als Kunst, zu einer Zeit, da dies selbst bei den besten Fotografien nicht der Fall war. Als ich über die Radierung zu recherchieren begann, waren alle Versionen, die ich entdeckte, nur von Orlik signiert. Ein Wiener Kunsthändler sagte mir später, er habe eine oder zwei gesehen, die beide, Orlik und Mahler, signiert hatten. Der Abzug aus der Wohnung in Cremorne schien der einzige zu sein, den Mahler signiert und gewidmet hatte.

Die Überschneidungen mit dem, was ich bereits über Moriz und Hermine wusste – das Gefühl, dass sie sich in denselben Kreisen bewegten wie Pollak –, waren auffällig. Moriz und Hermine hatten zwar Emil Jakob Schindler nie kennen gelernt – er starb 1892, als Moriz eben erst nach Wien gekommen war und Hermine noch nicht dort lebte –, sie kauften aber eine seiner Landschaften. Pollak hatte ein Naheverhältnis zu Carl Moll, ebenso Moriz und Hermine, Molls wichtigste Mäzene. Doch die Verbindungen zwischen Schindler, Moll und Mahler waren noch enger: Moll war nicht nur Schindlers bedeutendster Schüler, sondern heiratete nach dessen Tod auch die Witwe Anna und wurde so Alma Schindlers Stiefvater und dann Mahlers Schwiegervater, als der Komponist Alma zur Frau nahm.

Die gekürzte englische Ausgabe von Almas Tagebüchern – die einzige, die mir anfangs in Canberra zur Verfügung stand – war ähnlich aufschlussreich. Sie zeigte mir, dass Hermine und Alma einander zwar nicht nahestanden, sich aber in denselben Kreisen bewegten. Zum ersten Mal taucht Hermine Anfang 1901 auf, als »Frau Gallia« Alma aus dem Prater abholte und mit ihr zuhause den Tee nahm. In anderen Worten, die dreißigjährige Hermine war Gastgeberin der 21-jährigen Alma in der Wohnung in der Schleifmühlgasse im vierten Bezirk, wo Hermine und Moriz lebten, bevor sie in die Wohllebengasse zogen. Ende 1901 war Alma noch einmal bei Hermine zu Besuch.

Zu meiner Überraschung wusste meine Mutter mehr. Als ich sie eines Nachmittags besuchte und ihr erzählte, was ich in der Bibliothek herausgefunden hatte, öffnete sie einen Schrank und nahm ein Stück österreichischer Volkskunst heraus, ein kleines, bunt verziertes Holzkästchen voller alter Karten und Briefe, darunter drei von Alma und Gustav. Diese Korrespondenz förderte nicht nur weitere Verbindungen zwischen den Gallias und den Mahlers zutage, sondern zeigte auch, dass Moriz und Hermine zu den Verehrern gehörten, die jedes Stück Mahleriana hochhielten und alles aufhoben, mochte es auch noch so unbedeutend sein, was entweder Gustav oder Alma berührt hatten. Das Bemerkenswerteste war ein vierseitiger Brief an Hermine, höchstwahrscheinlich 1901 verfasst, in dem Alma sich entschuldigt, weil sie Hermine am Tag darauf nicht treffen kann. Dazu gab es zwei Ansichtskarten, darunter eine Korrespondenzkarte der Mahlers mit dem Bild ihrer Villa am Wörthersee; dort verbrachten sie Anfang der 1900er Jahre jeden Sommer, entflohen der Hitze in der Stadt, während Gustav sich dem Komponieren widmete. Der Hauptteil des Textes auf dieser Karte, die Hermine im Juli 1903 erhielt, stammte von Pollak; Alma schrieb einfach »Herzliche Grüße an Sie und Ihre liebe Familie«, während Gustav seinen Namen dazusetzte.

Abbildung

Die Postkarte, die Theobald Pollak, Alma und Gustav Mahler im Juli 1903 an Hermine schickten; sie zeigt die Sommervilla der Mahlers.

Bis ich diesen Quellen nachging, hatte ich mich nie in die Literatur über das Wien des Fin de siècle vorgewagt, schon gar nicht daran gedacht, etwas dazu beizutragen. Obwohl ich als Kind und Erwachsener etliche Male in Wien gewesen war, war das nicht meine Stadt. Ihre Kunst, Architektur und Musik gefielen mir, doch die Kultur und Geschichte, die Politik und Gesetzgebung, mit denen ich mich befassen wollte, waren die Australiens, der neuen Heimat meiner Familie. Die Bücher, die ich schrieb, die Ausstellungen, die ich kuratierte, die Umweltanliegen, die ich voranzutreiben unternahm, setzten den Versuch meiner Mutter fort, sich in Australien zu assimilieren, sie waren ein Mittel, mich australischer zu machen.

Ich hatte auch nie vorgehabt, etwas zu dem hinzuzufügen, was über die Gallias geschrieben worden war, seit in den 1960er Jahren das Wien der Jahrhundertwende internationales Interesse zu erregen begonnen hatte. In Büchern und Katalogen über Kunst und Design wurden sie meist als Mäzene Klimts und Hoffmanns erwähnt; Moriz und Hermine kamen aber auch in Büchern vor, die sich mit der Rolle Wiens als eines der geistigen und kulturellen Zentren des frühen 20. Jahrhunderts befassten. Die Gallias tauchten in der Debatte darüber auf, ob es die Juden oder zum Christentum konvertierte Juden waren, die Wien jene kulturelle Bedeutung verliehen, die es vorher und nachher nicht erreichte.

Auch über Jüdisches wusste ich nichts, obwohl ich als Fünfzehnjähriger mit meiner Mutter auf dem Rückweg von unserer zweiten Europareise in Israel gewesen war. Der Grund lag nicht bloß darin, dass ich ein Atheist war, der noch nie eine Synagoge betreten und keine Ahnung vom Talmud hatte; ich war einfach beinahe völlig von jüdischer Gesellschaft und Kultur abgeschnitten. Als ich Claire Young kennenlernte, mit der ich zwanzig Jahre lang zusammenlebte, hatte ich keine Ahnung, was sie meinte, wenn sie sich als Schickse bezeichnete. Ohne Romane – besonders James Micheners »Die Quelle«, das ich mir in meinem zweiten Gymnasialjahr 1970 als Preis für das fünftbeste Zeugnis aussuchte, und »Exodus« von Leon Uris, das ich ungefähr um dieselbe Zeit las – hätte ich beinahe nichts von jüdischer Geschichte gewusst.

Ich hatte auch wenig Ahnung davon, was in den Schränken meiner Mutter lag. Das Kästchen mit der Mahler-Korrespondenz hatte ich nie gesehen. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, Anne könne noch Dokumente haben, die Aufschluss über die Stellung von Moriz und Hermine in der Wiener Gesellschaft gaben. Doch als meine Bibliotheksrecherchen und die Briefe in Annes Kästchen ein ganzes Netz von Beziehungen zwischen den Gallias, Mahlers, Pollak und Moll aufdeckten, gewann ich ein Bewusstsein dafür, was an Möglichkeiten vorhanden war. Wien mochte außerhalb der Themen gewesen sein, über die ich schreiben wollte; nun rückte es nach innen.

Anne hatte nicht vor, mir auf die Sprünge zu helfen. Dass ich über sie schrieb, war das Letzte, was sie wollte. Hätte sie vor ihrem Tod 2003 ihr Leben für bemerkenswerter gehalten, ich hätte vielleicht gar nicht angefangen. Aber sie beteuerte hartnäckig, es sei nicht interessant. Bruce und ich versuchten ihr das auszureden und scheiterten. Eltern haben es an sich, dass sie in Auseinandersetzungen gerne das letzte Wort haben wollen und auch bekommen, solange ihre Kinder noch jung sind, die Lebenden allerdings haben es den Toten voraus, das letzte Wort über sie zu behalten. Anne war der Grund, dass ich mich auf dieses Buch einließ. Wenn ich über andere Familienmitglieder schrieb, dann deswegen, um sie zu erklären. Vor allem wollte ich ihrem Leben jenen Wert geben, den sie ihm selbst nicht zugeschrieben hatte. Obwohl ihr Tod noch zu nahe war, als dass ich hätte darüber schreiben können, hatte ich vor, mit ihr zu beginnen und zu enden.

Ich dachte, ich hätte ideale Quellen – zugänglich, vielfältig und reichhaltig, ohne abschreckend umfangreich zu sein. Ich hatte einen Erinnerungstext, den Anne auf meine Bitte hin Anfang der 1990er Jahre verfasst hatte, als ich mich mehr und mehr für die Gallias zu interessieren begann. In ihren Schränken in Canberra gab es einen wahren Schatz an Dokumenten. Es gab die Familiensammlung von Objekten der Wiener Werkstätte; als sie die Nationalgalerie von Victoria in Melbourne 1976 ankaufte, war sie der einzige Hoffmann-Auftrag von Bedeutung, der so gut wie vollständig in ein Museum kam; nicht einmal das Museum für angewandte Kunst in Wien hatte Vergleichbares. Es gab Hermines Porträt, 1976 von der National Gallery in London erworben und damit das einzige Klimt-Gemälde in einem englischen Museum.

Ich wollte natürlich noch mehr und sah mich weiter um, absolvierte nicht nur ein beträchtliches Arbeitspensum in Archiven, Bibliotheken und Museen, sondern besuchte auch die Städte, woher die diversen Verwandten stammten, die Gebäude, wo sie gelebt und gearbeitet hatten, die Friedhöfe, wo sie begraben lagen. Ich fand etliches, doch nichts reichte an die Schränke meiner Mutter heran; sie enthielten viel mehr, als ich angenommen hatte. Es gab Konzertbücher, Wetterbücher, Reisetagebücher, Autografenbücher, Skizzenbücher, Rezeptbücher und ein Gästebuch. Es gab Geburts- und Totenscheine, Heirats- und Scheidungsdokumente und einen Ehevertrag, Dokumente über den Austritt aus einer Religion und den Eintritt in eine andere. Es gab Schulhefte und -auszeichnungen, Pässe, Briefe, Postkarten, Gedichte und Menükarten. Es gab Bücher mit Widmungen und Randbemerkungen, Theater-, Konzert- und Kinoprogramme. Es gab Fotos, nicht nur von Verwandten, sondern auch von den Häusern und Wohnungen, in denen sie lebten. Es gab einen Bericht über eine Verhaftung und einen Gefängnisaufenthalt.

Diese Quellen führten mich tiefer in die Vergangenheit, als ich jemals für möglich gehalten hatte, und sie verwandelten die Position meiner Mutter in diesem Buch auf eine Art, der ich nicht widerstehen konnte. Das Personal vervielfältigte sich, während ich mich mit vielen Verwandten beschäftigte, mit denen Anne nichts zu tun haben wollte; gleichzeitig änderte sich die Gewichtung Hermines und Gretls am stärksten. Da ihre erhaltenen Tagebücher weitaus reichhaltiger waren als erwartet, fühlte ich mich verpflichtet, sie entsprechend zu berücksichtigen. Darin ging es darum, wie die Gallias in Wien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hatten, und so wurde dieser Teil des Buches immer umfangreicher. Allmählich wurde es ein Buch über drei Generationen von Frauen: meine Urgroßmutter, meine Großmutter und meine Mutter.

Zudem kam ich der Gegenwart näher als geplant. Ursprünglich hatte ich mit der Flucht Gretls, Käthes und Annelores aus Wien aufhören wollen, denn ihr Leben in Australien schien zu gewichtig, um es in dem Buch unterzubringen. Doch als ich sie glücklich nach Sydney gebracht hatte, erkannte ich, dass ich weitermachen musste, wenn auch selektiv. Ich wollte herausfinden, wie sie damit zurechtgekommen waren, ihre Privilegien zu verlieren, wie es für sie war, nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs als »enemy aliens«, feindliche Ausländer, klassifiziert zu werden, und wie ihre religiöse Einstellung sich wandelte. Ich musste zeigen, wie sie auf eine vollkommen andere Kultur reagierten, wie sie, nachdem sie sich in Österreich so sehr um Assimilation bemüht hatten, in Australien einen neuen Versuch dazu unternahmen, und wie sie trotz aller erlittenen Verfolgungen Österreich tief verbunden blieben. Mein Fazit war: Ich musste erkunden, was es für Annelore bedeutete, Anne zu werden.

Zudem wollte ich unbedingt herausbekommen, was mit der Sammlung der Familie geschehen und wie es Gretl und Käthe gelungen war, ihre Gemälde und Möbel nach Australien zu schaffen, da doch die Nazis in Österreich so viele Kunstgegenstände geraubt hatten. Doch wieder bemerkte ich, dass ich mich in Richtung Zukunft vorarbeitete. Allmählich kam ich zu der Ansicht, für die Geschichte der Sammlung sei es genauso wichtig, wie Anne sie verkauft hat, als wie Moriz und Hermine sie erworben hatten. Der Umgang Annes mit ihrem Erbe lieferte ein Beispiel dafür, wie eine von Familienmitgliedern, die sich auf die beste Beratung und den erlesensten Geschmack stützen konnten, aufgebaute Sammlung oft ein, zwei Generationen später durch einen Nachkommen zerstreut wird, der bei weitem nicht jenes Kunstverständnis und wenig oder gar keinen Sinn für sein oder ihr Erbe besitzt. Annes Erfahrungen machten zudem deutlich, wie wehrlos ein naiver Mensch auf dem Kunstmarkt ist.

Diesen Fragen ging ich auf zugleich unpersönliche und persönliche Art nach. Hin und wieder beschäftigte ich mich mit Hermine, Gretl und Anne wie mit irgendwelchen anderen historischen Figuren, ich suchte Material, um ihr Leben zu rekonstruieren, ohne besonders emotional beteiligt zu sein oder auf neu Aufgefundenes sonderlich zu reagieren. Manchmal wiederum verließ ich mich auf meine direkte Kenntnis und meine Einsicht in die Familie und griff auf Spuren eigener Erinnerung zurück, versuchte heraufzubeschwören, was man mir erzählt hatte oder was ich erlebt zu haben glaubte. Von dem Augenblick an aber, als ich mich in die Tagebücher in Annes Schrank vertiefte und entdeckte, dass sie in der »Kristallnacht« einen schönen Abend in der Wiener Oper verbracht hatte, konfrontierte und erschütterte mich die Vergangenheit auf eine Art, wie ich sie nie erlebt hatte.

Besonders fielen mir die Kontinuitäten und Umbrüche quer durch die Generationen auf: wie manche Verhaltensmuster aufgegeben und andere wiederholt wurden, obwohl sie unvernünftig waren. Wie Anne kämpfte ich mit dem Vermächtnis, aus einer reichen jüdischen Familie zu stammen, doch anders als sie begann ich, das Judentum als Teil meiner Identität zu akzeptieren, während mich der ostentative Konsum von Hermine und Moriz schockierte und es mich genierte, der Urenkel eines solchen Magnaten zu sein. Wo immer ich mich hinwandte, fand ich mehr als vorausgesehen oder gewünscht, nicht nur weil ich länger zu schreiben hatte als erwartet, sondern auch, weil mich die Arbeit oft auf ein Terrain führte, das ich lieber nicht betreten hätte.