Über den Autor
Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der California Western University eröffnete Lee Carroll in San Diego ein eigenes Unternehmen, das er 27 Jahre lang erfolgreich führte.
Wie passen Parabeln und Engel-Geschichten in diesen Zusammenhang? Lee Carroll pflegt zu sagen, Gott habe ihn »mit der Nase darauf stoßen« müssen, um ihm zu beweisen, dass seine spirituelle Erfahrung Wirklichkeit war. 1989 markierte den Wendepunkt; damals sprach das erste Medium von Kryon. Drei Jahre später sagte ihm das zweite Medium, völlig unabhängig davon, noch einmal das Gleiche (und buchstabierte den Namen KRYON während der Sitzung)!
Schüchtern wurden die ersten Kryon-Schriften einem Kreis metaphysisch interessierter Menschen in Del Mar, California, vorgestellt; der Rest ist bereits Geschichte – mit sechs metaphysischen Büchern, die innerhalb von vier Jahren herausgegeben wurden. Im Jahr 2011 erscheint der 12. Kryon-Band.*
1991 gründeten Lee und seine Partnerin Jan die Kryon Licht-Gruppen in Del Mar, die schon bald, statt im Wohnzimmer, in einer Kirche von Del Mar stattfanden. Mittlerweile veranstalten sie Treffen auf der ganzen Welt, mit bis zu 1000 Zuhörern. (Im Mai 1999 kamen 3.000 Zuhörer nach Amneville in Frankreich. A.d.Ü.) Kryon hat die größte ständige New Age-Datei in der Geschichte von America Online und zieht noch mehr elektronische Web-Browser mit seinen doppelten Internet-Seiten an: www.kryon.com und www.kryon.org. Die nationale Zeitschrift Kryon Quarterly begann 1995 zu erscheinen. Dieses 40 Seiten starke New Age-Magazin in Buntdruck enthält keinerlei Werbung und hat inzwischen über 3.500 Abonnenten in über 12 Ländern.
1995 wurde Lee gebeten, seine Arbeit bei den Vereinten Nationen (U.N.) zu präsentieren, vor einer U.N.-Abteilung, die als Society for Enlightenment and Transformation (S.E.A.T.) bekannt ist. Die Veranstaltung fand so großen Anklang, dass Lee 1996 zum zweiten Mal nach New York eingeladen wurde. (1999 zum dritten Mal, A.d.Ü.)
Lee ist in seiner Heimatstadt San Diego dabei, weitere inspirierte Geschichten und Parabeln zu schreiben.
* Anmerkung des Verlags
Titel der Originalausgabe: The Journey Home
Hay House, Inc., P.O. Box 5100
Carlsbad, CA 92018-5100
Aus dem Englischen von Melina Taeuber
Deutsche Ausgabe: © KOHA-Verlag GmbH Burgrain
Alle Rechte vorbehalten – 12. Auflage 2012
Lektorat: Franz Simon
Gesamtherstellung: Karin Schnellbach
E-Book-Umsetzung: Medialike GmbH, München
ISBN 978-3-867287-16-6
Jenen gewidmet, die erkannt haben,
dass ein Mensch die Macht hat, sein Leben zu ändern,
und dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen!
Wer ist Kryon
Kryon ist eine sanfte, liebevolle Wesenheit, die derzeit auf der Erde weilt, um uns zu helfen in die hohe Energie des sogenannten New Age zu wechseln. Kryons Worte haben manches Leben verändert und Liebe und Licht in einige der dunkelsten Winkel unseres Inneren gebracht. Die Idee der Erzählung DIE REISE NACH HAUSE wurde von Kryon inspiriert und von Lee Carroll aufgeschrieben.
Einleitung
Am 8. Dezember 1996, gegen Ende eines Nachmittags-Seminars, saß Kryon vor mehr als 500 Leuten in Laguna Hills, Kalifornien. In einer Sitzung, die über eine Stunde dauerte, erzählte er die Reise von Michael Thomas – eine Wanderung, geboren aus dem Wunsch eines der Erde müden Menschen, »nach Hause« zu gehen und bei seiner spirituellen Familie zu sein.
Der Name Michael Thomas steht sowohl für das unerhört Große und Heilige eines Erzengels Michael, wie auch für die in der alten Energie wurzelnden Eigenschaften des ungläubigen Thomas – eine Kombination, die auf viele von uns zutrifft. Einerseits fühlen wir uns als spirituelle Wesen, andererseits zweifeln wir oft an uns, zumal, wenn wir den wachsenden spirituellen Aufgaben und beängstigenden Herausforderungen des neuen Jahrtausends gegenüber stehen.
Michaels Reise nach Hause schildert ein Abenteuer, das sich durch sieben bunte Häuser zieht, jedes bewohnt von einem Engel. Jedes Haus stellt ein Merkmal des New Age dar und umfasst Weisheit, Unterricht, Humor und Einsicht in das, was Gott uns über uns mitteilen möchte. Gleichzeitig erhalten wir – während wir durch das neue Paradigma unseres New Age wandern – einen Einblick in die Art und Weise, wie die Dinge funktionieren.
Bis zum bewegenden und überraschenden Ende beschert die Reise des Michael Thomas uns eine Reihe liebevoller Unterweisungen, die von einer spirituellen Quelle kommen, welche immerfort den Wunsch hat, »unsere Füße zu waschen«.
Falls du Gott jemals die Frage gestellt hast: »Was möchtest du mich wissen lassen?« – DIES KÖNNTE DIE ANTWORT SEIN! Begib dich gemeinsam mit Michael Thomas auf seine spannende Reise. Vielleicht ähnelt sie der deinen?
E I N S
Michael Thomas
Schwarze Plastiksplitter flogen in alle Richtungen, als Mike seinen Ablageschuber mit »Eingängen« ziemlich unsanft gegen die Trennwand seines Vertriebsbüros stieß. Wieder einmal musste ein unschuldiger Gegenstand für Mikes angestauten Ärger über seine Situation herhalten. Unversehens schob sich ein Kopf durch die staubigen Blätter der Plastikpflanze zu seiner Linken.
»Alles in Ordnung da drüben?«, fragte John aus der Büro-Box nebenan.
Die Wände jedes Kubus waren gerade hoch genug, um die Illusion zu erzeugen, man sitze im eigenen Büro. Mike hatte auf seinem Schreibtisch mehrere hohe Gegenstände um sich platziert. Das half die Tatsache zu kaschieren, dass seine Kollegen nicht mehr als 1.30 Meter von ihm entfernt waren – alle vorschützend, sie säßen allein in ihrem Raum und führten »private« Gespräche. Unzählige, über den Boxen hängende nackte Neonröhren, tauchten Mike und die anderen in ein fahles, unnatürliches Licht, wie man es nur in der öffentlichen Verwaltung und der Industrie findet. Es schien die Rottöne so vollständig aus dem Farbspektrum zu absorbieren, dass alle, obgleich sie im sonnigen Kalifornien lebten, ganz bleich aussahen. Mike, der sich jahrelang nicht in der direkten Sonne aufgehalten hatte, wirkte noch blasser.
»Nichts, was ein Urlaub auf den Bahamas nicht beheben könnte«, antwortete Mike, ohne sich zu der Pflanze umzusehen, durch die Johns Kopf lugte. John zuckte die Achseln und wandte sich wieder seinem Telefongespräch zu.
Noch während die Worte aus seinem Mund kamen, wusste Mike: Bei dem Lohn, den er in der Bestellannahme des »Kohlenbergwerks« erhielt – so nannten die Angestellten ihre Vertriebsfirma –, würde er die Bahamas nie zu Gesicht bekommen. Er fing an, die Stücke der zertrümmerten Kunststoffablage aufzulesen und seufzte – was in letzter Zeit immer öfter vorkam. Wozu war er hier? Warum hatte er nicht die Energie oder die Motivation, sein Leben zu verbessern? Er starrte auf den dümmlich dreinschauenden ausgestopften Bär, den er sich gekauft hatte. »Halt’ mich lieb«, stand da drauf. Daneben lag sein liebster Far Side Cartoon – auf dem der Titelheld, Ned, irgendwas über den »Bluebird des Glücks« von sich gab und prompt vom »Hähnchen der Depression« besucht wurde.
Egal, wie viele lächelnde Gesichter oder Cartoons Mike an die Wände seiner Box pinnte, es änderte nichts an seinem Gefühl, in der Klemme zu sitzen. Er steckte fest in einem Leben, das ähnlich funktionierte wie eine Kopiermaschine im Büro; Tag für Tag der gleiche Ablauf, ohne Sinn und Zweck. Seine Frustration und Hilflosigkeit machten ihn wütend und deprimiert; und man merkte es ihm an. Sogar sein Vorgesetzter hatte sich schon dazu geäußert.
Michael Thomas war Mitte dreißig. Wie bei vielen in seinem Büro, ging es auch bei ihm darum, irgendwie zu überleben. Sein Job war von allem, was er hatte finden können, der einzige, der nicht viel Nachdenken erforderte. Mike konnte acht Stunden am Tag abschalten, nach Hause gehen, schlafen, am Wochenende seine Rechnungen bezahlen und montags wieder arbeiten gehen. Er bemerkte, dass er in seinem Los Angeles-Büro von den mehr als dreißig Mitarbeitern nur vier mit Namen kannte. Es war ihm einfach egal. Dabei arbeitete er schon über ein Jahr dort – seit seine Beziehung in die Brüche gegangen und sein Leben unwiderruflich ruiniert war. Nie sprach er über das, was geschehen war, obgleich es ihm fast jede Nacht durch den Kopf ging.
Mike lebte allein, mit seinem einsamen Fisch. Er hätte gern eine Katze gehabt, aber sein Vermieter erlaubte es nicht. Ihm war klar, dass er das »Opfer« spielte, doch seine Selbstachtung war zerstört. Also stocherte er beständig in seiner Lebenswunde, hielt sie offen, blutend und schmerzhaft, so dass er sich jederzeit in Erinnerung rufen konnte, was passiert war. Es schien ihm nichts anderes übrig zu bleiben und er war nicht sicher, ob er – selbst wenn er bereit gewesen wäre – genügend Energie gehabt hätte, die Dinge zu ändern. Aus Jux hatte er seinen Fisch »Katze« getauft, und immer, wenn er nach Hause kam oder bevor er zur Arbeit ging, redete er mit ihm.
»Nicht die Hoffnung aufgeben, Katze«, sagte Mike dann jedesmal zu seinem Flossen tragenden Freund. Der Fisch gab natürlich nie eine Antwort.
Mit seinen zwei Metern konnte Mike einem beinahe Angst machen – bis er lächelte. Sein Grinsen hatte einen Charme, der alle Vorbehalte gegenüber seiner hünenhaften Gestalt dahinschwinden ließ. Es war kein Zufall, dass er am Telefon arbeitete und seine Kunden ihn nicht sehen konnten. Vielmehr diente es dazu, seine beste Eigenschaft zu verleugnen; wie in einem selbst errichteten Gefängnis, konnte er weiter im Melodrama seiner gegenwärtigen Situation schwelgen. Seine eigentliche Begabung lag im Umgang mit Menschen, aber er nutzte sie nur, wenn seine Arbeit ihn gelegentlich dazu zwang. Von sich aus pflegte Mike keine Freundschaften; und das weibliche Geschlecht existierte zurzeit nicht einmal für ihn; obgleich die Frauen an ihm interessiert waren.
»Mike«, pflegten seine Kollegen zu sagen, »wann warst du zum letzten Mal verliebt? Du musst ausgehen und dir eine gute Frau suchen – hör auf, über dein Leben nachzugrübeln!«
Worauf sie nach Hause gingen – zu ihren Familien, Hunden und Kindern, und gelegentlich auch zu ihrem Fisch. Doch Mike hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, um die Liebe in sein Leben zurückzuholen. Es hatte keinen Zweck, entschied er. Ich habe schon früh die richtige Partnerin gefunden, sagte er sich immer. Nur – sie hat es nicht erkannt. Er war sehr verliebt gewesen und natürlich auch voller Erwartungen. Sie hingegen hatte einfach Spaß haben wollen. Als ihm das schließlich klar wurde, war es, als sei seine Zukunft zusammengeschrumpft und verschwunden. Er hatte seine Freundin leidenschaftlich geliebt und glaubte, nur einmal im Leben so empfinden zu können. Er hatte ihr alles gegeben, und sie hatte es einfach weggeworfen.
Mike war auf der Farm seiner Eltern in Blue Earth – einem kleinen Städtchen in Minnesota – aufgewachsen und vor einem Leben geflohen, das seiner Meinung nach sinnlos war: Er hätte Getreide angebaut, das entweder von fremden Ländern aufgekauft oder in riesigen Silos gelagert wurde – weil es einfach zu viel davon gab. Schon von klein auf hatte er gewusst, dass er kein Farmer werden wollte. Nicht einmal in seinem eigenen Land war dieser Beruf geachtet. Wozu sollte er gut sein? Außerdem konnte Mike den Stallgeruch nicht ausstehen und wollte lieber mit Menschen, statt mit Tieren und Traktoren arbeiten. Er war ein guter Schüler gewesen und ein absolutes Ass im Umgang mit Menschen. Kein Wunder also, dass Mike Kaufmann geworden war. Gute Jobs fand er mit Leichtigkeit und so hatte er eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen verkauft, die er ehrlichen Herzens empfehlen konnte. Die Leute kauften gern bei Michael Thomas.
Wenn er zurückblickte auf das, was seine verstorbenen Eltern ihm mitgegeben hatten, stellte er fest: Wirklich geblieben war von all dem sein Glaube an Gott. Viel nützen tat er ihm jetzt nicht – so dachte Mike oft voll Bitterkeit. Er war Einzelkind gewesen und seine Eltern – seine geliebte Mom und sein Dad – waren kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Immer noch trauerte er um die beiden und trug stets Fotos bei sich, die ihn an ihr Leben – und ihren Tod – erinnerten. Mike ging weiterhin regelmäßig zur Kirche und machte zumindest äußerlich die Gesten mit, die zum Gottesdienst gehörten. Als der Geistliche sich nach seinem spirituellen Wohlergehen erkundigte, erklärte Mike, dass er an Gott glaube und sich selbst als spirituelles Wesen sehe. Er war überzeugt, Gott sei gerecht und liebevoll, allerdings im Augenblick nicht wirklich auf seiner Seite – und das eigentlich schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Mike betete oft um ein besseres Leben, hatte aber wenig Hoffnung, dass sich tatsächlich etwas ändern würde.
Mit der frischen Gesichtsfarbe seines Vaters war Mike zwar nicht direkt schön, aber sein rauhes Aussehen wirkte attraktiv. Frauen fanden ihn unwiderstehlich. Sein strahlendes Lächeln, sein blondes Haar, sein hoher Wuchs, sein kräftiges Kinn und seine tiefblauen Augen zogen die Blicke auf sich. Und wer genügend Intuition besaß, der spürte Mikes Integrität und fasste augenblicklich Vertrauen zu ihm. Mehr als einmal hatte Mike Gelegenheit gehabt, Situationen zu seinem Vorteil auszunutzen – in geschäftlichen, wie auch in Liebesbeziehungen –, doch er hatte es nie getan. Sein Bewusstsein war durch seine bäuerliche Herkunft geprägt, eine Prägung, die zu den wertvollen Attributen gehörte, die ihm aus der Heimat seiner Kindheit und Jugend noch anhafteten.
Er war unfähig, zu lügen. Er spürte, wann andere Hilfe brauchten. Er hielt den Leuten, die im Supermarkt ein- und ausgingen, die Türe auf; er hatte Respekt vor alten Menschen und redete mit ihnen; und er gab den heruntergekommenen, bettelnden Männern und Frauen auf der Straße immer ein paar Dollars, auch wenn er den Verdacht hatte, dass sie für Alkohol verschwendet würden. Er war der Meinung, dass die Menschen sich gemeinsam für eine bessere Welt einsetzen sollten, und er konnte nicht verstehen, warum die Leute in seiner neuen Heimatstadt nicht miteinander redeten, ja, oft nicht einmal ihre Nachbarn kannten. Vielleicht, weil das Wetter so schön war, dass niemand je Hilfe brauchte. Wie paradox, dachte er.
Mikes einziges weibliches Rollenvorbild war seine Mom gewesen; und so behandelte er alle Frauen mit dem gleichen Respekt, den er dieser wunderbaren, einfühlsamen Frau – die ihm jetzt so sehr fehlte – entgegengebracht hatte. Teilweise hing sein augenblickliches Elend damit zusammen, dass dieser Respekt in der einzigen »wirklichen« Beziehung seines Lebens scheinbar ausgenutzt worden war. Tatsächlich jedoch hatte es sich um ein kulturelles Missverständnis gehandelt: Beide Partner hatten etwas erwartet, was sie nicht bekamen. Das kalifornische Mädchen, das ihm das Herz gebrochen hatte, hatte unter Liebe das verstanden, was in ihrer Kultur üblich war. Doch Mike hatte es nicht so gesehen. Er war mit einer bestimmten Vorstellung von Liebe aufgewachsen und konnte eine andere Auffassung nicht akzeptieren.
Und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte. Hier war Michael Thomas, am Tiefpunkt seines Lebens angelangt, an einem Freitagabend auf dem Nachhauseweg zu seinem winzigen 2-Zimmer- Apartment (mit integriertem Bad!). Unterwegs hatte er im Supermarkt noch rasch die mageren Lebensmittelvorräte gekauft, die er brauchte, um die nächsten zwei Tage über die Runden zu kommen. Schon längst hatte er herausgefunden, dass er mit seinem Geld viel besser auskam, wenn er bestimmte Marken kaufte und die beigefügten Coupons für weitere Käufe verwendete. Doch sein wirksamster Spartip war: weniger essen!
Mike kaufte Fertiggerichte, die man nicht zu kochen brauchte. Dadurch konnte er auf den Herd verzichten und musste weniger Strom zahlen. Er fühlte sich zwar unbefriedigt, irgendwie noch hungrig, und bekam nie einen Nachtisch, auf den er sich freuen konnte – doch paßte das gut zu seiner selbst kreierten Opferrolle. Außerdem fand er es sehr praktisch, über dem Spülstein direkt aus der Packung zu essen. Damit ersparte er sich das leidige Spülen! Er hasste Spülen und rühmte sich seinem Kollegen und einzigen Freund John gegenüber oft, wie toll er dieses Problem gelöst habe. John, der Mikes Gewohnheiten kannte, witzelte dann, Mike werde sicher bald einen Weg finden, wie er – ganz ohne Apartment – alles vom nächsten Obdachlosenheim aus erledigen könne. Dabei pflegte er zu lachen und klopfte Mike auf den Rücken. Doch Mike hatte diese Möglichkeit tatsächlich in Betracht gezogen.
Als Mike sich vom Supermarkt auf den Weg nach Hause machte, war es schon dunkel. Den ganzen Tag über hatte sich der dichte Nebel in Regen aufgelöst und immer noch war alles glatt und glänzte im fahlen, gelben Licht der Straßenlaterne, das sich auf den Stufen zu Mikes Apartment spiegelte. Froh, in Kalifornien zu leben, dachte Mike oft zurück an die entbehrungsreichen Wintermonate in Minnesota, wo er aufgewachsen war.
Seine ganze Jugend hindurch hatte er eine Leidenschaft für alles Kalifornische gehabt. Er hatte sich geschworen, dem Hundewetter, das offenbar alle sang- und klanglos hinnahmen, zu entkommen. »Wie kommt es, dass Leute freiwillig irgendwo leben, wo man in zehn Minuten tot sein kann, wenn man bei schlechtem Wetter nach draußen geht?«, fragte er seine Mom immer wieder. Sie schaute ihn dann nur lächelnd an und sagte: »Familien bleiben meistens da, wo sie herkommen. Außerdem ist man hier sicher.« Das war ihre typische Antwort, um ihm klarzumachen, wie gefährlich Los Angeles und wie schön Minnesota war. Aber es stimmte nur, wenn man nicht Tod durch Erfrieren hinzufügte! Mike konnte seine Mutter nicht davon überzeugen, dass die Gefahr eines Erdbebens einfach wie ein Glücksspiel sei. Es konnte einen zwar erwischen – musste es aber nicht. Die zermürbenden Winter in Minnesota dagegen kamen jedes Jahr – eine Tatsache, mit der man absolut zu rechnen hatte!
Kein Wunder also, dass Mike seine ländliche Heimat verließ, sobald er die Highschool beendet hatte und seine College-Jahre in Kalifornien verbrachte. Er hatte seine kaufmännische Begabung genutzt, um alles, was er unternahm, selbst zu finanzieren. Jetzt wünschte er sich, er wäre in den Jahren vor dem Unfall noch eine Weile zu Hause geblieben, bei seiner Mom und seinem Dad. Er fand, dass er in seinem Drang, der Kälte zu entrinnen, kostbare Zeit mit seinen Eltern verschenkt hatte. Im Nachhinein kam es ihm egoistisch vor.
Im trüben Dämmerlicht schleppte sich Mike nun die Stufen zu seiner Parterrewohnung hoch und nestelte an seinem Schlüsselanhänger. Die Tüte mit Lebensmitteln im Arm, steckte er den Schlüssel ins Schloss. Der Schlüssel passte auch normalerweise; doch von da an war an diesem Freitagabend das »Normale« für Michael Thomas zu Ende. Auf der anderen Seite der Tür befand sich ein Geschenk – eine potenzielle Episode in Mikes Schicksal –, etwas, das sein Leben auf immer verändern sollte.
Da der Türrahmen verzogen war, hatte Mike sich angewöhnt, die klemmende Wohnungstür mit seinem Körpergewicht aufzudrücken, wobei sie jedesmal mit großem Schwung aufflog. Mike hatte eine Methode perfektioniert, wie er die große Papiertüte mit Lebensmitteln auf der einen Hüfte balancierte, den Schlüssel ins Schloß steckte, ihn umdrehte und gleichzeitig mit dem Fuß gegen die Tür trat. Für das Manöver musste er die Hüfte verdrehen, und obgleich es gut funktionierte, fand sein Freund John, dass es ziemlich komisch aussah!
Die widerspenstige Tür flog durch den Druck von Mikes Hüfte auf und erschreckte den Einbrecher, der sich im dunklen Zimmer zu schaffen machte. Mit der Behendigkeit einer aufgescheuchten Katze und durch jahrelange Erfahrung mit dem Unvorhersehbaren, schoss der ungeladene Gast – der einen Kopf kleiner war als Mike – nach vorn, packte Mikes Arm und zerrte ihn in den Raum. Da Mikes Hüfte noch verdreht war, befand dieser sich bereits in der Vorwärtsbewegung und der Dieb konnte ihn leicht zu Fall bringen. Mikes großer Körper schlug der Länge nach hin, wobei die Lebensmittel auf die gegenüberliegende Wand prallten und die verschweißten Packungen aufplatzten. Kurz bevor er auf dem Boden lag, hörte Mike – geschockt und alle Sinne hellwach – wie die Tür hinter ihm zuknallte – und der Einbrecher noch im Zimmer war! Dann sah er eine Glasscherbe auf sein Gesicht zukommen, ein Stück des zertrümmerten Fensters, durch das der kleinere Mann eingebrochen war.
Solche Momente sind es oft, von denen Menschen später sagen, alles sei wie in Zeitlupe abgelaufen. Bei Michael Thomas war das anders. Die Sekunden rasten wie im Zeitraffer vorbei und versetzten ihn in äußerste Panik! Der Mann, der in Mikes Apartment eingebrochen war, schien entschlossen, sein Vorhaben durchzuführen. Er wollte Fernseher und Stereoanlage mitnehmen und was mit seinem Opfer geschah, interessierte ihn nicht im Geringsten. Kaum lag Mike am Boden, als der Mann auch schon auf ihm saß und seine verschwitzten Hände wie einen Schraubstock um Mikes Kehle presste. Seine weit geöffneten Augen waren nur wenige Zentimeter von Mikes Gesicht entfernt. Mike spürte den fauligen Atem des Mannes, dessen Rumpf jetzt schwer auf seinem Magen lag. Instinktiv reagierte Mike wie jemand, dem der Tod im Nacken sitzt und machte eine Bewegung wie aus einem zweitklassigen Film: Trotz seiner Verwirrung warf er den Kopf schnell und mit aller Kraft nach vorn und schmetterte ihn gegen den Kopf des Einbrechers. Es funktionierte. Der Angreifer, überrascht von der Heftigkeit des Aufpralls, lockerte sekundenlang seinen Griff; Mike rollte sich blitzschnell zur Seite und versuchte, aufzustehen. Doch bevor er noch auf den Beinen stand, schlug der Einbrecher zu und versetzte ihm einen Hieb in den Magen. Der Aufprall hob Mike buchstäblich in die Höhe; er fiel nach links, schlug hart auf etwas Großes und registrierte benommen, dass es sich um sein Aquarium handelte. Mit lautem Getöse gesellten sich Vitrine, Aquarium und der einsame Fisch zu den Einkäufen an der Rückwand des kleinen Zimmers.
Der Schmerz verschlug Mike den Atem. Doch während er noch nach Luft schnappte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen, als ein Stiefel von der Größe Montanas auf ihn herabstieß. Sein Angreifer grinste. Es war zu schnell gegangen: Der Tritt saß! Mike spürte und hörte, wie die Knochen seines Halses grauenhaft knirschten. Entsetzt schnappte er nach Luft, absolut sicher, dass seine Luftröhre zertrümmert war – womöglich auch seine Wirbelsäule. Sein ganzer Körper reagierte auf das knackende, brechende Geräusch seines malträtierten Halses. Mit Entsetzen begriff er, was passiert war. Es war vorbei – der Tod war da! Er versuchte zu schreien, doch sein Kehlkopf funktionierte nicht. Er bekam keine Luft mehr und es wurde schwarz vor seinen Augen. Alles war still. Der Dieb beeilte sich – ungeachtet des reglos daliegenden Mannes –, sein nächtliches Werk zu beenden, als er erneut durch Lärm an der mitgenommenen Wohnungstür aufgeschreckt wurde.
»Was ist los da drin? Ist alles in Ordnung?!« Ein Nachbar hämmerte wie wild mit der Faust auf das unnachgiebige Holz.
Der Einbrecher – fluchend über sein Missgeschick – wandte sich widerstrebend dem zertrümmerten Fenster zu. Er schlug ein paar Glasscherben weg, die ihm im Weg waren und glitt mühelos hinaus.
Mikes Nachbar, der Mike nicht näher kannte und wieder das Geräusch von splitterndem Glas im Zimmer hörte, entschloss sich, am Türgriff zu drehen. Die Tür war unverschlossen. Er trat ein, fand das Apartment in wüstem Durcheinander und sah, wie ein Mann durch das zertrümmerte Fenster floh. Vorsichtig tappte er im Dunkeln an Fernseher und Stereoanlage vorbei – die merkwürdigerweise mitten im Raum standen – und knipste das Licht an. Eine nackte Birne flammte an der Decke auf.
»Oh, mein Gott!« Er hörte, wie seine Stimme vor Entsetzen verstummte.
In Sekundenschnelle war der Mann am Telefon und rief um Hilfe. Michael Thomas lag bewusstlos und schwer verletzt am Boden. Es war jetzt still im Raum – bis auf das Geräusch des hin und her schlagenden Fisches, nicht weit von Mikes Kopf entfernt. »Katze« wand sich, zwischen Salat und Nudel-Fertiggericht, in einem unappetitlichen Haufen verstreuter Lebensmittel, den die wachsende Lache von Mikes Blut allmählich rot färbte.
Z w e i
Die Vision
Mike wachte in einer fremden Umgebung auf. Als er richtig zu sich kam, fiel ihm jäh alles wieder ein. Seine Augen schossen durch den Raum und es war offensichtlich, dass er sich weder in seinem Apartment, noch in einem örtlichen Krankenhaus befand. Alles war still. Die Stille war überwältigend, beinahe unheimlich. Kein Laut war zu hören, nur sein eigener Atem! Keine vorbeifahrenden Autos, kein Surren der Klimaanlage – absolut nichts! Mike versuchte, sich etwas aufzurichten.
Er schaute nach unten und bemerkte, dass er sich auf einer Art Liege befand. Bettzeug war keines da, doch er trug die gleiche Kleidung wie zur Zeit des Überfalls. Er fasste sich an den Hals. Sein letzter bewusster Gedanke war gewesen, sein Hals sei zerquetscht, doch zu seiner Erleichterung konnte er keine Verletzung feststellen. Im Gegenteil, Mike fühlte sich richtig gut! Vorsichtig tastete er verschiedene Stellen seines Körpers ab. Seltsam, nichts tat ihm weh, nirgends schien er verletzt. Doch diese Stille! Sie machte ihn wahnsinnig; kein Laut drang an seine Ohren. Auch das Licht war ganz merkwürdig: Es schien von nirgendwo und überall herzukommen. Es war strahlend weiß – ein Weiß, so bar jeder Farbe, dass es seinen Augen weh tat. Er beschloss, seine Umgebung näher zu untersuchen.
Sie hatte etwas Gespenstisches. Er war nicht in einem Raum – aber auch nicht draußen! Es gab nur ihn, die Liege und den weißen Boden, der sich ins Endlose auszudehnen schien. Mike legte sich wieder zurück. Jetzt wusste er, was passiert war: Er war tot. Man musste kein Experte für Weltraumraketen sein, um zu merken, dass nichts von dem, was er wahrnahm, mit der physischen Welt übereinstimmte. Aber wieso hatte er noch einen Körper?
Mike beschloss, etwas ganz Banales auszuprobieren. Er kniff sich, um festzustellen, ob es weh tat. Er zuckte zusammen und schrie »Au!«.
»Wie fühlst du dich, Mike?«, fragte eine wohltuende männliche Stimme.
Mike drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Was er sah, war ein Anblick, den er für den Rest seines Lebens nicht vergessen würde. Gleichzeitig empfand er eine engelhafte Präsenz, das Gefühl tiefer Liebe. Mike verließ sich immer zuerst auf das, was er FÜHLTE und dann erst auf das, was er SAH. Er hatte sich diese Reihenfolge zur Gewohnheit gemacht, wenn er nach seinen Erfahrungen gefragt wurde; und im Augenblick sah er eine Gestalt in Weiß, die ihm ein wenig unheimlich, aber dennoch wunderschön erschien. Ob sie wohl Flügel trägt?, fragte er sich. Wie albern! Mike lächelte der Erscheinung zu und konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie wirklich existierte.
»Bin ich tot?«, erkundigte er sich gefasst und respektvoll bei der Wesenheit.
»Ganz und gar nicht«, sagte die Gestalt, indem sie auf Mike zukam. »Es ist nur ein Traum, Michael Thomas.« Die Erscheinung näherte sich, offenbar ohne zu gehen. Mike bemerkte, dass das Gesicht des »Mannes« undeutlich und verschwommen blieb; und doch vermittelte es ihm ein Gefühl von Geborgenheit, von Sicherheit und Behütet-Sein. Er konnte nicht anders als weitersprechen – er fühlte sich so wundervoll!
Die Gestalt war weiß gekleidet, trug jedoch weder ein Gewand noch einen Anzug. Ihr Kleid erschien wie lebendig und bewegte sich mit ihr, als sei es ihre Haut. Auch ihr Gesicht wirkte verschwommen. Mike konnte weder Falten, noch Knöpfe oder Umschläge erkennen; ebenso wenig, wo der Stoff endete und die Haut begann; und doch war das seltsame Gewand nicht eng anliegend. Es schien leicht und fließend – oder auch leuchtend – und verschwommen. Die Vision war für Mikes Wahrnehmung noch eindrucksvoller, weil das Weiß ihres Gewandes in den unvorstellbar weißen Hintergrund der Umgebung überging. Nur schwer ließ sich erkennen, wo die Gestalt endete und der Hintergrund begann.
»Wo bin ich? Vielleicht ist das eine dumme Frage, aber sicher habe ich das Recht, es zu erfahren«, sagte Mike mit dünner Stimme.
»Du bist an einem heiligen Ort«, antwortete die Gestalt. »Ein Ort, den du selber erschaffen hast, und ein Ort voller Liebe. Das ist es, was du im Augenblick fühlst.« Das engelhafte Wesen verneigte sich vor Mike, und schien den ohnehin schon hellen Raum mit noch mehr Licht zu füllen.
»Du hast es erraten: Ich bin ein Engel.«
Mike zuckte nicht mit der Wimper. Er wusste, die Erscheinung vor ihm sprach die Wahrheit. Die Situation – wie sonderbar sie auch scheinen mochte – war außerordentlich real. Mike fühlte alles ganz klar.
»Sind alle Engel Männer?« Mike bedauerte seine Worte, sowie er sie ausgesprochen hatte. Was für eine blöde Frage! Dies war offensichtlich etwas ganz Besonderes. Wenn es ein Traum war, dann war er jedenfalls nicht weniger wirklich, als das, was Mike bisher erlebt hatte.
»Ich bin nur das, was du sehen möchtest, Michael Thomas. Ich besitze keine menschliche Gestalt; mein Aussehen soll dir helfen, dich wohl zu fühlen. Und nein – nicht alle Engel sind Männer. In Wirklichkeit haben wir kein Geschlecht. Und wir haben auch nicht alle Flügel.«
Mike musste lächeln bei dem Gedanken, dass vielleicht alles, was er sah, seine eigene Kreation war. »Und wie siehst du in Wirklichkeit aus?«, fragte er, inzwischen entspannt genug, um normal mit diesem liebevollen Wesen zu reden. »Warum kann man dein Gesicht nicht erkennen?« Eine, unter diesen Umständen, berechtigte Frage.
»Meine Form würde dich in Erstaunen versetzen, und bei ihrem Anblick käme dir eine merkwürdige Erinnerung an sie; denn auch du selbst siehst so aus, wenn du nicht auf der Erde bist. Es ist eine Form, die sich nicht beschreiben läßt; deshalb werde ich fürs Erste weiter so erscheinen, wie bisher. Was mein Gesicht betrifft, so wirst du es schon bald zu sehen bekommen.«
»Wenn ich nicht auf der Erde bin?«, forschte Mike.
»Das Leben auf der Erde ist zeitlich begrenzt; doch das weißt du selbst, nicht wahr? Ich kenne dich gut, Michael Thomas. Du bist ein spiritueller Mann und hast erkannt, dass der Mensch ein ewiges Wesen ist. Viele Male hast du dafür gedankt, und wir, hier auf meiner Seite, haben jedes deiner Worte gehört.«
Mike war still. Es stimmte, er hatte in der Kirche und zu Hause gebetet; doch sich vorzustellen, alles sei tatsächlich gehört worden, fiel ihm schwer. Diese Wesenheit in seinem Traum kannte ihn also?
»Wo kommst du her?«
»Von zu Hause.«
Die liebevolle Wesenheit schien jetzt direkt vor Mikes kleiner Liege zu leuchten. Sie neigte den Kopf zur Seite und wartete geduldig, während Mike alles auf sich wirken ließ. Er spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Tief im Inneren wusste er, dass die Wahrheit in ihrer ganzen Größe vor ihm stand; er brauchte nur zu fragen, und ein Strom von Weisheit würde sich ergießen.
»Du hast recht!«, antwortete der Engel auf Mikes Gedanken. »Was du jetzt tust, wird deine Zukunft verändern. Du fühlst es selbst, nicht wahr?«
»Kannst du meine Gedanken lesen?«, wunderte sich Mike, ein wenig verlegen.
»Nein. Wir können sie fühlen. Dein Herz ist nämlich mit dem Ganzen verbunden und wir reagieren, wenn du uns brauchst.«
»Wir?« Jetzt begann es gruselig zu werden. »Ich sehe nur dich.«
Der Engel lachte und es klang unbeschreiblich. Was für eine Energie in diesem Lachen steckte! Mike fühlte, wie jede Zelle seines Körpers mit der Fröhlichkeit des Engels in Resonanz schwang. Alles, was der Engel tat, war neu und übertraf das gewöhnliche Leben; und tief in Michaels Unterbewusstsein weckte es die Erinnerung an etwas Wunderbares. Mike war hingerissen von der Stimme, sagte aber nichts.
»Ich spreche zu dir mit der Stimme eines Einzelnen, doch sie ist Ausdruck für die Stimmen Vieler«, erklärte der Engel, indem er die Arme ausstreckte und mit seinen Bewegungen die merkwürdige Gewand-Haut ins Fließen brachte. »Es gibt viele Wesen im Dienst eines jeden Menschen, Michael. Das wird dir offenbar werden, wenn du beschließt, dass es so sein soll.«
»ICH BESCHLIESSE ES!«, rief Mike mit lauter Stimme. Wie hätte er solch ein Angebot ausschlagen können! Doch dann wurde er ein wenig verlegen, als habe er sich vor einem Matinee-Star wie ein kleines Kind benommen. Eine Weile sagte er nichts und beobachtete, wie der Engel leicht auf und ab schwebte – beinahe wie auf einem hydraulischen Mini-Lift. Wieder fragte sich Mike, wie viele seiner Wahrnehmungen wohl auf Sehgewohnheiten beruhten, die geprägt waren durch Filme, die Kirche oder große Kunstwerke. Abermals herrschte Stille – was für eine Stille! Der Engel tat offenbar keine Äußerung, ohne dass Mike ihn fragte.
»Darf ich dich etwas zu meiner Situation fragen?«, erkundigte sich Mike respektvoll. »Ist dies tatsächlich ein Traum? Es kommt mir so wirklich vor.«
»Was ist denn ein menschlicher Traum, Michael Thomas?« Der Engel näherte sich ein wenig. »Ein Traum ist das Eintauchen in dein biologisches und spirituelles Bewusstsein; durch den Besuch dieses Bewusstseins erhältst du Informationen von meiner Seite der Dinge – manchmal im übertragenen Sinne. Wusstest du das? Ein Traum erscheint euch vielleicht anders als eure Realität, er ist der Realität Gottes jedoch viel ähnlicher als alles, was ihr normalerweise erlebt! Als dir dein Vater und deine Mutter damals im Traum erschienen sind – was war das für ein Gefühl? Kam es dir wirklich vor? Es war Wirklichkeit. Erinnerst du dich an die Woche nach dem Unglück, als sie dich besuchten? Tagelang danach hast du noch geweint. Es war IHRE Realität. Ihre Botschaften an dich waren wirklich. Die beiden lassen dich auch jetzt noch an ihrer Liebe teilhaben, Michael, denn sie sind ewig – so wie du. Was die Fragen zu deiner Situation betrifft: Was glaubst du, warum du diesen Traum jetzt hast? Aufgrund deiner Situation; nur deswegen bist du hier zu Besuch, und genau zur richtigen Zeit.« Mike freute sich über den Redefluss des wunderschönen Wesens, das ihm immer vertrauter vorkam.
»Werde ich alles heil überstehen? Ich glaube, ich bin schwer verletzt und liege irgendwo bewusstlos, vielleicht im Sterben.«
»Kommt darauf an«, sagte der Engel.
»Worauf?«, wollte Michael wissen.
»Was möchtest du denn wirklich, Michael?«, fragte der Engel liebevoll. »Sag uns, was du WIRKLICH willst. Überlege dir deine Antwort gut, Michael Thomas, denn die Energie Gottes nimmt vieles wörtlich. Im übrigen – wir wissen, was du weißt. Du kannst deiner eigenen Natur nichts vormachen.«
Michael wollte bei seiner Antwort ehrlich sein. Die Situation wurde mit jedem Augenblick realer. Er erinnerte sich sehr gut an die lebhaften Träume von seinen Eltern, direkt nach deren Unfall. Sie waren zusammen zu ihm gekommen – in den wenigen Stunden, in denen er in jener furchtbaren Woche überhaupt schlafen konnte; und sie hatten ihn umarmt und ihn spüren lassen, wie sehr sie ihn liebten. Sie hatten ihm erklärt, es sei für sie der richtige Zeitpunkt gewesen, fortzugehen – was immer das bedeuten mochte. Mike hatte es nicht akzeptiert.
Seine Eltern hatten ihm auch gesagt, ihr Tod sei unter anderem arrangiert worden, weil ihr Dahinscheiden ein Geschenk für Mike sein sollte. Er hatte sich immer gefragt, worin wohl das Geschenk bestand, aber schließlich war es nur ein Traum gewesen, oder nicht? Nun sagte der Engel, es sei Wirklichkeit. Was Mike im Augenblick erlebte, erschien ihm zweifellos real; vielleicht waren die Botschaften seiner Eltern ja auch real, so wie dieser Engel es war, oder ist. Diese Art Traum oder Vision ist ziemlich verwirrend, dachte er frustriert!
Was ist es, was ich will?, fragte er sich nun. Er dachte an sein Leben und an all die Dinge, die ihm im letzten Jahr passiert waren. Er wusste, was er wollte, aber er hatte das Gefühl, es war nicht in Ordnung, darum zu bitten.
»Es passt nicht zu deiner Größe und Erhabenheit, deine tiefsten Wünsche in dir zu verschließen«, ließ der Engel sich hören.
Zu dumm!, dachte Michael. Der Engel weiß schon wieder, was mir durch den Kopf geht. Es gibt nichts, was ich verbergen kann.
»Wenn du es schon weißt, warum stellst du mir diese Frage?«, erkundigte er sich. »Und was soll das bedeuten: meine Erhabenheit?« Zum ersten Mal zeigte der Engel kein Lächeln, sondern etwas anderes. Es war ein Ausdruck von Verehrung, von Ehrfurcht!
»Du hast keine Vorstellung davon, was und wer du bist, Michael Thomas«, sagte der Engel ernst. »Du glaubst, ich sei schön? Wenn du sehen könntest, wie du aussiehst! Eines Tages wird es geschehen. Was deine Gedanken und Gefühle betrifft – natürlich kenne ich sie. Ich bin hier, weil ich zu denen gehöre, die dich unterstützen; daher bin ich in vieler Hinsicht eng mit dir verbunden. Es ist eine Ehre für mich, vor dir zu erscheinen; doch nur deine eigene Absicht kann jetzt eine Veränderung bewirken. Du kannst selbst entscheiden, ob du mir sagen möchtest, was du dir in diesem Augenblick, als Mensch am meisten wünschst. Die Antwort muss aus deinem Herzen kommen, laut und hörbar, für alle – sogar für DICH. Was du jetzt tun wirst, ist auch für viele andere von entscheidender Bedeutung.« Mike hatte aufmerksam zugehört. Er musste seine Wahrheit aussprechen, auch wenn es vielleicht nicht das war, was der Engel hören wollte. Er dachte einen Moment nach, dann sagte er: »Ich möchte NACH HAUSE gehen! Ich hab’ dies Leben als Mensch satt.« Da! Jetzt war es heraus. Er wollte weg. »Aber ich will mich nicht drücken vor etwas, das wichtig ist in Gottes Plan«, fuhr er leidenschaftlich fort. »Einerseits erscheint mir das Leben so sinnlos; andererseits habe ich aber gelernt, dass ich als Ebenbild Gottes zu einem besonderen Zweck erschaffen wurde. Was soll ich denn tun?«
Der Engel schwebte an die Seite der Liege, so dass Mike ihn besser sehen konnte. Dieser Traum, diese Vision oder was immer es sein mochte, war verblüffend. Mike hätte schwören können, dass es nach Veilchen duftete – oder war es Flieder? Warum nach Blumen? Wahrhaftig – der Engel hatte einen Geruch! Und je näher er kam, umso schöner war er. Michael spürte auch, dass der Engel über die Unterhaltung erfreut war. Er fühlte es, obwohl er seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.
»Sag mir, Michael Thomas, ist deine Absicht rein? Willst du wirklich das, was Gott will? Du möchtest nach Hause, aber du bist dir gleichzeitig eines größeren Planes bewusst – deshalb willst du uns nicht enttäuschen und dich spirituell nicht unangemessen verhalten.«
»Ja«, sagte Mike. »Genau so ist es. Ich möchte aus meiner Situation heraus, aber gleichzeitig scheint mein Wunsch widersprüchlich zu sein – er scheint mir egoistisch.«
»Und wenn ich dir sagte, du kannst beides haben?«, fragte der Engel mit einem Lächeln. »Und, dein Verlangen nach Hause zu kommen ist nicht selbstsüchtig, sondern natürlich und steht auch nicht im Gegensatz zu deinem Wunsch, den tieferen Sinn deines Menschseins anzuerkennen?«
»Aber wie? Bitte erkläre mir, wie ich beides haben kann«, wollte Mike jetzt aufgeregt wissen.
Der Engel hatte Mikes Herz gesehen, und zum ersten Mal ging er spirituell auf ihn ein.
»Michael Thomas von reiner Absicht – um zu entscheiden, ob dies dein Weg sein kann, muss ich dir, bevor ich mehr dazu sage, noch eine Frage stellen.« Der Engel schwebte ein wenig zurück. »Was glaubst du davon zu haben, wenn du nach Hause gehst?«
Mike dachte darüber nach. Sein Schweigen hätte bei einer normalen Unterhaltung seltsam gewirkt, aber der Engel verstand ihn vollkommen und wusste, dass dies ein geheiligter Augenblick für Michael Thomas’ Seele war. Nach irdischer Zeitrechnung schwieg Michael zehn Minuten oder länger; doch der Engel rührte sich nicht und sagte kein Wort. Er zeigte weder Ungeduld noch Ermüdung. Mike begann zu begreifen, dass diese Wesenheit tatsächlich zeitlos war, und die Ungeduld eines Menschen – für den nur die lineare Zeit Realität besaß – nicht empfinden konnte.
»Ich möchte geliebt werden und dort sein, wo Liebe ist«, war Mikes Antwort. »Ich möchte Frieden in meinem Leben.« Er machte eine Pause. »Ich möchte mit den Problemen und belanglosen Auseinandersetzungen der Leute um mich herum nichts zu tun haben. Ich möchte keine Geldsorgen haben. Ich möchte mich BEFREIT fühlen! Ich habe es satt, alleine zu sein. Ich möchte für andere Wesen im Universum etwas bedeuten. Ich möchte wissen, dass mein Leben einen Sinn hat und dazu beitragen, im Himmel – oder wie immer ihr es nennt – ein adäquater Teil von Gottes Plan zu sein. Ich möchte eigentlich gar kein Mensch sein. Ich möchte sein wie du!«
Er machte erneut eine Pause. »Das ist es, was nach Hause gehen für mich bedeutet.« Der Engel schwebte wieder ans Fußende der Liege.
»Dann, Michael Thomas von reiner Absicht, sollst du auch empfangen, wonach du strebst!« Es war, als strahlte der Engel in noch hellerem Licht – wenn es denn möglich gewesen wäre. Über seinem leuchtenden Weiß lag nun ein goldener Schimmer. »Du musst jedoch einem vorherbestimmten Weg folgen und du musst es freiwillig tun, aus eigenem Entschluss und Antrieb. Dann wirst du mit einer Reise nach Hause belohnt. Willst du das tun?«
»Ja, das will ich«, erwiderte Mike. Es war der Anfang eines wundervollen Gefühls, das sich vielleicht mit dem Wort »Liebeswäsche« beschreiben ließ. Die Luft schien sich zu verdichten. Der Schein des Engels begann, die Liege zu durchdringen und umspülte Mikes Füße. Schauer liefen Mikes Rücken hoch, und ohne sein Zutun begann er in einer so schnellen Schwingung zu vibrieren, wie er es noch nie erlebt hatte. Es war fast wie ein Summen, so schnell. Es fuhr seinen Körper hinauf bis in seinen Kopf. Seine Wahrnehmung veränderte sich, und es zuckten kleine blaue und violette Blitze auf – in starkem Kontrast zu dem intensiven Weiß, auf das er seit Beginn dieser ganzen Geschichte geschaut hatte.
»Was ist los?«, fragte Mike voller Angst.
»Deine Absicht ist dabei, deine Realität zu verändern.«
»Ich verstehe nicht.« Mike war entsetzt.
»Ich weiß«, sagte der Engel mitfühlend. »Hab’ keine Angst Gott in dein Wesen zu integrieren. Es ist ein Verschmelzen, um das du gebeten hast und es wird dir auf deiner Reise nach Hause zugutekommen.«
Der Engel wich von Mikes schmalem Bett zurück, als wolle er Platz machen.
»Bitte geh’ noch nicht fort!«, rief Mike, immer noch erschüttert und verängstigt.
»Ich passe mich deiner neuen Größe an«, sagte der Engel ein wenig amüsiert. »Ich gehe erst weg, wenn wir vollzählig sind.«
»Ich verstehe das immer noch nicht, aber ich habe keine Angst«, log Mike. Wieder lachte der Engel und erfüllte den Raum mit einem Klang, dessen Fröhlichkeit und Liebe Mike überraschten. Mike erkannte, dass es hier keine Geheimnisse gab, also sprach er weiter. Er musste wissen, was das für ein Gefühl war. Der Engel lachte.
»Was passiert eigentlich, wenn du lachst? Es berührt mich sehr, und ich habe noch nie so etwas gefühlt.« Der Engel freute sich über die Frage.
»Was du hörst und fühlst ist ein Attribut, das einzig und allein die göttliche Quelle besitzt«, sagte der Engel. »Humor ist eine der wenigen Eigenschaften, die ungehindert von unserer Seite auf eure Seite wechseln können. Hast du dich je gefragt, warum Menschen wohl die einzigen biologischen Wesen auf der Erde sind, die lachen? Man könnte meinen, auch Tiere lachen, aber sie reagieren nur auf Reize. Ihr seid die Einzigen, die den echten Funken spirituellen Bewusstseins haben, das euch dazu befähigt; ihr allein könnt einen abstrakten Gedanken oder eine Idee in Humor verwandeln. Das heißt, euer Bewusstsein ist der Schlüssel. Glaub mir, es ist heilig. Und deshalb ist es auch so heilend, Michael Thomas von reiner Absicht.«
Diese Erklärung war ausführlicher, als alles, was der Engel bis hierher geäußert hatte. Mike glaubte, dass er noch einige Schätze der Wahrheit aus ihm hervorlocken könnte, bevor seine Zeit abgelaufen wäre. Eifrig versuchte er es.
»Wie lautet dein Name?«
»Ich habe keinen.« Wieder herrschte Stille. Eine lange Pause entstand. Tja, dachte Mike, jetzt sind wir wieder bei den einsilbigen Antworten.
»Als wer bist du bekannt?«, bohrte er weiter.
»ICH BIN allen bekannt, Michael Thomas, und weil DAS ICH BIN allen bekannt ist, deshalb existiere ich.« *
»Das verstehe ich nicht«, entgegnete Michael.