Aus dem Norwegischen

von Gabriele Haefs

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Anna – En fabel om klodens klima og miljø bei H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) in Oslo

 

ISBN 978-3-446-24422-1

© H. Aschehoug & Co., Oslo 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2013

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Umschlag: Marion Blomeyer, München | Umschlagzeichnung: Alessandro Gottardo, Milano | Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

INHALT

1 Die Schlittenfahrt

 

2 Dr. Benjamin

 

3 Das Terminal

 

4 Blaulicht

 

5 Die Urgroßmutter

 

6 Die roten Kartons

 

7 Der Regenschirm

 

8 Öl

 

9 Dromedare

 

10 Das Archiv

 

11 Die Karawane

 

12 Die Roten Listen

 

13 Eine Winternacht

 

14 Das Welterbe

 

15 Die Luftballons

 

16 Das Schwimmbecken

 

17 Tulpen

 

18 Der Zündschlüssel

 

19 Das Wegelabyrinth

 

20 Die Berghütte

 

21 Klimazertifikate

 

22 Eine neue Chance

 

23 Die weißen LKW

 

24 Der Frosch

 

25 Die grünen Automaten

 

26 Gamification

 

27 Hübsche Ferienhäuschen

 

28 Aladins Ring

 

29 Der Internationale Klimagerichtshof

 

30 Die Fausthandschuhe

 

31 Der Tierpark

 

32 Identität

 

33 Der Planet

 

34 Der Brief auf dem Bildschirm

 

35 Ein logischer Fehler

 

36 Der Urgroßvater

 

37 Das Dorf

 

38 Ester

 

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DIE SCHLITTENFAHRT

 

Solange Nora denken konnte, waren die Familien aus dem Dorf zu Silvester mit dem Schlitten zu den Almhütten hinaufgefahren. Zur Feier des neuen Jahres striegelte und schmückte man die Pferde, und an den Schlitten wurden in der Dunkelheit Schellen und brennende Fackeln befestigt. In manchen Jahren fuhr eine Schneewalze voraus, damit die Pferde nicht im losen Schnee auf der Stelle traten, aber hinauf in die Berge ging es am Silvesterabend immer, und nicht auf Skiern oder mit dem Schneemobil, sondern mit Pferd und Schlitten. Die Weihnachtszeit hatte auch so ihren Zauber, aber die Schlittenfahrt zur Hütte in den Bergen war erst das wahre Wintermärchen.

Zu Silvester war alles anders. Zwischen Kindern und Erwachsenen ging es drunter und drüber, denn für diesen einen Tag im Jahr traten die gewohnten Familienregeln außer Kraft. Am Abend ging das alte Jahr ins neue über. Man überschritt eine unsichtbare Grenze zwischen dem, was gewesen war, und dem, was kommen würde. Ein glückliches neues Jahr! – Und vielen Dank für das alte!

Nora liebte den Silvesterabend und konnte sich nie entscheiden, was ihr besser gefiel: auf dem Weg hinauf zu sein, um den letzten Rest des alten Jahres zu feiern, oder, gut eingepackt in eine Wolldecke und im warmen Arm von Mama, Papa oder irgendjemandem aus dem Dorf, auf dem Weg hinunter, ins neue.

Doch zu Silvester des Jahres, in dem Nora zehn geworden war, war weder oben in den Bergen noch unten im Tiefland Schnee gefallen. Der Frost hatte sich längst in der Landschaft festgebissen, aber von ein paar Flecken hier und da abgesehen gab es keinen Schnee. Sogar die mächtige Schlucht lag schändlich nackt unter dem offenen Himmel und war ihres weißen Wintermantels beraubt.

Die Erwachsenen murmelten etwas von »globaler Erwärmung« und »Klimawandel«, und Nora prägte sich die für sie neuen Wörter ein. Zum ersten Mal in ihrem Leben ahnte sie, dass auf der Welt vielleicht nicht alles so war, wie es sein sollte.

Aber zu Silvester wollten sie trotzdem hinauf in die Berge, dann eben mit Treckern. Noch dazu musste der traditionelle Besuch auf der Hütte in diesem Jahr tagsüber stattfinden, denn ohne Schnee auf der Hochebene würde der Silvesterabend so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sah. Auch Fackeln würden da nicht viel helfen, ganz zu schweigen davon, dass Fackeln an einem Trecker oder Anhänger albern ausgesehen hätten.

Schon früh am Tag bewegten sich deshalb fünf Trecker mit Anhängern den Weg über die mit Birken bestandenen Hänge hinauf, und alle, die mitfuhren, hatten zu essen und zu trinken dabei. Schnee hin oder her – ein Prosit aufs neue Jahr und ein paar Spiele auf der gefrorenen Alm, dazu würde es ja wohl noch reichen.

Freilich wurde in diesem Jahr nicht nur über den fehlenden Schnee gesprochen. An den Tagen nach Weihnachten waren zweimal wilde Rentiere nahe bei den Höfen gesichtet worden, und obwohl alle scherzten, dass sie vielleicht der Weihnachtsmann nach der Bescherung am Heiligen Abend vergessen hatte, war Nora nicht entgangen, dass die Sache mit den Rentieren unheimlich und bedrohlich war. Nie zuvor waren wilde Rentiere in die Dörfer gekommen. Auf einem Hof hatten sie eins der verängstigten Tiere zu füttern versucht, und die Zeitungen hatten Bilder davon gebracht: »Wilde Rentiere fallen in die Dörfer ein …«

 

Am letzten Tag des Jahres war also ein ganzer Zug Trecker auf dem Weg hinauf in die Berge, und gleich auf dem ersten Anhänger saß Nora mit einer Handvoll anderer Kinder. Je höher sie kamen, desto gläserner wirkte die gefrorene Landschaft, also musste es unmittelbar vor dem Frosteinbruch geregnet haben, und die Kälte hatte alles erstarren lassen.

Als jemand am Wegrand einen Tierkadaver entdeckte, hielten die Trecker an. Das tote Tier war ein Rentier, starr vor Frost, und einer der Männer erklärte, es sei aus Mangel an Futter verendet.

Nora hatte das erst nicht ganz verstanden, aber wenig später erreichten sie die Hochebene, und sie sah, dass auch hier alles gefroren war. Kein Steinchen und kein noch so kleines Pflänzchen hätte sich aus dem harten Griff des Frosts herausbrechen lassen.

Beim See, dem Breavatnet, hielten die Trecker wieder an, und diesmal schalteten die Fahrer die Motoren aus. Es hieß, das Eis sei sicher, und Erwachsene und Kinder liefen freudig auf den See. Das Eis war glasklar, und der Jubel war groß, als sie entdeckten, dass man unter dem Eis Forellen schwimmen sah.

Bälle, Hockeyschläger und Rodelbretter wurden aufs Eis gebracht, aber Nora zog es vor, allein am Ufer entlangzugehen. Sie betrachtete das gefrorene Heidekraut und sah unter einer dünnen Eisschicht Moos und Flechten, Brombeeren und rote Krähenbeeren mit feuerroten Blättern. Es sah schön aus, fast so, als hätte man eine edlere, feinere Welt betreten. Doch dann fiel Noras Blick auf eine tote Maus … und dort lag noch eine. Und unter einer Zwergbirke lag ein toter Lemming. Nora wusste, was das bedeutete, und die märchenhafte Stimmung, die sie eben noch verspürt hatte, war verflogen. Sie wusste, dass Mäuse und Lemminge den Winter unter weichen Schneedecken zwischen Sträuchern und Gestrüpp verbrachten. Und wenn es keine weichen Schneedecken gab … dann wurde das Überleben für Mäuse und Lemminge schwer.

Nun wusste Nora auch, warum die wilden Rentiere ins Tiefland hinabzogen. Mit dem Weihnachtsmann hatte das nichts zu tun.