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Maja von Vogel

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Verliebte Weihnachten

Kosmos

Umschlagillustration von Natascha Römer-Osadtschij, Schwäbisch Gmünd

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

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© 2013 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-13835-9

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Blume

Weihnachtseinkäufe

Kim hatte es eilig. Mit langen Schritten marschierte sie durch den frostigen Dezembernachmittag in Richtung Innenstadt. Während sie an einer Ampel die Straße überquerte, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mist, schon kurz nach vier! Sie würde zu spät kommen, dabei war sie eigentlich die Pünktlichkeit in Person. Franzi und Marie wunderten sich bestimmt schon, wo sie blieb.

Kim ging noch etwas schneller. Doch als sie in die Fußgängerzone einbog, kam sie nur noch im Schneckentempo voran. Menschenmassen schoben sich durch die große Einkaufsstraße. Kim schlängelte sich zwischen den Leuten hindurch zum Marktplatz, wo sie mit ihren Freundinnen verabredet war.

»Geld oder Leben!«

Kim zuckte zusammen, als ihr kurz vor dem Treffpunkt ein breit grinsender Weihnachtsmann in den Weg sprang. Das Lächeln war zu künstlich, um freundlich, und die Gesichtszüge waren zu starr, um echt zu sein. Nur die grünen Augen funkelten lebhaft. Moment mal – ein Weihnachtsmann mit grünen Augen?

»Haha, sehr witzig, Franzi!« Kim riss ihrer Freundin die Maske herunter.

Franzi kicherte begeistert und schob sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn. »Nicht schlecht, oder? Gib’s zu, du hast einen Schreck bekommen!«

»Allerdings.« Kim musste lachen. »Du bist unmöglich!«

»Danke!« Franzi nahm es als Kompliment. Sie legte die Weihnachtsmann-Maske zurück auf den Grabbeltisch des Ein-Euro-Shops, vor dem sie gerade standen.

Kim sah sich suchend um. »Wo ist Marie?«

»Wo wohl?« Franzi deutete auf die Parfümerie gegenüber. »Sie hat etwas von einem neuen Lippenstift gemurmelt und weg war sie.«

»Typisch!« Kim grinste. »Komm, wir holen sie.« Geschickt drängelten sie sich zwischen den Passanten hindurch, die in kleineren und größeren Grüppchen durch die Fußgängerzone strömten. Einige trugen rote Nikolausmützen, andere waren schwer mit Geschenktüten bepackt. »Du meine Güte, ist das voll!«, murmelte Kim.

»Was hast du erwartet?« Franzi fuhr neben Kim die Ellbogen aus, um nicht von einer fröhlichen Frauengruppe mit Rentiergeweihen auf dem Kopf umgerannt zu werden. »Es ist Samstagnachmittag und morgen ist der dritte Advent. Wir sind nicht die Einzigen, die heute unterwegs sind, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen.«

»Nein, offensichtlich nicht.« Kim fragte sich bereits, ob es nicht besser gewesen wäre, ihren Stadtbummel auf einen anderen Tag zu verlegen. Aber jetzt war es zu spät.

Die Türen zur Parfümerie öffneten sich automatisch und ein Schwall warmer Luft schlug Kim entgegen. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Winterjacke, während sie das Geschäft betrat und nach Marie Ausschau hielt. Es war gar nicht so einfach, in dem Gewühl jemanden ausfindig zu machen. Der Laden war völlig überfüllt und an den Kassen hatten sich lange Schlangen gebildet.

»Da ist sie ja!« Franzi winkte Marie zu, die sich bereits zum Bezahlen angestellt hatte.

Kim drängelte sich zu Marie durch und begrüßte sie mit einer Umarmung. »Wie ich sehe, bist du fündig geworden.«

»Und ob!« Marie strahlte. In dem kleinen Körbchen, das sie in der Hand hielt, lagen gleich drei Lippenstifte der gehobenen Preiskategorie. Außerdem ein teures Herrenaftershave, ein Grapefruit-Duschgel mit Bio-Zertifikat und eine Anti-Pickel-Creme.

»Was willst du denn damit?« Franzi zeigte auf die Creme. »Deine Haut ist doch super.«

»Ja, klar.« Marie sah wie immer makellos aus. Auf ihrem Gesicht schimmerte ein Hauch Gold-Puder, von Pickeln keine Spur. Sie war dezent in kühlen Winterfarben geschminkt und unter ihrer neuen türkisfarbenen Baskenmütze flossen ihre langen, blonden Haare hervor und fielen wie ein Wasserfall über ihren Rücken. »Die Creme ist für Lina. Sie hat in letzter Zeit ziemliche Hautprobleme. Ich kann ihre Pickel einfach nicht mehr sehen! Darum dachte ich, eine gute Anti-Pickel-Creme ist das perfekte Weihnachtsgeschenk für sie.«

»Na, hoffentlich findet Lina das auch.« Franzi kicherte. »Pickel-Creme zu Weihnachten – ich würde mich bedanken!«

Marie zuckte mit den Schultern. »Wenn’s ihr nicht gefällt, hat sie eben Pech gehabt. Das Aftershave ist für Papa und das Duschgel für Tessa.«

Tessa, die Lebensgefährtin von Maries Vater, war ein echter Öko-Freak. Neben ihrer Arbeit als Kamerafrau vertrieb sie sehr erfolgreich T-Shirts aus Bio-Baumwolle über das Internet. Ihre Tochter Lina ging Marie mit ihrer lauten und manchmal etwas dreisten Art gehörig auf die Nerven. Seit die Patchwork-Familie vor einiger Zeit in eine große, alte Villa ins Ostviertel gezogen war, konnte Marie ihr wenigstens etwas leichter aus dem Weg gehen.

»Seht mal!« Franzi hatte in einem Regal neben der Kasse ein heruntergesetztes Parfum entdeckt. »Chrissies Lieblingsparfum kostet nur noch die Hälfte! Das nehme ich sofort mit.«

Kim seufzte. »Wenn es doch nur genauso leicht wäre, etwas für die Zwillinge zu finden.«

Kims Brüder Ben und Lukas waren zehn Jahre alt und furchtbare Nervensägen. Außer Fußball, Computerspielen, Unsinn anstellen und ihre große Schwester ärgern hatten sie keine besonderen Hobbys. Trotzdem mochte Kim die Zwillinge und wollte ihnen etwas schenken, über das sie sich wirklich freuten.

»Bastle ihnen doch einen Maulkorb«, schlug Franzi vor. »Dann können sie dir wenigstens keine frechen Schimpfnamen mehr an den Kopf werfen.«

Marie lachte, aber Kim war gerade abgelenkt. Auf einem kleinen Tisch wurden edle Badezusätze präsentiert. »Tauchen Sie ab in die Welt der Düfte«, las Kim halblaut und griff nach der obersten Schachtel. Von Rosen- über Lavendel- bis Sanddorn-Orangen-Öl war alles dabei. »Das ist das perfekte Geschenk für meine Mutter«, stellte Kim fest. »Sie liebt es, nach einem anstrengenden Tag ein entspannendes Bad zu nehmen.« Doch als Kim die Schachtel umdrehte und den Preis sah, machte sie ein langes Gesicht. »Was? So viel Geld für ein bisschen Badeöl? Das gibt’s doch nicht!« Kim stellte die Schachtel wieder zurück. »Das ist mir zu teuer.« Sie seufzte. »Ich weiß sowieso nicht, wovon ich die restlichen Weihnachtsgeschenke bezahlen soll. Mein Taschengeld reicht hinten und vorne nicht! Vielleicht hätte ich mir den einen oder anderen Kakao Spezial im Café Lomo lieber verkneifen sollen. Und dann hab ich mir letzte Woche auch noch einen neuen Krimi gekauft …«

Kim las für ihr Leben gern Krimis. Sie schrieb sogar selbst manchmal Kriminalgeschichten. Seit sie gemeinsam mit Franzi und Marie den Detektivclub Die drei !!! gegründet hatte, kam sie allerdings kaum noch dazu. Der Club war von Anfang an sehr erfolgreich gewesen und die Detektivinnen hatten schon viele Fälle gelöst. Zuletzt waren sie auf der Suche nach einem gestohlenen Spiegel gewesen, der angeblich magische Kräfte haben sollte. Davor hatten sie bei einer berühmten Pferdeshow ermittelt. Momentan war der Detektivclub allerdings arbeitslos, was Kim ausnahmsweise einmal ganz gelegen kam. In der Adventszeit gab es mit den Weihnachtsvorbereitungen sowieso genug zu tun – vom üblichen Schulstress ganz abgesehen.

»Soll ich dir Geld leihen?« Marie zückte ihr Portemonnaie. »Kein Problem, wie viel brauchst du?«

Marie kannte keine Geldsorgen. Ihr Vater, der bekannte Schauspieler Helmut Grevenbroich, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und war mehr als großzügig, was das Taschengeld seiner Tochter betraf. Darum konnte sich Marie, die leidenschaftlich gerne shoppen ging, stets die neuesten Mode- und Kosmetikartikel leisten – und auch sonst alles, was ihr Herz begehrte. Aber sie war nicht geizig und lud ihre Freundinnen gerne ins Café ein, wenn sie gemeinsam unterwegs waren, oder verwöhnte sie mit kleinen Geschenken.

Doch jetzt schüttelte Kim den Kopf. »Lass mal, ich will kein Geld von dir.«

»Warum denn nicht?« Marie zog verständnislos die Augenbrauen hoch. »Ist doch nichts dabei.«

»Ich will einfach keine Schulden haben, das ist alles.« Kim lächelte ihrer Freundin zu. »Trotzdem danke für das Angebot.«

»Du könntest Geschenke basteln«, schlug Franzi vor. »Das ist billiger, als welche zu kaufen.«

»Hm«, machte Kim wenig begeistert. Sie hatte zwar eine exzellente Kombinationsgabe und kannte sich gut mit Computern aus, aber Basteln gehörte nicht unbedingt zu ihren Hobbys. »Mal sehen, vielleicht fällt mir ja noch etwas Besseres ein …«

Inzwischen waren sie endlich zur Kasse vorgerückt, sodass Marie und Franzi ihre Einkäufe bezahlen konnten. Kim war froh, als sie die überfüllte Parfümerie verlassen und wieder in die klare Winterluft hinaustreten konnten. Die Sonne ging bereits unter und in das Eisblau des Himmels mischte sich eine orangerote Färbung.

Kim zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und wickelte sich ihren XXL-Schal fester um den Hals.

»Weiter geht’s!«, rief Marie fröhlich und hakte sich bei ihren Freundinnen unter. »Ich muss noch eine irre lange Geschenkeliste abarbeiten.«

Zum Frieren blieb Kim keine Zeit, denn während der nächsten Stunde zogen sie von einem Geschäft ins nächste. Marie kaufte so viele Geschenke, dass Kim ganz schwindelig wurde. Franzi besorgte einen Kinogutschein für ihre Eltern, ein Buch für ihren Bruder Stefan und ein warmes Stirnband für ihren Skaterkumpel Benni. »Damit er im Winter keine kalten Ohren beim Training bekommt«, erklärte sie.

Kim fand eine heruntergesetzte Klassik-CD für ihre Mutter. »Sanfte Melodien zum Entspannen – das ist fast so gut wie Badeöl«, stellte sie zufrieden fest. »Jetzt brauche ich nur noch Papas Lieblingsgummibärchen. Die gibt’s bei Feinkost Kranichstein

Kims Vater war genauso versessen auf Süßigkeiten wie seine Tochter. Wenn er im Gartenschuppen seine geliebten Kuckucksuhren bastelte, vertilgte er raue Mengen an Gummibärchen und Schokolade.

Bei Feinkost Kranichstein war es so voll, dass sich die Leute gegenseitig auf die Füße traten. Das alteingesessene Familienunternehmen war die erste Adresse der Stadt, wenn es um Delikatessen, guten Wein und besondere Pralinen oder Schokolade ging. Kim war seit Jahren Stammkundin der Süßigkeitenabteilung. Als Kopf der drei !!! brauchte sie jede Menge Nervennahrung und dazu eigneten sich Gummibärchen oder handgeschöpfte Schokolade von Feinkost Kranichstein besonders gut. Letztere war leider nicht gerade billig, sodass sich Kim diese Köstlichkeit nur zu besonderen Gelegenheiten gönnte.

Kim marschierte zielsicher zu den Süßwaren und griff nach den Lieblingsgummibärchen ihres Vaters, die aus reinem Fruchtsaft hergestellt wurden. Beim Anblick der köstlichen Pralinen und Schokoladensorten, der bunt leuchtenden Fruchtgummis, der leckeren Gebäckmischungen und täuschend echt aussehenden Marzipan-Früchte lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

»Was haltet ihr von einer kleinen Stärkung?« Marie schwenkte eine große Tüte Kranichsteiner Mischung. Die beliebtesten Pralinen des Feinkostgeschäfts wurden in der hauseigenen Pralinenmanufaktur von Hand hergestellt und schmeckten einfach himmlisch.

»Au ja!«, rief Franzi und auch Kim nickte begeistert.

Sie boxten sich zur Kasse durch und reihten sich in die Warteschlange ein.

»Hey, ob das etwas für Holger wäre?« Marie griff nach einer roten Dose in Herzform, die mit kleinen Nugat-Herzen gefüllt war. »Er liebt Nugat!«

Kim grinste. »Ein Herz für Holger? Läuft da also doch etwas zwischen euch?«

Marie und ihr Ex-Freund trafen sich regelmäßig und verstanden sich prima, doch Marie hatte sich bisher nicht dazu durchringen können, ihrer Beziehung eine neue Chance zu geben.

Auch jetzt schüttelte sie den Kopf. »Ich will keinen festen Freund – dafür ist Flirten doch viel zu schön!«

»Aber du stehst noch auf Holger, oder?«, hakte Franzi nach.

Marie lächelte versonnen. »Na ja, irgendwie schon. Mein Herz schlägt jedes Mal einen Purzelbaum, wenn ich ihn sehe.«

»Dann passt das Geschenk ja«, bemerkte Kim trocken mit Blick auf die rote Herz-Dose.

Marie nickte. »Stimmt! Darum nehme ich es auch mit.«

Sie hatten die Kasse erreicht und Kim schrie auf.

»Was ist los?«, fragte Franzi erschrocken. »Hast du einen Ladendieb gesichtet? Oder ist dein Portemonnaie geklaut worden?«

Kim schüttelte den Kopf und deutete stumm auf einen Aushang neben der Kasse.

AUSHILFE DRINGEND GESUCHT!

Schülerin oder Studentin für leichte Hilfstätigkeiten bis Weihnachten gesucht. Arbeitszeiten und Stundenlohn nach Absprache.

Bitte bei Herrn Kranichstein oder an der Kasse melden.

»Das … das ist es!« Kims Stimme überschlug sich. »Das ist die perfekte Lösung für mein Geldproblem!«

»Ein Nebenjob?« Marie rümpfte die Nase, während sie der Kassiererin einen Geldschein reichte. »Ausgerechnet jetzt, in der Adventszeit, wo man so viele schöne andere Dinge tun kann? Leckeren Adventstee trinken zum Beispiel. Oder Plätzchen backen. Also ehrlich, ich finde, das klingt nicht besonders verlockend.«

»Warum denn nicht?«, fragte Franzi. »So ein Job kann doch auch Spaß machen.«

»Genau!« Kim nickte eifrig. »Und ich kann mir endlich alles leisten, was ich will. Außerdem ist ja sowieso gerade kein neuer Fall in Sicht, sodass ich genug Zeit zum Jobben habe. Am besten rede ich gleich heute oder morgen mit meinen Eltern. Und wenn sie einverstanden sind, bewerbe ich mich Montag für den Job.« Sie bezahlte die Gummibärchen, steckte die Tüte in ihre Umhängetasche und verließ hinter Franzi und Marie den Laden. Der Gedanke, bald eigenes Geld zu verdienen, hob ihre Laune beträchtlich.

Vor dem Geschäft öffnete Marie die Pralinentüte und bot sie ihren Freundinnen an.

»Danke!« Kim entschied sich für einen Orangen-Sahne-Trüffel. Die Schokolade zerging förmlich auf der Zunge und der leichte Orangengeschmack gab der Praline eine herrlich fruchtige Note. Kim schloss genießerisch die Augen. »Lecker! Die Kranichsteiner Mischung ist wirklich eine Wucht.« Sie sah auf die Uhr. »Sorry, ich muss los. Ich bin gleich mit Michi auf dem Weihnachtsmarkt verabredet.«

Marie und Franzi wechselten einen vielsagenden Blick.

»Soso.« Franzis Augen blitzten spöttisch, während sie sich eine Pistazien-Marzipan-Praline in den Mund steckte. »Rein freundschaftlich, nehme ich an.«

»Klar, was sonst?«, gab Kim zurück, konnte aber nicht verhindern, dass sie rot anlief.

Michi war ihre erste große Liebe gewesen. Kim hatte lange gebraucht, um über ihre Trennung hinwegzukommen, doch jetzt hatte sie es endlich geschafft. Michi und sie waren gute Freunde, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

»Darum hast du dich also so chic gemacht.« Marie nickte anerkennend. »Dein neuer Look ist mir vorhin schon aufgefallen. Steht dir übrigens sehr gut, das findet dein guter, alter Freund Michi bestimmt auch …« Grinsend angelte sie sich eine Nugat-Muschel aus der Tüte.

Kims rote Gesichtsfarbe vertiefte sich. Sie überhörte Maries ironischen Tonfall und versuchte, sich hinter ihrem dicken Schal zu verstecken. »Ach was, das hat gar nichts mit Michi zu tun. Ich wollte einfach mal etwas anderes ausprobieren.« Dass sie geschlagene dreißig Minuten vor dem Badezimmerspiegel gestanden und versucht hatte, das coole Winter-Make-up für kalte Tage aus der neuen Sweet in die Tat umzusetzen, brauchten ihre Freundinnen ja nicht zu wissen. Darum war sie vorhin auch zu spät gekommen. Leider hatte sie im Schminken nicht so viel Übung wie Marie, die sich auch mit zwei geschlossenen Augen noch einen perfekten Lidstrich ziehen konnte.

Franzi seufzte. »Ich würde auch gerne mal mit Felipe über den Weihnachtsmarkt schlendern. Oder gemütlich im Lomo sitzen und Kakao trinken. Aber er hat ja nie Zeit!«

Kim war froh über den Themenwechsel. »Das kapier ich nicht. Ich dachte, du wärst ganz glücklich über etwas Abstand. Immerhin haben dich Felipes Eifersuchtsattacken in der letzten Zeit ziemlich genervt.«

Franzis Freund Felipe war Halb-Mexikaner und hatte ein feuriges Temperament. Er konnte unglaublich charmant und witzig sein, war aber leider auch extrem eifersüchtig. Schon mehrfach hatte er Franzi heftige Szenen gemacht, wenn er der Meinung war, sie hätte mit einem anderen Jungen geflirtet. Franzi, die selbst auch ziemlich schnell in die Luft ging, war jedes Mal ausgeflippt und es waren ordentlich die Fetzen geflogen. Bisher hatten sich die beiden jedoch immer wieder versöhnt.

»Ja, ich weiß.« Franzi machte ein unglückliches Gesicht. »Aber jetzt fehlt mir Felipe doch. Wegen der vielen Weihnachtsfeiern ist er noch mehr als sonst im Yucatán eingespannt. Dabei ist der Advent zu zweit viel schöner als allein!«

Felipes Mutter Juana betrieb im nahe gelegenen Freizeitpark Sugarland ein mexikanisches Restaurant, in dem Felipe oft aushalf.

Marie klopfte Franzi aufmunternd auf die Schulter. »Du hast ja noch uns, vergiss das nicht.« Sie steckte die Pralinentüte in ihre Handtasche.

»Genau, du bist nicht allein«, versicherte Kim. In diesem Moment schlug die Uhr der Stadtkirche sechs Mal. »Mist, ich muss weg! Bis Montag!« Sie drückte Franzi besonders fest zum Abschied, dann sauste sie los.

Blume

Herzklopfen und heiße Waffeln

»Hallo, Kim.«

Michi wartete bereits an einem Stehtisch vor der Waffelbude, als Kim den Treffpunkt etwas abgehetzt erreichte.

»Hallo!« Sie lächelte ihm entschuldigend zu. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich hab mich mit Franzi und Marie verquatscht.«

»Kein Problem.« Michis blaugrüne Augen sahen sie aufmerksam an und Kims Herz begann schneller zu klopfen. »Du siehst gut aus!«

»Danke.« Kim fuhr sich verlegen durch ihre kurzen, dunklen Haare. Die Freude über Michis Kompliment hüllte sie ein wie ein warmer Mantel. Plötzlich spürte sie die Dezember-Kälte nicht mehr.

»Möchtest du eine Waffel?«, fragte Michi. »Ich lad dich ein.«

Kim nickte. »Gern!«

Während Michi Waffeln holte, zog Kim einen kleinen Schminkspiegel aus der Jackentasche und überprüfte unauffällig ihr Make-up. Ihr Gesicht wirkte geschminkt irgendwie fremd. Aber die schwarze Wimperntusche ließ ihre Augen strahlen und der eisblaue Glitzer-Lidschatten betonte das Blau ihrer Iris. Sah wirklich nicht schlecht aus. Zufrieden steckte sie den Spiegel wieder weg. Plötzlich musste sie über sich selbst lachen. Wenn sie nicht aufpasste, wurde sie noch wie Marie, die immer und überall ihr Schminktäschchen dabeihatte, um stets perfekt gestylt zu sein.

»Was ist so lustig?« Michi trat an den Tisch, in jeder Hand eine dampfende Waffel mit viel Puderzucker. Eine davon reichte er Kim.

»Ach, nichts.« Kim schnupperte genießerisch an ihrer Waffel. »Hm, riecht das gut!« Vorsichtig knabberte sie den knusprigen Rand ab. »Übrigens habe ich heute einen wichtigen Entschluss gefasst: Ich werde mir einen Nebenjob suchen!«

»Prima Idee.« Michi nickte zustimmend. »Dann bist du finanziell unabhängig und musst nicht ständig mit deinen Eltern ums Taschengeld feilschen.« Bei diesem Thema war Michi Experte. Vor seiner Ausbildung zum chemisch-technischen Assistenten hatte er verschiedene Nebenjobs gehabt, unter anderem in einer Kneipe, im Elektrogeschäft seines Vaters und in einer Eisdiele.

»Genau!« Kim nahm einen großen Bissen von ihrer Waffel und nuschelte: »Hoffentlich sind meine Eltern einverstanden. Meine Mutter hat bestimmt Angst, dass ich die Schule vernachlässigen könnte.«

»Triff doch ein Abkommen mit ihr«, schlug Michi vor. »Sobald sich deine Noten verschlechtern, hörst du auf zu jobben.«

»Gute Idee!« Kims Miene hellte sich auf.

»Außerdem lernst du so schon frühzeitig die Arbeitswelt kennen und sammelst wichtige Erfahrungen für deine spätere Berufswahl«, erklärte Michi. Er zwinkerte Kim zu. »Damit hab ich meinen Vater immer rumgekriegt, wenn er meinte, ich würde zu viel arbeiten.«

»Mensch, Michi, du bist genial!« Kim grinste. »Das ist das perfekte Argument!« Sie aß ihre Waffel auf und wischte sich die fettigen Finger an der Papierserviette ab. »Superlecker!« Sie seufzte. »Aber wie immer zu klein. Warum können sie die Waffeln nicht einfach doppelt so groß machen?«

»Du kannst gerne von meiner abbeißen.« Michi hielt ihr seine Waffel hin, die er bisher kaum angerührt hatte.

»Ehrlich?« Kim zögerte. Sie wollte nicht verfressen wirken – andererseits kannte Michi sie viel zu gut, als dass sie ihm noch irgendetwas hätte vormachen können. Das war ja gerade das Schöne an ihrer Freundschaft. Michi wusste, dass sie süßen Sachen einfach nicht widerstehen konnte. »Danke!« Sie beugte sich vor und nahm einen Bissen. Dabei streckte sie automatisch die Hand aus, um die Waffel festzuhalten. Ihre Fingerspitzen berührten Michis und ein leichtes Kribbeln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Ihr Herz geriet aus dem Takt, um dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Eilig zog Kim die Hand zurück. Ihr Blick wanderte zu Michis Gesicht, das ungewöhnlich ernst aussah. Seine Augen waren so vertraut und so sanft …

»Liebe Kim …«, murmelte Michi.

Kim blinzelte. Hatte er das tatsächlich gesagt? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Erst jetzt bemerkte sie, wie nah sie sich gegenüberstanden. Sie konnte jede Einzelheit in Michis Gesicht erkennen. Eine braune Haarsträhne, die ihm vorwitzig in die Stirn fiel, die Sommersprossen auf seiner Nase, die süßen Grübchen neben seinem Mund, seine wunderschönen Lippen, die sie so oft geküsst hatte …

Plötzlich kitzelte es in Kims Hals und sie musste husten. Der Waffelbissen, den sie zwischenzeitlich völlig vergessen hatte, war ihr in die falsche Kehle gerutscht und es dauerte eine Weile, bis sie wieder Luft bekam. Ihre Augen tränten und Kim verfluchte die Wimperntusche, die vermutlich gerade in schwarzen Bächen über ihr Gesicht floss.