Antonia Michaelis wurde in Kiel geboren und ist in Augsburg aufgewachsen. Sie hat in Greifswald Medizin studiert und unter anderem in Indien, Nepal und Peru gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann und Töchtern gegenüber der Insel Usedom im Nichts, wo sie zwischen Seeadlern, Reet und Brennnesseln in einem alten Haus lauter abstruse Geschichten schreibt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur
Beate Riess, Freiburg. www.beate-riess.de
© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: fotolia.com/Nejron Photo
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-861-8
Originalausgabe
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Für Kiki
und alle Amrumer Eichhörnchen
1
Die Postkarte war durchweicht, obwohl es nicht geregnet hatte. Als hätte sie im Wasser gelegen.
In salzigem Wasser. Es gab weiße Ränder, wo das Wasser bereits getrocknet war. Die Schrift auf der Karte war kaum noch zu entziffern, ein Wunder, dass der Postbote die Adresse hatte lesen können. Es war ihre Adresse, eindeutig, die eigene Adresse kann man auch lesen, wenn die Buchstaben verlaufen sind. Sie las sie dennoch drei Mal, um sicherzugehen.
Nada Schwarz Nada Schwarz Nada Schwarz.
Es war ihre Postkarte.
Jemand hatte ihr eine Postkarte geschickt.
Niemand schickte ihr Postkarten. Die Sorte von Leuten, die Postkarten verschickte, gehörte nicht in ihre Welt. Postkarten verschickende Leute hatten Zeit. Sie machten Urlaub und legten sich an den Strand und lasen und schrieben die Postkarten beim Abendessen in einer Kneipe am Meer, vorzugsweise bei Sonnenuntergang und –
Am Meer.
Sie drehte die Karte zwischen ihren Fingern. Das Meer war salzig. Die Karte hatte im Meerwasser gelegen. Und zwar, nachdem sie geschrieben worden war. Es ergab keinen Sinn. Es ergab auf eine Weise keinen Sinn, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie legte die Karte auf den Tisch und trat einen Schritt zurück. Die Luft in der Wohnung schien sich verändert zu haben. Sie schmeckte mit einem Mal feucht und salzig, und da war das Rauschen von Wogen knapp unter der Zimmerdecke.
Sie schüttelte den Kopf. Natürlich war das Einbildung.
Sie hatte keine Zeit für solchen Unsinn, sie musste los. Sie war schon auf dem Weg gewesen, als sie die Postkarte unter ihrer Wohnungstür gefunden hatte, und wenn der verdammte Postbote sie in den verdammten Briefkasten gesteckt hätte, wie er es sonst mit der verdammten Post tat, dann hätte sie sie überhaupt nicht gefunden und wäre seit – sie sah auf die Uhr – fünfeinhalb Minuten unten auf der Straße, seit dreieinhalb Minuten im Auto und in vierzehn und einer Dreiviertelminute im noch nicht eröffneten Lichthaus Nord, wo in fünfzehn Minuten der Herr von der Kunsthalle eintreffen würde, mit dem sie über die Bilder sprechen musste.
Sie würden genau dreißig Minuten haben, um die richtigen Bilder auszuwählen. Es mussten die exakt richtigen sein, die Stimmung in einem Restaurant kann entscheidend von den Bildern abhängen, die die Leute beim Essen betrachten, und in dreißig Minuten eine exakt richtige Entscheidung zu fällen, war eine Herausforderung. Ihr Leben bestand aus Herausforderungen. Und aus Listen. Nach dreißig Minuten würde sie wieder ins Auto steigen, um weiterzufahren, zum nächsten Punkt auf der Liste für den heutigen Tag. Es gab zweiundzwanzig Punkte – kein Rekord, aber auch kein ereignisloser Tag.
Sie hatte die Hand schon um die Türklinke geschlossen, als sie sich noch einmal umdrehte. Die Karte lag gleichermaßen unschuldig wie hartnäckig auf dem Tisch. Als würde sie Nada anstarren. Sie lag mit der bunten hochglanzbeschichteten Seite oben, deren Ränder sich vom Wasser wellten. Auf der Karte war ein Leuchtturm.
»Ich habe diesen Leuchtturm noch nie gesehen«, sagte sie laut. »Ich kenne niemanden, der zu einem Leuchtturm fahren wollte. Ich kenne denjenigen nicht, der die Karte geschrieben hat.«
Der Leuchtturm war aus rotem Backstein, ein wenig verfallen, ein wenig zur Seite geneigt, dem Meer zu. Doch das Meer war nicht blau wie sonst auf Postkarten, es war grau, und die Schaumkronen auf seinen Wellen waren nicht weiß, sondern bräunlich, voll aufgewirbeltem Sand. Zu Füßen des Turms blühte gelber Ginster. Das Licht, das durch die Wolkendecke auf den Ginster fiel, ließ seine Blüten auf eine seltsame Art leuchten, unwirklich, gewitterträchtig. Sie merkte, wie sie sich unwillkürlich schüttelte und die Schultern hochzog. Auf einmal fror sie.
Und schließlich ging sie zurück zum Tisch, streckte die Hand nach der Postkarte aus – und hielt inne. Ihr Herz raste. Ihre Hände waren nass vor Schweiß. Sie bekam schlecht Luft.
Die Anwesenheit der Postkarte machte die Wohnung kleiner, beengter, stickiger. Als sehnten sich selbst die Möbel und der Fußabtreter nach der Weite des Ozeans, an dem der Leuchtturm stand. Sie betrachtete ihre Finger und sah, wie sie zitterten.
Mein Gott, das da auf dem Tisch war nur ein Stück Pappe, an den Ecken aufgequollen vom Wasser, wertlos, bedeutungslos! Sie konnte sich nicht erklären, wie die Postkarte hierhergekommen war, aber noch weniger konnte sie sich ihre Reaktion erklären. Sie würde das Ding jetzt einfach wegwerfen und endlich machen, dass sie loskam. Doch als sie die Karte vom Tisch aufhob, war da wieder das Meeresrauschen unter der Decke. Sie sah auf und erwartete beinahe, von unten eine Wasseroberfläche zu sehen, die sich wogend hob und senkte. Natürlich sah sie keine. Sie ging zum Mülleimer, öffnete ihn durch einen Tritt auf den zeitsparenden Fußhebel und hielt wieder inne.
Jetzt roch sie den Wind. Den Wind, der vom Meer kam. Unsinn. Sie betrachtete den Leuchtturm – den Fuß immer noch auf dem Mülleimerhebel –, betrachtete den Ginster, den roten Backstein, das seltsame Licht und hatte auf einmal das Gefühl, dass sie den Turm doch kannte. Dass sie ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte. Ein Déjà-vu, sagte sie sich. Und dann drehte sie die Karte um.
Sie hatte noch immer nicht gelesen, was darauf stand.
Die verlaufenen schwarzen Kugelschreiberworte erschienen ihr auf unerklärliche Art gefährlich. Man musste sich anstrengen, um sie zu entschlüsseln, das Wasser hatte eine Geheimschrift aus ihnen gemacht, doch sie hatte gleich gewusst, dass es keine gewöhnlichen Worte waren – nicht die gewöhnlichen Worte, die auf gewöhnlichen Karten standen. Nicht: Liebe Nada, wir sind hier im Urlaub an der See, es ist sehr schön, wir baden, obwohl es windig ist, viele Grüße, deine Freundin X.
Diese Worte konnten schon allein deshalb nicht dort stehen, weil Nada keine Freunde besaß. Sie hatte keine Zeit für Freunde. Freunde waren überflüssig. Sie kamen und wollten Kaffee trinken und reden, schlimmer noch, sie wollten, dass man ihnen zuhörte, vor allem Freundinnen, und sie verstanden es nicht, wenn man auf die Uhr sah, um sie dazu zu bringen, dass sie wieder gingen. Nada hatte vor Langem damit aufgehört, Freunde zu haben.
Sie hielt die Karte dicht an ihre Augen und zwang das Salzwasser, die Buchstaben freizugeben.
Komm her. Es ist wichtig, dass du kommst. Man kann bis hinter den Horizont sehen, wenn man ganz leise ist. Das alte Ferienhaus steht leer. Die Dunkelheit ist noch da. Komm trotzdem. Vergiss, was geschehen ist. Ich brauche einen Anker. Frage dich nicht, wer ich bin. Ich warte.
»Man kann bis hinter den Horizont sehen, wenn man ganz leise ist«, flüsterte sie. »Ich warte.«
Ein metallenes Klicken durchstach die Stille, und sie zuckte zusammen. Es hörte sich an wie das Klicken einer Waffe, die entsichert wird. Aber als sie herumfuhr, war niemand da. Nur sie selbst. Dann begriff sie: Der Deckel des Mülleimers war zugefallen, sonst nichts. Sie hatte ihren Fuß vom Hebel genommen.
Ich warte.
Sie faltete die Postkarte in der Mitte und steckte sie in die Brusttasche ihrer Bluse. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, riss die Haustür auf und stürzte hinaus, ohne hinter sich abzuschließen.
Sie spürte die gefaltete Karte in ihrer Tasche, die gegen ihre linke Brust drückte, störte, sich weigerte, vergessen zu werden. Genauso wie sie sich geweigert hatte, weggeworfen zu werden. Als Nada die Treppen hinunterrannte, dachte sie, dass die Worte auf der Karte genauso wenig Sinn ergaben wie alles andere. Ich brauche einen Anker. Frage dich nicht, wer ich bin. Die Sätze klangen wie der Versuch eines Schizophrenen, Tagebuch zu schreiben. Vielleicht war der, der sie geschrieben hatte, tatsächlich krank. Aber warum schickte er Nada eine Karte?
Und warum kam es ihr plötzlich so vor, als hätten ihre Eltern früher, vor einigen Millionen Lichtjahren, in einer Kindheit, an die sie sich nicht erinnerte, ein Ferienhaus an der See besessen – an einem Meer, das nicht blau war, sondern grau, einem Meer mit beunruhigenden bräunlichen Schaumkronen?
Sie hatte zu wenig Zeit für die Bilder. Der Mensch von der Galerie, dessen Namen sie sofort wieder vergaß, war verstimmt. Sie wählte fünf Bilder aus, eines mehr als geplant, um ihn zu besänftigen. Es war wichtig, trotz Zeitersparnis und daraus folgender Eile ein gutes Verhältnis zu den Leuten zu haben, mit denen man zusammenarbeitete, das war ein Teil der Eintrittskarte zum Erfolg.
Die Leute mussten das Gefühl haben, man nähme sich für sie eine Minute mehr als für alle anderen Leute, eine kostbare, eine goldwerte Minute, einen Edelstein von einer Minute, ein beinahe schon intimes Zugeständnis persönlicher Wertschätzung.
Nada nahm sich fünf Extraminuten für das fünfte Bild, erwog kurz, ob ein mathematischer Zusammenhang bestand, dachte den Gedanken aus Zeitmangel nicht zu Ende und entschied sich für ein Bild von – Moment. War das nicht ein Leuchtturm? Es fiel ihr erst auf, als sie bereits wieder im Auto saß, auf dem Weg zum nächsten Termin. Die Bilder waren alle abstrakt, nur auf dem fünften war ein senkrechter roter Strich zu sehen, und in der Ferne dahinter irgendwo ein Blau, das kein Blau war, sondern eher ein Grau. Beunruhigend.
Sie tastete nach der Postkarte, die ihre Tasche ausbeulte. Die Tasche war nicht dazu gemacht, Postkarten zu beherbergen; es war eine völlig funktionslose winzige Tasche, deren Lebensaufgabe sonst darin bestand, gebügelt zu werden. Sie saß auf einer dezent figurbetonten weißen Bluse und gehörte zu Nadas Uniform. Es gab die Uniform in verschiedenen Farben, schlicht und gut geschnitten, wertvoll, ein gepflegtes Understatement ohne jede Emotion: gebügelte Bluse, gebügelte Stoffhose, Herrenarmbanduhr, kein Schmuck bis auf eine dünne Silberkette, die sie nie ablegte. Nichts von diesen Dingen verschwendete Zeit beim An- oder Ausziehen. Nada hatte nie über die Uniform nachgedacht, doch die Karte brachte sie dazu, es zu tun. Und sie stellte voller Erstaunen fest, dass sie keine eigenen Kleider besaß.
Selbst ihre Schlafanzüge, stets ebenfalls gebügelte Herren-Seidenschlafanzüge, schienen zur Uniform der Effektivität zu gehören. Es war ihr vage bewusst, dass es Leute gab, die sich abends in Rüschennachthemden hüllten und sich vor den Spiegel stellten und verführerisch fanden. Es gab Leute, die in einem alten Tanktop und geerbten Shorts schliefen und das Tanktop und die geerbte Shorts liebten, weil sie so schlabberig und unvorzeigbar waren.
Nada hatte keine Beziehung zu ihren Kleidern. Sie mochte die Herrenschlafanzüge nicht, und sie mochte sie nicht nicht. Mit den Herren, mit denen sie bisweilen schlief, war es genauso. Sie schlief mit ihnen, weil es notwendig schien. Es war weder angenehm noch unangenehm. Wichtig war nur, dass sie am Morgen kein Frühstück erwarteten, keinen Orangensaft, keinen Bademantel, keine Abschiedsworte. Am Morgen legte Nada Schwarz ihren Schlafanzug in eine Schublade, und sie hätte den jeweiligen Herren dazugelegt, aber meistens zogen die Herren es vor, selbst und nicht in Schubladen zu verschwinden: aus ihrem Bett, aus ihrer Wohnung, aus ihrem Leben, aus ihrem Kopf. Sie brauchte ihren Kopf für andere Dinge.
Sie organisierte.
Sie organisierte alles und jeden, oder manchmal kam es ihr so vor, obwohl es eigentlich nur Franks Restaurant war. Franks Restaurants.
Sie hatten sich vermehrt, seitdem Nada angefangen hatte, sie zu organisieren. Anfangs hatte es nur das Lichthaus gegeben, inzwischen gab es das Lichthaus Ost, Süd und West und demnächst also das Lichthaus Nord. Die Restaurants hatten ihr Leben als Geheimtipp begonnen, hatten dann die Heimlichkeit hinter sich gelassen und waren ins Rampenlicht verschiedenster Kritiker geraten, die auf eher unheimliche Weise einhellig in Lobesgesang verfielen, und inzwischen hielt man es in der besseren Gesellschaft geheim, wenn man noch nie in einem von Franks Lichthäusern gegessen hatte. Das alles verdankten die Lichthäuser, verdankte Frank, verdankten die Kritiker und die gesamte verdammte bessere Gesellschaft Nada. Und so organisierte sie auf Umwegen vielleicht das Leben der Stadt. In gewissen Kreisen.
Sie hetzte seit Wochen von Verabredung zu Verabredung, die alle etwas mit der bevorstehenden Eröffnung des letzten Lichthauses zu tun hatten, und an diesem Tag fragte sie sich zum ersten Mal, ob es Sinn hatte, noch ein Lichthaus zu eröffnen. Ob es überhaupt Sinn hatte, dass es die Lichthäuser gab. Ob irgendetwas einen Sinn hatte.
Je weniger Sinn die Welt um sie herum zu haben schien, desto sinnvoller kamen ihr die sinnlosen Sätze auf der Postkarte vor. Vielleicht wurde sie krank. Die Karte in ihrer Tasche schien schwerer zu werden, und seltsamerweise kam Nada – mitten bei Termin 18, einer Besprechung mit dem französischen Chefkoch des Lichthauses Ost und seiner Mannschaft – der Satz in den Sinn: Ihr Herz war so schwer, dass sie es kaum noch tragen konnte.
Sie wusste nicht, woher dieser Satz stammte, vermutlich hatte sie ihn irgendwo gelesen, sie las bisweilen Bücher, um Sätze aus den Büchern in die Konversation einfließen zu lassen. Wenn sie mit Leuten sprach, denen Sätze aus Büchern in Konversationen wichtig waren. Ihr Herz war so schwer. Als trüge sie die Postkarte anstelle eines Herzens mit sich herum. Anatomisch gesehen stimmte das, sie trug sie an der Stelle ihres Herzens, oder vielmehr trug sie sie vor ihrem Herzen her. Ihr Herz, natürlich, schlug hinter Rippen und Fett und Muskelfleisch wie immer. Sie legte ihre Hand auf die Postkarte, mitten in der Besprechung, und spürte ihren Herzschlag durch die Pappe.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Chefkoch. Er war aufgestanden und hatte sich über sie gebeugt, und Nada war sich beinahe sicher, dass er die Frage schon einmal gestellt und sie nicht reagiert hatte.
»Neinnein, ja, doch, danke«, stammelte sie. »Ich … war mit den Gedanken woanders.«
Sie sah die Blicke, die der Koch mit seiner Mannschaft wechselte. Nada Schwarz, die Managerin der Lichthauskette, war mit den Gedanken nie woanders. Sie dachte ihre Gedanken so rasch und scharf und akkurat, dass es schmerzte, und sie ließ es einen gewöhnlich spüren, wenn man Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen.
Die Blicke der Köche waren nicht besorgt oder wohlwollend. Sie waren verwirrt. Etwas stimmte nicht mit Nada Schwarz. Vielleicht war sie krank.
»Ja, das denke ich auch«, murmelte Nada, »genau das habe ich eben gedacht …«
»Bitte?«, fragte der Chefkoch.
»Nichts«, sagte Nada. »Gar nichts. Fahren Sie fort.«
Sie zwang sich, sich auf die Speisekarte des Lichthauses Nord zu konzentrieren, auf die richtige Mischung aus exotischen Extras und bodenständiger Küche, es war wichtig, zur Eröffnung eines Restaurants die richtige Speisekarte zu … ihr war nie aufgefallen, wie schnell ihr Herz schlug. Sie hatte Kopfschmerzen. Da saß etwas hinter ihren Schläfen, etwas Nagendes und Permanentes, das eventuell schon länger da war.
Schon immer.
Sie dachte drei Termine lang darüber nach, was es sein könnte. Während eines Termins mit einem Fotografen, dem das Licht im Lichthaus Nord an einigen Stellen nicht hell genug war, sodass für die Fotos zusätzliche Scheinwerfer beschafft werden mussten; während eines Termins mit einem Lieferanten, der Lieferengpässe bei einem ganz bestimmten afrikanischen Wein hatte – nicht einmal die verdammte Globalisierung funktionierte; und während eines Termins mit einem Reporter, der nicht wusste, wer Nada Schwarz war, und versuchte, mit ihr zu flirten. Als sie nach dem Milchkaffee mit dem Reporter darauf bestand, die Rechnung zu bezahlen, und in ihre Stimme so viel Kälte legte, dass er das Flirten aufgab und seinen Mantel enger zog – da – da wusste sie es auf einmal.
Sie wusste, was das hinter ihren Schläfen war.
Müdigkeit.
Sie war müde. So müde, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Es war eine erstaunliche Entdeckung. Vielleicht war sie seit Jahren müde und hatte es nur nie gemerkt. Sie strauchelte auf den Stufen vor der Bar, in der sie den Milchkaffee getrunken hatten, und der Reporter hielt sie fest. Als sie sich aus seinen Armen befreite und ihre Bluse glättete, streiften ihre Finger die Karte. Das Geräusch des Ozeans schwappte wieder durch ihren Kopf.
»Frau Schwarz«, sagte der Reporter. »Ist – sind Sie –?«
»Mir geht es gut«, sagte Nada. Sie bemühte sich, die Worte klar und deutlich auszusprechen, Worte aus Glas, harte und kalte Worte. Doch der Ozean in ihrem Kopf wollte ihre Worte verwaschen, ihre Kanten weich machen und sie verformen, er wollte sie rufen lassen, flehen lassen: Ich weiß nicht, was mit mir los ist! Ich kann mich nicht auf den Beinen halten! Bitte, bitte helfen Sie mir!
Sie sagte diese verformten Worte nicht und hielt sich sehr gerade, während sie die Straße hinunterging. Eine dunkle Straße. Der Milchkaffee-Termin war ein später gewesen, ein Zehn-Uhr-Termin, der Abendwind pfiff zwischen den Häusern entlang. Sie fror. Vielleicht fror sie auch schon seit Jahren und hatte es nur nie gemerkt … Ihr war schwindelig. Das Geräusch des Ozeans in ihren Ohren wurde lauter, wurde allmächtig, wurde so groß, dass es die Welt in sich ertrinken ließ. Es war nicht mehr weit bis zu ihrem Wagen.
Sie würde sich hinters Steuer setzen und tief durchatmen – sie sah den Bürgersteig auf sich zukommen und hatte das merkwürdige Gefühl, er bestünde aus Sand. Sie fiel.
Sie fiel und fiel und fiel in ein bodenloses schwarzes Loch, auf dessen Grund es nichts gab. Nur Dunkelheit.
Der Reporter fing sie auf. Sie hatte nicht gewusst, dass er noch neben ihr war. Sie sah sein Gesicht über sich, im Schein einer Straßenlaterne. Er hatte sie wohl doch nicht gefangen, mehr vom Boden aufgeklaubt, denn dort lag sie, und er kniete neben ihr wie neben einem Kind, das vom Rad gefallen ist. Sein Gesicht war selbst das Gesicht eines Kindes, er war so jung. Wie ein weißes Blatt, unbeschrieben, seine Wangen glatt rasiert bis auf ein sorgfältig stehen gelassenes und vollkommen lächerliches Ziegenbärtchen, sein Mund zu einem halb erschrockenen O verformt … Der Schal um seinen Hals lag so sorgfältig lässig, auf so unschuldige Art überzeugt von sich selbst, dass man weinen wollte.
»Nada«, flüsterte er.
»Danke«, flüsterte sie. »Etwas stimmt nicht mit meinem Kopf. Oder mit meinen Beinen. Es geht schon wieder.«
»Nada –«
»Schwarz«, sagte sie. »Mein Name ist Schwarz. Und mein Vorname ist Nathalie.«
»Dann ist Nada Schwarz ein … Künstlername?«
Sie setzte sich auf. Seine Hand hielt sie noch immer fest, und sie war erstaunlich nah an ihrer linken Brust. Sie war erstaunlich nah an der Postkarte. Sie schob die Hand weg.
»Dies ist keine romantische Situation«, sagte sie, aber ihre Stimme klang nicht mehr klar und kalt, sondern nur noch erschöpft. »Es geht mir nicht gut, und ich bin gefallen, das ist alles. Behalten Sie es für sich. Es hat nichts mit dem Artikel zu tun, den Sie über das Lichthaus Nord schreiben werden.«
»Natürlich nicht. Nada –« Er half ihr hoch.
»Mein Auto steht gleich dort«, sagte sie. »Ich komme jetzt allein zurecht. Ich bin noch verabredet.«
Er nickte. Er ließ sie los. Aber er sah aus, als glaubte er immer noch an Romantik. Als glaubte er, sie könnte sich nur nicht entscheiden, was sie wirklich wollte.
Verdammt, sie wusste genau, was sie wollte. Sie wollte die Augen schließen und schlafen, lange, lange, lange schlafen. Nichts organisieren und nicht effektiv sein. Und wenn sie aufwachte, wollte sie den Ozean rauschen hören, einen echten Ozean, unendlich und grau und voller Schaumkronen. Es war das erste Mal, dass sie etwas so Unsinniges wollte.
»Nada«, sagte der junge Reporter ein letztes Mal, um die Fahrertür herum, die sie zuziehen wollte. »Wenn Sie vielleicht doch nicht zurechtkommen … lassen Sie es mich wissen. Wenn Sie mich brauchen, bin ich für Sie da.«
Sie nickte, schloss die Tür, hoffte, dass er seine Finger rechtzeitig zurückgezogen hatte, und fuhr los. Im Rückspiegel sah sie ihn noch eine Weile dastehen und ihr nachsehen.
Seine Hand sah heil aus. Er hob sie und winkte. Ein Kind.
Sie öffnete die Tür des Lichthauses Nord um fünf Minuten nach elf. Die Bilder hingen inzwischen, und sie sah sofort, dass zwei von ihnen verkehrt hingen. Sie hatten ihre Anordnungen nicht verstanden, oder sie hatten sie verstanden und absichtlich missachtet, und in jedem Fall würde sie es Frank sagen müssen, damit er dafür sorgte, dass die Bilder an die richtigen Stellen gehängt wurden.
Er war bereits da, er wartete auf sie. Sie sah seinen breiten Rücken durch zwei der glaslosen Innenfenster. Das Lichthaus Nord war voller Licht, wie sein Name implizierte, und Frank hatte alle Lichter angemacht, Lichter in allen Ecken und Winkeln, verborgene Lichter. Draußen war Nacht, doch im Lichthaus war es taghell. Nicht grell, nur hell, angenehm hell, wie die Luft auf einer Terrasse über dem Mittelmeer.
»Frank?«
Er zuckte zusammen, drehte sich um und lächelte ihr entgegen, durch die beiden Fenster hindurch.
»Fünf Minuten«, sagte er und hob seine Armbanduhr. »Das ist Rekordzeit. Sonst bist du nie unter zehn Minuten zu spät.«
Frank war der einzige Mensch, bei dem sie nicht pünktlich war. Und auch ihre Nichtpünktlichkeit war berechnet. Sie lächelte zurück. Und durchquerte die beiden Räume, die sie von Franks Tisch trennten.
Die Tische waren bereits alle aufgestellt, denn nur mit aufgestellten Tischen kann man einen Eindruck von einem Raum gewinnen. Und von der perfekten Stelle für ein Bild. Frank stand auf und zog einen Stuhl für sie zurück, ehe er sich wieder setzte.
Einen Augenblick lang betrachteten sie das leere Restaurant mit den leeren Tischen, sämtlich weiß eingedeckt, und schwiegen.
»Gut«, sagte Nada. »Beinahe gut.«
Frank lächelte. »Es ist perfekt, Nada. Perfekt. Wie die drei anderen.«
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf, die Lippen fest zusammengepresst. »Die Bilder müssen noch mal umgehängt werden, und wir brauchen mehr Licht. Da hinten in der Ecke fehlt eine Lampe, der Fotograf hat es gemerkt. Außerdem stimmt im dritten Raum an der Decke etwas mit der Elektrik nicht, die Helligkeit wirkt … gedimmt. Vielleicht haben sie vergessen, dass es Tageslicht sein muss? Ich werde mich morgen darum kümmern. Keine Schatten, Frank. Es darf keine Schatten geben. Es gibt immer noch zu viele Schatten.«
Frank nickte langsam und goss Kaffee für sie aus einer Thermoskanne in eine weiße Porzellantasse.
Nada hatte die Idee zum Lichthaus vor sechs Jahren gehabt. Damals war sie noch keine Managerin gewesen, sondern hatte im Rigoletto in der Küche gestanden. Nicht als Tellerwäscherin, natürlich. Sie war Chefköchin, sie war überall gewesen, wo man gewesen sein musste, Frankreich, Marokko, Japan, sie war gut, und sie wusste es. Als Frank sie an seinen Tisch bestellte, verließ sie ihre Küche mit einem warmen Gefühl von Wut im Hinterkopf. Er konnte nichts an ihrem Essen auszusetzen haben. Niemals.
Er hatte nichts an ihrem Essen auszusetzen.
»Nada«, sagte er. »Ich bin es, Frank.«
Sie musste eine Weile nachdenken, bis sie darauf kam, woher sie ihn kannte.
»Die Schule«, sagte sie, kniff die Augen zusammen und musterte ihn. »Der stille kleine Junge mit der Brille.«
»Ja«, sagte Frank. »Ich trage jetzt Kontaktlinsen.«
Er trug zu den Kontaktlinsen einen Bauchansatz, und sein blassrotes Haar war schütter geworden. Auch im Sitzen sah man, dass er nicht groß war. Sie hatte ihn zuletzt in der neunten Klasse gesehen, danach war er von der Schule abgegangen.
»Ich habe gerade erst erfahren, dass du hier die Küche schmeißt«, sagte er und versuchte, lustig zu sein.
»Ich habe keine Zeit«, sagte sie.
Er nickte. »Später. Ich werde warten.«
»Später wird sehr viel später sein. Bis wir hier fertig sind …«
»Ich warte.«
Sie hatte versucht, später so spät werden zu lassen, dass er das Warten aufgab. Aber er war hartnäckig geblieben. Es war Winter gewesen, und er hatte draußen auf der Türschwelle des Rigoletto gesessen, in seinem dünnen Mantel, und mit blau gefrorenen Fingern geraucht. Er hatte sie nach Hause begleitet. Ihr eine Zigarette angeboten.
»Danke«, hatte sie gesagt, »ich rauche nicht.«
»Natürlich«, hatte er gesagt, »besser für dich.«
Sie wusste nicht, ob es besser war. Es war zu zeitaufwendig. Sie hatte keine Zeit zum Rauchen, sie hatte keine Zeit, Zigaretten zu kaufen, sie hatte keine Zeit, davon krank zu werden. Sie war ein Organismus, der funktionieren musste, und sie konnte es sich nicht leisten, diesen Organismus zu zerstören. Niemand würde im Rigoletto kochen, wenn sie es nicht tat, jedenfalls niemand, der so gut war wie sie, niemand würde sich darum kümmern, das chaotische Leben ihrer Eltern in gemäßigte Bahnen zu lenken, niemand würde ihre Wohnung sauber halten, niemand würde ihre Steuern bezahlen …
Frank besaß eine Kneipe. Eine gewöhnliche, heruntergewirtschaftete Kneipe, die er noch weiter heruntergewirtschaftet hatte, seitdem er sie besaß. Er dachte darüber nach, einen Koch anzustellen und die Kneipe in ein Restaurant zu verwandeln.
Sie lachte ihn aus.
»Ich bin Chefköchin im Rigoletto. Ich koche nicht in einer Kneipe.«
»Es wird keine Kneipe mehr sein. Wir können umbauen. Wir können alles so gestalten, wie du möchtest, verstehst du? Du hättest freie Hand. Du könntest alle Entscheidungen treffen. Du allein.«
»Du kannst mich nicht bezahlen«, sagte sie nüchtern.
»Doch«, sagte Frank. »Ich habe Geld geliehen. Eine Menge Geld.«
»Unsinn«, sagte sie. »Es ist ein zu hohes Risiko. Vergiss es.«
Er zeigte ihr seine Kneipe, noch in derselben Nacht. Für Momente befürchtete sie, er hätte andere Motive. Aber hinter dem Tresen hing ein Foto von einem jüngeren Mann mit weniger Bauch, und als sie fragte, ob er das wäre, lachte er.
»Das ist Mark«, sagte er. »Mein Freund. Du wirst ihn kennenlernen. Nachdem du den Vertrag unterschrieben hast.«
»Ich unterschreibe keinen Vertrag«, sagte sie.
Die Kneipe war duster und beengend, die Räume, die dazugehörten, zu neunzig Prozent ungenutzt. Bierkisten lagerten dort, alte Möbel, vergammelte Umzugskisten, Dreck.
Eine Woche später unterschrieb sie den Vertrag.
Frank führte sie zum Essen aus, einem Essen inklusive Mark, und dieses Essen fand in absoluter Dunkelheit statt, in einem Restaurant, in dem nur Blinde arbeiteten.
»Es ist eine wunderbare Geschäftsidee«, sagte er bei der Vorspeise. »Die Leute kommen nicht eigentlich her, um zu essen, sondern um etwas zu erleben, das anders ist. Anders als alles, was sie kennen. Eine neue Sichtweise der Dinge. Es ist eine Herausforderung.«
»Es ist fürchterlich«, sagte Nada.
»Kann jemand mein Glas irgendwo finden?«, fragte Mark.
»Wenn ich esse, möchte ich nicht herausgefordert sein«, sagte Nada. »Wenn ich esse, möchte ich mich entspannen. Ich meine, nicht ich persönlich, sagen wir: man. Man möchte den Stress vergessen, der im Büro lauert oder in der nächsten Besprechung, man wünscht sich eine Umgebung, die man gar nicht bemerkt und die dennoch angenehm ist, wie ein weiches weißes Tuch – verstehst du, was ich meine?«
»Nein«, sagte Frank.
»Ich glaube, mein Steak ist unter den Tisch gefallen«, sagte Mark.
Beim Nachtisch hatte Nada gewusst, was sie wollte. Sie hatte gewusst, wie das Lichthaus aussehen würde.
Und dass es das Lichthaus sein würde. Ein Haus voller Licht. Kein grelles Licht, das in die Augen stach, ein sanftes weißes Licht, das alles durchdrang, ohne sich aufzudrängen.
Sie hatten sämtliche Innenwände durchbrochen und Fenster geschaffen, Durchblicke geschaffen – sie hatten neue Wände eingezogen, nur um auch diese durchzubrechen, sie hatten Spiegel angebracht, im richtigen Winkel, um das Licht durchzulassen, ihm zu erlauben, sich zu vervielfältigen und zu brechen – sie hatten Plätze geschaffen, von denen aus man auf gewisse Weise alle anderen Leute sehen konnte und dennoch in einer eigenen Nische saß, Plätze, die einem erlaubten, sich unbeobachtet zu fühlen und gleichzeitig zu beobachten. Eine Welt aus sich gegenseitig durchdringenden Lichtstrahlen.
Nada schob die Erinnerung an den Beginn der Lichthäuser fort.
»Aber wozu?«, fragte sie, plötzlich, zusammenhanglos.
»Wozu? Wozu was?« Frank hatte sich über den Tisch gebeugt und musterte sie aufmerksam. Er trug seit einiger Zeit wieder eine Brille. Er war in den letzten sechs Jahren gealtert, mehr als sechs Jahre. Die Lichthäuser liefen wunderbar. Er hatte zu viel Geld, um es auszugeben.
Mark hatte ihn verlassen.
»Wozu tun wir das?«, fragte Nada. »Wozu eröffnen wir noch ein Lichthaus?«
»Vielleicht, damit es eine vierte Himmelsrichtung gibt«, sagte Frank und lächelte.
Doch sein Lächeln war traurig. Nada trank den Thermoskaffee aus der Porzellantasse. Er schmeckte nach der Dunkelheit in Franks alter Kneipe. Sie hatte ewig nicht an die alte Kneipe und die Dunkelheit dort gedacht. Es war eine so kalte, klamme Dunkelheit gewesen, kalt und klamm wie das Meer, das sie in Postkartenform in ihrer Tasche trug.
Und plötzlich begriff sie etwas.
Sie hatte die Dunkelheit nicht vertrieben. Nie. Sie hatte sie nur überdeckt, mit ihren Lampen, ihren Spiegeln und Durchbrüchen. Unter all dem lauerte sie noch immer, kalt und klamm und unheimlich. Das Rauschen in ihren Ohren wurde mit einem Mal unerträglich laut, der Schmerz in ihrem Kopf dehnte sich aus, ein rauschender Ozean aus Schmerz – sie presste die Zeigefinger an die Schläfen und schloss die Augen.
»Nada?« Das war Frank. »Nada, was stimmt nicht mit dir?«
Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Die Besorgnis in Franks Gesicht war echt, anders als die in den Gesichtern bei der Besprechung am Vormittag, anders als die übertriebene Schlafzimmerbesorgnis des jungen Reporters.
Vielleicht war Frank der einzige Mensch auf der Welt, dachte Nada, der sie tatsächlich mochte. Nicht, dass sie gewusst hätte, wieso, sie war nie nett zu ihm gewesen. Sie managte seine Restaurants, sie brachte ihm vierstellige Gewinne, aber sie war nie nett gewesen.
»Nada?«
Sie hörte ihn kaum durch das Tosen der Brandung.
»Ich … habe dieses Rauschen in meinen Ohren, seit heute Morgen. Es wird leiser und lauter, aber gerade jetzt …«
Sie machte eine hilflose Bewegung und stieß die Kaffeetasse um. Sie stieß nie Dinge um. Sie versuchte aufzustehen. Da war ein Schmerz in ihrer Brust, ein stechender und gemeiner Schmerz, und sie fiel auf ihren Stuhl zurück, die Hände an die Stelle des Schmerzes gepresst, ihre Finger fanden den Karton der Postkarte, und sie zog sie aus der Tasche. Der Knick, der hindurchlief, sah aus wie ein Riss im Gemäuer des alten Leuchtturms. Frank kniete jetzt neben ihrem Stuhl und legte einen Arm um ihre Schultern.
Der Schmerz in ihrer Brust war verschwunden, nur ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich. Viel zu schnell. Der weiße lichtdurchschwebte Raum drehte sich um sie, gemeinsam mit dem Tisch, mit der umgefallenen Kaffeetasse, mit der Thermoskanne, mit Frank.
Die Postkarte und sie selbst waren der einzig fixe Punkt im Universum …
Und dann stand alles still. Ganz plötzlich. Sehr still, ungewöhnlich still. Das Rauschen war fort.
Frank machte den Mund auf und zu, offenbar kamen Worte heraus, doch sie hörte nichts.
Es war, als befände sie sich unter Wasser.
»Ich höre dich nicht«, sagte sie laut, doch sie hörte auch sich nicht, sie hoffte nur, dass Frank es tat. »Ich höre gar nichts mehr. Ich glaube, ich kümmere mich morgen um die Lampen. Vielleicht sollte ich nach Hause fahren und mich hinlegen.«
Er nickte, und dann, ganz langsam, kam der Ton wieder, den jemand abgestellt hatte. Sie nahm das elektronische Piepen eines Handys wahr und sah, dass Frank eine Nummer wählte.
»Wen rufst du an?«, fragte sie.
»Den Notarzt«, sagte er.
Sie hörte ihn jetzt wieder klar und deutlich. Sie atmete auf. Nahm ihm das Handy weg und machte es aus.
»Es geht schon«, flüsterte sie. »Es ist jetzt okay. Ich kriege wieder alles mit, mir ist nur ein bisschen schwindelig. Ich will keinen Arzt. Frank … Es ist die Karte.«
»Hörsturz«, sagte Frank. »Und was ist mit deinem Herzen? Du hast eben die Hände darauf gepresst, als hättest du Schmerzen.«
»Mit meinem Herzen ist nichts.« Sie schüttelte den Kopf, erschöpft, aber entschlossen. »Und der Hörsturz ist Unsinn. Es war der Ozean.«
Er sah sie an, und sie wusste, was er dachte.
»Du solltest dich eine Weile ausruhen. Wir können die Eröffnung verschieben. Notfalls schaffen wir es ohne dich.«
Sie lachte trocken. Unwahrscheinlich. Sie würden alle im Chaos versinken. Aber sie war so müde. Sie hielt Frank endlich die Karte hin und sah, dass ihre Hand zitterte. Ihre Straße und die Hausnummer waren in Blockbuchstaben geschrieben, ungelenk, wie die Buchstaben eines Kindes. Oder eines Menschen, der selten Blockbuchstaben schreibt, der Blockbuchstaben schreibt, damit seine Schrift nicht erkannt wird. Der übrige Text auf der Karte war, obwohl verwaschen, blockbuchstabenlos.
»Die war heute Morgen in der Post«, sagte Nada. »Der Postbote hatte sie unter der Tür durchgeschoben. Jemand hatte sie unter der Tür durchgeschoben. Es ist … als hätte alles miteinander zu tun. Die Karte. Die Dunkelheit. Das Licht. Ich weiß nicht.«
Frank nahm die Karte, las, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf.
»Ich warte. Von wem ist sie? Wer wartet auf dich? Und wo?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich kenne niemanden, der so etwas schreiben würde. Aber ich erinnere mich … Meine Eltern hatten ein Ferienhaus. Auf irgendeiner Insel in der Nordsee. Irgendwer hat mal so was erzählt. Ich weiß nicht, ob sie es noch haben.«
»Frag sie«, sagte Frank.
»Was?«
»Frag sie. Fahr hin.«
»Ich …«
Er stand auf und zog sie mit sich hoch. Sie merkte, dass er merkte, wie unsicher sie auf den Beinen war.
»Es wäre besser, zum Arzt zu gehen«, sagte er. »Aber vielleicht wäre das nur besser für einen normalen Menschen. Nicht für Nada Schwarz. Vielleicht ist es für Nada Schwarz besser, auf diese Insel zu fahren. Nimm zwei Wochen Urlaub, drei, wenn es sein muss. Die Ruhe einer Nordseeinsel ist vermutlich genau das, was du brauchst. Spazieren gehen, lesen, schlafen. Es wird eine Menge Licht dort geben, Meer und weiter Horizont und so. Du magst doch das Licht.«
»Es kommt ohnehin nie an«, murmelte Nada. »Nicht auf den Grund. Der Grund bleibt immer dunkel. Das Licht war eine dumme Idee, Frank. Die Lichthäuser waren eine dumme Idee.«
»Du redest Unsinn, und du weißt es«, sagte er. »Ich bringe dich nach Hause. Sag mir morgen einfach nur, ob es das Ferienhaus deiner Eltern noch gibt und wann du fährst. Im Übrigen brauchst du das Ferienhaus nicht mal. Fahr auf jeden Fall, fahr in irgendein Ferienhaus auf irgendeiner Nordseeinsel und komm vor in zwei Wochen nicht wieder her. Sonst feuere ich dich, verstehst du?«
Als er sie hinausführte und sie sich auf seinen Arm stützte, wurde ihr klar, dass er sich zum ersten Mal so benahm, als wäre er der Ältere. Auf der Straße ließ sie seinen Arm los und stellte sich gerader hin. Der Schwindel war beinahe fort.
Sie hatte die Postkarte in ihre Handtasche gesteckt, weit genug entfernt von ihrem Herzen.
»Frank«, sagte sie. »Danke. Aber ich finde alleine nach Hause.«
Sie stieg in ihr Auto, ehe er sie daran hindern konnte.
Vor ihrer Wohnungstür saß im Treppenhaus der junge Reporter.
»Wie haben Sie meine Wohnung gefunden?«, fragte sie.
»Ein bisschen private Recherche.« Er zuckte die Schultern. »Ich dachte, es ist besser, ich bleibe in der Nähe. Falls Sie wieder einen Schwächeanfall bekommen. Irgendjemand hat unten den Summer gedrückt und mich reingelassen. Ist ganz gemütlich vor Ihrer Tür … Ich hatte gerade überlegt, ob ich hier schlafe.«
Irgendwie, dachte sie, sah er nicht aus wie jemand, der schon lange gewartet hatte. Er sah aus wie jemand, der versuchte, so auszusehen, als hätte er lange gewartet. Sein Atem ging hektisch, als wäre er eben erst die Treppen hinaufgestiegen. Vermutlich war es egal.
Sie seufzte und schloss die Tür auf. Sie war zu müde, um ihm Fragen zu stellen. Sie nahm ihn mit hinein. Er war so jung.
Er hatte einen Graffiti-Schriftzug auf die Innenseite des linken Oberschenkels tätowiert, den sie nicht lesen konnte. Sie weigerte sich, ihn zu fragen, was er bedeutete, weil er so gerne gefragt werden wollte.
»Erwarten Sie kein Frühstück«, sagte sie. »Wenn ich morgen aufstehe, sind Sie weg, verstanden? Ich stehe früh auf.«
Er schüttelte den Kopf und lächelte und hielt sich für unwiderstehlich. Als sie aus dem Bad kam, stand er vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer, versunken in die Betrachtung seines eigenen Körpers, und lächelte noch immer. Sie ließ sich von ihm auf den Teppich vor dem Spiegel ziehen, und einen Moment betrachteten sie sich beide darin, betrachteten einander. Er berührte die Silberkette an ihrem Hals, das Einzige, was sie noch anhatte.
»Was ist das?«, flüsterte er. »Der Anhänger. Eine Perle?«
»Glas«, antwortete Nada. »Das Meer hat es rund geschliffen.«
»Es ist seltsam, das … passt nicht zu dir«, sagte er.
»Das geht Sie nichts an.«
»Du bist so schön«, murmelte der Reporter.
Sie mochte die Art nicht, wie er sie duzte, und legte den Finger auf seinen Mund. Als sie seine Lippen spürte, ertappte sie sich bei seltsamen Gedanken. Das ist vielleicht das letzte Mal, dachte sie, dass ich in dieser Wohnung mit einem jungen Reporter schlafe, der mir gleichgültig ist. Und dann, ein wenig später, dachte sie etwas anderes, mitten in einer erschöpfend rhythmusbetonten Umarmung.
»Warte«, sagte sie. »Hast du etwas damit zu tun? Mit der Karte?«
»Was?« Er öffnete die Augen und starrte sie im Spiegel an, entsetzt über die Unterbrechung.
»Warst du je bei einem roten Backsteinleuchtturm?«
»Leuchtturm?«
»Vergiss es.«
Die Stadt war auf diffuse Weise dunkel, an manchen Stellen blinkend und blitzend, an manchen Stellen neongrell erleuchtet, laut und hektisch lebendig, doch im Großen und Ganzen dunkel. Nur die Lichter des Lichthauses Nord leuchteten taghell durch die Schwärze.
Frank saß an einem weiß eingedeckten Tisch und rauchte. Nada hätte es ihm verboten, in den Lichthäusern wurde nicht geraucht. Im Aschenbecher vor Frank hatten sich die Kippen mehrerer Stunden gesammelt wie die Hüllen verbrauchter Minuten. Von dort, wo er saß, konnte er den Tisch, an dem er mit Nada gesessen hatte, durch ein Fenster sehen. Ein Fenster in einer Innenwand. Das Fenster und der Tisch schienen Symbole zu sein, aber er wusste nicht, wofür.
Zehn nach drei. Er sollte schlafen gehen. Schlief sie? Schlief sie jetzt?
Er war zurückgekehrt, nachdem er sie hatte davonfahren sehen. In seiner Erinnerung setzte er sich selbst wieder an den anderen Tisch, beobachtete von außen, wie er Nada entgegensah.
Sie durchquerte die beiden Räume, die sie von Franks Tisch trennten, sie trug einen Strauß Hyazinthen und eine weiße Vase. Hyazinthen im November. Ihr blauer Duft war so hell wie das Tageslicht aus den Lampen. Die richtigen Blumen, sagte sie, waren so wichtig wie das richtige Licht, damit die Leute sich in einem Restaurant wohlfühlten. Sie wählte die Blumen stets selbst aus, und die Hyazinthen waren die ersten Blumen im Lichthaus Nord. Er sah zu, wie sie sie in der Vase anordnete, ihre Bewegungen präzise und geübt, emotionslos, seltsam unpassend für Blumen. Sie stellte die Vase in eines der Innenfenster.
Frank stand auf und zog den Stuhl für sie zurück. Einen Augenblick lang betrachteten sie das leere Restaurant mit den leeren Tischen und dem einen Strauß blauer Hyazinthen und schwiegen.
»Gut«, sagte Nada. »Beinahe gut.«
Frank lächelte. »Es ist perfekt, Nada. Wie die drei anderen.«
Er drückte die Zigarette aus und atmete das Luftgemisch aus Rauch und Blütenduft. Warum konnte sie sich nicht damit abfinden, dass etwas perfekt war? Warum konnte sie nicht froh sein? Warum brachte sie das Licht und den Duft nur zu den anderen Leuten?
»Ich höre dich nicht«, hatte sie gesagt. »Ich höre gar nichts mehr … Es ist die Karte.«
Er sah die verlaufene Schrift wieder vor sich.
Komm her. Es ist wichtig, dass du kommst. Man kann bis hinter den Horizont sehen, wenn man ganz leise ist. Das alte Ferienhaus steht leer. Die Dunkelheit ist noch da. Komm trotzdem. Vergiss, was geschehen ist. Ich brauche einen Anker. Frage dich nicht, wer ich bin. Ich warte.
»Ich weiß mehr als du, Nada«, sagte Frank leise, »und gleichzeitig weiß ich nichts.«
Auf einmal erschien ihm das Lichthaus kalt. Die Heizungen, sicher waren die Heizungen noch nicht angestellt, es musste daran liegen.
Er wusste, dass es nicht daran lag. Er hatte Angst. Angst davor, was diese Karte mit Nada anstellte. Ein einfaches Stück Pappe, ein Foto von einer Inselküste, und sie hörte nichts mehr, sie presste ihre Hände auf ihr Herz, sie brach zusammen. Fahr, hatte er gesagt, fahr hin. Wollte er wirklich, dass sie fuhr? Wer – oder was – wartete auf Nada?
Die Stadt draußen atmete in unruhigem Schlaf ihr Neonlicht ein und aus, ihre Hektik, ihre diffuse Dunkelheit. Nur die Lichter des Lichthauses Nord leuchteten taghell durch die Schwärze. Wie die Suchscheinwerfer eines Leuchtturms auf dem Ozean der Nacht.
2
Als sie aufwachte, lag der zu junge Reporter neben ihr und schlief. Er schlief auf der Seite, mit dem Rücken zu ihr, die Arme von sich gestreckt, den Mund leicht geöffnet. Sie dachte daran, dass er vielleicht einen Namen hatte. Es war spät. Viertel nach sieben.
Sie fluchte lautlos, stand auf und merkte, dass sie immer noch unstet auf den Beinen war. Dass der Schmerz hinter ihren Schläfen immer noch da war. Dass sie immer noch müde war.
Sie stellte sich unter eine eiskalte Dusche und versuchte, klar zu denken. Sie musste sich um die Lampen im Lichthaus Nord kümmern. Einen anderen Weinlieferanten finden. Die Gästeliste der Eröffnungsfeier überprüfen und dafür sorgen, dass Franks Anzug bis dahin aus der Reinigung abgeholt war.
Sie schloss die Augen, ließ das kalte Wasser über ihr Gesicht in ihren Mund laufen – und verschluckte sich daran. Das Wasser war salzig, salzig wie Meerwasser. Salzig wie Tränen. Nada stellte die Dusche ab. Einen Moment lang stand sie frierend in der Duschkabine, mit nassen Haaren und Tränen im Gesicht, die sie nicht geweint hatte. Dann trocknete sie sich ab und suchte die Postkarte.
Sie hatte sie gestern in die Handtasche gesteckt … Die Handtasche lag auf dem Boden, neben dem weißen Knäuel ihrer Bluse, vor dem großen Wandspiegel. Es war keine Postkarte darin. Nada suchte in den Taschen ihrer Hose, in den Taschen ihrer Jacke, sie sah unters Bett und griff unter ihr Kopfkissen, schlug die Decke zurück … nichts. Nur ein nackter Reporter. Es gab keinen Beweis, dass sie diese Postkarte besessen hatte. Doch, dachte sie dann. Frank. Aber was, wenn sie Frank anrief und er ihr erklärte, er habe keine Postkarte gesehen? Oder wenn er sagte, er habe eine gesehen, nur damit sie beruhigt war, obwohl er in Wirklichkeit keine gesehen hatte? Auf Franks Aussagen war kein Verlass, Frank mochte sie, das war sein Problem. Oder war es ihr Problem? Sie nahm das Telefon mit ins Bad, weil sie keine Lust hatte, den Reporter versehentlich zu wecken und mit ihm reden zu müssen. Sie hätte ihn natürlich fragen können, ob er die Postkarte nachts aufgegessen hatte –
»Frank«, sagte sie ins Telefon. »Bist du wach?«
»Nein«, antwortete Frank.
»Ich muss dich etwas fragen. Und es ist wichtig, dass du mir ehrlich antwortest. Hatte ich gestern eine zerknickte Postkarte in meiner Hemdtasche?«
»Nada, gestern … gestern ging es dir nicht gut.«
»Habe ich gesagt, ich hätte diese Postkarte unter meiner Tür gefunden?«
»Du hast eine Menge Dinge gesagt, die … wenig Sinn ergaben. Und wir hatten uns entschieden, dass du Urlaub machst, weißt du das noch?«
»Natürlich weiß ich das. Ich war nicht betrunken. Und es stimmt nicht. Du hast entschieden, dass ich Urlaub mache. Auf einer Nordseeinsel. Lächerlich.«
»Vergiss die Nordseeinsel. Mach irgendwo Urlaub, wo es warm ist. Nimm den nächsten Flieger in die Karibik. Oder sonst wohin. Irgendwohin, wo der Hibiskus blüht und man sich an den Strand legen kann.«
»Auf der Karte war kein blühender Hibiskus. Auf der Karte war ein Leuchtturm. Ein Nordseeleuchtturm. Meine Eltern haben ein Ferienhaus an der Nordsee, oder sie hatten eines.«
»Ich weiß, das hast du gestern erzählt, aber –«
»Also habe ich dir die Karte gezeigt?«
»Nada –«
Sie legte auf. Sie schmeckte das Salzwasser noch in ihrem Mund. Sie fühlte, wie es in ihren Augen brannte. Sie atmete tief durch und rief ihre Eltern an.
»Nada?«, fragte ihre Mutter. »Nada, bist du das? Es ist erst sieben …«
»Ja«, sagte sie und schluckte. »Ich weiß.«
»Wir haben seit einer Ewigkeit nicht miteinander gesprochen.«
»Ja«, wiederholte sie. »Ich weiß.«
»Du hast keine Zeit zum Telefonieren, hast du gesagt.«
»Ja. Ich weiß. Bitte – haben wir – habt ihr – oder hattet ihr – ein Ferienhaus an der Nordsee?«
Eine Weile war es sehr still in der Leitung. Dann räusperte sich Nadas Mutter. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, gerade um sieben Uhr morgens, das kommt etwas plötzlich –«
»Sag einfach ja oder nein.«
»Nada.«
»Ja oder nein.«
»Du solltest mit deinem Vater darüber sprechen. Später. Wenn er aufgestanden ist.«
»Ich muss es jetzt wissen. Verdammt, was ist daran so kompliziert?« Ein Verdacht keimte in ihr, und sie schüttelte unwillig den Kopf. »Du hast mir nicht zufällig eine Postkarte geschrieben, um mich dazu zu kriegen, dass ich Urlaub mache? Mit verstellter Schrift?«
»Nein«, sagte ihre Mutter, und sie klang verwirrt. »Hat jemand dir eine Postkarte geschrieben?«
»Besitzen wir ein Ferienhaus an der Nordsee?«
»Vielleicht.«
»Was heißt vielleicht? Kann man ein Haus vielleicht besitzen?«
»Es ist lange her, seit wir … zum letzten Mal darin gewohnt haben. Vielleicht ist es gar nicht mehr da.«
»Unsinn. Ein Haus ist nicht einfach nicht mehr da.«
»Es gibt Stürme … Unwetter … Gezeiten …«
»Wo ist es?«
»Auf einer winzigen Insel bei Amrum. Nimmeroog. Der Ort heißt Süderwo. Aber –«
»Kann ich die Schlüssel haben?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Wir haben sie nicht. Die Nachbarn haben sie, also, die Nachbarn auf der Insel. Wir haben dieses Haus irgendwie … aus den Augen verloren, als Ferienziel, weißt du … und du hattest später ja auch nie Zeit für Ferien …«
»Und wie sieht es aus? Wie heißt die Straße? Die Hausnummer? Wie –«
»Was willst du dort?«
»Nichts«, sagte Nada, »schon in Ordnung. Ich finde es selbst heraus.«
Sie ärgerte sich eine ganze Minute lang, dass sie angerufen hatte. Nun würde sie ein schlechtes Gewissen mit auf die Insel nehmen, das schlechte Gewissen einer Tochter, die ihre Eltern vernachlässigt, nachdem sie jahrelang versucht hatte, sie gegen ihren Willen zu organisieren. Nein, sagte sie sich. Sie würde das Gewissen hier lassen. Sie drehte die Dusche noch einmal auf und spülte es mit einem Schwall Salzwasser weg. Aber als sie einen Tropfen davon in den Mund bekam, war das Wasser nicht mehr salzig. Vielleicht war es nie salzig gewesen. Sie erwog, noch einmal zu duschen, das Salz von vielleicht-zuvor abzuduschen, doch dann ließ sie es. Sie hatte einen Entschluss gefasst, der sämtlichen anderen Entschlüssen ihres Lebens widersprach, und sie musste ihn rasch ausführen, ehe die Kraft dazu sie verließ.
Ganz hinten in ihrem Schrank fand sie eine sehr alte Jeans und ein ungebügeltes Männerhemd sowie einen dicken Wollpullover und eine Regenjacke, mit der man sich bei keinem Empfang sehen lassen konnte. Vermutlich hatten verschiedene Männer die Sachen über die Jahre hier vergessen. Bis auf die Jeans, die Jeans musste ihr gehören, denn sie passte. Sie wunderte sich, wie wenig Abneigung sie gegen die Sachen empfand, obwohl sie intensiv nach einer Mischung aus Mottenkugeln, Staub und Schimmel rochen. Es dauerte nur fünf Minuten, im Netz herauszufinden, wie man nach Amrum kam, und weitere fünf Minuten, ein paar Sachen in den kleinen Reiserucksack zu werfen, den sie zuletzt in Japan benutzt hatte.
Sie nahm beinahe nichts mit. Den Laptop nicht, das Handy nicht, die Armbanduhr nicht, keine einzige weiße Bluse, keine einzige gebügelte Stoffhose und keinen ihrer drei Terminplaner. Nicht einmal einen der wertvollen Romane, die sie bis zum nächsten Monat hatte lesen wollen, um Gesprächsstoff für Empfänge zu haben. Sie konnte sich am Bahnhof ein Buch kaufen. Falls sie eines brauchte.
Sie würde in Hamburg umsteigen.