Gabor Steingart
Unser Wohlstand
und seine Feinde
Knaus
Gabor Steingart
Unser Wohlstand
und seine Feinde
Knaus
1. Auflage
Copyright © der deutschen Originalausgabe 2013
beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dokumentation: Dr. Jörg Lichter
Gesetzt aus der Sabon von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-10812-0
www.knaus-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1
Urknall. Vom Entstehen des Kapitalismus und was ihn von der Marktwirtschaft unterscheidet
Kapitalismus und Marktwirtschaft – ziemlich entfernte Verwandte
Herzlosigkeit als Mitgefühl – die schwierige Rolle des Staates
Kapitalismus pur – von Monopolisten, Kartellbrüdern und Kriegsherren
Das Streben nach mehr – der »kapitalistische Mensch« entsteht
Die große Rücksichtslosigkeit und die Rolle der Banken
Der Kapitalismus als Wohlstandsvermehrer und Menschenschinder
Kapitel 2
Monopoly. Die Todsünden des Kapitalismus
Die »Große Depression« – Fundamentalkrise des westlichen Wirtschaftssystems
Hitler, Roosevelt und der »vergessene Mann«
Die Wirtschaft wird sekundär – wie sich das Primat der Politik durchsetzt
Kapitel 3
Wohlstand. Die »Stunde Null« der Marktwirtschaft
Ludwig Erhard und das Versprechen vom kleinen Lebensglück
Es lebe der Widerspruch – wie man ein paradoxes Ordnungssystem im Gleichgewicht hält
Kapital und Arbeit – aus Rivalen werden Partner
Real existierender Sozialismus und Planwirtschaft – Motivatoren wider Willen
Lyndon B. Johnson und Amerikas Weg zum Sozialstaat
Kapitel 4
Bastardökonomie. Das Wölfische kehrt zurück – wie Politiker und Banker unseren Wohlstand gefährden
Die Grenzen des Wachstums – warum Wohlstand dazugekauft wird
Die Gier nach Gegenwart – die Schuldenrepublik entsteht
Der Aufstieg der Banken als Ermöglicher von Politik
Immobilienspekulation auf Staatskosten – der große Sündenfall made in USA
Zukunft zu verkaufen – die Funktion der Notenbanken für die Bastardökonomie
Wer rettet wen? – wie die »Rettungspolitiker« die Gesetze von Marktwirtschaft und Demokratie außer Kraft setzen
Warum die Bastardökonomie die Marktwirtschaft verformt
Kapitel 5
Neustart. Wie sich die Bastardökonomie beenden und unser Wohlstand erhalten lässt
Die Bastardökonomie – eine Schadensbilanz
Entflechtung jetzt!
Alle Macht dem Volke – warum das Parlament sein Budgetrecht verwirkt hat
Ihr müsst euer Leben ändern – wie die Banker wieder zu Dienern der Gesellschaft werden
Warum wir die Vereinigten Staaten von Europa bauen sollten
Die Wirtschaftswissenschaften müssen sich selbst neu denken
Wohlstand oder Wachstum? Plädoyer für eine Politik der Entschleunigung
Literatur
Danksagung
Vorwort
Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Zustand der Verwirrung. Es ist die Verwirrung eines Autors, der entgegen den Gesetzmäßigkeiten seiner Zunft darauf keinerlei Exklusivitätsansprüche erhebt. Vielmehr fühlt er sich in bester Gesellschaft. Nach den vielfältigen Krisen von Banken, Währungen und Staaten sehen viele das Wohlstandsversprechen unseres Wirtschaftssystem in Frage gestellt.
Wird es unseren Kindern wirklich besser gehen können als uns heute? Überlebt der nach dem Krieg errichtete Sozialstaat die permanent gegen ihn gerichteten Angriffswellen, auch die seiner ihn überfordernden Freude? Kann die Krisenbekämpfungspolitik in Südeuropa den großen Knall verhindern? Und dann die wohl düsterste aller Fragen: Ist unser Modell von Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung noch zukunftsfähig?
Dieses Buch versucht, Antworten zu geben. Wobei jene Leserinnen und Leser gewarnt seien, die sich an den Spielarten eines ökonomischen Fatalismus erfreuen oder der Sehnsucht nach Apokalypse verfallen sind. Sie werden hier nicht auf ihre Kosten kommen. Es geht in »Unser Wohlstand und seine Feinde« um Realismus, nicht um Pessimismus. Wir wollen die bedrohlichen wirtschaftlichen Zustände nicht an ihr Ende, sondern zum Anfang zurückdenken. Vor dem geneigten Leser liegt ein Beitrag zur wirtschaftlichen Evolutionsgeschichte der Welt, die erzählt und erklärt, wie wir dahin kamen, wo wir heute stehen.
Ohne diese historische Ortsbestimmung driftet die so leidenschaftlich geführte Debatte über die Zukunft unseres Wirtschaftssystems, das viele fälschlicherweise »kapitalistisch« nennen, ins Zufällige ab. Denn die Grundverwirrung rührt ja gerade daher, dass beide an unseren Universitäten vertriebenen Navigationssysteme, das sozialistische wie das liberale, zur Positionsbestimmung nicht mehr taugen. Die ihren Betriebssystemen zugrunde gelegten Algorithmen wurden von der Wirklichkeit widerlegt.
Das kapitalistische System fuhr nicht wie von Karl Marx geweissagt in die Hölle der Verelendung. Es gibt keinen tendenziellen Fall der Profitrate, so wenig wie der Unternehmer die ihm zugewiesene Rolle als »Totengräber« des Systems übernahm.
Adam Smith, dem geistigen Gegenspieler, ist es in der rauen Wirklichkeit nicht besser ergangen. Der Glaube an die »unsichtbaren Hände«, die unser Wirtschaftssystem einer natürlichen Balance zuführen würden, erwies sich als irrig. Nur die eiserne Hand des Staates konnte die Welt nach der Implosion des von deutschen Aussiedlern gegründeten Bankhauses Lehman Brothers vor Massenarbeitslosigkeit, Armut und politischem Radikalismus retten. Die unsichtbaren Hände hätten uns beinahe erdrosselt. Man fragt sich heute, wie wir diesen Unfug, alles würde von selbst seiner natürlichen Ordnung zustreben, jemals glauben konnten. Wenn es denn ein Wesensmerkmal unserer Wirtschaftsordnung gibt, dann ist es ihre ständige Neigung zur Unordnung.
Auch die neuzeitliche Volkswirtschaftslehre hilft uns nicht weiter. Sie betrachtet die Wirtschaft als eine große Maschine. Bildhaft wird sie gerne mit einer Lokomotive gleichgesetzt. Welche Lokomotive zieht die Weltwirtschaft? So lautet die Frage vor nahezu jedem G-20-Treffen der wichtigsten Staats- und Regierungschefs.
Das Bild von der Lokomotive besagt: Die Wirtschaftsmaschine erbringt unter gleichbleibenden Bedingungen gleichbleibende Leistung. Wer sie mit mehr Energie, sprich Geld, befeuert, erhöht das Tempo.
Das Beruhigende und Fatale an diesem Bild ist: Wenn das Umfeld sich verändert, arbeitet die Maschine gemäß ihrer Konstruktion und der in ihr angelegten Mechanik trotzdem weiter. Sie funktioniert. Im Zweifel verbraucht sie mehr Energie und ist weniger effektiv, aber, und darauf kommt es hier an, die Maschine bleibt eine Maschine. Kehrt das Umfeld wieder zum Normalzustand zurück, zum Beispiel nach einer Rezession oder einer Finanzkrise, stellen sich die alten Ergebnisse wieder ein. Die Wirtschaft laufe wieder rund, heißt es dann.
Doch diese mechanistische Sichtweise, bei der die Leistungen der Maschine mit mathematischen Modellen vorhergesagt werden können, bildet das ökonomische Geschehen nur unvollständig ab. In seiner Starrheit erinnert das Konzept »Wirtschaft = Maschine« an den frühen Glauben, alle Pflanzen und Tiere seien mit einem Donnerschlag, von der Kirche »Schöpfungsakt« genannt, entstanden. Erst Charles Darwin konnte mit seiner Theorie von der Evolution, bei der sich jede künftige Lebensform durch Mutationen oder Modifikationen aus heutigen Lebensformen entwickelt, so wie die heutigen aus vorherigen Lebensformen hervorgegangen sind, die Komplexität des Entstehens und Vergehens von Arten erklären.
Wir sollten »die Wirtschaft« ebenfalls weniger starr und mechanistisch betrachten. Sie ist – zumal sie im Kern aus nichts anderem als aus Menschen besteht, ihrer Arbeitskraft und ihren Ideen, ihren Bedürfnissen und Abneigungen – ein großer lebender Organismus, der, wie alle anderen Organismen auch, auf Veränderungen der Umwelt mit Verhaltensänderungen reagiert. Darwin würde von »Adaption« sprechen.
Gelingt dem Organismus diese Anpassungsleistung nicht oder zu langsam, so wie es den Dinosauriern im Übergang von der Kreidezeit zum Tertiär ergangen ist oder dem Malaria-Virus in Kontinentaleuropa nach der Entdeckung von Antikörpern, stirbt er aus oder führt ein Nischendasein. Jene Organismen aber, denen die Anpassung an veränderte Umstände am besten und schnellsten gelingt, werden belohnt. Sie vermehren sich häufiger als andere. Darwin nennt das »natürliche Selektion«.
Um die Welt der Ökonomie besser zu verstehen, sollten wir uns Darwins Bilder von der Evolution ausleihen. Die von ihm entdeckten Prinzipien von Adaption und natürlicher Selektion kennzeichnen nicht nur die Evolution von Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt, sondern auch die Art und Weise, wie unser Wirtschaftsorganismus sich entwickelt.
Verändert sich das Umfeld kaum, bleibt der Organismus stabil. Das trifft auf die westlichen Nachkriegsgesellschaften zu mit ihren anhaltend hohen Wachstumsraten und der stabilisierenden Wirkung der Blockkonfrontation zwischen Ost und West.
Wir leben heute in einer Zeit weltweit großer evolutionärer Dynamik, nicht erst seit der Finanzkrise. Die sowjetische Planwirtschaft, die nicht in der Lage war, ihre eigene Bevölkerung zu ernähren, musste weichen. Nicht Ronald Reagan oder Michail Gorbatschow haben der Sowjetunion das Todesglöckchen gebimmelt, auch wenn sie dafür vielerorts verehrt werden. Es war ein ökonomischer Auswahlprozess, der das entscheidende Wort sprach. Ein blühendes russisches Wirtschaftssystem hätte Reagan nicht totrüsten und Gorbatschow nicht preisgeben können.
Zugleich werden schnell lernende Systeme belohnt. Der chinesischen KP, die nach der pragmatischen Devise verfährt, »wenn etwas gut funktioniert, nennen wir es Kommunismus«, gelang es, ein Wirtschaftssystem neuen Typs zu etablieren. Der oft wiederholte Satz »nach dem Ende der Planwirtschaft fehlt dem Kapitalismus die Systemalternative« könnte falscher nicht sein.
In Wahrheit haben wir es mit einer nie da gewesenen Artenvielfalt der wirtschaftlichen Systeme zu tun. Von Putins Oligarchenwirtschaft über den Öl-Kapitalismus im Nahen Osten und in Venezuela bis zu den verschiedenen asiatischen Modellen einer dirigistischen Marktwirtschaft streut die ökonomische Variation.
Selbst innerhalb der westlichen Industriegesellschaften herrscht ein bunter Pluralismus. Man denke nur an die Unterschiede zwischen dem zentralistischen Frankreich und dem Deutschland des Föderalismus und des Mittelstandes. Oder an die Differenz zwischen Amerika und Europa. Darwins »Gradualismus«, der eine Veränderung des Lebens in oft kleinsten Schritten beschrieb, findet hier seine Entsprechung in der Welt der Wirtschaft.
Erzählt wird diese Evolutionsgeschichte in diesem Buch von allem Anfang an. Wir kehren zurück in die graue Vorzeit des Wolfskapitalismus, ziehen mit den Ölmagnaten, Industriebaronen und Börsenspekulanten an die frühen Siedlungsstätten unseres Industrialismus. Wir begegnen jener Zeit, als das System erstmals autoaggressive Verhaltensweisen zeigte. Über die Große Depression führte der Pfad zu Hitler und Roosevelt.
Von dort geht es in gleichermaßen dialektischer wie glorreicher Verkehrung des bis dahin Gewesenen zur Marktwirtschaft. In Deutschland schuf Kanzler Ludwig Erhard »Wohlstand für (fast) alle«, so wie sein amerikanisches Gegenstück Präsident Lyndon B. Johnson die »Great Society« begründete, die amerikanische Ausgabe eines Sozialstaates. Unter dem Eindruck steiler Wachstumsraten mutierte der kapitalistische Wolf zum marktwirtschaftlichen Haushund, der dem Menschen nahe und nützlich sein will. Viele glauben seitdem, die Domestizierung sei unumkehrbar. Und wer das nicht glaubt, der hofft zumindest.
Als sich die hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahre verabschiedeten, wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen. Staaten und private Banken kamen sich nun näher, als Bürgern und Kunden recht sein konnte. Der Kredit führte sie zusammen. Er wirkt für beide Seiten wirklichkeitsvergrößernd. Bald schon kooperierten und kopulierten Bank und Staat, bis unklar war, wer hier eigentlich die Verantwortung trägt. Aus hybriden Verhältnissen entschlüpfte eine Bastardökonomie, die – halb Markt- und halb Staatswirtschaft – im Schatten der Globalisierung gezeugt worden war. Das Wölfische kehrte in das System zurück.
Nirgendwo im Westen ist der Staat noch der, als der er sich ausgibt. Er ist heute eine Art Doppelwesen, das tagsüber auf dem roten Teppich wandelt, umbraust von Militärkapelle und Nationalhymne, um sich des Nachts im Schattenreich der globalen Finanzmärkte seinen Nachschub an Geld zu besorgen. Von den dortigen Eliten lässt sich der Politiker bereitwillig die modernen Finanzmarktprodukte erläutern: das Leasing der Müllfahrzeuge, das Sale-and-lease-back der Sportplätze, die Kreditausfallversicherungen, das Hebeln von Staatsanleihen und die Devisenspekulation auf Optionsschein. Noch im kleinsten Rathaus der Republik kommen diese riskanten Instrumente zum Einsatz. So gelangten die Banken zu ihrer einzigartigen Machtposition im Staate.
Der private Kapitalmarkt ist heute der große Ermöglicher von Politik. Politische Macht gegen wirtschaftliche Sonderstellung, das ist das Tauschgeschäft, auf dem dieses historisch einmalige und in keiner westlichen Verfassung vorgesehene Zusammenspiel beruht.
Im atemberaubenden Wachstum der Deutschen Bank, dem größten Institut unseres Landes, findet die neue Zeit ihren Ausdruck. Entsprach die Bilanzsumme des Geldhauses 1990 mit 200 Milliarden Euro erst rund neun Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, erreicht sie mit heute knapp zwei Billionen über 90 Prozent unserer gesamtdeutschen Wirtschaftskraft – ein Plus von inflationsbereinigt 640 Prozent. Es gibt keine zweite Institution, keine Partei, kein anderes Großunternehmen, das ein vergleichbares Wachstum vorzuweisen hätte.
Überall auf der Welt sehen wir dieses enthemmte Wachstum des Finanzsektors. Er löste sich aus der Rolle des Dienstleisters, sein Wachstum schoss deutlich über das Wachstum all seiner Kunden hinaus, er veränderte die Wirtschaftsordnung, der er entsprungen ist.
Der Finanzsektor gilt fortan als »systemrelevant«, was zur Folge hat, dass der Bürger für seine Banken haftet: Politiker retten Banken, Banker retten Staaten, und beide zusammen lassen sich ihre Flitterjahre von den Notenbanken bezahlen, die mit dem Gelddrucken kaum mehr nachkommen.
Das, was wir bis dahin »Marktwirtschaft« nannten und als »sozial« bezeichnet haben, verformte sich unter dem Druck der Ereignisse. Risiko und Verantwortung wurden entkoppelt. Die Gelehrten können sich schon auf den Befund – hat der Staat oder hat der Markt versagt? – nicht mehr einigen. Von den Rezepturen – mehr Markt, rufen die einen; gebt uns das Primat der Politik zurück, die anderen – gar nicht zu reden.
Die Gewissheitsverluste übersteigen mittlerweile die materiellen Verluste. Aktien, Anleihen und verbriefte Immobilienkredite wurde teilentwertet, doch die Entwertung der klassischen Volkswirtschaftslehre war radikaler. Aktien und Anleihen erholen sich nach derartigen Krisen, die Erkenntnisse der Klassiker aber sind unter dem Schutt der Weltfinanzkrise begraben.
Wer diese Bastardisierung der Verhältnisse durchschaut, versteht, warum Marktfundamentalisten und Staatsgläubige, Konservative und Progressive, Christ- und Sozialdemokraten derzeit so leidenschaftlich an der Sache vorbeistreiten. Und er bekommt eine Ahnung, warum dem politischen Liberalismus der Zeit mehr fehlt als ein charismatischer Führer. Seine Grammatik stimmt nicht mehr, weshalb die Schlachtrufe der politischen Elite wie das Echo einer vergangenen Zeit klingen. Markt- und Staatsversagen müssen heute zusammen gedacht werden.
An den Universitäten wird die Rückmeldung aus der Wirklichkeit vielfach ignoriert, zumindest von den Professoren. Viele junge Menschen sind weiter. Sie besitzen ein deutlich sensibleres Radarsystem für die Veränderung. Sie spüren die aufkeimende Leere und die Notwendigkeit, sie mit neuen Annahmen zu füllen. Nur wer weiß, wo er herkommt, weiß, wo er hinwill.
Wir sollten gar nicht erst so tun, als ob die Krise beendet und die Risiken für die Zukunft unserer Kinder gemeistert seien. Das sind sie nicht. Die ökonomischen Zustände unserer heutigen Welt sind weiterhin von Rauschhaftigkeit geprägt. Das Auto-Aggressive ist in unsere Wirtschaftsordnung zurückgekehrt. Die Pleite des Bankhauses Lehman, die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und der Einsatz der Rettungsbillionen zur Stabilisierung der Weltwirtschaft waren nicht die Höhepunkte eines Dramas, sondern dessen Präludium.
Dieses Buch versucht, Komplexität zu reduzieren, aber nicht um den Preis der Simplifizierung. Deshalb wird die Entwicklung unseres Wohlstands nicht nur bis zum Krisenjahr 2008 zurückverfolgt, sondern bis zu seinen Quellen. Nur wenn wir durch das Fenster der Geschichte blicken, können wir den Charakter der krisenhaften Erscheinungen von heute verstehen.
In Kapitel 1 bis 4 schauen wir auf die Anfänge des Kapitalismus und die wesentlichen Treiber unserer Wohlstandsentwicklung. Wir gehen neben dem langen Fluss der Geschichte her bis zu jener Gabelung, an der wir heute stehen: Die Widersprüche der Marktwirtschaft aushalten oder den Verlockungen eines »staatlich-finanzwirtschaftlichen Komplexes« nachgeben? Die ausführliche Schilderung der Ereignisse in den USA – von der Großen Depression bis zum Immobilienprogramm der Präsidenten Clinton und Bush junior – ist dabei ein unverzichtbarer Bestandteil der Aufarbeitung. Denn hier nahm das neuzeitliche Unheil seinen Lauf. Ohne die abknickenden Wachstumsraten der siebziger Jahre und das besondere Verständnis der USA von einer privat finanzierten Sozialpolitik hätte die Immobilienblase niemals entstehen können. Ohne die Immobilienblase wäre es nicht zur weltweiten Bankenkrise gekommen. Ohne Bankenkrise kein Griechenland-Drama mit angeschlossener Euro-Rettung. Allerdings: Einer soliden Staatsfinanzierung in Europa hätten auch die Ereignisse in Übersee nichts anhaben können. So aber arbeiteten Europäer und Amerikaner mit vereinten Kräften und umso wirksamer am Zustandekommen einer bastardisierten Ökonomie als Grundlage des perfekten Angriffs auf unseren Wohlstand.
In Kapitel 5 werden die unbequemen, auch die schmerzhaften, vor allem aber die notwendigen Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen unserer Wohlstandsgeschichte gezogen.
Es steht mehr auf dem Spiel als die Stabilität der europäischen Währung. Wenn der Rückkehr des Wölfischen kein Einhalt geboten wird, dürften der Zusammenhalt der europäischen Gesellschaft, ihre freiheitliche Substanz, das Streben nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit einmal mehr einem historischen Stresstest unterzogen werden. »Die Geschichte selbst hat weder ein Ziel noch einen Sinn«, rief uns Karl Popper in »Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde« mit der ihm eigenen Deutlichkeit zu. Und fügte allerdings in tröstender Absicht hinzu: »Aber wir können uns entschließen, ihr beides zu verleihen.«
Daran will dieses Buch mitwirken.
Gabor Steingart, Februar 2013
Kapitel 1 – Urknall. Vom Entstehen des Kapitalismus und was ihn von der Marktwirtschaft unterscheidet
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