Ingrid Krau KOHLE, ÖL UND KRIEG
Für Anna und Liv
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Layout und Umschlaggestaltung,
unter Verwendung einer Fotografie
»Pechelbronn, 1. Mai 1943«,
© Musée Français du Pétrole in Pechelbronn,
Gudrun Fröba
eISBN 978 3 88747 320 4
Alles ist, Kinder stellen das Ist, das sie umgibt, nicht in Frage. Meine Welt ist das Dorf, ein Kaleidoskop aus einzelnen bunten Bildern, jedes für sich stehend. Die Bilder haben keine Reihenfolge, keine chronologische Ordnung, sind aus der Zeit gefallen, aber jedes einzelne ist unabänderlich wahr. Erst viel später verlieren sie ihre Unbefangenheit, fügen sich die Teile zu Zusammenhängen und gewinnen Bedeutungen.
Es ist eine Erinnerungswelt von dem, was mich umgibt in den frühen Kindertagen und was ich an der sonntäglichen Kaffeetafel in den Fotoalben längst vergangener Zeit sehe, beides geht unlöschbar ins Gedächtnis ein und verschmilzt mit dem Erzählten zu einem Einzigen. Den Fotos haftet der Reiz des Fremden an, sie zeigen schöne Menschen in schönen Kleidern inmitten schöner Gegenstände und Landschaften, an ihnen versteht das Kind, dass diese Welt vorbei ist und dass Paradiese im »Früher« liegen. Das Kind entwickelt eine heimliche Sehnsucht, ja Sucht, in das Fotoalbum hinein. Nicht anders wird es dem Vater ergangen sein, wenn er die vom Fotografen aufgenommenen Bilder seiner Kindheit ansah, Bilder einer bürgerlichen Welt, die ebenso im Krieg verschwunden war. Das heutige Kind weiß nicht, dass es hier um zwei aufeinander folgende Kriege geht, aber es versteht, dass Krieg das ist, was schöne Dinge zum Verschwinden bringt.
Wir sind offensichtlich von einem anderen Stern in das Dorf gefallen. Auch andere sind es und wir, die Fremden, sind sogar die Mehrheit gegenüber den Einheimischen, aber auch das weiß das Kind noch nicht. Doch versteht es schon den Unterschied zwischen uns und jenen. Wir sind nach dem Krieg aus westlicher Richtung hergekommen, alle anderen aus östlicher. Der Krieg endete 1945, also muss ich drei Jahre, meine kleine Schwester ein Jahr alt gewesen sein. Wir leben mit unserer Mutter und eines Tages kommt noch die Großmutter hinzu aus Niederschlesien, also aus östlicher Richtung, sie findet wohl über Landshut in Bayern zu uns nach Niedersachsen, weitenteils zu Fuß, deswegen hat sie einen Buckel und ist sehr klein geworden, denke ich. Wir hantieren in meinen Bildern meist in der Küche, nur da ist es zunächst warm, denn wir haben keinen Ofen für die Zimmer zugeteilt bekommen und in der Küche gibt es den Herd. Unser Vater kommt darin nicht vor und er ist auch nicht in den anderen Zimmern.
Ich habe eine vage Erinnerung an die Zeit davor. Da sitze ich an einem lichten Sommertag wohl auf dem Fußboden, denn ich sehe den unteren Teil einer vom Wind bewegten Tüllgardine, durch die das Sonnenlicht hereinfiltert und den unteren Teil einer rosa Schleiflackschublade, es könnte mein Kinderzimmer gewesen sein – die Momentaufnahme ist von einem warmen Gefühl begleitet. Vielleicht ist es auch nur ein späteres Gefühlsbild, Erinnerung an diese wunderbare Vorzeit, die die Mutter manchmal mit einem tiefen Seufzer wachruft.
Einmal läuft, nein stürzt, unsere Mutter mit uns in Panik in den Wald, der nah hinter dem Haus beginnt. Sie hält beim Laufen Gila im Arm, dann springen wir zwischen den Kiefern in eine Kuhle. Ich bin ja schon groß, bin wie ein Wiesel gelaufen und sitze in den weichen, grünen Moospolstern, streichele die sanften Moosbuckel, noch heute kenne ich das Gefühl, es macht glücklich. Ein Dröhnen dringt durch die Baumwipfel. Sie ruft beugen, Köpfe nach unten, drückt Gila an sich und sieht dann doch besorgt zwischen den Baumwipfeln steil zum Himmel. Unbemerkt riskiere auch ich einen Blick nach oben, ein Schwarm Flugzeuge dreht ab, das Brausen verebbt. Die Mutter zaubert aus einer bunt emaillierten Blechbüchse zwei Anisplätzchen hervor, ein nie zuvor erlebter Geschmack, er wird als Sehnsucht in mir bleiben und gehört für immer zum erinnerten Glücksgefühl.
Wir kommen im mittleren der drei stolzen Doppelhäuser für die leitenden Angestellten der Firma unter, eingewiesen ins Obergeschoss, das das Ehepaar P. freigeben muss. Im ersten sehr kalten Winter ohne Öfen gibt es phantastische Eisblumen an den Fensterscheiben, wohnen kann man das nicht nennen, sagt unsere Mutter. Die hinzugekommene Oma bekommt das Kanapee im Wohnzimmer. Ich schlafe im Ehebett rechts, meine Mutter links, Gila hat ein eigenes Gitterbett, eingeklemmt zwischen einem Schrankungetüm und der Dachschräge. Der Vater gehört im Erinnerungsbild irgendwie auch nicht zum Schlafzimmer, er ist nur selten da. Mal kommt er mit der Eisenbahn von irgendwo und bringt Hasenbrote mit. Essen ist rar, sie sind ein begehrtes Zubrot. Ich esse eines, gierig auf den Vater und erkenne auch die Vorzüge des grauen Geruchs und säuerlichen Mettwurstgeschmacks aus Liebe zu ihm. In einem anderen Bild, beugt sich meine Mutter zu Gila herunter, als er zur Tür hereinkommt: Das ist dein Vati. Gila schaut erstaunt an ihm hoch und nennt ihn Onkel Vati. Einmal fährt die Mutter mit uns Kindern im Sonntagsstaat nach Celle, wo wir fotografiert werden, damit der Vati überhaupt noch weiß, wie wir aussehen. Gila bestaunt danach ihr postkartengroßes Ebenbild und ruft überwältigt, wie kommt das nur, dass ich so schön bin – es bleibt ein geflügeltes Wort in der Familie.
Wir dürfen nicht allein die Treppe runter, die in den offenen Flur der P.s mündet. Frau P. ist in ihrer unförmigen blauen Trainingshose und mit den wirren Haaren nicht nur furchterregend, sondern stürzt wie eine Furie – einmal sehe ich es selbst – mit einem großen blanken Brotmesser, in meiner Erinnerung ein scharfer Dolch, aus der Küchentür, rennt durch den Flur und verschwindet hinter der Wohnzimmertür. Eine andere Wohnung kann meine Mutter bei der Betriebsleitung nicht erwirken, es herrscht krasse Wohnungsnot, aber Frau P. soll das nicht mehr tun. Doch sie kann nicht anders, wir müssen uns arrangieren und werden zum Spielen herunter und herauf gebracht.
An diesem Flur ist eine weitere Tür. Aus ihr tritt Frau L., groß, rothaarig, grüne Augen, auffallend gekleidet und sogar mit Lippenstift, was so kurz nach dem schrecklichen Krieg sich doch eigentlich nicht schickt. Wir sollen zu ihr nicht hinsehen, sie hat ja häufigen Herrenbesuch. Die Mutter schiebt sich, mich fest im Handgriff, vor meinen Blick, so kann ich hinter ihr um so besser verstohlen seitwärts lugen.
Der Vorgarten, der linke Teil vom Hühnerhof und der mit einem Törchen verschlossene große Garten sind für uns tabu, die P.s reklamieren das für sich. Auch die Bahnhofstraße, die vor dem hohen eisernen Tor entlangführt, dürfen wir nicht allein betreten. Den Protesten unserer Mutter gegen die Verbote setzt Herr P. seine Regeln entgegen. Also spielen wir im Hühnerhof mitten im Hühnerkot oder in der Zufahrt vor der Zugangsveranda, auf der wir uns auch nicht aufhalten sollen. Gila schabt in ganzer Hingabe mit einem spitzen Stein am Verandasockel den Mörtel aus den Klinkerfugen oder rührt Knallerbsen in ihrem Sandeimerchen zu grauem Brei, beides erzeugt einen stumpfen blechernen Ton, der mir unter die Daumennägel kriecht.
In der ersten Zeit rasen und donnern die schweren Militärfahrzeuge der Tommis über die gepflasterte Straße. Ich stürme an einem warmen Sommertag Rock über Kopf hinaus. Noch heute höre ich den entsetzlichen Schrei meiner Mutter, der mich kurz vor einem malmenden Rad stoppt. In den Träumen verwandeln sich der blanke Dolch und das Rad in einen gierigen Fuchs, der mich beißen will. Von wilder Angst aufgeweckt, finde ich die Rettung: Es darf kein Finger und Zeh über den Bettrand hinausragen.
Doch ist die Bahnhofstraße auch voller wunderbarer Versprechen, so wenn der Milchwagen kommt. Wenn die Pferdehufe laut aufs Pflaster platzen, greifen wir zur Milchkanne. Es bleibt ein immer neues Wunder, wie die Milchfrau den sämigen Milchstrahl in hohem Bogen in ihre Messkanne und von da in unsere Kanne gießt, kein Tropfen geht daneben. Als wir am Rande des Bohrbetriebs ein Stück Erde oder besser Sand, die ganze Gegend besteht ja aus Sand, zugewiesen bekommen und die Oma da Erdbeeren anpflanzt, renne ich mit der Kohlenschau fel zum Milchwagen, um die Pferdeäpfel zum Düngen zu ergattern. Ich muss schnell sein, um den anderen Kindern zuvor zu kommen.
Auf der anderen Straßenseite gibt es die Empampepoleliska mit ihren vielen Fenstern. Das wahre Abenteuer ist aber der Hof zwischen ihrer Rückseite und den Kaninchenställen. Da sägt der bucklige Herr Romeike für uns Feuerholz, wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht, in das verschwitzte Hemd schneiden sich die Hosenträger ein, zwischen zwei Holzböcken klemmt ein dicker länglicher Stubben, dem er einen Schnitt abtrotzt, denn Wurzelholz ist hart. Weiter hinten wringt Frau Wojan aus einer hölzernen Mangel, die auf einer ebenso hölzernen wasserbetriebenen Waschmaschine klemmt, zusammengedrückte Wäschestücke heraus, während das Wasser nur so auf den Boden klatscht. Sie bedient auch bei uns den beheizbaren Waschkessel im Keller, um abwechselnd Wäsche zu kochen oder Zuckerrübenschnitze, aus denen irgendwie Sirup wird.
Unsere Mutter kämpft mit den Zumutungen der Zeit: Das Dienstmädchen beklaut uns, was das Zeug hält, Selbstgestricktes ribbelt sie hinter Mutters Rücken wieder zu Knäueln auf, die sie mitgehen lässt. Der Ehering der Mutter wird mithilfe des Dorfpolizisten aus dem Klo ihrer Wohnung geborgen, gerade noch bevor sie abziehen kann. Schlimmer noch, Herr P. zweigt in unserem Badezimmer einen Holzverschlag für sein Hühnerfutter ab und sucht sich Zugang zum Badezimmer nach Gutsherrenart. Die Mutter erwischt ihn beim Schnüffeln im großen Wäschekorb. Als sie eintritt, wühlt er sich gerade durch die Monatsbinden, die sie dort versteckt hat, denn wir sollen noch nicht wissen, was das ist. Er hat es wohl auf anderes abgesehen, ein Schnüffler aus Gewohnheit, sagt unsere Mutter, kann nicht aufhören, dabei gibt es seine Partei doch gar nicht mehr. Ihre Beschwerde beim Betrieb lässt ihn vorsichtiger werden.
An einem dieser Tage, als auch unser Vater anwesend ist, fährt die britische Besatzungsmacht mit einem Lastwagen vor, auf dem schon Männer sitzen und nimmt ihn mit. Als er zurückkommt, sehe ich ihn leichenblass mit aufgerissenen Augen im Hühnerhof stehen. Das kann kein Mensch denken, sagt er. Es fallen Worte wie Belsen und Aufräumen. Ich verstehe, es muss etwas Schreckliches passiert sein. Später wird beiläufig von Toten gesprochen, aber ich habe noch nie welche gesehen. Die Oma hat ein totes Pferd weiter hinten auf der Dorfstraße gesehen, sagt sie, beim Einschlafen sehe ich dieses Pferd vor mir, wie es mit ausgestreckten Beinen seitlich auf der Straße liegt und sich nicht mehr bewegen kann, das Bild ist schrecklich und übermächtig.
Eines Tages rückt die Außenwelt in unseren Vorgarten vor, die Tommis eröffnen ein Lazarett darin und holen dazu einen Teil unseres Küchenschranks aus der Wohnung. In der Schublade sehe ich beim Heimkommen so eine Art gewelltes Fett von gekochtem Rindfleisch. Unsere Oma sagt, das sei abgeschnittener Eiter, die Mutter ruft entsetzt, der schöne Schrank, wir müssen ihn verbrennen. Die Oma scheuert die Schublade mit Sand und Spiritus solange wortlos und verbissen aus, bis der Schrank wieder nach oben darf. Ein sehr netter Offizier der Tommis will mir daraufhin Schokolade schenken, Cadbury, eine Kostbarkeit, das weiß ich auch, aber ich lehne unerbittlich ab, schließlich wird oben in der Küche immer von den Feinden gesprochen.
Einmal herrscht mich die Oma mit scharfem Tadel in der Stimme an, du wirst nie einen Mann abbekommen. Ich bin sehr erschrocken und will mir merken, was ich verbrochen habe, damit ich es nie wieder tue. Am nächsten Morgen weiß ich vor lauter Schreck nicht mehr, was ich mir merken wollte, nie aber werde ich den Spruch vergessen.
In der Vorweihnachtszeit gehen wir in die Wietzer Schule zu einem Singspiel, bei dem ich als Engelchen mitmachen darf. Der Vater klebt goldene Sterne für mich auf ein bodenlanges, weißes Hemd und bastelt ein goldenes Stirnband mit großem Stern. Ich finde mich wunderschön und bin sehr stolz darauf. Beim Warten auf den Auftritt in den hölzernen Schulbänken kommt tiefblaue Tinte auf mein Hemd, der Vater zieht mich fortan als Tintenengelchen auf. Es ist mir peinlich, denn ich bin ja die Große, die immer vernünftig sein soll. Als Freunde der Eltern mich einmal am Gartentor sehen, sagen sie freundlich, ach da ist ja die kleine K. Ich korrigiere, nein, ich bin die Große. Sie erzählen es dem Vater, alle finden das sehr lustig, irgendwie kann ich nicht mitlachen.
Unsere Mutter jammert wegen der schlechten Ernährungslage, sie kommt manchmal völlig erledigt mit dem Fahrrad von Hamsterfahrten zu den Bauern zurück; mal erzählt sie von einem riesigen Klotz Butter auf dem Esstisch, von dem sie aber nicht die Bohne abbekommt. Oma klebt verbissen Essensmarken mit selbst angerührtem Mehlleim auf ein Blatt. Mit verfallenen Marken dürfen wir spielen. Die Erwachsenen erzählen, ich sei mit den Spielmarken zum Bäcker Maul gegangen und hätte gesagt, wir haben nichts mehr zu essen, ich brauche ein Brot. Ich habe es tatsächlich bekommen, ganz außer der Reihe. Ich erinnere mich aber nur, wie ich allein in die Backstube gehe, wo mir aus dem mächtigen Backofen rote Glut entgegenlodert. Der Bäcker zieht die heißen Brote auf einem langen Holzruder heraus, sie dampfen vor Hitze und auch mir wird ganz heiß. Ich schleiche mich später noch einmal magisch angezogen in die Backstube, da schaltet und waltet dort eine kugelig runde Köchin, die für eine Hochzeit große Braten aus dem Ofen zieht. Mit ihrem fetten Daumen drückt sie die glänzend krosse Haut eines Bratens ein, so dass es zischt und gurgelt, während der Saft herunterläuft. Dann wischt sie ihre prallen Finger an der bauchenden Schürze ab.
Bei einem Mittagessen kommt ein Junge zu uns dazu, der schon groß ist, vielleicht schon zwölf, seine Mutter hat darum gebeten, damit er nicht allein essen muss. Er hat einen blechernen Henkelmann mit Haferflocken dabei und bittet um Milch dazu. Er bekommt sie, damit es nicht so staubt, sagt unsere Mutter, aber wir essen etwas Richtiges, also Gekochtes. Es schwebt dabei eine Wolke von Peinlichkeit über dem Tisch. Als ich nachmittags spielen gehe, sehe ich einen Papieranschlag, frisch an einen hölzernen Telegrafenmasten gepinnt. Ich erkenne auf dem Foto den Vater des Jungen und kenne auch seinen Namen, der darunter steht, es steht da auch, wählt KPD. Ich sage zu Hause lieber nichts.
Irgendwann beginnt mich das Bücherregal im Wohnzimmer zu interessieren, vor allem wenn ich allein sein darf. Dann ziehe ich das kleine Landserheftchen heraus, das hinter den Büchern versteckt ist. Es übt magische Anziehungskraft auf mich aus, auf dem Titelblatt ist ein Foto von Adolf Hitler. Ich ahne, dass ich das nicht gefunden haben darf, aber mein Herz klopft auch, weil der Mann mit dem ausrasierten Nacken mir so abgrundhässlich erscheint.
Eines schönen Morgens wache ich mit einem besonderen Glücksgefühl auf, ein Gefühl von geradezu unbändigem Glück, das in mir stürmt und mich stolz macht, dass ich eine Deutsche bin, fast könnte ich platzen vor Glück. Wer hat mich dazu inspiriert, die Oma, die um ihren gefallenen zweiten Sohn und ihre verlorene schlesische Heimat trauert? Unsere Lehrerin, Fräulein Reckel, die uns in der Volksschule seltsame Mythen erzählt? Meine jugendbewegte Mutter doch wohl nicht und wohl auch nicht mein Vater, der sich allem Politischen und Religiösen gegenüber abstinent gibt, wenn er zu dieser Zeit überhaupt da gewesen ist? Ich gehe wie andere Kinder auch sonntags in den Kindergottesdienst, habe ich da etwas aufgeschnappt? Die evangelische Dorfkirche übt aus ganz anderen Gründen Faszination auf mich aus. Ihre Bilder sind es, die bleigefassten Kirchenfenster mit ihren großen eher wässrig-farbenen Figuren und der auf den Wandputz gemalte überlebensgroße Jesus in Nazarenerart, der zwei Finger hochhält und mich unverwandt anschaut. Ich schleiche mich einmal völlig außerhalb der Gottesdienste auf dem Nachhauseweg von der Volksschule in die Kirche, um diesen Jesus anzusehen und bin ganz allein darin. Als ich mich gerade wieder herausstehlen will, zwinkert er mir zu. Ich bin freudig erschrocken und glücklich. So schleiche ich noch mehrfach ungesehen hinein, um das gleiche zu erleben. Er hat es nie wieder getan.
Ein anderes Mal hat uns Fräulein Reckel zu sich in den alten Gutshof in Wieckenberg eingeladen, wo sie wohnt. Es ist ein wunderschönes Haus mit einem Bauerngarten und wir dürfen darin auch Beeren naschen. Ein sehr alter papierner Mann, gebeugt und mit schlohweißen Haaren, kommt gerade zum Gartentürchen heraus, als wir eintreten. Da weiß ich, dass ich jemanden gesehen habe, der zweihundert Jahre alt ist. Es tröstet mich, also muss man nicht so früh sterben.
Auf dem schönsten Erinnerungsbild öffnet mein Vater eine große Holzkiste mit dem Brecheisen, die langen Nägel quietschen in den Brettern. Er trägt ein kleinkariertes rotes Flanellhemd und eine helle leinene Hose mit einem Ledergürtel, ich verstehe, dass das besondere Kleidungsstücke aus der anderen Welt sind, die früher gewesen ist, und finde unseren Vater schön, ja, ich liebe ihn.
*
Heute weiß ich aus den amtlichen Meldedaten, dass wir, die Mutter und beide Kinder, schon während des Kriegs Anfang September 1944 in das Dorf kamen. Da war ich zweieinhalb und die kleine Schwester fünf Monate alt. Die Mutter hatte den Wohnort Pechelbronn im Elsass mit uns verlassen, in dem am 3. August 1944 die Raffinerie aus der Luft bombardiert worden war, im Dorf fanden mehrere Erwachsene und fünf Kinder den Tod. Wir saßen wohl im Luftschutzkeller in Sicherheit, als die Invasion der alliierten Luftverbände hereinbrach. Aber auch in Wietze, wo wir Zuflucht suchten, folgte in den letzten Kriegstagen ein Luftangriff auf die Tankanlagen des Erdölbetriebs, wohl der, der uns in den Wald fliehen ließ.
Erst sehr viele Jahre später verstand ich, was Bergen-Belsen war: Es fiel mir ein Foto vom KZ Bergen-Belsen aus dem Jahr 1945 in die Hände, das viele hunderte in weiter Fläche unter Kiefern liegende ausgemergelte Leichen zeigt.
Hinter den bunten Schnipseln aus dem Kaleidoskop steckt die harte, heute nachlesbare Realität der ersten Zeit nach Kriegsende: Nach der Selbstbefreiung der Kriegsgefangenen aus den vielen Barackenlagern und der Befreiung der Ausgehungerten, Durstenden und von Seuchen Heimgesuchten des riesigen Lagerkomplexes Bergen-Belsen durch das britische Militär durchstreiften viele die Höfe und Dörfer auf der Suche nach Essbarem und Brauchbarem zum Überleben. Diebstahl beherrschte den Alltag, an ihm hatten nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung auch die Einheimischen teil. Übergriffe aus Rache prallten auf die Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen, Mitwisserschaft der Täter und Mittäter stand gegen Gerechtigkeitssuche und erzeugte neben wechselseitigen Hilfeleistungen Unsicherheit, Schmäh und Feindschaft. Hinzu ergoss sich ein Menschenstrom an Flüchtlingen in den Landkreis Celle, der die Bewohnerzahlen des dünn besiedelten Kreises verdoppelte und zum Zusammenrücken auf engstem Raum zwang.
Bohrtürme an der Wietze 1900/1940
Das Kind kannte die Fotografien nicht, die heute im Landkreisarchiv Celle zu finden sind und preisgeben, was zu Wietze in den Jahren vor unserem Zuzug zu sagen ist. Sie beginnen mit der Kundgebung zum 1. Mai 1933 auf dem Schachtplatz, jeder größere Betrieb hat nun einen Aufmarschplatz, wobei Platz eine Beschönigung ist, beim DEA-Betrieb Wietze handelt es sich eher um eine freie Fläche, die nur an einer Seite an ein bescheidenes Betriebsgebäude grenzt. Die Versammlung zeigt sich dreigeteilt, links stehen die Knappen der Blaskapelle in ihrer traditionellen Bergmannstracht, rechts die Braunhemden, vorn die leitenden Herren in der Mittelachse, bequem sitzend und in Zivil gegenüber dem Rednerpult, die Belegschaft unsichtbar hinter dem Fotografen. In Wietze wird nach Erdöl gebohrt und werden ölhaltige Sande aus tief liegenden Schichten bergmännisch gewonnen und über einen Schacht zutage gefördert. Daher wird hier auch das jährliche Bergfest für die Schutzpatronin der Bergleute, die heilige Barbara, gefeiert und mit dem obligatorischen Umzug zelebriert. 1933 zeigt er sich auf den Fotografien noch zivil und ohne Gleichschritt.
Die arrangierten Fotoserien des Werksfotografen halten fest, was der Firma wichtig ist zu zeigen, offensichtlich besonders Umzüge und Kundgebungen. Der Fotograf wählt die immer gleichen Perspektiven und Bildausschnitte, wissend, was er zu liefern hat. Die angemessene Form der Präsentation ist gefunden und wiederholt sich beim 1. Mai 1937, beim Bergfest 1937, bei der Wahlkundgebung 1938, ergänzt um das Banner Ein Volk ein Reich ein Führer, beim Richtfest des Kameradschaftsheims 1938, beim Betriebsappell 1939 auf dem Schachtplatz. Kein Zweifel, dieser Betrieb ist der Partei eng verbunden. In der Fotoserie vom Bergfest am 6. und 7. Juni 1936, dem Jahr der Olympiade in Berlin, wird die sportliche Leistungsschau der Betriebsjugend, die jetzt die Hitlerjugend ist, ausführlich festgehalten. Viele Bilder sind den langen Menschenzügen, nun in geordneten Reihen und im Gleichschritt, den Kundgebungen im Freien mit geradlinig ausgerichteten Zuschauern und dem emphatischen Redner gewidmet. Alle stehen jetzt stramm, auch die leitenden Herren des Betriebs, nun nicht mehr in Zivil sondern im Bergkittel, der gemeinsamen Uniform der Bergleute, soweit man sich die teure Kluft leisten kann, der der Rang des Trägers an den Applikationen am Kragen abzulesen ist. Alle zeigen demonstrativ entschlossen den deutschen Gruß, Arm und Hand recken sich in absolut gerader Linie hoch und in gleicher Schräge. Die Banner mit ihren Parolen sind von Jahr zu Jahr größer, ebenso die Hakenkreuzfahnen. Sie sind auch zahlreicher, unübersehbar brennt sich den Teilnehmern das Hakenkreuz als Symbol ein, als könnten sie es vergessen. Die lange Schlange, die sich durch die Straße windet und in der Unschärfe der Ferne kein Ende findet, das ist nun die Gefolgschaft, die unter der Parole Arbeitskameradschaft ist das höchste Gut marschiert. Immer wieder sind die langen Demonstrationszüge dokumentiert, durch die Bilddiagonale gesteigert, immer vorweg die leitenden Herren, dahinter das Arbeitsvolk. Alle scheinen von einer großen Einheit beseelt.
In der Bahnhofstraße Wietze am 1. Mai 1936
Auf dem Appellplatz der Erdölbetriebe am 1. Mai 1937
Die immer wieder zur Schau gestellte Einheit begräbt alles Vorausgegangene: War der Landkreis Celle, zu dem Wietze gehört, vor dem Ersten Weltkrieg noch eine Hochburg der Welfenpartei, so waren 1918/19 im industrialisierten Wietze die Arbeiter- und Soldatenräte besonders stark, in den Zwanziger Jahren bildeten gerade hier die Sozialdemokraten und Kommunisten die Mehrheit. Doch bei der Reichstagswahl 1932 erreichten die Nationalsozialisten im bäuerlichen Landkreis die absolute Mehrheit und übertrafen damit weit den Reichsdurchschnitt für die NSDAP von 37,2 Prozent, in Wietze wurde hingegen die Mehrheit von den Sozialdemokraten und Kommunisten, zusammengezählt, erreicht. 1933 werden die Kommunisten hier aus dem Gemeinderat ausgeschlossen. Grosse, der Technische Direktor des Erdölbetriebs Wietze, tritt noch im selben Jahr in die NSDAP ein, sein Stellvertreter Schlicht folgt 1937 mit diesem Schritt, dazu von der Olympiade angeregt, wird er später in seinen Lebenserinnerungen schreiben.
Wietze ist kein unbedeutender Ort: Im spekulativen Ölrausch hatten hier schon von 1875 bis 1904 über dreißig risikobereite Unternehmen ihr Bohrglück gesucht, teilweise durchaus erfolgreich, darunter auch eine kanadische und eine niederländische Firma. Die Deutsche Tiefbohr-Aktiengesellschaft erwarb kurze Zeit später den zersplitterten Besitz und konnte damit neunzig Prozent der deutschen Erdölproduktion auf sich vereinen. Von hier ging der Besitz an die Deutsche Petroleum Gesellschaft über, zunächst ein Joint-Venture von DEA und Rütgerswerken, 1940 ging die Firma ganz in der Deutschen Erdöl-Aktiengesellschaft auf. Neben dem Schachtbetrieb mit zwei Schächten gibt es den Bohrbetrieb mit ausgedehnten Feldern oberirdischer Bohrtürme und nickenden schwarzen Pumpen, Tankanlagen, eine Raffinerie und den Anschluss an die Eisenbahn mit eigenem Bahnhof. Das Dorf wächst, wächst auch mit dem Nachbardorf Steinförde zusammen, wo Kali abgebaut wird. Die Dorfstruktur bildet die soziale Trennung deutlich ab, die ansehnlichen Doppelwohnhäuser für die oberen Beamten, wie es in der Bergbausprache weiter heißt in Übernahme des Begriffs aus dem früheren staatlichen Bergbau, das stattliche Gebäude der Unternehmensverwaltung und das Schulhaus, alle wohl vom Celler Architekten Karl Welge im Stil der Heimatschutzbewegung entworfen, ergänzen den Dorfkern. Abseits in die Felder hinein werden Arbeitersiedlungen mit schlichten gleichen Siedlungshäuschen gebaut, die Kolonien genannt werden.
Von den Zwangs- und Zivilarbeiterlagern, die auch die DEA im Krieg in Wietze betreibt, wie die meisten Industrieunternehmen im Großdeutschen Reich, sind bis auf die Gräber von 39 osteuropäischen Zwangsarbeitern, die im Lager erkranken und sterben und später auf den alten evangelisch-lutherischen Friedhof umgebettet werden, keine Spuren geblieben.
Die Amnesie, das Vergessenwollen, gilt für den gesamten südlich der Lüneburger Heide gelegenen und außergewöhnlich dünn besiedelten Landkreis, der sich schon von 1933 an als ideale Gegend für die Aufrüstung anbietet und viele Rüstungsbetriebe anlockt – das gilt um so mehr für den unweit von Wietze in nördlicher Richtung seit Kriegsbeginn entstandenen Fremdkörper aus Luftwaffenstützpunkt, Fliegerhorst, Truppenübungsplatz und ausgedehntem Kriegsgefangenenlager, dessen südlicher Teil ab 1943 zum Konzentrationslager Bergen-Belsen wird. Riesige Sperrgebiete entstehen, die den zivilen Augen weitgehend verborgen bleiben, deren Vorgänge aber über Insider-Informationen und Gerüchte die nahen Dörfer und auch Wietze erreichen, wenn man vielleicht auch das wahre Ausmaß nicht ahnt: 50 000 Häftlinge und 20 000 sowjetische Kriegsgefangene sterben in den Lagern, etwa 120 000 Häftlinge gehen durch sie hindurch, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs werden aus Auschwitz, vielen anderen Konzentrationslagern und von Dora Mittelbau im Harz immer wieder Zehntausende Überlebender nach Bergen-Belsen verfrachtet, eng gepfercht in Güterwaggons und auf Todesmärschen, um die Schande der Konzentrationslager und Tötungsanlagen auszuradieren, von denen weitere ungezählte Tausende zu Tode kommen; ebenso Ungezählte, die Bergen-Belsen erreichen, sterben noch hier gemeinsam mit den Insassen an den grausamen Lagerbedingungen und ab März 1944 an Hunger und Durst und an den Epidemien in Folge der Überfüllung.
Das Industriedorf Wietze bietet sich dem Auge längst als freundliches Kontinuum dar, das im lieblichen Kultur- und Landschaftsraum der südlichen Lüneburger Heide mit seinen stolzen Bauernhöfen aufgeht. Der Heidenimbus trägt seinen Teil dazu bei, die Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 untergehen und vergessen zu lassen. Das bescheiden prosperierende Wietze verfällt nach Kriegsende in ein tiefes Schweigen über sich selbst.
Das Kind, das 1948 in die erste Klasse der Steinförder Volksschule kommt, weiß von all dem nichts, auch nicht, dass es auf seinem Schulweg gegenüber der geliebten Bäckerei Maul über einen Platz läuft, der kurz zuvor noch Adolf-Hitler-Platz hieß. Erst recht hat es keine Ahnung davon, dass es im gleichen Jahrhundert, dem es selbst zugehört, im gleichen Wietze, auf einander folgende Zeitschichten der Erregung gegeben hat, die so viele Menschen auf die Straße trieb.
So unwiderruflich der Zeitgeist die Lebensgeschichten erfasst, sie bleiben für sich doch einzig und individuell, unwiederholbar, denn sie gelten ein Leben lang den eigenen Hoffnungen und Kindheitsträumen.