Strawanzen

Da ich das erste von drei Geschwistern war – ich habe noch zwei jüngere Brüder – und ich erst im Alter von vier Jahren in den Kindergarten kam, waren lange Zeit meine einzigen Bezugspersonen meine Eltern und meine Oma väterlicherseits mitsamt dem Großonkel Miche, die beide bei uns auf dem Hof lebten. Aus diesem Grund war mir anscheinend bereits als Zweijährige oft ziemlich langweilig, denn ich bin fast täglich stundenweise »Gassi gegangen«, wie meine Mutter es auszudrücken pflegte. Meine bevorzugte Anlaufstation waren unsere Nachbarn, die Familie Königseder, die in einem kleinen Spitzhäusl auf der anderen Seite der Straße lebten. Es gab keine anderen direkten Nachbarn außer der Familie Franz, die nicht nur neben den Königseders wohnten, sondern auch noch verwandt mit ihnen waren (die beiden Frauen, Mari Franz und Rosa Königseder, waren Schwestern). Sie hatten aber nur einen viel älteren Sohn, den Fredi. Außerdem hatte die wunderbar großherzige und großzügige Rosa Königseder drei Kinder, die immer mit mir spielten, auch wenn sie ein gutes Stück älter waren als ich: Roswitha, die Älteste, dann den zwei Jahre jüngeren Seppi und meinen absoluten Liebling der Familie, das Nesthäkchen Konrad, der von allen nur liebevoll »Koni« genannt wurde. Deshalb nannte ich die Rosa auch nie Rosa, sondern von klein auf immer nur Koni-Mama, weil sie ja die Mama vom Koni war, logisch.

Natürlich gab es auch einen Vater Königseder, aber der Ludwig redete nur wenig, weil er sich ausruhen musste, er stand nämlich jeden Tag sehr früh auf, um seiner Frau beim Zeitungsaustragen zu helfen, und dann fuhr er in die Erdinger Stiftungsbrauerei, wo er als Bierfahrer arbeitete. Und zu der damaligen Zeit war es noch üblich, dass die Bierfahrer in den Wirtschaften, zu denen sie das Bier lieferten, eine Brotzeit einnahmen oder einfach nur eine sogenannte Stehhalbe. Und wenn man auf einer Tour mehrere gastfreundliche Wirte hintereinander hatte, da konnten bis zum Feierabend schon ein paar Halbe zusammenkommen. Das heißt, wenn Ludwig Königseder nach einem langen Tag nach Hause kam, dann setzte er sich – wenn das Wetter es zuließ – meist in Unterhemd und Hose auf die kleine Bank an der Nordseite des Hauses, um sich zu entspannen oder – wie meine Mutter immer sagte – »ein bissl auszudampfln«, während er den zwei Familienschildkröten beim Fressen zuschaute.

Denn Königseders hatten vor dem Haus ein kleines selbst gezimmertes Freigehege aus Holz für ihre beiden Haustiere. Wir Kinder hatten selber ja nur Katzen als Haustiere, deshalb übten die Schildkröten mit ihren Zeitlupenbewegungen und ihrem steinharten glänzenden Panzer immer eine besondere Faszination auf uns auf. Jedes Mal, wenn wir sie besuchen gingen, baten wir unsere Mutter um ein paar Salatblätter, um dabei zuzuschauen, wie die Schildkröten langsam ihren schuppigen, runzligen Minidinosaurierkopf aus dem Panzer schoben, sich in Richtung des Blattes hievten und ihre Kieferleisten in die Blätter schlugen. Manchmal nahmen wir sie auch aus dem Gehege heraus, wir wurden allerdings immer von Rosa gewarnt, dass wir sie nicht aus den Augen lassen dürften, denn – so langsam sie auch zu sein schienen – wenn man ein paar Minuten nicht Obacht gab, dann konnte es passieren, dass die Schildkröte unter den Sträuchern verschwand, und durch ihre gute farbliche Tarnung konnte sich die Sucherei dann etwas hinziehen. Denn ihren Namen zu rufen bringt ja bei einer Schildkröte eher weniger.

Als ich noch sehr klein war, hat meine Mutter mir die Schildkröten beim Spaziergehen einmal gezeigt, und da die Rosa Königseder einem immer ein Stück Schokolade oder ein »Gutti« (Bonbon) schenkte, beschloss ich im Alter von zwei Jahren, nicht erst auf eine Einladung ins Haus der Königseders zu warten, sondern meine Besuche selber zu planen, was nichts anderes bedeutet, als dass ich fast täglich von zu Hause abgehauen bin, obwohl meine Oma eigentlich hätte auf mich aufpassen sollen.

Meine Mutter beschrieb mein »Ich-hau-jetzt-mal-ganz-heimlich-still-und-leise-von-daheim-ab-Ritual« so: Sobald ich mich auch nur einen Moment unbeobachtet fühlte, ließ ich mein Spielzeug fallen, krabbelte die Terrasse herunter, lief um den Kuhstall herum (es gab zwar eine Absperrung mit Seilen, die für die Kühe gedacht war, weil sie damals noch jeden Tag auf die Weide durften, aber ich war ja so klein, dass ich problemlos darunter durchgeschlüpft bin) und setzte mich in unsere Wiese gegenüber dem Königseder’schen Haus. Und dann hieß es einfach nur: warten. Denn irgendwann kam Rosa schon aus der Haustür, um entweder nach den Schildkröten, dem Kirschbaum oder ihrem Mann zu sehen oder Holz aus dem kleinen Schuppen neben der Garage zu holen, und dann sah sie mich und rief immer denselben Satz in ihrem weichen egerländisch gefärbten Bayerisch: »Ja, Mounigga (sie sprach meinen Namen immer wie »Mounigga« aus), geh weida, geh eina!«

Das war mein Stichwort. Ich rannte über die Straße – natürlich nicht, ohne nach rechts und links zu schauen, das hatte mir meine Mutter eingebläut – vorbei am Königseder Luggi, der mich mit einem sanften Gegrummel begrüßte, vorbei an den Schildkröten, drei Stufen rauf bis zur Haustür, und schwupps, schon war ich drin, in diesem kleinen Häuschen, wo der Kühlschrank im Flur stand, weil in der Küche kein Platz war und wo das Bad so klein war, dass ich mich immer wunderte, wie fünf Menschen sich täglich darin fertig für den Tag (oder die Nacht) machen konnten. Vor meiner Geburt lebten sogar noch Rosas Eltern mit im Haus, aber wie das auch nur ansatzweise möglich gewesen sein konnte, war mir ein absolutes Rätsel, denn alle in der Familie, auch die Rosa, waren ziemlich groß gewachsen. Aber nach dem Krieg war man halt froh, dass man überhaupt ein Dach über dem Kopf hatte, und dazu noch eines, das das eigene war. Welch ein Luxus! Da musste man halt ein wenig zusammenrücken, denn Platz ist schließlich in der kleinsten Hütte. Und das Besondere war nicht nur das Haus an sich: Gleich rechts, wenn man hineinging, war die separate Toilette, dahinter das winzige grüne Bad mit der elektrischen Wäscheschleuder, die immer einen Höllenlärm machte, gegenüber davon war das Elternschlafzimmer, und geradeaus ging man in die Küche, diese gemütliche Küche, die aussah wie ein größeres Puppenhaus: links neben der Tür war die Spüle und daneben der Holzofen, der vor allem im Winter heimelig vor sich hinbullerte. Geradeaus an der Wand ein bequemes Sofa und darüber das Radio, das eigentlich immer lief, daneben das Fenster, das in den Gemüsegarten ging, mit den orange geblümten Vorhängen, rechts hinter der Tür die circa zwei Meter lange, weiße Anrichte mit den Prilblumen und gegenüber die Eckbank und der Tisch mit seiner hellblauen Resopaloberfläche, der immer blitzsauber war und der eine Schublade hatte, in die die Rosa ihr Haushaltsbuch legte. Jede noch so kleine Ausgabe, jeder Einkauf wurden von ihr mit einem gespitzten Bleistift in dem Buch notiert, damit sie jederzeit einen Überblick über ihre Einnahmen und Ausgaben hatte und die Familie so nie über ihre Verhältnisse lebte. Wenn Rosa Königseder damals schon Kurse an der Volkshochschule gegeben oder ein Buch mit dem Titel »Wie ernähre ich mit wenig Geld eine große Familie« geschrieben hätte, dann wäre Peter Zwegat heute arbeitslos …

Im Eck war ein kleiner Herrgottswinkel mit einem Holzkreuz und den Bildern der verstorbenen Eltern und Schwiegereltern, bei denen immer frische Wiesenblumen standen. Und wenn man gerade in die Küche hineinspazierte, konnte man links durch die Tür in ein ebenfalls sehr kleines Wohnzimmer gehen, das mit einem kleinen Ölofen, einer dick gepolsterten Couch und einem großen Ohrensessel ausgestattet war, über dem ein kleines Holzkästchen hing, in dem die Rosa ihre Medikamente aufbewahrte. Rosa half bei einigen Bauern – auch bei meinen Eltern – bei der Feldarbeit mit, und ich habe oft gesehen, dass sie sich ihre Beine mit großen Bandagen umwickeln musste, weil sie Schmerzen hatte, aber für ständige Arztbesuche hatte sie einfach keine Zeit.

In der Ecke hatte sie eine riesige Persil-Tonne stehen, die bis zum Rand mit Bauklötzen gefüllt war, und eine PUMA-Schuhschachtel mit Matchbox-Autos. Selbst als ihre Kinder schon lange nicht mehr mit den Autos spielten, standen die Tonne und die Schachtel immer noch da, denn meine Brüder übernahmen später die Angewohnheit von mir, der Rosa ungefragt mehrmals die Woche einen Besuch abzustatten, wenn auch nicht ganz so häufig wie ich. Denn das Beste war: Bei der Rosa durfte man immer alles, nie hat sie uns nur einmal geschimpft oder ist laut geworden, selbst wenn wir mal aus Versehen etwas kaputt gemacht oder wir unser Limo verschüttet haben.

Außerdem roch es in ihrer Küche so wunderbar nach dem herrlichen Kirschstreuselkuchen, den sie immer machte. Der beste Kirschstreuselkuchen, den man sich überhaupt vorstellen kann: saftig, mit knusprigen, buttrigen Streuseln und Puderzucker obendrauf, und der Boden bestand aus lockerem Mürbteig, der nicht zu süß war. Nie wieder in meinem Leben habe ich besseren Kirschstreuselkuchen gegessen als bei der Rosa Königseder. Noch heute, wenn ich zu ihr sage: »Jetzt kimm i dann fei amal wieda, gell!« Dann antwortet sie: »Dann mach’ i wieder den Streuselkuacha, denst so gern mogst, gell, Mounigga!«

Bei Rosa entdeckte ich auch meine Liebe zum Spinat. Bei Rosa gab es oft Spinat, den sie selber in einem kleinen Gärtchen vor dem Küchenfenster anbaute. Meist mit Spiegeleiern oder Kartoffeln, aber ich habe ihn am liebsten pur gegessen. Neben Koni auf der Eckbank sitzend, meinen Arm hatte ich auf seinem Arm aufgestützt, saßen wir nebeneinander, und während er erzählte, mit was für einem Traktor er heut wieder bei meinem Vater fahren durfte, hab ich ihn jedes Mal voller Bewunderung angeschaut. Und er erzählte und lachte, und ich lachte und rutschte auf der Bank herum, während ich Spinat in mich hineinschaufelte – und plötzlich saß ich neben der Bank auf dem Boden, den vollen Spinatlöffel noch in der Hand. Ich hatte mich erst total erschrocken, die anderen ebenso, weil sie dachten, ich hätte mir wehgetan, aber als sie merkten, dass dem nicht so war, brach das Gelächter los. Ein Bild, das ich heute noch ganz deutlich vor mir sehe: Koni half mir wieder auf den Platz zurück, und ich habe weitergelöffelt und ihn weiter angehimmelt, bis meine Mutter irgendwann in der Küche stand: Sie wusste ja, wo sie mich im Zweifel finden konnte. Nur manchmal war es ihr – glaube ich – etwas peinlich, dass ich mich ständig bei anderen durchfraß, deshalb sagte sie manchmal: »Unser Zigeunerkind is’ halt immer auf der Achs’, die kann ned daheim bleiben!«

Aber auch der Koni und sein Bruder, der Sepp, waren viel bei uns. Nachmittags um zwei hörte man – bei uns stand die Haustür tagsüber offen – das Plumpsen von zwei Fahrrädern vor der Terrasse, was bedeutete, dass Koni und Sepp gleich nach dem Mittagessen und noch vor dem Erledigen der Hausaufgaben schauen wollten, wer heute mit welchem Traktor und Anhänger oder sonstigem Gerät fahren durfte. Und obwohl mein Vater versuchte, beide Buben gleich zu bedenken, kam es ab und zu Reibereien zwischen den beiden, die erst bei der Brotzeit in einem vorläufigen Waffenstillstand endeten. Mit vollem Mund stritt es sich auch ein bisschen schwer. Mein Vater kam kaum dazu, selber zu essen, weil er damit beschäftigt war, daumendicke Brotkeile abzuschneiden und diese ordentlich mit Kochsalami, Leberkäs oder Aufschnittwurst und mit saftigen, selbst eingelegten Gewürzgurken zu belegen. Als die zwei in die Pubertät kamen, brauchten wir zur Brotzeit einen ganzen Drei-Pfund-Laib Brot. Aber die beiden waren unermüdlich: Wenn sie sich nicht gerade darum stritten, wer mit was und vor allem ganz allein fahren durfte, dann wurde ich mit meinen zwei Jahren hin- und hergezogen »wie ein Katzl«, wie meine Mutter sagte. Oder wir fuhren alle zusammen sonntags ins Waldbad nach Taufkirchen oder machten einen Ausflug, wo wir am späten Nachmittag in eine Wirtschaft einkehrten und Würschtl mit Pommes bekamen und danach noch ein gemischtes Eis: drei Kugeln mit Sahne. Das waren immer die besten Tage, alles war unbeschwert und sorgenfrei, und der Sommer schien endlos zu sein. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen und nochmals einen solchen Sonntag erleben.

Aber wir wurden älter, und der Koni kam auch nicht mehr ganz so oft zu uns, denn er hatte eine Lehre als Automechaniker begonnen, außerdem hatte er jetzt eine Freundin und – was keinem in unserem kleinen Ort verborgen geblieben war – ein Schlagzeug. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, wurde die Anlage aufgedreht, und er begann zu Van Halen oder Slayer auf das gute Stück einzudreschen. Ich fand, er machte sich ganz gut als »Phil Collins von Tittenkofen«, der Rest der Dorfgemeinschaft hätte mir – bis auf meine Brüder vielleicht – nicht zugestimmt. Kopfschüttelnd fuhren manche mit dem Radl am Königseder’schen Anwesen vorbei, wahrscheinlich, weil sie sich wunderten, dass das Häuschen unter dem Gehämmere und Gedresche vom »narrischen Königsederbuam« nicht auseinanderbrach.

Im Sommer bekam der Koni oft Besuch von seinen Spezln, und sie saßen dann in der Einfahrt auf einer Bierbank und begutachteten ihre Mopeds und später ihre Autos. Der Koni hatte sich ein ganz ausgefallenes Gefährt hergerichtet: einen tiefer gelegten Opel Manta in Schwarz, bei dem die Kühlerhaube und die Seitentüren mit gelben und roten Flammen bemalt waren, in dem ich aber nie mitgefahren bin, weil ja die Freundin vom Koni immer mitfuhr. Ich hatte sie zwar nie gesehen, aber sie war anscheinend Krankenschwester und lebte in München, und der Koni besuchte sie jede Woche. Ich erinnere mich noch, dass ich ein bisschen eifersüchtig war, denn schließlich war es ja mein Koni, und ich kannte ihn schon vor dieser Schwesterntussi.

Ab und zu schlich ich mich abends zum Haus der Familie Franz, deren Garten direkt an den Garten der Königseders angrenzte, und durch die Hecke konnte ich den Koni und den Sepp mit ihren Freunden beobachten. Das meiste ihrer Gespräche über Mopeds und Autos und natürlich über Mädels habe ich nicht verstanden, aber ich fand sie alle damals furchtbar cool: den Glück Franze, die Daschinger-Brüder und wie sie alle hießen.


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