GREG BEAR
DIE DARWIN-KINDER
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
www.diezukunft.de
Für meinen Vater,
Dale Franklin Bear
Widmung
TEIL 1
SHEVA +12
TEIL 2
SHEVA +15
TEIL 3
SHEVA +18
Epilog
Kritisches Nachwort
Einige biologische Grundlagen
Kurzes Glossar biologischer Fachbegriffe
Weiterführende Literatur
Danksagung
»Amerika ist ein grausames Land. Es gibt hier jede Menge Leute, die einen jederzeit wie eine Ameise zertreten würden. Hört euch nur mal das Geschwätz im Radio an: eine Unzahl von hirnlosen Blödmännern und verdammt wenig mit Gefühl.«
»Hinter jedem Picknick und Pfadfinderabzeichen lauert der böse Wolf.«
»Sie wollen unsere Kinder umbringen. Der Herr helfe uns allen.«
Anonyme Einträge in Alt.Newchild.FAM
»Mit der Begründung, die nationale Sicherheit sei ›ernsthaft gefährdet‹, hat der Krisenstab in dieser Woche vom amerikanischen Justizministerium die Genehmigung verlangt, die Web-Sites der Eltern von SHEVA-Kindern zu durchforsten und zu sperren. Auch Internet-Zeitschriften und -Zeitungen, die falsche Informationen oder ›Lügen‹ über den Krisenstab und die amerikanische Regierung verbreiteten, sollen in das Verbot einbezogen werden. Einige Elterninitiativen haben sich beschwert, dass dies auch ohne offizielle Genehmigung längst die Regel sei. Nicht entscheidungsbefugte Vertreter des Justizministeriums haben die Forderung des Krisenstabs zwecks weiterer juristischer Gutachten an das Büro des Justizministers weitergeleitet, wie aus gut unterrichteten Kreisen verlautet.
Einige Rechtsexperten behaupten, dass selbst die Web-Sites rechtmäßig eingetragener Zeitungen ohne vorherige Ankündigung angegriffen und gesperrt werden könnten, sollte der Justizminister der Forderung des Krisenstabs nachgeben. Gleichzeitig gehen die Experten davon aus, dass schon über die Genehmigung selbst Geheimhaltung verhängt wird.«
Seattle Times, Online-Presseinformation
»Gott hat mit der Erschaffung dieser Kinder nichts zu tun. Es ist mir völlig gleichgültig, ob Sie die Schöpfungsgeschichte Wort für Wort glauben oder was Sie von der Evolution halten, wir sind jetzt selbst für unser Tun verantwortlich.«
Owen Withey, Creation Science News
Die Dunkelheit und Stille der frühen Morgenstunden umhüllten das Haus. Leicht benommen, nach nur drei Stunden Schlaf, stand Mitch Rafelson mit einem Becher Kaffee auf der hinteren Veranda. Durch das Zwielicht des Himmels drang immer noch der Glanz der Sterne. Einige Motten und Käfer summten hartnäckig um die Lampe auf der Veranda herum. Waschbären hatten sich hinten am Mülleimer zu schaffen gemacht, waren aber schon vor Stunden schimpfend und miteinander balgend wieder abgezogen, da die Kettensicherung ihnen das Spiel verdorben hatte.
Die Welt wirkte leer und neu.
Mitch stellte seinen Becher in die Küchenspüle und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Kaye schlief noch. Vor dem Spiegel über der Kommode rückte er seine Krawatte zurecht. Krawatten wirkten bei ihm immer irgendwie deplatziert. Angesichts des Jacketts, das trotz seiner breiten Schultern schlotterte, des viel zu weiten Hemdkragens und der überlangen weißen Hemdsärmel, die unter dem Aufschlag seines Mantels zu sehen waren, verzog er das Gesicht.
Gestern Abend hatten sie miteinander gestritten. Mitch, Kaye und Stella, ihre Tochter, hatten bis zwei Uhr früh in dem kleinen Schlafzimmer zusammengesessen und versucht, ein klärendes Gespräch zu führen. Stella fühlte sich isoliert. Sie wollte, musste mit jungen Menschen zusammenkommen, die so waren wie sie. Dies war eine durchaus vernünftige Einstellung, aber sie hatten keine Wahl.
Es war nicht die erste Auseinandersetzung dieser Art gewesen und sicher auch nicht die letzte. Kaye begegnete solchen Konfrontationen immer mit bemühter Gelassenheit, während Mitch lieber auswich und Ausflüchte suchte. Und natürlich waren es Ausflüchte, denn er hatte keine Antworten auf Stellas Fragen und konnte ihren Argumenten eigentlich nichts entgegensetzen. Beide wussten sie, dass Stella irgendwann mit Menschen ihrer Art zusammen sein und ihren eigenen Weg finden musste.
Schließlich war es Stella zuviel geworden. Als sie in ihr Zimmer marschiert war und die Tür hinter sich zugeknallt hatte, waren Kaye die Tränen gekommen. Mitch hatte sie im Bett an sich gedrückt, bis sie allmählich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Er war wach geblieben, hatte auf die dunkle Zimmerdecke gestarrt, das Spiel der Lichter verfolgt, als draußen auf der Landstraße ein Lastwagen vorbeirumpelte, und sich wie immer gefragt, ob der Lastwagen in ihre Auffahrt einbiegen würde, um ihre Tochter abzuholen und das Kopfgeld einzukassieren oder sogar noch Schlimmeres anzurichten.
Er konnte sich selbst in diesen Klamotten, die Kaye in Anspielung auf Mr. Smith goes to Washington seine Mr. Smith-Verkleidung nannte, nicht ausstehen. Er hob eine Hand hoch, drehte sie und musterte die Handfläche, die langen, starken Finger und den Ehering, den er trug, obwohl Kaye und er keinen amtlichen Trauschein besaßen. Seine Hände hatten etwas Grobes.
Die Fahrt in die Hauptstadt, das Passieren all dieser Kontrollen mit einem Schriftstück, das ihn als Mitarbeiter des Repräsentantenhauses auswies, waren ihm zutiefst zuwider. Im Schritttempo vorbei an all den mit Soldaten bemannten Lastwagen der Armee, deren Einsatz verzweifelte Eltern davon abhalten sollte, Selbstmordattentate zu begehen. Das war seit dem Frühjahr schon dreimal geschehen.
Und jetzt kamen noch die Vorfälle in Riverside in Kalifornien hinzu.
Mitch ging zur linken Bettseite hinüber, flüsterte »Guten Morgen, Liebste« und blieb einen Augenblick stehen, um die Frau, die er liebte, zu betrachten. Seine Augen wanderten vom Ärmel ihres Schlafanzugs zu den schlanken Händen, den gekrümmten Fingern, den bis aufs Fleisch abgenagten Fingernägeln. Jede Falte in der Kunstseide, jedes Spiel des frühmorgendlichen Lichts auf dem Stoff nahm er bewusst in sich auf.
Als er sich zu ihr hinunterbeugte, um sie auf die Wange zu küssen, und die Bettdecke über ihren Arm zog, flatterten ihre Lider, und sie schlug die Augen auf. »Viel Glück«, sagte sie und streichelte seinen Hinterkopf.
»Bin um vier Uhr zurück.«
»Ich liebe dich.« Seufzend kuschelte sich Kaye wieder in die Kissen.
Die nächste Station war Stellas Zimmer. Nie verließ er das Haus ohne diesen vorherigen Rundgang, bei dem er die Bilder seiner Frau, seiner Tochter und des Hauses bewusst in sich aufnahm und in seinem Gedächtnis speicherte. So als könne er diesen Augenblick jederzeit wieder abrufen, falls man ihm all dies nehmen sollte – falls dies der Abschied war. Als würde es im Fall des Falles irgendetwas nützen.
Stellas Zimmer war ein einziges Chaos, das verriet, womit sie sich in Ermangelung wirklicher Freundinnen und Freunde beschäftigte. An die Wand über ihrem Bett hatte sie ein Abschiedsfoto jener berühmt-berüchtigten orange-weiß getigerten Familienkatze gehängt. Aus der Holzkiste quollen kleine Stofftiere, deren Knopfaugen im Halbdunkel geheimnisvoll funkelten. Alte Taschenbücher füllten ein kleines Bücherregal aus Kiefernholz, das Mitch und Stella im vergangenen Winter gemeinsam zusammengenagelt hatten. Stella genoss es, mit ihrem Vater Hand in Hand zu arbeiten, allerdings war Mitch nicht entgangen, dass sie sich mit den Jahren immer weiter voneinander entfernt hatten.
Stella lag auf dem Rücken in einem Bett, das schon seit einem Jahr zu kurz für sie war. Mit elf Jahren war sie fast so groß wie Kaye und mit der schlanken Figur und dem runden Gesicht auf ihre Weise schön. Im Schein der kleinen Nachtlampe schimmerte ihre Haut in blassen Kupfer- und Goldtönen. Ihr Haar war kastanienbraun mit einem Stich ins Rote, von derselben Struktur wie das von Kaye und nicht viel länger als das ihrer Mutter.
Ihre Familie hatte sich zu einem Dreieck entwickelt, das immer noch starken Zusammenhalt hatte, obwohl die drei Seiten Monat für Monat weiter auseinander strebten. Weder Mitch noch Kaye konnten Stella das geben, was sie wirklich brauchte.
Und einander?
Er blickte auf, um den Sonnenaufgang zu betrachten, der sich durch die duftigen weißen Vorhänge vor Stellas Fenster als orangefarbene Linie am Himmel abzeichnete. Gestern Abend hatte Stella, deren Wangen vor Zorn mit Flecken übersät waren, wissen wollen, wann sie ihr erlauben würden, das Haus auf eigene Faust und ohne Make-up zu verlassen, damit sie sich mit Gleichaltrigen treffen konnte. Mit Kindern, die so waren wie sie selbst. Seit ihrer letzten »Verabredung zum Spielen« waren schon zwei Jahre vergangen.
Kaye hatte mit dem häuslichen Unterricht Wunder gewirkt, aber Stella hatte gestern Abend immer wieder und mit wachsender Heftigkeit betont: »Ich bin nicht so wie ihr!« Zum ersten Mal hatte Stella offiziell verkündet: »Ich bin kein menschliches Wesen!«
Aber das stimmte natürlich nicht. Nur Dummköpfe dachten so etwas. Dummköpfe, Scheusale – und ihre Tochter.
Mitch küsste Stella auf die Stirn, ohne dass sie aufwachte. Ihre Haut war warm. Wenn Stella schlief, roch sie nach ihren Träumen. Jetzt roch sie leicht salzig – nach Tränen und Traurigkeit.
»Ich muss los«, murmelte er. Als Wellen goldener Punkte über Stellas Wangen liefen, lächelte Mitch.
Selbst im Schlaf konnte sich seine Tochter von ihm verabschieden.
»Es sind Menschen ums Leben gekommen, Christopher«, sagte Marian Freedman. »Reicht das nicht als Rechtfertigung dafür, dass wir auf der Hut sein und uns sogar ein wenig verrückt verhalten müssen?«
Auf sein gutes Bein gestützt, humpelte Christopher Dicken neben ihr her und starrte auf die Stahltür am Ende des betonierten Ganges. Die Dienstmarke, die ihn als Mitarbeiter des Nationalen Krebsforschungsinstituts, des NCI, auswies, steckte immer noch an der Brusttasche seines Jacketts. Er hielt einen großen Blumenstrauß mit Rosen und Lilien in der Hand. Die Auseinandersetzung zwischen Marian Freedman und ihm hatte schon an der Rezeption angefangen und sich den ganzen Weg über, durch vier Sicherheitskontrollen hindurch, fortgesetzt.
»Schon seit zehn Jahren ist kein Fall von Shiver mehr diagnostiziert worden«, sagte er. »Und noch nie ist jemand aufgrund des Kontakts mit den Kindern erkrankt. Wenn man sie isoliert, hat das nicht biologische, sondern politische Gründe.«
Marian griff nach seinem Tagesausweis und zog ihn durch den Scanner. Gleich darauf öffnete sich die Stahltür und gab den Blick auf ein Netz von waagerechten Zugangsröhren aus grünlichem Sonnenschutzglas frei, die wie ein Labyrinth für Hamster über einem mehr als achttausend Quadratmeter großen Becken aus nacktem grauen Beton schwebten. Sie streckte die Hand aus und bedeutete ihm, voranzugehen. »Sie wissen doch aus erster Hand, was Shiver bedeutet.«
»Nach ein paar Wochen war es überstanden«, bemerkte Dicken.
»Es hat fünf Wochen gedauert und Sie wären beinahe gestorben, verdammt noch mal! Spielen Sie mir hier bloß nicht den tollkühnen Virusjäger vor!«
Dicken trat vorsichtig auf den Laufsteg, da er Tiefendimensionen nur schwer abschätzen konnte. Nur eines seiner Augen war noch intakt, aber auch auf diesem Auge war er sehbehindert, sodass er eine starke Kontaktlinse brauchte. »Der Mann hat seine Frau geschlagen, Marian. Sie war aufgrund einer schwierigen Schwangerschaft krank. Hatte Stress und Schmerzen.«
»Stimmt«, erwiderte Marian. »Aber das traf doch sicher nicht auf Mrs. Rhine zu, oder?«
»Da lag das Problem woanders«, räumte Dicken ein.
Freedman ließ sich zu einem dünnen Lächeln herab. Zuweilen offenbarte sie Witz von beißender Schärfe, allerdings schien ihr wirklicher Humor völlig fremd zu sein. Pflichterfüllung, harte Arbeit, Forschung und ein würdevolles Auftreten bestimmten ihren engen Lebenskreis. Marian Freedman war eine überzeugte Feministin und hatte nie geheiratet. Sie war eine der besten und engagiertesten Wissenschaftlerinnen, denen Dicken je begegnet war.
Während sie nebeneinander auf dem Aluminiumlaufsteg hergingen und den Weg in nördliche Richtung einschlugen, passte sie ihr Tempo seinem Schritt an. Hohe Stahlzylinder erwarteten sie am Ende der Zugangsröhren, Aufzugschächte für die Fahrstühle, die zu Kammern unterhalb der fugenlosen Betonfläche führten. Die Zylinder trugen große viereckige »Hüte« – gasbetriebene Hochtemperaturöfen, die jeden Luftzug sterilisierten, der aus den darunter liegenden Einrichtungen drang.
»Willkommen in Augustine’s Haus. Wie geht’s Mark eigentlich?«
»Bei unserer letzten Begegnung wirkte er nicht sonderlich glücklich.«
»Ehrlich gesagt, wundert mich das gar nicht, obwohl ich natürlich Milde walten lassen sollte. Schließlich hat Mark mich von Forschungsprojekten mit Affen zum Forschungsprojekt Mrs. Rhine befördert.«
Vor zwölf Jahren, als die Centers for Disease Control, kurz CDC genannt, die Projektgruppe zur Erforschung der Herodes-Grippe ins Leben gerufen hatten, war Freedman noch Leiterin des Primaten-Labors in Baltimore gewesen. Mark Augustine, damals Direktor der CDC und Dickens Chef, hatte in der angespannten Finanzlage auf staatliche Sondermittel gehofft. Die Herodes-Grippe, die man für Tausende schrecklich missgebildeter Fehlgeburten verantwortlich machte, hatte wie ein Geschenk des Himmels (oder der Hölle) zur Sanierung der Finanzen gewirkt. Es wurde recht bald klar, dass die Herodes-Grippe durch eines von Tausenden humaner endogener Retroviren, kurz HERVs genannt, übertragen wurde, die in der DNA jedes Menschen enthalten sind. Prompt hatte man das uralte Virus, das jetzt freigesetzt, mutiert und ansteckend war, SHEVA getauft. SHEVA stand für Scattered Human Endogenous Viral Activation – Aktivierung verstreuter humaner endogener Retroviren –, weckte aber gleichzeitig Assoziationen an die lebensspendende und lebensvernichtende Kraft der hinduistischen Gottheit Schiwa. Damals hatte man die Viren für nichts anderes als eigennützige Krankheitserreger gehalten.
»Sie hat sich auf das Wiedersehen mit Ihnen gefreut«, bemerkte Freedman. »Wie lange liegt Ihr letzter Besuch zurück?«
»Sechs Monate.«
»Mein liebster Wallfahrer erweist unserem Lourdes der Viren die Ehre«, sagte Freedman. »Na ja, die Gute ist ja auch wirklich so etwas wie ein Wunder. Außerdem hat die arme Frau auch etwas von einer Heiligen.«
Freedman und Dicken passierten Kreuzungen, an denen Röhren in südwestlicher, nordöstlicher und nordwestlicher Richtung zu anderen Aufzugschächten führten. Draußen wärmte sich die Luft an diesem Sommermorgen schnell auf. Durch das dämpfende Schutzglas der Röhren war die Sonne unmittelbar über dem Horizont als grünliche Kugel zu erkennen. Rings um sie herum verströmte die Klimaanlage mit ächzenden Atemzügen kühle Luft.
Inzwischen waren sie ans Ende der Hauptröhre gelangt. Rechts von der Fahrstuhltür hing ein laminiertes Schild, in das der Name MRS. CARLA RHINE eingraviert war. Freedman drückte auf den weißen Knopf, es war der einzige in diesem Fahrstuhl. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, gingen Dickens vom Druck verstopfte Ohren wieder auf.
SHEVA war weit mehr als eine Krankheit, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Das aktivierte Retrovirus, das nur von Männern in festen Beziehungen verbreitet wurde, diente als genetischer Bote, der komplizierte Instruktionen für eine neue Art von Geburt beförderte. SHEVA infizierte gerade befruchtete menschliche Eizellen, übernahm sie gewissermaßen. Bei den von der Herodes-Grippe ausgelösten Fehlgeburten handelte es sich um Embryonen im Frühstadium, allgemein Zwischentöchter genannt. Sie stellten kaum mehr als spezielle Eierstöcke dar, deren einziger Zweck darin bestand, neue Zygoten, befruchtete Eizellen, nach einem genau vorgegebenen Mutationsmuster zu produzieren. Ohne einen weiteren Geschlechtsverkehr setzten sich die neuen Zygoten in der zweiten Phase fest und überzogen sich mit dünnen Schutzmembranen. Sie überlebten die Austreibung des ersten Embryos und lösten eine erneute Schwangerschaft aus.
Bei manchen Menschen hatte das Assoziationen an eine Art Jungfrauengeburt ausgelöst.
Die meisten Embryonen des zweiten Stadiums waren in Schwangerschaften ausgetragen worden, die durchaus normal verlaufen waren. Weltweit waren im Abstand von vier Jahren in zwei großen Schüben drei Millionen dieser neuartigen Kinder geboren worden. Mehr als zweieinhalb Millionen der Säuglinge hatten überlebt. Immer noch hielt der Streit darüber an, wer oder was diese Kinder eigentlich waren: eine krankhafte Mutation? Eine neue Unterart der Spezies Mensch? Eine völlig neue Spezies?
Die einfachen Leute nannten sie schlicht Virus-Kinder.
»Carla pumpt sie immer noch heraus«, sagte Freedman, als der Fahrstuhl unten ankam. »Allein in den letzten vier Monaten hat sie siebenhundert neue Viren ausgeschüttet. Etwa ein Drittel davon ist infektiös, alles Viren mit einzelsträngiger RNA von negativer Polarität – und mordsmäßig gefährlich. Zweiundfünfzig dieser Viren töten Schweine innerhalb von Stunden. Einundneunzig sind für Menschen höchstwahrscheinlich tödlich. Und weitere zehn können womöglich Schweine wie Menschen umbringen.« Freedman warf einen Blick über ihre Schulter, um zu sehen, wie Dicken es aufnahm.
»Ich weiß«, erwiderte er trocken und rieb sich die Hüfte. Wenn er mehr als fünfzehn Minuten stand, machte ihm sein Bein zu schaffen. Die Explosion im Weißen Haus, bei der er vor zwölf Jahren ein Auge eingebüßt hatte, war auch für seine Gehbehinderung verantwortlich. Drei Operationen hatten dafür gesorgt, dass er inzwischen wieder ohne Krücken auskam, aber die Schmerzen hatten sie ihm nicht genommen.
»Immer noch voll informiert, selbst im Krebsforschungsinstitut?«, fragte Freedman.
»Ich versuch’s zumindest.«
»Gott sei Dank gibt es nur vier Fälle dieser Art.«
»Wir sind für ihren Zustand verantwortlich.« Er blieb kurz stehen und bückte sich, um seine Wade zu massieren.
»Mag ja sein, aber Mutter Natur ist trotzdem ganz schön hinterhältig.« Die Hände in die Hüften gestemmt, sah Freedman ihn prüfend an.
Durch eine kleine Luftschleuse am Ende des Ganges gelangten sie zum Hauptgeschoss, das sich mehr als fünfzehn Meter unter der Erde befand. Eine Aufseherin in adretter grüner Uniform inspizierte ihre Passierscheine und die behördlichen Genehmigungen und verglich sie mit der offiziellen Besucherliste, die in ihrem Computer gespeichert war.
»Bitte identifizieren Sie sich«, forderte sie Freedman und Dicken auf. Beide richteten die Augen auf Scanner und drückten die Daumen gleichzeitig auf Platten, die mit Sensoren ausgestattet waren. Gleich darauf begleitete eine Krankenpflegerin in grüner Schwesterntracht sie zum Sterilbereich.
Mrs. Rhine war in einer von zehn unterirdischen Wohnungen untergebracht, von denen gegenwärtig vier belegt waren. Die Wohnungen bildeten den Mittelpunkt einer Forschungseinrichtung, die durch so ausgefeilte Sicherheitsvorkehrungen geschützt wurde, wie sie weltweit wohl einmalig waren. Obwohl sich Dickens und Freedmans Treffen mit Mrs. Rhine stets auf den Blickkontakt durch ein mehr als zehn Zentimeter dickes Acrylfenster beschränkten, mussten sie sich vor und nach jedem Gespräch einer Ganzkörperreinigung unterziehen. Ehe sie den Besucher- und Besprechungsraum, der den Blickkontakt ermöglichte, betraten – allgemein die innere Station genannt –, mussten sie speziell behandelte Unterwäsche anziehen, die mit längerfristig wirkenden Mitteln zur Virenabwehr imprägniert war. Danach mussten sie sich von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge aus Kunststoff hüllen und ihre Helme und Überdruckschläuche anlegen.
Mrs. Rhine und ihre Gefährtinnen im Zentrum sahen niemals wirkliche menschliche Wesen aus Fleisch und Blut, sondern nur Besucher, die in ihren Schutzanzügen den großen Ballons bei einer Parade des Kaufhauses Macy ähnelten.
Ehe Freedman und Dicken das Zentrum verließen, mussten sie sich – noch in den Schutzanzügen – einer Dusche mit Desinfektionsmitteln unterziehen, sich danach ganz ausziehen, nochmals duschen und jede Körperöffnung schrubben. Die Schutzanzüge würde man einweichen und über Nacht sterilisieren, die Unterwäsche verbrennen.
Die vier hier internierten Frauen wurden gut verpflegt und trieben regelmäßig Sport. Automatische Geräte sorgten für die Pflege und Wartung ihrer Wohnungen, die etwa die Größe von Zwei-Zimmer-Appartements hatten. Sie hatten ihre Hobbys – vor allem Mrs. Rhine war überaus aktiv – und Zugang zu einer großen Auswahl an Büchern, Zeitschriften, Fernsehprogrammen und Filmen. Allerdings blieb es natürlich nicht aus, dass die Frauen immer wunderlicher wurden.
»Irgendwelche Tumore?«, fragte Dicken.
»Ist das eine amtliche Befragung?«, wollte Freedman wissen.
»Nur eine persönliche Frage.«
»Nein, aber das ist bloß eine Frage der Zeit«, erklärte Freedman.
Dicken übergab der Krankenpflegerin die Blumen. »Kochen Sie die aber bloß nicht ab«, bemerkte er.
»Ich werde sie mir persönlich vornehmen«, versprach die Pflegerin lächelnd. »Noch ehe Sie hier fertig sind, wird sie die Blumen in den Händen haben.« Sie reichte ihnen zwei versiegelte weiße Papiertüten, die ihre Unterwäsche enthielten, und zeigte ihnen den Weg zu den Desinfektionseinrichtungen und den großen Schränken, in denen ihre Schutzanzüge hingen. Die Anzüge glänzten so grün wie eingelegte Dillgurken.
Selbst in Fort Detrick eilte Christopher Dicken sein legendärer Ruf voraus. Er hatte Mrs. Rhine in einem Motel in Bend, Oregon, aufgespürt, wohin sie sich nach dem Tod ihres Mannes und der Tochter geflüchtet hatte. Er hatte sie persönlich dazu überredet, die Tür zu dem kleinen, kärglich ausgestatteten Zimmer zu öffnen, und dort ungeschützt zwanzig Minuten mit ihr verbracht, während die Transporter des Krisenstabs draußen auf dem Parkplatz vorgefahren waren.
Und das alles hatte er getan, obwohl er sich bereits im Vorjahr bei einer Frau in Mexiko angesteckt und an Shiver erkrankt war. Die Frau, recht korpulent und in den Vierzigern, war im siebten Monat schwanger gewesen. Ihr Ehemann, ein kleiner, unintelligenter Mensch mit einer Latte von Vorstrafen, der Dicken an einen Schakal erinnerte, hatte sie furchtbar verprügelt. Drei Monate lang hatte er sie ohne ärztliche Versorgung gelassen und in ein winziges Zimmer im hinteren Teil einer schäbigen Wohnung gesperrt. Ihr Baby war tot auf die Welt gekommen.
Irgendetwas hatte bei der Frau eine virale Abwehrreaktion ausgelöst, die SHEVA noch verstärkt hatte, und ihr Mann hatte die Folgen zu tragen gehabt. In den dunkelsten Stunden der Einsamkeit und Schlaflosigkeit, wenn Dicken am frühen Morgen, geplagt von Phantomschmerzen und Phantomzuckungen im Bein, hellwach hin- und hertigerte, dachte er oft über den Tod des Ehemanns nach und empfand ihn als ausgleichende Gerechtigkeit der Natur. Seinen eigenen Kontakt mit der Frau, der zu Ansteckung und Krankheit geführt hatte, betrachtete er im Unterschied dazu als Berufsrisiko: Der Schicksalsschlag hatte ihn nur zufällig getroffen.
Mrs. Rhines Fall war anders gelagert. Ihre Probleme waren durch ein Zusammenspiel menschlicher und natürlicher Faktoren bedingt, das kein Mensch hatte voraussehen können.
In den späten Neunzigerjahren hatten ihre Nieren versagt. Als ihre Krankheit bereits das Endstadium erreicht hatte, war ihr versuchsweise ein Fremdorgan transplantiert worden: eine Schweineniere. Die Transplantation war erfolgreich verlaufen, die Niere arbeitete. Drei Jahre später hatte Mrs. Rhines Ehemann sie mit SHEVA infiziert. Das hatte bei den Schweinezellen einen üppigen Ausstoß von PERVs, artspezifischen endogenen Retroviren, ausgelöst. Diese und die menschlichen Retroviren hatten dann Gene mit dem latenten Herpes simplex-Virus ausgetauscht. Die entstehenden Rekombinationen hatten – gewissermaßen mit teuflischem Einfallsreichtum – viele neue Krankheiten, aber auch alte, die lange nicht aufgetreten waren, induziert. Eine wahre Büchse der Pandora. Als die Diagnose schließlich auf dem Tisch war, hatte man Mrs. Rhine in Fort Detrick unter Quarantäne gestellt.
Experimentierkästen für uralte Viren hatte Mark Augustine die Rekombinationen in weiser Voraussicht genannt.
Mrs. Rhines Ehemann, ihre neugeborene Tochter, sieben Freunde und Verwandte hatten sich mit dem ersten der rekombinierten Viren infiziert. Alle waren innerhalb weniger Stunden gestorben.
Von einundvierzig Menschen in den USA, denen man Zellgewebe von Schweinen übertragen hatte und die in der Folgezeit SHEVA ausgesetzt gewesen waren, hatten nur die Frauen im Zentrum überlebt. Es war wie eine Laune des Schicksals, dass sie selbst immun gegen die Viren waren, die sie produzierten. Da sich die vier Frauen in Quarantäne befanden, zogen sie sich auch nie Erkältungen oder Grippe zu. Das machte sie zu außergewöhnlichen Versuchspersonen, die für die Forschung von unschätzbarem Wert waren, auch wenn sie den Tod in sich trugen.
Mrs. Rhine war der Traum jedes Virusjägers. Jedes Mal, wenn Dicken von ihr träumte, wachte er in kalten Schweiß gebadet auf.
Niemals hatte er irgendjemandem anvertraut, dass seine Kontaktaufnahme mit Mrs. Rhine in jenem Motelzimmer in Bend weniger auf Tapferkeit als auf Leichtsinn und Gleichgültigkeit beruhte. Damals war es ihm schlichtweg egal gewesen, ob er weiterleben oder sterben würde. Seine ganze Welt war aus den Fugen geraten, stand Kopf. Alles, was er bis dahin für gesicherte persönliche Erkenntnisse gehalten hatte, hatte er einer harten, unbarmherzigen Prüfung unterziehen müssen. Mrs. Rhine lag ihm deshalb so am Herzen, weil sie genau wie er durch die Hölle gegangen war.
»Ziehen Sie den Schutzanzug an«, sagte Freedman. In getrennten Nischen legten beide ihre Kleidung ab und hängten sie in die Schränke. Kleine Videoschirme, die neben den zahlreichen Duschköpfen angebracht waren, erinnerten sie daran, wo und wie sie sich säubern sollten.
Freedman half Dicken dabei, die Unterwäsche über sein steifes Bein zu streifen. Gemeinsam zogen sie Handschuhe aus dickem Kunststoff an und schlüpften danach in die Fäustlinge der knallgrünen Schutzanzüge, die ihnen die Beweglichkeit von Robben ließen. Schutzanzüge, die statt Fingerhandschuhen solche Fäustlinge hatten, waren robuster, sicherer und billiger. Außerdem erwartete man von Besuchern der inneren Station ja auch nicht, dass sie feine Laborarbeiten verrichteten. Kleine Plastikhaken, die bei jedem Fäustling an der Daumenseite befestigt waren, sorgten dafür, dass sie einander dabei helfen konnten, den rückwärtigen Reißverschluss am Schutzanzug hochzuziehen und den Kunststoffstreifen auf der Innenseite des Klettverschlusses zu entfernen. Eine Spezialklemme drückte die Klettleiste über den Reißverschluss.
Das alles nahm zwanzig Minuten in Anspruch.
Sie passierten weitere Duschen und eine weitere Luftschleuse. Eingesperrt in die fast luftdichte Hülle, spürte Dicken, wie sich auf seinem Gesicht Schweißperlen sammelten und an seinen Unterarmen herabrannen. Hinter der zweiten Luftschleuse halfen sie sich gegenseitig dabei, die »Nabelschnüre« anzulegen – die ihnen bereits bekannten Plastikschläuche, die an rasselnden Metallhaken von einer Gleitschiene hoch über ihren Köpfen herunterbaumelten.
Ihre Schutzanzüge blähten sich aufgrund des Drucks auf. Der Zustrom frischer, kühler Luft belebte Dicken wieder.
Beim letzten Mal war Dicken nach Besuchsende mit Nasenbluten aus dem Schutzanzug gestiegen. Freedman hatte ihn nur dadurch vor wochenlanger Quarantäne bewahren können, dass sie die Blutung persönlich gestillt und untersucht hatte.
»Sie sind jetzt für die innere Station gewappnet«, teilte ihnen die Pflegerin durch einen Lautsprecher in der Schutzwand mit.
Nachdem die letzte Luke mit einem leisen Geräusch aufgeglitten war, betrat Dicken vor Freedman die innere Station. Gemeinsam wandten sie sich nach rechts und warteten darauf, dass sich die Stahlblenden über dem Fenster hoben.
Die wenigen Fälle von Shiver hatten mindestens hundert Intensivseminare ins Leben gerufen, die sich mit dem Stand der medizinischen Forschung und militärischen Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit befasst hatten. Wenn schon einzelne Frauen – Frauen, die misshandelt worden waren, Frauen, die Transplantationen von Fremdgewebe erhalten hatten – Tausende von tödlichen Seuchen exprimieren und in die Welt setzen konnten, was würde dann eine ganze Generation von Virus-Kindern bewirken können?
Dickens Kiefermuskeln spannten sich. Er fragte sich, wie sehr sich Carla Rhine in den letzten sechs Monaten verändert haben mochte.
Sie hat etwas von einer Heiligen, die arme, liebe Carla.
Im Kielwasser einer muskulösen rothaarigen Frau Ende dreißig spazierte Mark Augustine, auf einen Stock gestützt, den langen unterirdischen Tunnel entlang. Auf beiden Seiten des Tunnels verliefen große Dampfröhren, sodass die Luft hier warm war. Um Glasfaser- und Elektrokabel von den Röhren fern zu halten, waren sie zu Bündeln zusammengefasst und in lange Stahlkästen eingelassen, die von der Betondecke herunterhingen.
Die Frau trug ein dunkelgrünes Seidenkostüm, einen roten Schal und Laufschuhe, die sie offenbar viel im Freien benutzte, denn ihr Leder war grau angelaufen. Augustines hart besohlte Oxford-Schuhe schlugen bei jedem Schritt mit lautem Klick-Klack auf, während er ihr in einigem Abstand schwitzend folgte. Die Frau nahm keinerlei Rücksicht darauf, dass er bei ihrem Tempo nicht mithalten konnte.
»Warum bin ich überhaupt hier, Rachel?«, fragte er. »Ich war viel unterwegs, bin müde und habe jede Menge Arbeit auf dem Tisch.«
»Es tut sich was, Mark. Ich bin sicher, Sie werden begeistert sein«, rief ihm Browning über die Schulter zu. »Wir haben endlich eine lange verschollene Kollegin ausfindig gemacht.«
»Wen?«
»Kaye Lang.«
Augustine verzog das Gesicht. Hin und wieder sah er sich selbst als zahnlosen alten Tiger in einer Verwaltung voller Giftschlangen. Er war gefährlich nahe daran, zur Galionsfigur zu werden oder, noch schlimmer, zum Clown, auf den eine gut verborgene Fallgrube wartete. Ihm war nur eine einzige Überlebenstaktik geblieben: sich den Anschein von Passivität zu geben und im Windschatten der jungen, intriganten, karrieresüchtigen Bürokraten zu segeln, die das Flair von Despotie, das sich gegenwärtig in Washington ausbreitete, in die Bundeshauptstadt zog.
Der Stock half dabei. Letztes Jahr hatte er sich bei einem Sturz im Bad das Bein gebrochen. Wenn sie ihn für schwach und dumm hielten, war das nur zu seinem Vorteil.
Der Tiefpunkt der seelenlosen Öde von Washington war die stolze Liste persönlicher Leistungen, auf die Rachel Browning verweisen konnte. Ursprünglich war Browning auf die Datenverwaltung und -pflege im Strafvollzug spezialisiert gewesen. Sie war mit einem Manager für Telekommunikation in Connecticut verheiratet, den sie allerdings kaum sah. Vor sieben Jahren hatte sie als Augustines Assistentin im Krisenstab – der Emergency Action, kurz EMAC genannt – angefangen, war in die Abteilung zur Kontrolle ausländischer Körperschaften in der Nationalen Sicherheitsbehörde befördert worden und nochmals die Karriereleiter hinaufgefallen, als sie die Leitung der Abteilung Nachrichtendienst und Vollzug bei EMAC übernahm. Sie selbst hatte das Special Reconnaissance Office (SRO), das sich der Sonderaufklärung widmete, ins Leben gerufen. Das Büro befasste sich vor allem damit, Dissidenten und subversive Elemente aufzuspüren und radikale Elterngruppen zu unterwandern. SRO teilte sich Satelliten und andere technische Ausrüstungen mit dem Nationalen Büro für Sonderaufklärung.
Irgendwann einmal, in einem anderen Leben, war Browning ihm sehr nützlich gewesen.
»Kaye Lang Rafelson ist niemand, der sich einfach ködern und einsperren lässt«, sagte Augustine. »Und ihre Tochter beschert uns auch nicht einfach so eine weitere Kerbe im Jagdgewehr. Wir müssen sehr vorsichtig mit diesen Leuten umgehen.«
Browning verdrehte die Augen. »Nach den Anweisungen, die ich erhalten habe, befindet sie sich keineswegs außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs. Jedenfalls betrachte ich sie bestimmt nicht als heilige Kuh. Es ist schon sieben Jahre her, dass sie in Oprah Winfreys Talkshow aufgetreten ist.«
»Falls Sie jemals das Bedürfnis spüren, sich näher mit politischer Wissenschaft zu befassen – oder mit den Geheimnissen der Öffentlichkeitsarbeit –, lassen Sie’s mich wissen. Ich kann Ihnen einige ausgezeichnete Grundseminare am städtischen College empfehlen«, erwiderte Augustine.
Wieder einmal bedachte ihn Browning mit ihrem aufgesetzten, knallharten Lächeln – garantiert kugelsicher und in jedem Fall die perfekte Abwehr gegen einen zahnlosen Tiger.
Gemeinsam kamen sie am Fahrstuhl an. Als die Tür sich öffnete, begrüßte sie ein Marinesoldat mit harten, grauen Augen, der ein Pistolenhalfter mit einer Neun-Millimeter-Waffe trug. Zwei Minuten später standen sie in einem kleinen Büro.
Wie japanische Wandschirme ragten jenseits des Schreibtisches, der die Zimmermitte einnahm, vier leuchtende, auf Metallständer gestützte Sichttafeln auf. Die nackten Wände waren beige gestrichen und mit dichten, schalldämpfenden Schaumverkleidungen isoliert.
Augustine hasste derart abgedichtete Räume, wie er inzwischen alles hasste, das er in den letzten elf Jahren um sich herum aufgebaut hatte. Sein ganzes Leben glich einem abgedichteten Raum.
Browning nahm auf dem einzigen Stuhl Platz und legte die Hände auf Computertastatur und Maus. Während ihre Finger über die Tasten huschten, umklammerte sie mit der anderen Hand die Maus und beobachtete mit zusammengebissenen Zähnen, was sich auf dem Bildschirm tat. »Sie leben etwa hundertsechzig Kilometer südlich von hier«, murmelte sie, auf den Bildschirm konzentriert.
»Ich weiß«, erwiderte Augustine. »In Spotsylvania County.«
Verblüfft sah sie auf und legte den Kopf schräg. »Wie lange wissen Sie es schon?«
»Anderthalb Jahre.«
»Warum haben Sie die nicht einfach abholen lassen? Liegt’s am weichen Herz oder an einer Hirnerweichung?«
Augustine tat die Bemerkung mit einem Zwinkern ab, das weder seinen Standpunkt noch Emotionen erkennen ließ. Er spürte, wie sein Gesicht sich anspannte. Bald würden seine Wangen teuflisch schmerzen, eine Nachwirkung der Bombenexplosion im Keller des Weißen Hauses, die den Präsidenten das Leben gekostet hatte. Augustine war nur knapp am Tod vorbeigeschrammt, Christopher Dicken hatte dabei ein Auge verloren. »Ich kann nichts erkennen.«
»Das Netz baut sich immer noch auf«, erklärte Browning. »Es dauert ein paar Minuten. Kleiner Vogel spricht gerade mit Tiefem Blick.«
»Reizendes Spielzeug«, bemerkte er.
»Es war Ihre Idee.«
»Ich bin gerade erst aus Riverside zurück, Rachel.«
»Oh, wie war’s denn?«
»Schrecklicher, als man sich vorstellen kann.«
»Da haben Sie sicher Recht.« Browning holte ein Kleenex-Tuch aus ihrer kleinen schwarzen Handtasche und schnaubte geziert hinein, erst mit dem rechten, dann mit dem linken Nasenloch. »Sie hören sich wie jemand an, der die Leitung gern abgeben würde.«
»Sie werden’s als Erste erfahren, wenn es so weit ist, da bin ich mir sicher«, gab Augustine zurück.
Rachel deutete auf den Bildschirm und schnappte mit den Fingern. Gleich darauf baute sich auf dem Schirm ein Bild auf, als habe sie es herbei gezaubert. »Tiefer Blick«, sagte sie. Was sie vor sich sahen, war ein kleiner Ausschnitt des ländlichen Virginia mit vielen dicken grünen Bäumen, den eine gewundene zweispurige Straße durchschnitt. »Tiefer Blick« richtete seine Linsen in Nahaufnahme auf ein Hausdach, eine Auffahrt, in der lediglich ein kleiner Lastwagen stand, und einen großen Garten hinter dem Haus, den hohe Eichen säumten.
»Und … hier ist Kleiner Vogel.« Brownings Stimme wurde so heiser vor Triumph, dass sie fast schon erotisch klang.
Das Bild zeigte jetzt eine ferngesteuerte Drohne, die wie eine Libelle am Haus hoch schwebte, neben einem kleinen Sprossenfenster innehielt, Blende und Belichtung auf den hellen Morgen einstellte und schließlich Kopf und Schultern eines jungen Mädchens enthüllte, das sich das Gesicht mit einem Waschlappen abrieb.
»Erkennen Sie das Mädchen?«, fragte Browning.
»Unser letztes Bild von ihr ist vier Jahre alt«, erwiderte Augustine.
»Das kann nur daran liegen, dass Sie sich um kein neues Bild bemüht haben. Was nicht zu entschuldigen ist.«
»Da haben Sie Recht«, räumte Augustine ein.
Das Mädchen verließ das Badezimmer und verschwand aus dem Blickfeld. Gleich darauf stieg Kleiner Vogel bis zu einer Höhe von rund fünfzehn Metern empor, um dort die Anweisungen des unsichtbaren Piloten abzuwarten. Wahrscheinlich saß er ein paar Kilometer weiter im hinteren Teil eines Lieferwagens, der über eine Fernsteuerung verfügte.
»Ich glaube, das ist Stella Nova Rafelson«, sinnierte Browning und tippte sich mit einem langen roten Fingernagel auf die Unterlippe.
»Gratuliere, Sie sind ein wahrer Voyeur«, sagte Augustine.
»Ich ziehe den Ausdruck Paparazzo vor.«
Die Ansicht auf dem Bildschirm schwenkte zu einer schlanken weiblichen Gestalt herum, die von der vorderen Veranda auf den Schotterweg vor dem Haus trat. In einer Hand trug sie einen kleinen, quadratischen Gegenstand.
»Zweifellos unser Mädchen«, erklärte Browning. »Groß für ihr Alter, nicht wahr?«
Stella ging wild entschlossen auf das Tor im Maschendrahtzaun zu. Kleiner Vogel ließ sich herunter und vergrößerte den Ausschnitt um fünfundsiebzig Prozent. Die Auflösung war bemerkenswert. Das Mädchen blieb am Tor stehen, schwang es halb auf und warf mit gerunzelter Stirn einen Blick über die Schulter, während auf den Wangen kurz Flecken aufleuchteten. Dunkle Flecken, stellte Augustine fest. Sie ist nervös.
»Was hat sie vor?«, fragte Browning. »Sieht so aus, als wollte sie einen Spaziergang machen. Aber nicht zur Schule, denke ich.«
Augustine verfolgte, wie das Mädchen auf dem unbefestigten Weg neben der alten Asphaltstraße entlangschlenderte, als wolle sie einen Morgenspaziergang ins Grüne machen.
»Die Situation kann sich recht schnell verändern«, sagte Browning, »und wir haben niemanden vor Ort. Ich will diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, deshalb habe ich einen privaten Ermittler alarmiert.«
»Sie meinen einen Kopfgeldjäger. Das ist unklug.«
Browning tat so, als hätte sie nichts gehört.
»Ich will das nicht, Rachel«, erklärte Augustine. »Für eine derartige Publicity ist der Zeitpunkt falsch gewählt. Und das gilt erst recht für ein solches taktisches Vorgehen.«
»Die Entscheidung liegt aber nicht bei Ihnen, Mark«, gab Browning zurück. »Man hat mir aufgetragen, das Mädchen und seine Eltern dingfest zu machen.«
»Wer hat das angeordnet?« Augustine wusste, dass seine Autorität in letzter Zeit stark gelitten hatte, seine Entscheidungsbefugnis seit Riverside womöglich drastisch eingeschränkt worden war, aber nie war ihm in den Sinn gekommen, dass Riverside ein noch härteres Durchgreifen auslösen würde.
»Es ist eine Art Test«, sagte Browning.
Der für Gesundheit und Soziales zuständige Minister hatte gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten das Oberkommando über EMAC. Innerhalb dieses Krisenstabs gab es Kräfte, die das ändern und dem Ministerium jede Entscheidungsbefugnis nehmen wollten, um die eigene Position zu stärken. Augustine hatte selbst vor einigen Jahren und in einer anderen beruflichen Position schon Ähnliches versucht.
Browning löste den Piloten im Lastwagen ab, übernahm selbst die Fernsteuerung des Kleinen Vogels und schickte ihn Stella Nova Rafelson hinterher, auf die Straße, wo er vorsichtig Abstand hielt und leise summte. »Finden Sie nicht auch, dass Kaye Lang bei ihrer Heirat besser ihren Mädchennamen behalten hätte?«
»Sie haben nie geheiratet«, sagte Augustine.
»So, so. Dann ist Stella also ein kleiner Bastard.«
»Sie können mich mal, Rachel«, knurrte Augustine.
Browning blickte auf, ihr Gesicht versteinerte. »Und Sie mich, Mark, weil Sie mich Ihren Job machen lassen.«
Mrs. Rhine stand in ihrem Wohnzimmer und spähte so angestrengt durch die dicke Acrylscheibe, als suche sie nach den Spuren eines anderen Lebens. Sie war Ende dreißig und mittelgroß. Im Gegensatz zu ihren stämmigen Armen und Beinen war ihr sonstiger Körper schlank. Das spitze Kinn war stark ausgeprägt. Sie trug ein hellgelbes Kleid, über das sie eine weiße Bluse und eine selbst genähte Patchwork-Weste gestreift hatte. Was von ihrem Gesicht zwischen den Mullverbänden zu erkennen war, wirkte rot und aufgedunsen. Ihr linkes Auge war zugeschwollen. Ihre Arme und Beine waren vollständig in antiseptische Verbände gehüllt. Mrs. Rhines Körper bemühte sich, Millionen und Abermillionen neuer Viren zu vernichten, die listig behaupteten, Teil ihres Selbst zu sein, aus ihrem eigenen Genom zu stammen. Aber die Viren machten sie selbst keineswegs krank. In erster Linie war die Reaktion ihres eigenen Immunsystems für ihre Qualen verantwortlich.
Irgendjemand, Dicken fiel nicht mehr ein, wer es gewesen war, hatte diese Krankheit, gegen die man selbst immun blieb, damit verglichen, dass der eigene Körper von republikanischen Kongressabgeordneten ferngesteuert wurde. Ein paar Jahre in Washington hatten auf unheimliche Weise bestätigt, wie passend dieser Vergleich war.
»Christopher?«, rief Mrs. Rhine mit heiserer Stimme.
Mit einem Klicken schaltete sich die Beleuchtung der inneren Station ein.
»Ja, ich bin’s«, erwiderte Dicken. Wegen des Schutzhelms kam es wie ein Zischen heraus.
Mrs. Rhine trat kokett zur Seite und knickste, wobei ihr Kleid raschelte. Dicken sah, dass sie seinen Blumenstrauß in eine große blaue Vase gestellt hatte, dieselbe Vase, die sie auch bei seinem letzten Besuch benutzt hatte. »Die Blumen sind wunderschön«, sagte sie. »Weiße Rosen, die hab ich am liebsten. Sie duften immer noch ein bisschen. Geht’s Ihnen gut?«
»Ja. Und Ihnen?«
»Mein Leben besteht nur noch aus Juckreiz, Christopher. Derzeit lese ich Jane Eyre. Ich glaube, wenn die hierher, tief unter die Erde kommen, um den Roman zu verfilmen – und das werden sie ganz sicher, wissen Sie –, werde ich Mr. Rochesters erste Frau spielen, das arme Ding.« Trotz der Schwellungen und Verbände war Mrs. Rhines Lächeln umwerfend. »Würden Sie sagen, dass ich die Rolle angemessen besetzen kann?«
»Sie sind wohl eher der unauffällige, aber von Natur aus reizende Typ, der den ruppigen, halbverrückten Mann von seiner dunklen Seite erlöst. Sie sind Jane.«
Sie zog einen Klappstuhl heran und setzte sich. Ihr Wohnzimmer mit den Sofas, den Stühlen und den Bildern an der Wand wirkte eigentlich ganz normal, nur ein Teppichbelag fehlte. Mrs. Rhine durfte jedoch ihre eigenen Läufer herstellen. Außerdem strickte sie und arbeitete in einem anderen Zimmer, das vom Fenster aus nicht zu sehen war, regelmäßig an einem Webstuhl. Angeblich hatte sie bereits einen Wandteppich mit Märchenmotiven gewebt, in dem sie auch ihren Ehemann und die neugeborene Tochter verewigt hatte, aber den hatte sie noch keinem Menschen gezeigt.
»Wie lange können Sie bleiben?«, fragte Mrs. Rhine.
»So lange, wie Sie’s mit mir aushalten«, erwiderte Dicken.
»Etwa eine Stunde«, warf Marian Freedman ein.
»Man hat mir hier einen sehr angenehmen Tee gegeben«, sagte Mrs. Rhine mit einer Stimme, die jetzt kraftloser klang, und blickte zu Boden. »Er scheint meiner Haut gut zu tun. Schade, dass ich Sie nicht dazu einladen kann.«
»Haben Sie mein Päckchen mit den DVDs erhalten?«, fragte Dicken.
»Ja. Plötzlich im letzten Sommer hat mir sehr gut gefallen.« Mrs. Rhines Stimme klang jetzt wieder kräftiger. »Katherine Hepburn kann so überzeugend verrückt spielen.«
Freedman warf ihm von Schutzhelm zu Schutzhelm einen hinterhältigen Blick zu. »Ist das als Anspielung zu verstehen?«
»Still, Marian, bei mir im Kopf stimmt noch alles«, sagte Mrs. Rhine.
»Das weiß ich doch, Carla. Um Ihre geistige Gesundheit steht’s besser als um meine eigene.«
»Da haben Sie sicher Recht. Aber um mich brauche ich mir ja auch keine Sorgen zu machen, oder? Ganz ehrlich, Marian ist sehr lieb zu mir gewesen. Ich wünschte, ich hätte sie schon früher kennen gelernt. Aber eigentlich wünschte ich noch mehr, sie würde mich ihr Haar richten lassen.«
Freedman zog eine Augenbraue hoch und beugte sich zum Fenster vor, damit Mrs. Rhine ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte. »Ha, ha.«
»Sie behandeln mich wirklich nicht allzu schlecht und ich schneide bei allen psychologischen Profil-Tests recht gut ab.« Mrs. Rhines Gesicht verlor etwas von dem überdrehten, schelmischen Ausdruck, den es annahm, wenn sie andere in dieser Weise neckte. »Genug von mir geredet. Wie geht’s den Kindern, Christopher?«
Dicken bemerkte eine ganz leichte Anspannung in ihrer Stimme. »Soweit ganz gut.«
Ihr Ton klang jetzt leicht gereizt. »Ich meine diejenigen, mit denen meine Tochter zur Schule gehen würde, wenn sie noch lebte. Hält man die Kinder immer noch in Lagern fest?«
»Die meisten schon. Einige haben sich versteckt.«
»Was ist mit Kaye Lang?«, wollte Mrs. Rhine wissen. »An ihr und ihrer Tochter bin ich besonders interessiert. Ich hab in Zeitschriften von ihnen gelesen, hab sie auch im Fernsehen erlebt, in der Katie-Janeway-Show. Zieht sie ihre Tochter immer noch ohne öffentliche Hilfe auf?«
»Soweit ich weiß, ja. Wir haben keinen Kontakt mehr, sie ist in gewisser Weise untergetaucht.«
»Sie waren doch eng miteinander befreundet, wie ich in den Zeitschriften gelesen habe.«
»Das stimmt.«
»Sie sollten Verbindung mit Ihren Freunden halten.«
»Da gebe ich Ihnen Recht«, erwiderte Dicken, während Freedman geduldig zuhörte. Sie konnte sich sehr gut in Mrs. Rhine einfühlen und tat das nicht nur aus nüchtern-analytischem Interesse. Ebenso war ihr klar, dass es in Christopher Dickens geschäftigem, aber einsamem Leben zwei weibliche Pole gab: Mrs. Rhine und Kaye Lang, die das Auftreten von SHEVA als Erste genau vorhergesagt hatte. Beide Frauen hatten ihn tief berührt.
»Gibt’s irgendwas Neues über all diese Viren und das, was sie in meinem Innern anstellen?«
»Wir müssen noch viel lernen«, erklärte Dicken.
»Sie haben mal gesagt, dass manche Viren Botschaften übermitteln. Flüstern die in meinem Innern? Meine Schweineviren … übermitteln die immer noch Botschaften von Schweinen?«
»Ich weiß es nicht, Carla.«
Mrs. Rhine hob ihr Kleid an, ließ sich in den üppig gepolsterten Sessel fallen und strich sich mit einer Hand das Haar zurück. »Bitte, Christopher. Ich habe meine Familie ausgelöscht. Ich möchte verstehen, was passiert ist. Das ist das Einzige, was ich in diesem Leben noch erreichen möchte. Erzählen Sie’s mir, selbst die belanglosen Dinge. Erzählen Sie mir von Ihren Vermutungen, Ihren Träumen … egal, was.«
Freedman nickte. »Ob gut oder schlecht, jedenfalls müssen wir ihr alles sagen, was wir wissen«, erklärte sie. »Das ist das Mindeste.«
Mit stockender Stimme begann Dicken zu skizzieren, was man seit seinem letzten Besuch herausgefunden hatte. Die Forschung konnte die Probleme jetzt deutlicher einkreisen, war vorangekommen. Den Aspekt der militärischen Forschung ließ er weg und konzentrierte sich stattdessen auf die neuartigen Kinder.
Sie waren bemerkenswert und auf ihre Weise auch bemerkenswert schön. Und das stellte diejenigen, deren Platz sie nach dem Bauplan der Natur einnehmen sollten, vor ein besonderes Problem.
»Wie ich höre, riechst du so gut wie ein Hund«, sagte der junge Mann in der geflickten Jeansjacke zu einem großen, schlanken Mädchen mit fleckigen Wangen. Er stellte ein Sechserpack Miller-Bier auf den Tresen, der in Kunststoff-Folie eingeschweißt war, und knallte einen Zwanzig-Dollar-Schein hin. »Einmal Lucky Strike«, sagte er zu der Verkäuferin des Minimart.
»Die riecht doch nicht so gut wie ein Hund«, warf sein Begleiter mit blödem Lächeln ein. »Die riecht schlimmer.«
»Hört auf damit, Jungs«, mahnte die Verkäuferin, nahm den Geldschein und holte die Zigaretten. Sie war dünn wie eine Bohnenstange, hatte blasse Haut und schwer misshandelte blonde Haare. Schaler Zigarettenrauch hing in ihrem von Kaffeeflecken übersäten Kittel.
»Wir unterhalten uns doch nur«, sagte der erste Mann, der sein Haar mit einem roten Gummiband zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden hatte. Sein Begleiter war jünger, größer und hatte eine auffällig gebeugte Körperhaltung. Auf dem langen braunen Haar saß eine Baseballkappe.
»Ich warne euch, ich will hier keine Scherereien!«, sagte die Verkäuferin mit einer Stimme, die so rau war wie alter Straßenbelag. »Beachte ihn gar nicht, Liebes, der macht nur Spaß.«
Stella steckte ihr Wechselgeld in die Tasche und griff nach der Limonadenflasche. Sie trug Shorts, ein kurzes blaues Trägerhemdchen, Tennisschuhe und war ungeschminkt. Schweigend rümpfte sie die Nase, ihre Nasenflügel blähten sich. Die beiden Männer waren Mitte zwanzig, hatten Bierbäuche, fleischige Gesichter und grobe Hände. Ihre Jeans waren mit frischen Farbflecken übersät. Ein saurer, wilder Geruch ging von ihnen aus, der Stella an unglückliche junge Hunde erinnerte. Sie verdienten sicher nicht viel Geld und waren nicht sonderlich intelligent. Schlechter dran als viele andere, neigten sie zu Argwohn und Jähzorn.
»Sie sieht nicht infekschös aus«, bemerkte der Zweite.
»Ich mein’s ernst, Jungs, sie ist doch nur ein kleines Mädchen«, sagte die Verkäuferin mit Nachdruck. Auf Stellas Wangen zeichneten sich jetzt rote Flecken ab.
»Wie heißt du?«, fragte sie den ersten Mann.