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ARTHUR C. CLARKE & GREGORY BENFORD

 

 

 

JENSEITS DER DÄMMERUNG

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Widmung

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www.diezukunft.de

 

 

 

Für Mark Martin und David Brin.

Für tolle Ideen, gute Gespräche

und eine herzliche Freundschaft.

1

Die Rückkehr des Bösen

 

Die Frau schien tot zu sein. Der vierflügelige Vogel, der am blassen Nachmittagshimmel kreiste, hatte diesen Eindruck. In seinem trägen Flug zog er Achterschleifen mit der Frau am Kreuzungspunkt und behielt den Körper in seinem scharfen Blick. Er brauchte die Flügel nur hin und wieder einzusetzen, um den Kurs zu korrigieren, und überließ sich im Übrigen der Thermik über den felsigen Steilhängen. Seine Vorderflügel leiteten den Wind in die breiten Hinterflügel, die wie dünne Gaze waren und bei geringstem Energieaufwand die optimale Nutzung der Auftriebskraft gestatteten – allerdings auf Kosten der Geschwindigkeit. Aber seine genetische Ausstattung erlaubte ihm nicht, sich untätig von den Aufwinden tragen zu lassen oder der Nahrungssuche nachzugehen: Wenn er in seinem Habitat lebende Menschen entdeckte, hatte er Meldung zu machen.

Seine beträchtliche Intelligenz sagte ihm, dass diese Frau, die sich nicht bewegt hatte, seit er sie beobachtete, tot sein müsse. Er gelangte nicht durch Verstandesarbeit zu diesem Schluss, sondern durch Beobachtungsgabe und Urteilsvermögen, die seiner Art schon eigen gewesen waren, als sie von überlegtem Denken noch weit entfernt gewesen war. Die Kieselsteine um ihren Kopf waren dunkel gefärbt, und die linke Seite ihres Brustkorbs zeigte massive Blutergüsse, die sich bläulichpurpurn verfärbt hatten.

Der Vogel hatte unter den Bäumen bereits mehr als zwanzig tote Menschen gesehen, alle zu Asche verkohlt, aber keinen Lebenden. Er entschied, diesen Körper nicht zu melden. Das würde wertvolle Zeit in Anspruch nehmen, und Angehörige dieser sonderbaren, wenig eindrucksvollen Unterart des Menschen waren wegen ihrer Empfindlichkeit nur zu bekannt.

Der Vierflügler hatte ein weites, unwegsames Gebiet als Revier, dessen Nahrungsangebot er nutzen und das er überwachen und gegen mögliche Eindringlinge verteidigen musste. Lange schwebte er auf der Stelle, indem er abwechselnd mit den Vorder- und Hinterflügeln schlug, unschlüssig, wie es nur eine abwägende Intelligenz sein kann. Dann flog er davon. Seinem scharfen Auge entging nicht die winzigste Bewegung unter ihm.

Die Nachmittagsschatten waren lang geworden, als die Frau zu sich kam. Ihr leises Stöhnen ging im Murmeln des nahen Baches unter. Ihr Atem zischte zwischen ausgebrochenen Zähnen.

Ihre Witterung lockte ein Muttertier an, das seine beiden Jungen auf der Suche nach Beute den Bachlauf entlangführte. Die hilflose Frau hätte eine willkommene Mahlzeit abgegeben, aber das Muttertier sah, dass sie eindeutig jenen ähnelte, die wahrhaft regierten, obwohl ihre Witterung ganz anders war.

Sie instruierte ihre Jungen, Wesen von dieser jetzt wehrlosen, aber immer gefährlichen Gestalt zu respektieren. Dabei bediente sie sich einer Sprache, die einfach in den Worten, aber komplex in der Grammatik und Betonung war und verschiedene Bedeutungsebenen ausdrücken konnte. Sie begleitete und unterstrich die Belehrung mit entschiedenen Gesten einer Vorderpranke.

Die Witterung der weiterziehenden Familie zog einem neugierigeren Geschöpf in die Nase und weckte sein Interesse. Es war ein entfernter Abkömmling des Waschbären, mit nussbraunem und rötlichbraunem Pelz. Seine Intelligenz schätzte die Lage aus der Deckung von Dornsträuchern ein.

Er war vorsichtig, aber nicht furchtsam. Für ihn war die wichtigste Frage hier, in welcher Weise die schockierende Gegenwart der sterbenden Frau mit der ausgewogenen Bedeutung seines eigenen Lebens verflochten sein konnte. Von jeher hatte er jede Erfahrung mit seinem angeborenen Gefühl für Gleichgewicht und für einen angemessenen Maßstab integriert – tatsächlich war dies der einzige Zweck seines bewussten Daseins. Diese Integration war vollständig und jenseits menschlicher Fähigkeit, ergab sich aber mühelos aus den Ereignissen in der Entwicklung seiner Rasse, die sich über eine Milliarde Jahre erstreckte. Das Wiederaufleben seiner Art in Verbindung mit der seit einigen Jahrhunderten andauernden Renaturierung der Erde hatte ihm eine Lebensform gegeben, die in vieler Hinsicht der erbarmungswürdigen Gestalt überlegen war, die er nun aufmerksam beobachtete.

Endlich, mit einem angemessenen Verständnis der Ereignismuster, die von seinen Handlungen wie die Verästelungen eines Baumes ausgehen konnten, trottete das waschbärähnliche Tier näher heran. Es beschnüffelte die Frau. Unweit von ihr lag der scharf riechende Kot eines Aasfressers, der vor einigen Stunden des Weges gekommen war, eine Weile gezögert und dann beschlossen hatte, am Abend wiederzukommen, wenn sie tot sein würde. Diese Information überlagerte die übrigen Hintergrundaromen des Sonnenuntergangs: den Geruch abkühlenden Granits, den süßen Blütenduft und die erdig-moderige Ausdünstung von Pilzen, deren lange, unterirdische Rhizome Wasser vom murmelnden Bach die Hänge hinaufsogen.

Der geschwollene Schädel der Frau schien das schlimmste Problem zu sein. Beide Augen zeigten nur das Weiße. Mit den langen, spitz zulaufenden und einzeln beweglichen Fingern seiner Pfoten, an deren Enden kurze, gebogene Krallen saßen, befühlte er die unvertrauten Knochen unter der Haut und den Muskeln. Mehrere Rippen waren gebrochen, der rechte Arm unnatürlich im schiefen Winkel verdreht.

Diese spezifische, dem menschlichen Spektrum entnommene Form hatte in der Ursprungszeit des Waschbärenwesens nicht existiert, war also ein interessantes Rätsel. Der Körperbau war archaisch, ein Flickwerk zeitweiliger Lösungen vorübergehender Probleme. Doch mit diesen Mitteln hatte die Evolution der schwerfälligen Art im rauen Überlebenskampf der Natur zum Erfolg verholfen.

Der vierbeinige Helfer machte sich daran, den Körper zu heilen. Er wusste nicht, wie die Frau hierhergekommen war oder ob sie in irgendeiner Weise etwas Besonderes darstellte. Behutsam wendete er Techniken an, die ihm vom Umgang mit Artgenossen vertraut und zur zweiten Natur geworden waren. Er massierte Punkte dieses Körpers, von denen er wusste, dass sie durch Stimulation die Ausschüttung heilender Hormone förderten. Er erzeugte mit den Pfoten heilende Vibrationen – eine umständliche, aber in der Natur bewährte Technik. Die geschwollenen Prellungen der rechten Kopfseite behandelte er mit rhythmischen Massagen des Rückgrates. Sein feiner Tastsinn fühlte, wie die Muskeln sich allmählich entkrampften, wie Druck und Spannungen nachließen und sich im Kopf der Frau zerstreuten. Ihre Drüsenfunktionen kamen langsam wieder in Gang und schlossen innere Blutungen. Die Massage von Nacken und Bauch regte ihre inneren Organe an, das mit Abfallstoffen belastete Blut zu filtrieren.

Die anbrechende Nacht brachte neue Geräusche mit sich, von denen keines seinen aufgestellten, dreieckigen Ohren entging. Aber das Rascheln und Trippeln hier und dort, die gelegentlichen hohlen Rufe aus den Bäumen waren vertraut und bedeuteten keine Gefahr. Er ließ sich neben der bewusstlosen Frau nieder und schlief. Doch der Schlaf war leicht wie ein Hauch, und dicht darunter eine Wachsamkeit, von der die Frau nichts ahnte. Als sie unruhig wurde und unzusammenhängende Worte murmelte, merkte er, dass er sie trotz der undeutlichen Aussprache verstehen konnte.

»… fliehen … Deckung … unten … nicht sehen …«

Viel von ihrer Rede waren verworrene Fieberträume. Wenigen, vereinzelten Äußerungen entnahm er, dass die Frau mit Angehörigen ihres Stammes von einem Flugzeug erbarmungslos verfolgt worden war.

Der Stamm war nicht entkommen. Eine trockene Nachtbrise, die von den heißeren Ebenen im Westen herunterwehte, trug seiner feinen Witterung den Geruch verbrannten Fleisches zu, das in der heißen Sonne schon morgen in Fäulnis übergehen würde.

Er war angenehm überrascht, dass er die Worte der Frau verstehen konnte. Die Länder hier waren voll von Lebensformen, die aus zwei Milliarden Jahren unaufhörlicher Schöpfung stammten, und die meisten von ihnen konnten die Sprachen der anderen nicht verstehen. Diese Frau musste gelernt haben, die komplexen Sprachen fortgeschrittener Lebensformen zu verstehen.

Allerdings war er der Meinung, dass solche Kenntnisse, wenn sie durch genetische Einprägung oder ähnliche Methoden zustande gekommen waren, mehr schadeten als nützten und vielleicht eine ungesunde und arrogante Anmaßung waren. Eine frühe menschliche Lebensform wie diese konnte durch solch eine komplexe, desorientierende Kunst leicht in Verwirrung geraten. Sprache erwuchs aus einer Weltsicht. Die Fülle und das dichte Geflecht von Wahrnehmungen, das ihre gegenwärtige Sprache geformt hatten, konnte innerhalb ihres beengten geistigen Fassungsvermögens schwerlich bequem untergebracht werden.

Normalerweise stellte er die Taten der fortgeschrittenen menschlichen Lebensformen, die sich die »Supras« nannten, nicht in Frage. Aber diese schwerverletzte Frau, deren Haut geplatzt und geschürft und von tiefen Blutergüssen unterlaufen war, weckte seine Zweifel. Vielleicht rührten ihre Verletzungen unmittelbar von ihrem Wissen her.

Nach einiger Überlegung sagte ihm jedoch sein gesunder Instinkt, der das Leben wie einen staubigen Spiegel sah und nur flüchtige Abbilder der Wahrheit zeigte, dass diese Frau aus keinem gewöhnlichen Grund hier war. Also blieb er und überlegte und wachte über den schwachen, aber beharrlichen Bemühungen ihres Körpers, sich selbst zu reparieren.

In der Nacht zogen von Westen her Haufenwolken auf und über die Hügel weiter, als eilten sie einer Verabredung entgegen, die sie nicht erreichen konnten. Er roch die Zunahme der Luftfeuchtigkeit, die sie mit sich brachten, Wasserdampf, der durch Verdunstung über den Wäldern entstand. Diese großen Keile feuchtwarmer Vegetation wirkten wie unsichtbare Berge, weil sie die Luftströmungen zum Aufsteigen und Abregnen ihrer Feuchtigkeit zwangen.

Als die Wolkenfelder durchgezogen waren, erhob sich am Horizont ein mächtiges, leuchtendes Band, unregelmäßig geformt und so hell, dass es nicht aus Sternen zusammengesetzt schien, sondern aus Elfenbein oder Eis. Ausgedehnte Schleier kosmischen Staubes und Gaswolken lagen zwischen den Schwärmen strahlender Lichtquellen. Es waren die Fetzen des galaktischen Armes, eines letzten Bollwerks, welches das galaktische Zentrum abschirmte.

Der Waschbären-Abkömmling wusste, dass die Erde mit dem Sonnensystem vor unermesslich langer Zeit, bevor seine eigene Art sich herausgebildet hatte und als die Erde zum ersten Mal grün und fruchtbar gewesen war, eine Kursänderung vom äußeren galaktischen Arm nach innen erfahren hatte. Der Umfang solch eines Unternehmens entzog sich seiner Vorstellung. Legenden wollten wissen, dass die Menschen jener Zeit das Sonnensystem in die Nachbarschaft eines anderen Sternes umgelenkt hätten, eines Sternes, der kein Licht ausstrahlte.

Danach hätte eine halbe Umkreisung dieser toten, dunklen Massen dem Sonnensystem eine Richtungsänderung und eine Beschleunigung zum galaktischen Zentrum mitgeteilt. Im weiteren Verlauf hätte das Sonnensystem die Ansammlungen von Sternen und kosmischen Staub gekreuzt, aus denen die rotierenden Spiralarme der Galaxis bestanden. Die Sternbilder am Himmel hätten sich verändert. Aber diese Vorgänge, die sich durch Äonen vollzogen, seien den Lebewesen auf Erden kaum bewusst geworden. Neue Intelligenzen entwickelten sich, das Leben folgte seinem uralten Gesetz des Werdens und Vergehens.

Über die Ziele und Absichten, die mit solchen gigantischen Manövern verfolgt worden sein sollten, wussten die Legenden nichts zu berichten. Das Sonnensystem sei nun einer langgestreckten Ellipse gefolgt, deren innere Kurve das galaktische Zentrum umschließen sollte, sei als eine abgeflachte, schimmernde Kugelgestalt aus Licht in Erscheinung getreten, und um in der Nähe dieses kreisenden Bienenschwarms aus zehn Milliarden Sternen zu bleiben, sei eine weitere Begegnung notwendig geworden. Diesmal, sagte die Legende, habe die Sonne eine riesenhafte, molekulare Wolke gestreift, und der Zug der Schwerkraft habe die Bahnen der Planeten neu geordnet. Die Präzision dieser weichen Kollisionen mit der molekularen Wolke sei von einer Art gewesen, dass die neuen Planetenbahnen den Erfordernissen weiterer Projekte von kaum erfassbaren Größenordnungen hätten angeglichen werden können. Zu diesen Projekten habe das Auseinanderbrechen ganzer Welten gehört. So mächtig seien die Menschen einmal gewesen, behaupteten ihre Nachkommen.

Der Waschbären-Abkömmling wusste, wo die ihm bekannten Planeten zwischen den breiten, leuchtenden Streifen am Nachthimmel zu finden waren, aber sie verrieten ihm nicht, ob sie nur die Überlebenden jenes epischen Zeitalters grenzenlosen Ehrgeizes waren, oder ob sie schon immer dort oben ihre Bahnen gezogen hatten, unbekümmert um die Legenden, welche Menschen zu ihrer Selbsterhöhung in die Welt gesetzt hatten. Ungezählte Kometenschweife zeigten von der Sonne nach außen zu den feinen Schleiern leuchtender Gas- und Staubwolken. In dieser vielstimmigen Himmelssinfonie konnte der langsame Reigen der Planeten nicht mehr als ein Nebenthema sein.

In dieser Nacht aber störten kurzlebige Lichterscheinungen die feierliche Ruhe des Himmels. Rote und orangefarbene Lichter flammten auf und schienen einander zu verfolgen. Lautlos und verschlungen, mussten es die Signaturen eines raschen, entfernten Kampfgeschehens sein. Die hellen Lichtspuren verblassten langsam.

Sie waren die ersten Zeichen von Feindseligkeit, die seit annähernd einer Milliarde Jahren in diesen weiten Himmel geschrieben worden waren. Wie schon früher, erwuchsen sie aus den Konflikten, die dem menschlichen Geist inhärent waren, jener unglücklichen Anthologie früherer Einflüsse und Bewusstseinsstufen.

Ihre alten Gehirnpartien, angeordnet um den Saum des Zentralnervensystems, stammten aus den Entwicklungsstufen der Reptilien und frühen Säugetiere und hatten ihnen einen Hang zur Gewalt, zum Affektiven, Triebhaften und Emotionalen bewahrt. Diese alten Überreste aus ihrer Tiervergangenheit gaben den Menschen ihre gefühlsmäßige Erkenntnis der Welt.

Als der pelzige Abkömmling des Waschbären das Schauspiel am Nachthimmel beobachtete, wusste er mit der schwer erworbenen Gewissheit seiner analytischen Intelligenz, dass der Kampf, der sich dort oben abspielte, das Wiederaufleben eines alten und furchtbaren Ringens zeigte. Die Großhirnrinde des Menschen umfing die alten Tiergehirne mit unsicherem Griff. In machen Zeitaltern hatte sich dieser Griff gelockert und zu Ausbrüchen von Kreativität, kollektivem Wahn und vergeudeter Energie geführt.

Die Großhirnrinde herrschte, oberflächlich gesehen, mit ihrer Verstandesarbeit und richtete ihre Urteilskraft nach außen in die Welt. Aber immer folgten die tieferen, älteren Teile ihren eigenen Programmen und bestimmten hintergründig die Entscheidungen des vermeintlich autonomen Verstandes. Einige Formen der Gattung Mensch hatten dieses dreifaltige Gehirn nach heroischem Ringen integriert. Andere hatten die Dominanz der Großhirnrinde künstlich verstärkt, bis sie die niedrigen Teile mit vollständiger, unaufhörlicher Wachsamkeit beherrschte.

Der Abkömmling des Waschbären hatte einen davon sehr verschiedenen Verstand, Ergebnis einer Entwicklungsgeschichte, die annähernd hundert Millionen Jahre länger als die des Menschen und nicht nur von Darwin'scher Auslese geprägt war, sondern auch von sorgfältiger Zuchtwahl, die der Mensch bei sich selbst vernachlässigen zu können geglaubt hatte. Böse Ahnungen regten sich jetzt in seinem Sinn. Das breite Gesicht mit der charakteristischen, weißen Streifenmaske verriet nur die stärksten seiner komplexen Gemütsbewegungen, aber es schaute bekümmert drein und ließ ein unbehaglich seufzendes Knurren vernehmen.

Sehr wenig von der Menschheitsgeschichte hatte die Jahrtausende überlebt. Und diese wirre Geschichte, eingefärbt von widerstreitenden Interpretationen, wäre ihm ohnedies wenig interessant und schwer verständlich erschienen.

Immerhin hatte er ein untrügliches Gespür dafür, dass dieses Schauspiel am Nachthimmel kein vorübergehender Zwischenfall war, sondern ein neues Zeitalter wilder Barbarei einleitete. In der Frühzeit der Menschheitsgeschichte hatten einfachere Geister die dunklen Elemente des Lebens mit den zufälligen Tragödien identifiziert, deren Opfer die Menschen geworden waren, von Unwetter und Krankheit und den ungezählten natürlichen Bedrängnissen bis hin zu den Untaten, die Menschen einander zufügten. Diese Zeit lag in ferner, kaum vorstellbarer Vergangenheit. Jetzt war der gefährlichste Feind des Menschen wieder aufgetreten – nicht das blinde, gedankenlose Universum, sondern er selbst. Und so war das Böse auf die Erde zurückgekehrt.

2

Die Ur-Menschen

 

Die Frau verbrachte zwei Tage abwechselnd in Bewusstlosigkeit und unruhigem Halbschlaf. In den Traumphasen warf sie sich bisweilen herum, stieß heisere, unverständliche Laute aus. Ihr pelziger Wächter hatte sie sorgsam in den Schatten einiger hoher Bäume gezogen, deren Äste ein dichtes, schützendes Laubdach trugen. Er ging auf Nahrungssuche, brachte Früchte mit und hielt sie so an den Mund der Frau, dass ihr der Saft durch die geschwollene Kehle rinnen konnte, wenn er die Frucht zerdrückte. Er selbst begnügte sich mit Kleintieren, Nüssen und herabgefallenen Baumfrüchten. Seine Jagdzeit war die Dämmerung. Tagsüber lag er die meiste Zeit still, schlief seinen leichten Schlaf und fing Mäuse und Insekten, die in seine Reichweite kamen. Das war ihm genug, denn er verstand seine Kräfte zu schonen, während er die langsame, aber anhaltende Erholung der Frau überwachte.

Der Nutzanwendungen der Phantasie sind viele, und das Heilen ist nicht die geringste von ihnen. Die Frau schlief nicht nur, weil das die beste Art und Weise war, Verletzungen auszuheilen und sich zu erholen. Unter ihren zuckenden Augenlidern durchlebte sie wieder und wieder die Ereignisse, die zu ihrer gegenwärtigen Lage geführt hatten. Ihr Unterbewusstsein integrierte emotionale und physiologische Elemente, wiederholte ihre Handlungen und suchte nach Ruhepunkten im Ablauf des Geschehens, wo sie das Unheil vielleicht hätte abwenden können.

Die Erkenntnis, dass nichts den Ausgang verändert hätte, hatte etwas Tröstliches. Als sie zu dieser Schlussfolgerung gelangte, wich eine unbewusste Anspannung von ihr, und ihr Wesen begann sich allmählich wieder zur Außenwelt hin zu orientieren. Einige Erinnerungen wurden im Laufe dieses Prozesses als allzu schmerzlich verdrängt, während andere verstärkt wurden, um eine Art Gleichgewicht des Erlebten wiederherzustellen. Diese fast ohne bewusste Willensanstrengung ablaufende Bearbeitung ersparte ihr eine Bürde von Selbstvorwürfen und Ängsten, die eine frühere Entwicklungsform des Menschen noch jahrelang geplagt hätte.

Am zweiten Tag nahm ihre Unruhe zu. Einmal schien sie Töne eines Liedes zu summen. Gegen Abend erwachte sie, blickte zur spitzen, schwarzen Schnauze ihres Bewachers auf und fragte mit schwacher Stimme, aber klarem Bewusstsein: »Wie viele haben überlebt?«

»Nur du, soviel ich weiß.« Seine Stimme war tief und doch schmelzend, wie eine Bassnote, der es irgendwie gelungen war, sich durch die enge Kehle einer Flöte zu winden.

»Niemand …?« Sie blieb eine Weile still, blickte zum grünlichen Mond auf, der über den Bergen schwamm.

Dann nahm sie einen neuen Anlauf und murmelte: »Supras …«

»Sie haben das getan?«

»Nein, nein. Ich sah ein paar Menschen wie uns, in Flugzeugen. Die Supras waren … anderswo beschäftigt. Ich dachte, sie würden uns helfen.«

»Sie werden zu tun gehabt haben.« Er machte eine Kopfbewegung zum südlichen Horizont. Dort stand eine dicke, ölige Rauchsäule wie ein Grabstein aus Obsidian vor dem verblassenden Sonnenuntergang.

»Was ist es?«

»Es ist seit gestern zu sehen.« Das ferne Unheil hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt.

»Ah.« Sie schloss die Augen und sank wieder in ihren unruhigen, lidzuckenden Schlaf. Für sie war es ein schlüpfriger Abstieg in ein Labyrinth, wo zwei Regungen miteinander im Widerstreit lagen, Vergeltung und Überleben. Diese beiden Instinkte, schon alt, als die ersten Hominiden die jungfräuliche Erde durchstreiften, ließen sich schwerlich unter einen Hut bringen. Aber wenn sie den Widerspruch nicht gefühlt hätte, wäre sie in ihrer eigenen Einschätzung kein wahrer Mensch gewesen.

Am nächsten Morgen stand sie auf. Wankend und unsicher tappte sie zum Bach, wo sie sich am Ufer auf den Bauch legte und ausgiebig trank. An ihrer linken Hand fehlte ein Finger, aber als sie die erste Gewöhnung hinter sich hatte, bestand sie darauf, ihrem Gefährten bei der Suche nach Beeren und essbaren Blättern und Kräutern zu helfen. Sie sprach wenig. Als silbrige Todesengel durch den Himmel schossen, nahmen sie Deckung, aber diesmal blieben die rollenden Donnerschläge entfernter Explosionen aus, die sie von früher her kannten. Sie sprach nicht davon, was geschehen war, und ihr Gefährte fragte sie nicht.

Sie stießen auf drei verkohlte Leichen, und sie weinte über ihnen. »Ich hatte solche Waffen noch nie gesehen«, sagte sie. »Wie lebende Flammen.«

»Dein Feind achtete darauf, jeden gründlich zu verbrennen.«

Sie sortierte die verstreuten Knochen, um Merkmale zu finden. »Sie hatten seltsame Flugzeuge. Schleuderten Blitze, Explosionen.«

Als sie am Abend von ihren gesammelten Nüssen und Beeren gegessen hatte, sang sie wieder die hypnotisch-langsame Melodie, von der sie im Halbschlaf Bruchstücke gesummt hatte; ihre dunkle Stimme hing an den langen Noten. Dann füllten sich ihre Augen plötzlich mit Tränen, und sie stürzte in die Büsche davon. Später kehrte sie verlegen zurück, ein schiefes Lächeln im Gesicht, denn ihr war bewusst geworden, dass das Verbergen von Gefühlen eine menschliche Eigenart war, die dem Waschbären-Abkömmling unverständlich sein musste.

Am Morgen des dritten Tages stellte sie sich vor: »Ich bin Cley. Gebraucht ihr Namen?«

Unter seinesgleichen war es nicht üblich, Namen zu gebrauchen, aber er wusste, dass Menschen Wert darauf legten, und so sagte er: »Ich bin der Sucher nach Mustern genannt worden.«

»Also dann, Sucher, danke ich dir für alles, was …«

»Unsere Arten sind Verbündete. Nichts braucht gesagt zu werden.« Sucher nickte in einer unnatürlich anmutenden Weise mit dem Kopf, und Cley begriff mit Beschämung, dass Sucher die Menschen gründlich genug studiert hatte, um ihre Gesten zu kennen und eine bescheidene Verbeugung nachzuahmen.

»Trotzdem, ich bin dir so viel schuldig.«

»Meine Art kam lange nach der deinigen zur Erkenntnis. Wir profitierten von eurem Ringen.«

»Ich weiß nicht, ob wir euch viel Gutes getan haben.«

»Ein Leben baut auf dem anderen auf.«

Schweigend sammelten sie Beeren. Sucher konnte frei auf den Hinterbeinen stehen und die langen Finger seiner Vorderpfoten wie Hände gebrauchen, doch ermüdete ihn diese Haltung rasch. Geschickt angelte er mit den Pfoten kleine Fische aus dem kalten Bach, der über schwärzliche Kiesel strömte. Sie aßen die Fische roh, ohne Feuer zu machen, und blieben in der Deckung von Bäumen. Cley hatte den erlittenen Verlust ihrer Stammesangehörigen in mehreren Nächten verarbeitet, und der Schmerz verebbte allmählich. Ihr Körper hatte sich erholt, und Farbe war in ihre blassen Wangen zurückgekehrt. Gemeinsam suchten sie den Wald nach weiteren Opfern ab, und diese Aufgabe verlieh ihr Kraft, obwohl sie fürchten musste, was sie finden würden.

Sie war nicht verheiratet, aber sie kannte alle Stammesangehörigen wie ihre eigene Familie. Die anonymen, verkohlten Überreste waren in einer Weise ein Segen, weil sie keinen der Toten mit einer bestimmten Person in Verbindung bringen musste.

Sie verbrachten den Nachmittag mit systematischer Suche, fanden aber nur weitere verkohlte Leichen. Gegen Abend standen sie auf einem Höhenzug, blickten in ein breites Tal hinab und überlegten müde, wohin sie als Nächstes gehen sollten.

»Ich hoffe, du bist wohlauf«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Cley schrak zusammen und fuhr herum. Sucher schoss wie ein brauner Schatten ins Unterholz davon. Ein stämmiger Mann stand auf einem messingfarbenen Flugzeug, das lautlos in der Luft balancierte. Er war von rückwärts an sie herangekommen, ohne dass selbst Sucher es bemerkt hatte, und dies sagte Cley mehr als seine kräftige Gestalt und die lautlose Schnelligkeit seiner Flugmaschine. Sie hatte keine Aussicht, ihm zu entkommen. In die Sonne blinzelnd, sah sie, dass er ein Supra war.

»Ich … ja, das bin ich.«

»Einer unserer Kundschafter war nicht ganz sicher, dass alle Körper, die er sah, tot waren. Ich bin froh, dass ich beschloss, selbst nachzusehen.«

Sein Flugzeug setzte sanft auf, und er stieg herunter, ohne den Blick von Cley zu wenden. Trotz seiner massigen Gestalt bewegte er sich mit natürlicher Leichtigkeit.

»Mein Freund rettete mich.«

»Ah. Kannst du ihn bewegen, zurückzukommen?«

»Sucher! Bitte komm!«

Sie sah eine Bewegung in den Büschen, näher, als sie erwartet hatte, und der Richtung entgegengesetzt, in die er geflohen war. Er musste viel schneller sein, als er aussah. Kaum ein Blatt bewegte sich, aber sie wusste, dass er da war, noch immer auf der Hut. Der Mann lächelte ein wenig und zuckte mit der Schulter.

»Bist du gekommen, meine Leute zu begraben?«, fragte Cley mit einiger Schärfe.

»Wenn nötig, ja. Ich würde sie lieber retten.«

»Dafür ist es zu spät.«

Ein Schatten ging über seine Zunge, als er nickte. »Der Kundschafter meldete eine Anzahl verbrannter Leichen. Du bist alles, was ich gefunden habe – entzückend lebendig.«

Seine freundliche Herablassung brachte sie auf. »Wo wart ihr Supras? Sie jagten uns, schossen uns ab wie Hasen!«

Seine Züge zeigten eine rasche Folge von Gefühlsregungen, zu flüchtig, um sie im Einzelnen zu deuten. Aber er begnügte sich damit, die Lippen zusammenzupressen. Er machte eine Handbewegung zu der Rauchsäule, die am fernen Westhorizont mit der Dunkelheit zu verschmelzen begann.

»Ich dachte mir, dass ihr eure Leute verteidigen musstet«, sagte Cley, »aber hättet ihr nicht wenigstens ein paar schicken können …«

Ein schmerzlicher Zug kam in sein Gesicht, aber rasch wurde sein Mund wieder schmal, und er nickte. »Sie griffen Neues und Altes in gleicher Weise an. Wir konnten nicht feststellen, worauf sie es abgesehen hatten, und als wir es wussten, war es zu spät.«

Ihr Zorn, durch seine Verwundbarkeit einen Augenblick besänftigt, kehrte zurück wie ein bitteres Brennen in der Kehle. »Wir hatten nichts zu unserer Verteidigung!«

»Dachtest du, wir hätten Waffen?«

»Supras haben alles!«

Er seufzte. »Wir schützen durch unsere Arbeitsmaschinen, durch den Genius unserer Vergangenheit.«

»Auch in der Vergangenheit gab es Kämpfe. Ich habe gehört …«

»In der fernen Vergangenheit. Lange vor deiner Zeit. Wir …«

»Aber sie wussten, was sie wollten und wie sie es erreichen konnten. Warum nicht ihr?«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich mehrmals mit einer Schnelligkeit, die sie verwirrte. Dann verzog sich sein Mund zu einer verdrießlichen Grimasse. »Sag mir, wer sie waren, vielleicht kann ich dir dann antworten.«

»Sie?« Sie fühlte plötzlich Zweifel. »Ich dachte, ihr wüsstet es. Sie … nun, sie sahen mehr wie wir aus …«

»Nicht so sehr wie ich?«

Sie musterte ihn einen langen Augenblick. Er war stämmig und ziemlich groß, mit einem mächtigen Schädel. Seine Körpermasse musste das Doppelte der ihrigen sein. Aber seine Ohren waren klein, und seine Nase kurz und knollig, als habe sein Schöpfer sie als nachträglichen Einfall an sein Gesicht geklebt. »Ja, sie waren mehr von unserer Größe. Ihre Köpfe waren menschlich und …«

»Ur-menschlich«, verbesserte er sie zerstreut.

»Was?«

»Ach, tut mir leid. Wir nennen deine Art Ur-Menschen, weil ihr die früheste existierende Form seid.«

Sie wurde weiß um den Mund. »Und wie nennt ihr euch?«

»Ah, Menschen«, sagte er mit sichtlichem Unbehagen.

»Also waren die«, erwiderte sie, »die eure Stadt verbrannten und uns töteten, auch Ur-Menschen.«

»Hatten sie Ohrläppchen?«

»Ich – ich kann mich nicht erinnern. Es ging sehr schnell und …«

»Standen ihre Zähne weit auseinander, wie deine? Das war eine frühe Modifikation der noch älteren Hominiden, wie ich im Laufe meiner Studien beim Verwahrer der Aufzeichnungen gelernt habe.«

»Hör mal, ich …«

»Große Zahnzwischenräume verhindern, dass sich Nahrungsreste ansammeln und verfaulen. Wir machen uns dieses Prinzip zunutze, wie du sehen kannst, lassen aber zugleich in Abständen von einigen Dekaden neue Zähne nachwachsen, um die Abnutzung zu kompensieren. Wenn …«

»Glaubst du, ich hätte Zeit gehabt, so etwas zu bemerken?«

Der belehrende Ausdruck verlor sich aus den Zügen des Mannes. Er zwinkerte verwirrt. »Ich hoffe auf eure Hilfe.«

»Ihr regiert die Welt, nicht wir.«

»Das ist vorbei«, sagte er.

Sie hielt den Strom bitterer Vorwürfe zurück und fragte in ruhigem Ton: »Wer waren sie?«

»Ich weiß es nicht. Sie sahen menschlich aus.«

»Sie waren nicht wie meine Leute.«

»Natürlich nicht. Ihr habt nur die Fähigkeiten, die zur Pflege der Wälder benötigt werden. Diese Leute beherrschten eine Kriegstechnologie, die zwar unermesslich alt, aber darum nicht weniger wirkungsvoll ist.«

Er blickte besorgt zum Himmel auf und rieb sich dabei die Schulter, als leide er unter rheumatischen Schmerzen. Sie sah, dass sein leichter Arbeitsanzug fleckig und eingerissen war. »Ihr habt sie bekämpft?«

»So gut wir konnten. Wir waren überrascht worden und sahen nur Flammen, keine Leute.«

Da sagte Suchers Stimme neben ihnen: »Der Blitz kehrte dann hierher zurück, um die toten Menschen zu verbrennen.«

Cley und der Mann waren verblüfft. Dann nickte der Mann ihm anerkennend zu. »Du kannst sehr leise sein.«

»Das ist eine Kunst von uns«, sagte Sucher. »Ihr habt keine unverbrannten Menschen gefunden?«

»Noch nicht.«

»Ich bezweifle, dass ihr welche finden werdet«, sagte Sucher. »Sie sind gründlich.«

»Was haben sie mit euren Städten gemacht?«, fragte Cley.

»Komm«, sagte der Mann, ohne den Blick vom Himmel zu wenden. Sein Mund widerspiegelte eine rasche Folge von Gefühlsregungen, und er winkte Sucher mit erhobener Hand. »Guter Verbündeter, wir versammeln uns jetzt.«

Das schien Sucher zu genügen. Die messingfarbene Flugmaschine neigte sich kurz, als er an Bord sprang. Cley folgte dem Mann durch eine Luke in eine einfache Kabine. Der Supra setzte sich an die Steuerung, und das Flugzeug hob fast ohne Geräusch ab.

»Ich bin Alvin«, sagte er, als müsse jeder wissen, wer Alvin ist. Sein lockeres Selbstbewusstsein verriet ihr mehr als der Name, und sie beantwortete seine Fragen nach den letzten paar Tagen und ihren Ereignissen mit kurzen, präzisen Angaben. Sie hatte noch nie Umgang mit einem Supra gehabt, und dieser hier sollte sie nicht für sich gewinnen.

Als sie mit gleichmäßiger Beschleunigung aufstiegen, konnte Cley ihr Staunen nicht verbergen. Innerhalb weniger Augenblicke sah sie das Land, wo sie gelebt und gearbeitet hatte, zu einer kleinen Fläche in einem weitaus größeren Panorama schrumpfen. Sie sah die Berge, die sie immer bewundert hatte, zu bloßen Runzeln und Falten in einer weiten Gebirgslandschaft werden, die sich im Dunst des Horizonts verlor. Ihr Stamm war mit der grünen Vielfalt der Wälder wohl vertraut, aber den Umfang der Arbeiten, die von den Supras zur Renaturierung der Erde geleistet worden waren, hatten sie nicht gekannt. Viele schmale, braune Flüsse strömten durch enge Täler und verliehen dem zentralen Gebirgszug das Aussehen eines knotigen Rückgrates, von dem viele Nervenstränge in die gelblich braunen Wüsten führten. Schimmernde Schneefelder und Gletscher umgaben die höchsten Gipfel, aber es war deutlich zu sehen, dass sie nicht Ursprung der ungezählten Wasserläufe und Flüsse waren. Viele von diesen mussten ihren Ausgang von Quellgebieten nehmen, die außerhalb der schneebedeckten Hochgebirgszone lagen.

Cley zeigte hinunter, und bevor sie fragen konnte, sagte Alvin: »Wir speisen die Quellen aus unterirdischen Wasservorkommen. Tief unter der Oberfläche gibt es hier riesige, jahrtausendealte Grundwasserseen.«

Das Programm zur Renaturierung der Erde war erst ein paar Jahrhunderte alt, aber schon hatte es bedeutende Erfolge zu verzeichnen. Große Gebiete des trockenen Mittelkontinents waren durch naturnahe Bewässerungsmethoden wieder grün. Alvin lehnte sich müßig zurück, überließ die Flugmaschine dem Autopiloten und zeigte Cley die renaturierten Flächen, die sie überflogen. Weit entfernt am Horizont machte Cley ein Blinken wie von Glas oder Metall aus und fragte ihn, was es sei.

»Diaspar«, sagte Alvin.

»Die legendäre Stadt«, flüsterte sie.

»Sie ist durchaus real.« Sein Blick ging zum Radarschirm, der den Luftraum ringsum überwachte.

»Sind sie auch dort gewesen?«

»Die Angreifer? Nein. Ich habe keine Ahnung, warum nicht.«

»Und was ist dieser grüne Flecken? Nicht weit von Diaspar?«

»Das ist Lys.«

»Lues? Stammt die Krankheit von dort?«

»Nein! Ich weiß nicht, was ihr Ur-Menschen zu eurer Unterhaltung tut, aber ich finde solche Wortspiele nicht …«

»Ich erinnere mich nur an einen uralten Scherz.«

Alvin schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Sein Blick ging immer wieder zum Radarschirm; offenbar rechnete er mit einer Rückkehr der Angreifer. Wie diese so plötzlich auftauchen und wieder verschwinden konnten, ohne dass es den Supras gelungen war, ihnen auf die Spur zu kommen, war ihr ein Rätsel. Aber die Erde war groß, und ihre ausgedehnten Landmassen boten viele Verstecke.

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Die Bibliothek des Lebens

 

Im Niedergehen folgten sie dem langgezogenen Kamm eines schneebedeckten Gebirges. Cley wunderte sich, dass die ragenden Gipfel, aus dieser Perspektive gesehen, zerknüllten Säcken glichen, die jemand achtlos auf einen gelbbraunen Tisch geworfen hatte. All die charakteristischen Eigenheiten und unverwechselbaren Formen individueller Berggestalten, den Bewohnern der Gebirgsländer vertraut und lieb, waren aus der Höhe kaum noch erkennbar, aufgegangen in der Gleichförmigkeit der gefalteten Ketten und ihrer Seitenäste. Sie wusste nicht, und Alvin sagte es ihr nicht, dass auch die Gebirge vergängliche Merkmale waren, vom langsamen Walzer der Kontinente zusammengeschobene Schlacke.