ARTHUR C. CLARKE & GENTRY LEE
DIE NÄCHSTE BEGEGNUNG
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
www.diezukunft.de
NICOLES TAGEBUCH
IM NODUS
TREFFPUNKT MARS
EPITHALAMION
DER PROZESS
Danksagung
29-12-2200
Vor zwei Nächten – auf der Erde war es 10:44 Greenwich-Zeit – begrüßte Simone Tiasso Wakefield das Licht des Universums. Es war eine unglaubliche Erfahrung für mich. Ich hatte geglaubt, dass mir sehr starke Gefühlsregungen schon früher widerfahren seien, doch kein Ereignis in meinem Leben – nicht der Tod meiner Mutter, nicht das Olympische Gold in Los Angeles und die sechsunddreißig Stunden mit Prinz Henry, ja nicht einmal die Geburt Genevièves unter der wachsamen Obhut meines Vaters in der Gynäkologie in Tours – war dermaßen intensiv gewesen wie meine Freude und Erleichterung, als ich dann Simones ersten Schrei hörte.
Michael hatte geweissagt, das Kind werde am Weihnachtstag kommen. Auf seine gewohnte liebe Art eröffnete er uns, er glaube, dass Gott uns »ein Zeichen geben« werde, indem er unser Kosmos-Kind am angeblichen Geburtstag des Jesus aus Nazareth in die Welt kommen lassen wollte. Richard spöttelte darüber; das tut mein Mann immer, wenn Michael sich von seinem religiösen Eifer ins Absurde treiben lässt. Doch als dann am Heiligen Abend die ersten heftigen Wehen einsetzten, wurde auch er – beinahe – bekehrt.
Ich schlief unruhig in dieser Nacht. Und kurz vor dem Erwachen hatte ich einen geheimnisvollen, sehr lebhaften Traum. Ich schlenderte an unserm Teich in Beauvois entlang und spielte mit meinem zahmen Erpel Dunois und seinen Wildentengefährten, als ich eine Stimme hörte, die mich rief. Ich erkannte die Stimme nicht, doch ich wusste bestimmt, es war die einer Frau. Sie sagte zu mir, dass die Geburt extrem schwer sein und dass ich meine ganze Kraft brauchen würde, um mein zweites Kind zu gebären.
Am Weihnachtstag, nachdem wir die schlichten Geschenke getauscht hatten, die jeder heimlich bei den Ramanern »bestellt« hatte, begann ich damit, Michael und Richard Anweisungen für eventuell auftretende Komplikationen zu geben. Ich glaube, Simone wäre tatsächlich am Weihnachtstag geboren worden, wäre ich mir in meinem Rationaldenken nicht dermaßen darüber klar gewesen, dass keiner der beiden Männer auch nur entfernt darauf vorbereitet oder fähig war, mir bei ernsten Schwierigkeiten zu helfen. Also zögerte womöglich allein meine Willensentscheidung die Geburt um diese zwei letzten Tage hinaus.
Eine der Komplikationen, die wir zu Weihnachten durchsprachen, war eine Steißlage des Kindes und was dabei zu tun sein würde. Ein paar Monate früher, als mein ungeborenes Mädchen sich noch in meinem Bauch bewegen konnte, war ich mir recht sicher, dass sie in Kopflage war. Aber ich glaubte dann, sie hätte sich in der letzten Woche gedreht, ehe sie in die Geburtslage fiel. Ich diagnostizierte nur teilweise richtig. Es gelang ihr, mit dem Kopf voraus in die Geburtspassage vorzustoßen; aber das Gesichtchen war nach oben gewandt, und nach den ersten heftigeren Kontraktionen verklemmte sich ihr Köpfchen im Becken.
Auf der Erde hätte der Gynäkologe wahrscheinlich einen Kaiserschnitt gemacht. Ganz sicher aber hätten Ärzte darauf geachtet und rechtzeitig alles mit ihren Robotinstrumenten unternommen, um Simones Kopf zu drehen, ehe er sich in einer derart unbequemen Lage festklemmte.
Gegen das Ende zu waren die Schmerzen unerträglich. Zwischen den heftigen Presswehen, die das Kind gegen meine unnachgiebigen Knochen stießen, versuchte ich, Michael und Richard Anweisungen zuzubrüllen. Richard erwies sich als fast völlig nutzlos. Er kam mit meinen Schmerzen (oder »der Sauerei«, wie er das später nannte) nicht zurecht, und schon gar nicht mit der Episiotomie oder dem Einsatz der behelfsmäßigen Forzeps, die uns die Ramaner geliefert hatten. Michael (der Himmel segne seine Courage!), schweißtriefend trotz der niederen Temperatur im Raum, mühte sich tapfer, meinen manchmal wirren Anweisungen Folge zu leisten. Er setzte das Skalpell aus meinem Bereitschaftskoffer an und dann, nachdem er mich so etwas weiter geöffnet und nur kurz – wegen des vielen Blutes – gezögert hatte, ertastete er Simones Köpfchen mit der Zange. Beim dritten Versuch gelang es ihm irgendwie, sie in den Geburtstrakt zurückzuschieben und sie umzudrehen, so dass sie herauskommen konnte.
Die Männer schrien alle beide, als der Kopf in der Scheide auftauchte. Ich konzentrierte mich weiter auf den Atemrhythmus und hatte Angst, dass ich das Bewusstsein verlieren könnte. Trotz der grässlichen Schmerzen brüllte auch ich vor Freude, als meine nächste gewaltige Kontraktion Simone hinaus- und in Michaels Hände trieb. Da er der Vater war, oblag Richard die Aufgabe, die Nabelschnur zu durchtrennen. Als er das geschafft hatte, hob Michael Simone hoch, damit ich sie sehen könne. »Ein Mädchen«, sagte er mit tränenfeuchten Augen. Er legte sie mir behutsam auf den Bauch, und ich schob mich ein wenig hoch, um sie mir anzuschauen. Mein erster Eindruck war, dass sie genauso aussah wie meine Mutter.
Ich zwang mich, präsent zu bleiben, bis die Nachgeburt entfernt war und ich mit Michaels Hilfe die Schnitte genäht hatte, die er mit dem Skalpell gemacht hatte. Dann brach ich zusammen. Ich erinnere mich an nichts aus den folgenden vierundzwanzig Stunden. Ich war von den Wehen und der Geburt (die Wehen kamen in Fünfminutenabständen über elf Stunden hin, bevor Simone endlich geboren war), dass ich bei jeder Gelegenheit wegschlief. Mein neues Babytöchterchen trank bereitwillig, völlig ohne Drängen, und Michael behauptet, sie hätte auch ein paar Mal die Brust genommen, als ich nur halbwach war. Die Milch schießt mir jetzt sofort in die Brüste, sobald Simone zu saugen beginnt. Und sie schmatzt ganz befriedigt, wenn sie fertig ist. Ich freue mich ungeheuer, dass meine Milch ihr bekommt – ich hatte gefürchtet, es könnte sich hier das gleiche Problem wie bei Geneviève ergeben.
Einer von den beiden ist immer bei mir, wenn ich wach werde. Bei Richard wirkt das Lächeln auf seinem Gesicht immer ein wenig gezwungen, aber ich freue mich dennoch darüber. Michael kommt immer gleich zur Sache und legt mir Simone in die Arme oder an die Brust, sobald ich wach bin. Er nimmt sie sicher und sachgerecht auf, auch wenn sie brüllt, und brummelt dabei die ganze Zeit: »Sie ist so schön.«
In diesem Moment schläft Simone neben mir. Sie ist in eine von den Ramanern gemachte »Decke« gehüllt (es ist höchst schwierig, stoffliche Eigenschaften, insbesondere qualifizierende wie »weich«, durch irgendeinen der quantitativen Begriffe zu definieren, die unsre Gastgeber begreifen können). Und ja, Simone sieht wirklich meiner Mutter ähnlich. Ihre Haut ist recht dunkel, wahrscheinlich sogar dunkler als meine, und der Haarschopf auf ihrem Schädel ist jettschwarz. Ihre Augen sind von einem tiefen Braun. Angesichts des noch konisch durch die Geburtskomplikationen deformierten Kopfes fällt es nicht leicht, Simone als »schön« zu bezeichnen. Aber selbstverständlich hat Michael recht. Sie ist hinreißend schön. Ich sehe mit meinen Augen bereitwillig in dem anfälligen, rötlichen Wurm, dem Geschöpf, das mit solch wilder Hektik atmet, die vorhandene Schönheit. Gegrüßt seist du in der lebendigen Welt, Simone Wakefield.
06-01-2201
Habe seit zwei Tagen Depressionen. Und ich bin müde, ach, so müde. Obwohl mir natürlich klar ist, dass ich an dem typischen Postpartial-Syndrom leide, ist es mir bisher nicht gelungen, meine Gefühle der Niedergeschlagenheit zu überwinden.
Heute morgen war es am schlimmsten. Ich erwachte früher als Richard und lag dann still auf meiner Seite der Schlafmatte. Ich schaute zu Simone hinüber, die friedlich in ihrer ramanischen Wiege an der Wand schlummerte. Und trotz der Liebe, die ich für sie fühlte, gelang es mir nicht, irgendwelche positiven Vorstellungen über ihre Zukunft zu denken. Das ganze glühende Ekstasegefühl, das ich bei ihrer Geburt empfand und das dann noch zweiundsiebzig Stunden lang anhielt, war restlos verschwunden. Durch meinen Kopf schoss ein unablässiger Strom von hoffnungslosen Vorstellungen und nicht zu beantwortenden Fragen. Wie wird dein Leben sein, meine kleine Simone? Und wie könnten wir, deine Eltern, dafür sorgen, dass du glücklich lebst?
Mein Kleines, mein Liebling, du lebst hier mit deinen Eltern und ihrem getreuen Freund Michael O'Toole in einem Höhlenbau im Untergrund an Bord eines riesenhaften Raumschiffs, das von außerhalb des Sonnensystems stammt. Die drei erwachsenen Wesen, denen du in deinem Leben begegnen wirst, sind alle Kosmonauten vom Planeten Erde und waren Angehörige der »Newton«-Besatzung, die vor fast einem Jahr mit einem Erkundungsauftrag gestartet wurde, um eine zylindrische Kleinwelt, die wir »Rama« nannten, zu erforschen. Deine Mutter, dein Vater und der General, Michael O'Toole, waren die einzigen Menschen an Bord dieses fremden Raumschiffs, als Rama plötzlich den Kurs änderte, um dem Angriff einer mit Nuklearsprengköpfen bestückten Raketenphalanx zu entkommen, die von Irrsinnigen auf der Erde abgeschossen worden war.
Droben über unsrem Höhlenbunker liegt eine Inselstadt von rätselhaften, bis in die Wolken ragenden Türmen, die wir New York genannt haben. Darum herum breitet sich ein Eismeer, das ringförmig im Innern des gewaltigen Raumschiffes angelegt ist und es in zwei Hälften teilt. In diesem Moment sind wir – nach den Berechnungen deines Vaters – knapp innerhalb der Jupiterbahn (obwohl dieser gewaltige Gasballon sich weit entfernt befindet, auf der andren Seite der Sonne) und bewegen uns auf einer hyperbolischen Bahn, die uns schließlich und endgültig aus dem Sonnensystem hinaustragen wird. Wir wissen nicht, wohin die Reise geht. Wir wissen nicht, wer dieses Raumfahrzeug gebaut hat, und zu welchem Zweck. Wir wissen, dass es an Bord noch weitere Passagiere gibt, aber wir haben nicht die geringste Ahnung, woher sie gekommen sind, und außerdem haben wir einigen Grund zu vermuten, dass wenigstens einige von ihnen uns feindlich gesonnen sein könnten.
Während der letzten zwei Tage kreisten meine Gedanken immer und immer wieder um dies gleiche Schema. Und jedes Mal gelange ich zu der gleichen bedrückenden Schlussfolgerung: Es ist unverzeihlich, dass wir als angeblich reife, erwachsene Personen solch ein hilfloses, unschuldiges Lebewesen einer Umwelt aussetzen, von der wir so wenig wissen, die wir kaum begreifen und über die wir absolut keine Kontrolle besitzen.
Ziemlich früh heute morgen, kaum war mir eingefallen, dass es ja mein siebenunddreißigster Geburtstag war, begann ich zu weinen. Zuerst still und lautlos, doch als mir dann die Erinnerungen an alle vergangenen Geburtstage durch den Kopf schossen, begann ich heftig zu schluchzen. Ich fühlte einen schmerzhaft stechenden Kummer – nicht nur Simones wegen, sondern auch um mich selbst. Und wie ich mir so unseren prachtvollen blauen Ursprungsplaneten vorstellte und dass es ihn in Simones Leben nicht geben würde, fragte ich mich immer wieder: Warum nur habe ich ein Kind ins Leben gelassen, mitten hinein in diese – Sauerei?
Wieder dieses Wort. Eins von Richards Lieblingsworten. Bei ihm hat es praktisch unbegrenzte Anwendungsmöglichkeiten. Alles, was chaotisch ist und/oder der Kontrolle entzogen, egal ob ein technisches Problem oder eine häusliche Krise (etwa ein Eheweib, von heftiger post-partialer Depression gepackt, schluchzend), alles wird mit dem Wort »Sauerei« bezeichnet.
Die Männer waren heute früh keine große Hilfe. Ihre oberflächlichen Tröstungsversuche verstärkten im Gegenteil meine Trübseligkeit nur noch mehr. Frage: Wieso nimmt eigentlich fast jeder Mann, wenn er es mit einer unglücklichen Frau zu tun hat, sofort an, dass ihre Gefühlslage etwas mit ihm zu tun haben müsse? Aber hier bin ich nicht fair. Michael hatte selbst drei Kinder, weiß also doch ungefähr, wie ich mich fühle. Er fragte fast immer bloß, was er tun könne, um mir zu helfen. Aber Richard ersoff geradezu in meinen Tränen und verging vor Angst, als er erwachte und mich weinen hörte. Typischerweise dachte er zuerst, ich hätte irgendwie schreckliche körperliche Schmerzen. Er war dann auch nur ein bisschen beruhigt, als ich ihm erklärte, dass ich »nur« deprimiert bin.
Nachdem also grundsätzlich geklärt war, dass nicht er an meinem Emotionstief schuld sei, hörte mir Richard stumm zu, während ich ihm meine Bekümmertheit über Simones weiteres Leben, ihre Zukunft darlegte. Ich gebe es zu, ich war leicht überdreht, aber er begriff anscheinend überhaupt NICHTS von dem, was ich ihm sagte. Er wiederholte nur immer wieder dasselbe – dass Simones Zukunftschancen nicht ungewisser seien als die von uns drei – und meinte anscheinend, dass meine Depression damit sofort verschwinden müsste, weil es keinen logischen Grund dafür gebe, dass ich dermaßen durcheinander bin. Schließlich, nach einstündiger Fehlkommunikation, gelangte Richard zu dem korrekten Schluss, dass er mir keine Hilfe sei, und entschied sich, mich in Ruhe zu lassen.
(Sechs Stunden später) Fühle mich jetzt besser. Immer noch drei Stunden, bis ich meinen Geburtstag hinter mir habe. Wir haben am Abend ein kleines Fest veranstaltet. Bin gerade mit dem Stillen fertig, Simone liegt wieder neben mir. Michael ging vor etwa einer Viertelstunde in sein Gemach am andern Ende der Halle. Fünf Minuten, nachdem Richard den Kopf auf das Kissen gelegt hatte, war er weggeschlafen. Auf meine Bitte hin hatte er den ganzen Tag lang an der Verbesserung der Windelqualität gearbeitet.
Er hat Spaß dran, unsere Interaktionen zu beaufsichtigen und zu katalogisieren, die wir mit den Ramanern haben – oder wer immer die Computer bedient, die wir über die Tastatur in unserem Zimmer aktivieren. Wir haben in dem dunklen Tunnelgang direkt hinter dem schwarzen Bildschirm bisher noch nie irgendwen oder irgendwas gesehen. Also wissen wir nicht mit Gewissheit, ob es dort hinten wirklich Lebewesen gibt, die auf unsere Bitten/Bestellungen reagieren und ihre Produktionsstätten anweisen, die verschiedensten Dinge für uns zu fertigen, aber wir finden es praktisch und angemessen, von unseren Gastgebern und Wohltätern als den »Ramanern« zu sprechen.
Das Kommunikationsverfahren zwischen »ihnen« und uns ist zugleich kompliziert und direkt. Kompliziert insofern, als wir Bilddarstellungen auf dem schwarzen Schirm benutzen, um mit ihnen zu »reden«, und präzise quantitative mathematische, physikalische und chemische Formeln. Und direkt ist die Kommunikation, weil unsere Text-Inputs über die Tastatur tatsächlich in verblüffend einfacher Syntax abgefasst sind. Der häufigst benutzte Satz ist »Wir möchten« oder »Wir wollen« (natürlich haben wir keine Ahnung, was das exakte translatorische Äquivalent unserer Bitte ist, wie könnten wir auch, und nehmen einfach nur an, dass wir höflich sind – es könnte durchaus sein, dass die von uns aktivierten Anweisungen als grobschlächtige unfeine Befehle »drüben« erscheinen, die immer gleich beginnen: »Gib uns …«). Dann schicken wir eine Detailbeschreibung dessen nach, das wir gern »geliefert« haben möchten.
Im chemischen Bereich ist es am schwierigsten. Primitive alltägliche Dinge wie Seife, Papier oder Glas sind chemisch von höchst komplexer Beschaffenheit, und es ist oft extrem schwer, die Zahl und Art der chemischen Komponenten exakt zu spezifizieren. Wie Richard bei seiner Arbeit an Tastatur und Schwarzschirm anfangs feststellte, mussten wir zusätzlich auch noch Produktionsverfahren umrisshaft entwerfen, darunter beispielsweise den Temperaturbereich, in dem sie ablaufen mussten, oder wir riskieren, dass die uns gelieferten Produkte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gewünschten aufweisen. Der Bestellvorgang führt zu zahllosen empirischen Versuchen und Fehlschlägen. Anfangs war die Interaktion sehr wenig effizient und ziemlich frustrierend. Wir wünschten alle drei, dass wir im Chemieunterricht im College besser aufgepasst hätten. Aber unsre Unfähigkeit, uns auf diese Weise mit den ganz alltäglichen Annehmlichkeiten zu versorgen, führte dann wesentlich zu unsrer Großen Exkursion (wie Richard sie zu nennen beliebt), die wir vor vier Monaten durchführten.
Zu dem Zeitpunkt lag die Raumtemperatur über dem Boden in New York wie im restlichen Rama bereits fünf Grad unter dem Gefrierpunkt, und Richard hatte die Bestätigung errechnet, dass das Zylindrische Meer wieder von massivem Eis bedeckt sei. Ich machte mir immer größere Sorgen, weil wir auf die Geburt des Kindes nicht angemessen vorbereitet waren. Es dauerte alles viel zu lang, bis wir irgend etwas schafften. Zum Beispiel hatte es sich als ein monatelanges Unternehmen herausgestellt, eine funktionstüchtige Toilette zu »bestellen« und sie dann zu installieren, und das Ergebnis war dann schließlich auch nur recht kläglich in seiner Funktion. Fast die ganze Zeit war es unser Hauptproblem, dass wir unseren Gastgebern fortgesetzt mangelhafte Wunschspezifikationen lieferten. Manchmal allerdings kamen die Schwierigkeiten von den Ramanern. Sie informierten uns mehrmals über unsere Interlingua von mathematischen und chemischen Symbolen, dass es ihnen nicht möglich sei, innerhalb der gewünschten Zeitspanne einen von uns erbetenen speziellen Gegenstand herzustellen.
Jedenfalls verkündete Richard eines Morgens, er beabsichtige, unsere sichere Höhle zu verlassen, und wolle versuchen, sich zu dem immer noch angedockten Militärschiff unserer Newton-Expedition durchzuschlagen. Als Zweck gab er an, dass er die Hauptkomponenten der wissenschaftlichen Datenspeicherung aus den Schiffscomputern herausholen wollte (was uns unendlich dabei helfen konnte, unsere Wünsche den Ramanern gegenüber zu formulieren); aber er gestand auch ein, dass er vor Gier nach etwas »Anständigem zu essen« fast außer sich war. Es war uns gelungen, dank der chemischen Nahrungspräparate, die uns die Ramaner gaben, am Leben und sogar gesund zu bleiben. Allerdings schmeckte das Zeug entweder nach gar nichts oder abscheulich.
Ich muss in aller Fairness sagen, dass unsere Gastgeber stets korrekt auf unsere Wünsche eingingen. Zwar konnten wir so ganz allgemein die wesentlichen chemischen Bestandteile darstellen, die unser Körper benötigte, aber keiner von uns hatte sich je eingehender mit dem komplexen Biochemismus befasst, der in Gang kommt, wenn wir etwas schmecken. In diesen frühen Tagen war Essen eine Überlebensnotwendigkeit, aber niemals ein Vergnügen. Manchmal fiel es uns schwer, ja war fast unmöglich, die »Pampe« zu schlucken. Und mehr als einmal würgten wir die Mahlzeiten wieder hinaus.
Fast einen ganzen Tag lang diskutierten wir drei das Für und Wider der »Großen Exkursion«. Ich war im Stadium der schwangerschaftsbedingten »Magenverstimmungen« und fühlte mich ganz und gar unwohl. Und obwohl mir die Vorstellung, ganz allein hier in unserem Bau zu bleiben, überhaupt nicht behagte, während die beiden Männer über das Eis zogen, den Rover aufspürten, über die Zentralebene fuhren und dann die vielen Kilometer bis zum Alpha-Relais hinaufkletterten oder im Lift fuhren, aber ich musste zugeben, dass sie einander in vieler Hinsicht würden helfen können. Und ich gab ihnen natürlich recht: Ein Solotrip wäre einfach sträfliche Tollkühnheit gewesen.
Richard war ziemlich fest davon überzeugt, dass der Rover noch einsatzbereit sein würde, war aber weniger optimistisch beim Sessellift. Wir diskutierten ziemlich lang darüber, wie stark das Militärschiff der Newton-Expedition beschädigt sein könnte, da es ja außerhalb Ramas den Nuklearfeuern ausgesetzt gewesen war, die außerhalb des schützenden Netzschildes ausgebrochen waren. Richard schloss aus der Tatsache, dass keine sichtbaren Beschädigungen der Schiffsstruktur festzustellen waren (er benutzte unseren Einstieg in den Output der ramanischen Sensoren, und wir konnten den Militärtrakt des Newton-Schiffs mehrfach im Verlauf der letzten Monate auf dem schwarzen Schirm sehen), es möglich sei, dass Rama selbst unabsichtlich das Schiff gegen sämtliche Nuklearexplosionen abgeschirmt haben könne, und dass es demzufolge vielleicht auch im Schiffsinneren keine Strahlenschäden gegeben habe.
Ich sah die Sache pessimistischer. Ich hatte mit den Environment-Technikern an der Abschirmung des Raumschiffs zusammengearbeitet und wusste eigentlich ganz gut Bescheid, was die Strahlungsempfindlichkeit sämtlicher Teilsysteme der Newton angeht. Ich war zwar der Meinung, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die wissenschaftliche Datenbasis noch intakt sein werde (sowohl die Prozessoren wie sämtliche Speichereinheiten waren aus strahlungsgehärteten Teilen gefertigt worden), aber ich war mir praktisch sicher, dass der Proviant kontaminiert sein müsste. Uns allen war bekannt, dass unsere Nahrungsvorräte an einem relativ ungeschützten Platz gelagert waren. Vor dem Start hatte jemand sogar Bedenken geäußert, dass ein unvorhergesehenes Aufflammen der Sonnenkorona genug Strahlung verstreuen könnte, dass die Nahrungspacks nicht mehr zum Verzehr geeignet sein würden.
Vor dem Alleinsein für die paar Tage oder eine Woche, die »meine« Männer für den Ausflug zum Militärschiff und zurück benötigen würden, fürchtete ich mich nicht. Mir bereitete es weit größere Sorgen, dass vielleicht einer oder alle beide nicht mehr zurückkehren würden. Das hatte nicht etwa bloß mit den Oktarachniden zu tun oder mit irgendwelchen anderen fremdartigen Geschöpfen, die in dem gigantischen Raumschiff möglicherweise neben uns hausen mochten. Es gab auch gewaltige Unsicherheitsfaktoren, was unsere Umgebung betraf, die in Erwägung zu ziehen waren. Was war, wenn Rama plötzlich wieder eine Kursänderung vornahm? Und was, wenn sich andere unvorhergesehene Umstände einstellten und sie es nicht mehr bis nach New York zurück schafften?
Richard und Michael versicherten mir, dass sie kein unnötiges Risiko eingehen würden, dass sie nichts weiter unternehmen würden, als zum Militärschiff zu gelangen und dann wieder zurück. Aufgebrochen sind sie dann kurz nach Anbruch der Dämmerung unsres achtundzwanzigstündigen Rama-Tages. Es war das erste Mal, dass ich wieder völlig allein war – seit meinem langen einsamen Aufenthalt in New York, als ich in die Grube fiel. – Aber natürlich war ich gar nicht wirklich allein … ich fühlte ja doch, wie Simone in meinem Bauch herumstrampelte. Es ist ein verwirrendes, bestürzendes Gefühl, wenn man ein Baby im Bauch trägt. Ich kann es nicht beschreiben, aber es ist wunderbar zu wissen, dass da in einem eine zweite lebendige Seele atmet. Besonders da dieses Kind in wesentlichen Teilen aus deinem eigenen Genmaterial besteht. Es ist wirklich ein Jammer, dass Männern die Erfahrung der Schwangerschaft versagt ist. Wenn sie selber Kinder austragen könnten, vielleicht würden sie dann begreifen, warum wir Frauen uns immer so große Sorgen um die Zukunft machen.
Am dritten Tag nach dem Aufbruch der Männer hatte ich mir einen ziemlich heftigen Fall von fieberhaftem »Kabinenkoller« erlaubt. Ich beschloss, aus unsrem Bau zu kriechen und einen Streifzug durch New York zu machen. In Rama war es dunkel, aber ich war derart ruhelos, dass ich trotzdem loszog. Die Luft war recht kalt. Ich zurrte den Reißverschluss meiner dicken Arbeitsjacke über meinem vorstrebenden Bauch fest zu. Ich war kaum ein paar Minuten unterwegs, als ich in der Ferne einen Laut hörte. Ein kalter Schauder lief mir das Rückgrat entlang, und ich blieb abrupt stehen. Der Adrenalinschub übertrug sich offenbar auch in Simones System, denn sie begann heftig zu stoßen, während ich auf dieses Geräusch lauschte. Eine Minute später hörte ich es erneut – das Geräusch, das Besen hervorrufen, die über eine Metallfläche gleiten, und daneben noch ein hochfrequentes Wimmern. Das Geräusch war unmissverständlich: In New York wanderte zweifellos eine Achtbeinspinne umher. Ich zog mich hastig in unsere Höhle zurück und wartete dort auf die Morgendämmerung in Rama.
Als es hell war, stieg ich wieder nach New York hinauf und wanderte herum. In der Nähe dieser merkwürdigen Scheune, in der ich in die Grube gestürzt war, kamen mir plötzlich Zweifel, ob unsere Schlussfolgerung richtig sei, dass diese Oktarachniden sich nur nachts zeigen sollten. Richard hat von Anfang an fest behauptet, dass es sich um nachtaktive Geschöpfe handle. In den ersten zwei Monaten nach unsrem Vorbeizug an der Erde und ehe wir unseren Schutzrost bauten, der unwillkommene Besucher hindert, in unsere Höhle herabzusteigen, stellte Richard eine Reihe grober Empfänger (er hatte da noch nicht gelernt, den Ramanern exakte Angaben zum Bau von elektronischen Geräten zu vermitteln) um den Bau der Oktarachniden auf und gewann damit, wenigstens zu seiner eigenen Befriedigung, die Gewissheit, dass sie stets nur nachts an die Oberfläche kamen. Schließlich entdeckten die Oktos diese Monitore und zerstörten sie, aber erst als Richard stichhaltige – wie er meinte – Daten für seine Hypothese gewonnen hatte.
Für mich allerdings war diese Hypothese keine Beruhigung, als ich plötzlich aus der Richtung unserer Höhle ein lautes, mir unvertrautes Geräusch vernahm. Ich befand mich zu dem Zeitpunkt in der Scheune und starrte in die Grube, in der ich vor neun Monaten fast gestorben wäre. Sofort begann mein Puls zu rasen, meine Haut zu prickeln. Am stärksten beunruhigte mich, dass das Geräusch sich zwischen mir und meinem ramanischen Heim befand. Vorsichtig schlich ich mich an das intermittierende Wimmern an und spähte dabei immer erst um Gebäudeecken, ehe ich mich weiterwagte. Schließlich fand ich die Lärmquelle. Richard zerschnitt mit einer Kettensäge in Miniaturformat, die er aus der Newton mitgebracht hatte, ein Gitter.
Im Moment stritt er gerade mit Michael. Das Flechtgitter war relativ klein, etwa fünfhundert Knoten insgesamt auf einem Rechteck von ungefähr drei Metern Seitenlänge, und an einem dieser niederen Schuppen befestigt, etwa hundert Meter östlich von unserem Schachteinstieg entfernt. Michael behauptete, dass es unklug sein könnte, das Geflecht mit der Bandsäge anzugehen. Als sie meiner ansichtig wurden, rechtfertigte Richard sich gerade, indem er die Nützlichkeit des elastischen Materials pries.
Wir umarmten und küssten uns alle drei erst einmal ein paar Minuten lang, dann berichteten sie über ihre Große Exkursion. Es sei ein unkomplizierter Trip gewesen. Der Rover und der Sessellift funktionierten problemlos. Die Instrumente zeigten an, dass die Strahlung im Militärschiff überall noch relativ hoch war, darum blieben sie nicht lange und brachten auch keine Nahrung mit. Die wissenschaftlichen Basisdatenspeicher dagegen waren in gutem Zustand. Richard hatte seine Datenkompressions-Unterprogramme eingesetzt und ein Gutteil der Basisdaten auf Würfel übertragen, die für unsere tragbaren Computer kompatibel waren. Sie hatten überdies auch einen schweren Rucksack voll Werkzeug mitgebracht (darunter eben auch diese Mini-Kettensäge), von denen sie dachten, dass sie uns bei der Vervollkommnung unserer Wohnungseinrichtung nützlich werden konnten.
Von da an arbeiteten Richard und Michael unablässig – bis zur Geburt von Simone. Dank der chemischen Informationsdaten aus dem Zentralspeicher war es jetzt einfacher, bei den Ramanern zu bestellen, was wir brauchten. Ich experimentierte sogar mit harmlosen Estern und andren einfachen organischen Stoffen, die ich über unser Essen streute, was in der Tat zu einer gewissen Geschmacksverbesserung führte. Michael baute sich sein Zimmer fertig. Simones Wiege wurde gebastelt, und Bad und Toilette unendlich verbessert. Trotz aller Beschränkungen sind unsere Lebensumstände inzwischen recht annehmbar geworden. Vielleicht bald schon … doch, hör und lausche! Von meiner Seite dringt ein leises Klagen. Zeit, meine Kleine zu füttern.
Bevor die letzten dreißig Minuten meines Geburtstags ebenfalls Geschichte sind, möchte ich noch einmal diese lebhaften Bilder meiner früheren Geburtstage heraufbeschwören, die meine Depression heute morgen so katalytisch beeinflussten. Mein Geburtstag war für mich schon immer das bedeutendste Ereignis des ganzen Jahres. Die Zeitspanne zwischen Weihnachten und Neujahr ist etwas Besonderes, aber auf andere Art, denn da feiern ja alle Leute. Der eigene Geburtstag dagegen kreist eben direkt um uns als Individuum. Ich habe meinen Geburtstag immer dazu benutzt, Bilanz zu ziehen und über den weiteren Verlauf meines Lebens nachzudenken.
Wenn ich mir Mühe gäbe, ich könnte mich wahrscheinlich an Einzelheiten von jedem meiner Geburtstage erinnern, seit ich fünf Jahre alt war. Aber natürlich sind manche Erinnerungen schärfer als andere. Heute früh riefen viele der Erinnerungen an die früheren Feiern starke Nostalgiegefühle, eine heftige Sehnsucht nach meiner Heimat, in mir herauf. Depressiv, wie ich war, haderte ich mit mir und gegen meine Unfähigkeit, Simone ein ordentliches, gesichertes Leben aufzubauen. Doch selbst auf dem Tiefstpunkt der Depression und angesichts der Erkenntnis, wie unendlich prekär unser hiesiges Leben ist, kam mir nicht wirklich der Wunsch, Simone wäre besser nicht hier bei mir, um das Leben mit mir zu erfahren. Nein, sie und ich sind Reisende, einander durch das tiefste Band der Mutter-Kindschaft verbunden, und haben beide dieses Wunder der Bewusstheit gemein, das wir »Leben« nennen.
Ich habe früher schon eine ähnliche Bindung erfahren, nicht nur mit meiner Mutter und meinem Vater, sondern auch mit meiner ersten Tochter Geneviève. Hmm. Es ist erstaunlich, dass die Bilderinnerungen an meine Mutter mir noch immer so klar und scharf im Gedächtnis geblieben sind. Dabei ist sie vor siebenundzwanzig Jahren gestorben, da war ich erst zehn, aber sie hinterließ mir eine Fülle wundervollster Erinnerungen. Mein letzter Geburtstag mit ihr war ganz außergewöhnlich. Zu dritt nahmen wir den Zug nach Zentral-Paris. Mein Vater hatte sich in seinen neuen Anzug aus Italien geworfen und sah extrem gut aus. Meine Mutter hatte eine ihrer vielfarbigen auffallenden »Eingeborenen«-Roben gewählt. Und dazu ihre Haare zur Krone geformt: sie sah aus wie die Senufo-Prinzessin, die sie war, ehe sie meinen Vater heiratete.
Wir speisten in einem Nobelrestaurant in der Nähe der Champs Elysées. Von dort gingen wir zu Fuß zu einem Theater und schauten uns die Darbietungen einer schwarzen Tanzgruppe an, die verschiedene folkloristische Tänze aus Westafrika zeigte. Hinterher durften wir in die Garderoben, und Mutter stellte mich einer der Tänzerinnen vor, einer hochgewachsenen, ungewöhnlich schwarzen, wunderschönen Frau. Sie war eine entfernte Cousine meiner Mutter von der Elfenbeinküste.
Ich hörte zu, wie sie sich im Stammesidiom der Senufo unterhielten, das eine und andere Satzbruchstück aus meiner Vorbereitungszeit auf die Poro-Initiation vor drei Jahren tauchte in mir wieder auf, und ich war wieder einmal verblüfft darüber, dass das Gesicht meiner Mutter so viel mehr an Ausdrucksstärke gewann, wenn sie unter ihresgleichen war. Aber so sehr mich dieser Abend faszinierte, ich war erst zehn und hätte eigentlich eine ganz ordinäre Geburtstagsfeier mit allen meinen Schulfreunden vorgezogen. Auf der Rückfahrt nach Chilly-Mazarin, der Vorstadt, in der unser Haus lag, muss meine Mutter erkannt haben, wie enttäuscht ich war. »Sei doch nicht traurig, Nicole«, sagte sie, »nächstes Jahr bekommst du eine richtige Party. Aber dein Vater und ich wollten diese Gelegenheit benutzen und dich an die andere Hälfte deines Erbes erinnern. Du bist Französin und hast dein ganzes bisheriges Leben in Frankreich verbracht, aber ein Teil von dir ist reinblütig Senufo, und du hast Wurzeln, die tief in die alten westafrikanischen Stammesbräuche zurückreichen.«
Heute früh, als ich mich an diese »Danses Ivoiriennes« erinnerte, die meine Großcousine und ihre Kollegen damals aufführten, stellte ich mir kurz vor, wie ich mit meiner zehn Jahre alten Tochter Simone an der Seite in ein schönes Theater trete – dann verschwand das Wunschbild. Es gibt jenseits der Jupiterbahn keine Theater. Und höchstwahrscheinlich wird der Begriff »Theater« für meine Tochter nie irgendwie Realität sein. Es ist sehr bestürzend, das alles.
Zum Teil heulte ich heute morgen auch deshalb, weil Simone niemals ihre Großeltern kennenlernen kann – und umgekehrt. Sie werden in Simones Lebenstextur zu Mythengestalten werden, und sie wird sie nur von Fotos oder Videos »kennen«. Sie wird nie die Freude genießen, die unglaubliche Stimme meiner Mutter zu hören. Und sie wird nie die behutsame, zärtliche Liebe in den Augen meines Vaters sehen.
Als Mutter gestorben war, gab sich mein Vater besonders große Mühe, jeden meiner Geburtstage zu etwas ganz Besonderem zu machen. An meinem zwölften, wir waren gerade erst in die Villa in Beauvois umgezogen, wanderte er mit mir durch den fallenden Schnee in den sauber gestutzten Gartenanlagen des Château de Villandry. An diesem Tag versprach er mir, er würde immer bei mir sein, wenn ich ihn brauchte. Ich umklammerte fest seine Hand, während wir durch die Heckenpassagen gingen. Außerdem habe ich damals auch geheult und ihm gestanden (und vor allem mir selbst), welch grässliche Angst ich davor hatte, dass auch er mich verlassen könnte. Und er drückte mich an seine Brust und küsste mich auf die Stirn. Er hat sein Versprechen nie gebrochen.
Und erst letztes Jahr – jetzt erscheint mir das wie in einem anderen Leben – begann mein Geburtstag in einem Ski-Zug dicht an der französischen Grenze. Um Mitternacht schlief ich noch immer nicht, sondern durchlebte noch einmal diese mittägliche Begegnung mit Henry in seinem Chalet am Hang unter dem Weissfluhjoch. Als er indirekt danach fragte, hatte ich ihm nicht gesagt, dass er Genevièves Vater war. Ich wollte ihm diesen Triumph nicht gönnen.
Ich erinnere mich aber, dass ich mir im Zug Gedanken machte: Ist es anständig, deiner Tochter die Tatsache vorzuenthalten, dass ihr Vater jetzt der englische König ist? Ist dein Stolz, dein Selbstwertgefühl so wichtig? Ist es gerechtfertigt, dem Mädchen zu verschweigen, dass es eine Prinzessin ist? Ich stocherte in diesen Problemen herum, starrte blind durch das Zugfenster, als wie auf ein Stichwort hin Geneviève an meinem Bett erschien. »Alles Gute zum Geburtstag, Mami«, sagte sie und grinste. Dann umarmte sie mich heftig. Da hätte ich ihr fast gesagt, wer ihr Vater ist. Ich bin ziemlich sicher, ich hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, was mit unserer Newton-Expedition passieren würde. Du fehlst mir, Geneviève. Und ich wollte, wir hätten uns richtig verabschieden können.
Erinnerungen sind etwas recht Merkwürdiges. Heute früh bestärkten mich die Bilderfluten von meinen früheren Geburtstagen in meinem depressiven Gefühl der Isolation und des Verlusts. Aber jetzt, wo ich mich wieder stabiler fühle, genieße ich genau die gleichen Erinnerungen geradezu. Ich bin in diesem Moment nicht mehr traurig, weil Simone nicht die gleichen Erfahrungen machen kann, wie ich sie hatte. Ihre Geburtstage werden völlig anders sein als meine und von einmaliger Bedeutung nur für ihr Leben. Und ich habe das Privileg und die Pflicht, sie für sie so mit Liebe vollzupacken und erinnerungsträchtig zu machen, wie ich nur kann.
26-05-2201
Vor fünf Stunden setzte in Rama eine Serie von außerordentlichen Geschehnissen ein. Wir saßen gerade beisammen und verzehrten unser Abendessen – Roastbeef, Kartoffeln und Salat … wir haben uns für jede chemische Zusammensetzung, die wir von den Ramanern erhalten, Code-Bezeichnungen ausgedacht, um uns zu der Illusion zu verführen, dass unser Fraß »köstlich« schmeckt. Die Code-Namen beziehen sich mehr oder weniger auf den Nahrungsgehalt unserer »Gerichte« – so ist etwa unser »Roastbeef« sehr proteinreich, die »Kartoffeln« sind überwiegend Kohlenhydrate usw. Dann hörten wir plötzlich ein klares, deutliches Pfeifen in der Ferne. Wir hörten sofort mit dem Essen auf, und die Männer packten sich in die Schutzanzüge und stiegen nach oben. Aber das Gepfeife ging weiter; ich griff mir Simone und meine Schutzkleidung, wickelte mein Baby in zahlreiche Decken und folgte Richard und Michael hinaus in die Kälte.
Hier oben war das Pfeifen viel durchdringender. Wir waren ziemlich sicher, dass es von Süden kam, aber da es Rama-Nacht war, zögerten wir, uns von unserer Höhlenburg zu entfernen. Aber ein paar Minuten später sahen wir die Spiegelungen von Lichtblitzen auf den blanken Flächen der umliegenden Wolkenkratzer, und unsere Wissbegier ließ sich nicht mehr bremsen. Wir krochen vorsichtig zum südlichen Gestade der Insel, wo keine Bauten uns den Blick auf die imposanten Gipfelhörner in der Südlichen Rama-Schüssel verstellten.
Als wir ans Gestade des Zylindermeeres gelangten, war drüben, am »Südpol«, bereits ein phantastisches Lichterspektakel im Gange. Die vielfarbigen Lichtbögen flogen und erhellten zuckend die gigantischen Spitzen in der Südschüssel – über eine Stunde lang. Sogar meine kleine Simone war von den langen gelben, blauen und roten Bändern wie hypnotisiert, die zwischen den Spitzen dahinzuckten und in der Finsternis regenbogenartige Muster zeichneten. Als dann die Show abrupt abbrach, knipsten wir unsre Stablampen an und zogen zu unserem Höhlenbau zurück.
Unsre lebhafte Unterhaltung wurde nach ein paar Minuten von einem fernen lang anhaltenden Schrei abrupt unterbrochen, der ohne Zweifel von einem jener vogelartigen Geschöpfe stammen musste, die Richard und mir im vergangenen Jahr bei der Flucht aus New York geholfen hatten. Natürlich blieben wir sofort stehen und lauschten. Und weil wir von diesen Flugwesen weder eins zu Gesicht bekommen noch sie gehört hatten, seitdem wir nach New York zurückgekehrt waren, um die Ramaner vor den anfliegenden Nuklearraketen zu warnen, waren Richard und ich ganz aufgeregt. Er war ein paar Mal drüben bei ihrem Untergrundnest gewesen, hatte jedoch auf seine Rufe in den Schacht hinab nie eine Antwort erhalten. Erst vor einem Monat sagte er noch, dass er glaubte, die Flugwesen hätten sich völlig aus New York verzogen … aber das Kreischen in dieser Nacht deutet schlüssig darauf hin, dass wenigstens einer unserer Freunde noch da ist.
Sekunden später, noch ehe wir uns einig werden konnten, ob einer in Richtung auf den Schrei Erkundungen machen sollte, hörten wir ein weiteres, ebenfalls vertrautes Geräusch, das aber zu laut war, als dass uns dabei noch wohl zumute hätte sein können. Glücklicherweise befanden sich die schabenden Bürstenbesen nicht zwischen uns und unserer Höhle. Ich schlang beide Arme um Simone und rannte los in Richtung dorthin. In der Dunkelheit und Eile stieß ich dabei mindestens zweimal gegen irgendwelche Gebäude. Michael kam als letzter zurück. Inzwischen hatte ich die Schutzdecke und das Gitter geöffnet. »Es sind mehrere«, keuchte Richard atemlos, als der Lärm der Oktos rings um uns lauter wurde. Er richtete seine Lampe in die lange Schneise, die von unserem Schacht nach Osten führte, und wir sahen zwei große, dunkle Objekte, die sich auf uns zubewegten.
Normalerweise legen wir uns zwei, drei Stunden nach dem Abendessen schlafen, aber diesmal machten wir eine Ausnahme. Das Lichterspektakel, die Schreie der Flugwesen und der Beinahe-Zusammenstoß mit den Oktarachniden hatten uns alle drei energetisch aufgeladen, und wir redeten und redeten. Richard war überzeugt, dass etwas wirklich Bedeutsames im Gange sein müsse. Er erinnerte uns daran, dass dem Erdkontaktmanöver Ramas ebenfalls ein kurzes Lichterspektakel in der Südschüssel vorausgegangen war. Damals, erinnerte er uns, wären die Newton-Kosmonauten einhellig der Meinung gewesen, dass diese ganze Demonstration als Ankündigung oder möglicherweise als eine Art Alarm gedacht gewesen sei. Was also, überlegte er laut, hatte dann wohl die heutige sensationelle Show zu bedeuten?
Und für Michael – der vor dem dichten Vorbeiflug an der Erde niemals länger in Rama gewesen war und der noch nie direkten Kontakt zu den Fluggeschöpfen oder den Oktos gehabt hatte – waren die Ereignisse des Abends von besonders großem Gewicht. Der flüchtige Anblick dieser tentakeltragenden Wesen, die in der Straßenschneise auf uns zustrebten, vermittelte ihm einen drastischen Eindruck von dem Entsetzen, das Richard und ich fühlten, als wir im vergangenen Jahr diese bizarren Spikes-Leitern hinaufhetzten, um aus dem Schachttunnel der Oktarachniden zu entrinnen.
»Sind die Oktos also die Ramaner?«, fragte Michael. »Wenn ja, warum sollten wir vor ihnen fliehen? Ihre technologische Entwicklung ist der unsrigen dermaßen weit voraus, dass sie grundsätzlich mit uns machen könnten, was ihnen beliebt.«
»Die Oktos sind nur Passagiere in diesem Schiff«, gab Richard rasch zurück, »genau wie wir. Und wie die Flugwesen. Die Oktos glauben vielleicht, dass wir die Ramaner sein könnten, aber sie sind sich nicht sicher. Die Vögel sind mir ein Rätsel. Sie können auf keinen Fall selbst eine raumfahrende Spezies sein. Also, wie sind sie überhaupt an Bord gekommen? Sind sie möglicherweise Teil des ursprünglichen ramanischen Ökosystems?«
Instinktiv drückte ich Simone fester an mich. So viele Fragen. Und kaum eine Antwort. Die Erinnerung an den armen Dr. Takagishi schoss mir durch den Kopf, wie er da ausgestopft wie ein gewaltiger Fisch oder ein Tiger im Oktarachnischen Museum steht, und mich überlief ein Schauder. »Wenn wir Passagiere sind«, fragte ich leise, »wohin geht dann unsere Fahrt?«
Richard seufzte. »Ich hab' ein paar Berechnungen gemacht. Aber die Ergebnisse sind nicht sehr ermutigend. Obwohl wir, auf die Sonne bezogen, sehr schnell fliegen, ist unsere Reisegeschwindigkeit kläglich, wenn wir als Bezugssystem unsre örtliche Sterngruppe zugrunde legen. Wenn sich unsre Flugbahn nicht ändert, werden wir unser Sonnensystem ungefähr in der Richtung von Barnards Stern verlassen. Aber im Barnard-System würden wir erst in ein paar tausend Jahren ankommen.«
Simone begann zu weinen. Es war spät, sie war sehr müde. Ich entschuldigte mich, ging in Michaels Zimmer, um sie zu stillen, und die Männer nahmen sich alle Sensor-Outputs am Schwarzschirm vor, um vielleicht festzustellen, was eigentlich vorging. Simone nuckelte zornig an meinen Brüsten, einmal schmerzte es sogar. Diese Unruhe war ausgesprochen ungewöhnlich, denn sonst ist sie ein einigermaßen angenehm sanftes Baby. »Du spürst unsere Furcht, nicht wahr?«, sagte ich zu ihr. Ich habe gelesen, dass Babys die Gefühlsregungen der Erwachsenen in ihrer Umgebung fühlen können. Vielleicht stimmt das sogar.
Auch als Simone dann schnuckelig auf ihrer Decke auf dem Fußboden schlief, fand ich keine Ruhe. Mein psychosomatisches Vorwarnsystem sagte mir, dass die Geschehnisse des heutigen Abends das Signal für den Übergang in irgendeine neue Phase unseres Lebens an Bord Ramas waren. Richards Berechnungen, dass Rama mehr als tausend Jahre durch die interstellaren Abgründe reisen könnte, hatte mir kaum mehr Zuversicht gebracht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das sein würde, wenn ich bis ans Ende meines Lebens unter den jetzigen Umständen würde leben müssen, und mein Hirn sträubte sich dagegen. Für Simone würde es jedenfalls ein recht langweiliges Dasein werden. Dann ertappte ich mich dabei, dass ich Gebetsworte stammelte … an die Adresse von »Gott« gerichtet … oder an die der Ramaner … oder wer immer die Macht besaß, die Zukunft zu ändern. Mein Gebet war ziemlich primitiv. Ich flehte, dass die bevorstehenden Veränderungen das zukünftige Leben meines Töchterchens irgendwie reicher machen möchten.
28-05-2201
Heute Nacht gab es wieder das lange Pfeifen, dem ein prachtvolles Lichterschauspiel in der Südschüssel Ramas folgte. Ich ging es mir nicht anschauen, sondern blieb mit Simone in unsrer Höhle. Michael und Richard stießen diesmal nicht auf andere New Yorker Mitbewohner. Richard gab an, die Show habe etwa so lang gedauert wie die erste, aber die einzelnen Darbietungen seien beträchtlich verschieden gewesen. Michael hatte den Eindruck, dass die einzige merkliche Veränderung farblicher Art gewesen sei. Seiner Meinung nach war heute Abend Blau dominant, während es vor zwei Nächten das Gelb gewesen sei.
Richard sagt, er ist sicher, dass die Ramaner in die Zahl 3 verliebt sind, dass es demzufolge bei Einbruch der nächsten Ramanacht wieder eine Lichter-Show geben werde. Da inzwischen die Tage und Nächte in Rama mit dreiundzwanzig Stunden approximativ gleich sind – Richard, mein brillanter Gatte bezeichnet das als »Rama-Äquinoktien« und hat sie in dem Almanach, den er vor vier Monaten Michael und mir aushändigte, exakt prognostiziert –, wird die dritte Show in zwei weiteren Erdentagen steigen. Und wir rechnen damit, dass sich nach dieser dritten Demonstration irgendwas Ungewöhnliches ereignen wird. Und ich werde mir das ganz bestimmt anschauen, es sei denn, Simone wäre in Gefahr.
30-05-2201
Unsere massive, zylindrische Gastwelt macht jetzt eine rapide Beschleunigung durch, die vor mehr als vier Stunden einsetzte. Richard ist dermaßen aufgeregt, dass er sich kaum bremsen kann. Er ist überzeugt, dass sich hinter dem erhöhten Hemizylinder des »Südpols« ein Antriebssystem verbirgt, das nach physikalischen Prinzipien funktioniert, welche die wildesten Phantasievorstellungen irdischer Wissenschaftler und Techniker weit übersteigen. Richard starrt wie gebannt auf die Angaben von den Außensensoren auf dem schwarzen Bildschirm, seinen geliebten PC in der Hand, und ab und zu macht er aufgrund der Monitorinformationen Eingaben. Ab und zu brummelt er auch in sich hinein oder brummt uns was zu, wenn er glaubt, erkannt zu haben, wie das Flugmanöver unsere Bahn beeinflussen könnte.
Damals, als Rama auf halber Strecke die Kurskorrektur vornahm, um in den Erdberührungsorbit zu gelangen, war ich bewusstlos und lag auf dem Boden einer tiefen Grube, also weiß ich nicht, wie heftig das Grundbeben bei diesem früheren Manöver war. Richard sagt, dass die Erschütterungen harmlos waren, im Vergleich zu dem, was wir jetzt durchmachen. Im Moment ist es schon schwer, auch nur herumzulaufen. Der Boden schwingt hochfrequent, als wäre nur ein paar Meter entfernt ein Presslufthammer zugange. Wir tragen Simone abwechselnd im Arm, seit der Beschleunigungsschub einsetzte. Wir können sie nicht auf den Boden oder in ihre Krippe setzen, weil die Vibration ihr Angst einjagt. Ich allein trage Simone herum, und ich bin dabei ganz besonders vorsichtig. Das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, das ist jetzt wirklich eine vordringliche Sorge – Richard und Michael sind beide schon zweimal gestürzt – und Simone könnte wirklich ernstlich Schaden nehmen, falls ich irgendwie ungut fallen sollte. Unser kärgliches Mobiliar tanzt überall im Raum herum. Vor einer halben Stunde machte einer von unseren Stühlen einen gewaltigen Hüpfer und strebte dem Treppenaufgang zu. Anfangs haben wir alle zehn Minuten das Mobiliar wieder an Ort und Stelle gebracht, aber jetzt kümmern wir uns einfach nicht mehr darum – außer es versucht durch die Tür in den Korridor zu entwischen.
Insgesamt war es eine unglaubliche Erfahrung, und es begann mit dem dritten, letzten Lichtspektakel am Südende. Kurz vor Einbruch der Nacht ging Richard allein raus. Ein paar Minuten später kam er aufgeregt zurück und schnappte sich Michael. Und als die beiden dann zurückkehrten, sah Michael aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. »Oktospinnen«, brüllte Richard. »Dutzende, massiert an der Küste, zwei Kilometer östlich.«
»Also, du weißt ja nicht exakt, wie viele es wirklich sind«, bemerkte Michael. »Wir haben sie ja höchstens zehn Sekunden lang gesehen, ehe die Lichter ausgingen.«
»Ich habe sie aber viel länger beobachtet, als ich allein draußen war«, fuhr Richard fort. »Ich hab' sie ganz deutlich durchs Fernglas gesehen. Zuerst war es bloß 'ne Handvoll, aber auf einmal kamen sie in Scharen an. Grad als ich anfangen wollte, sie zu zählen, sammelten sie sich zu so einer Art Schlachtordnung, und ein riesiger Okto mit roten und blauen Streifen auf dem Kopf war irgendwie isoliert an der Spitze der Formation.«
»Ich hab' den rot-blauen Riesen nicht gesehen und auch keinerlei Gruppenformation«, sagte Michael, als ich die beiden ungläubig anstarrte. »Aber ich hab' ganz bestimmt viele von diesen Kreaturen mit den dunklen Schädeln und den schwarz-goldenen Tentakeln gesehen. Meiner Meinung nach schauten die alle nach Süden und warteten auf den Anfang des Lichtspektakels.«
»Wir haben auch die Vögel gesehen«, sagte Richard zu mir und wandte sich Michael zu. »Was meinst du, wie viel waren es in dem Schwarm?«
»Fünfundzwanzig, vielleicht dreißig«, antwortete Michael.
»Sie stiegen hoch über New York auf, kreischend. Dann flogen sie nach Norden über das Zylindermeer.« Richard schwieg für einen Moment. »Ich glaube, diese blöden Vögel haben das schon mal erlebt und wissen, was passieren wird.«
Ich begann Simone in Decken zu wickeln. »Was machst du denn da?«, fragte Richard. Ich erklärte, ich wollte das letzte Lichterspektakel nicht verpassen. Und ich erinnerte ihn daran, dass er mir geschworen habe, dass die Oktos immer nur nachts rauskommen. »Diesmal ist es was Besonderes«, gab er mir zur Antwort, ziemlich selbstsicher, gerade als das laute Pfeifen einsetzte.