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ARTHUR C. CLARKE

 

 

 

PROJEKT: MORGENRÖTE

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

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»Sie sind also zum ersten Mal oben?«, sagte der Pilot und lehnte sich lässig in seinen sanft ausschwingenden Sitz zurück. Er verschränkte seine Hände gleichgültig im Genick, was nicht gerade dazu beitrug, seinem Passagier neuen Mut einzuflößen.

»Ja«, sagte Martin Gibson, ohne seinen Blick von dem Chronometer abzuwenden, der die Sekunden heruntertickte.

»Das dachte ich mir. In Ihren Erzählungen haben Sie das nie richtig dargestellt – all den Unsinn, dass man unter der Beschleunigung ohnmächtig würde. Warum schreibt man bloß derartiges Zeug? Man verdirbt nur das Geschäft damit.«

»Tut mir leid«, sagte Gibson. »Aber Ihre Behauptungen können sich nur auf meine früheren Geschichten beziehen. Die Weltraumschifffahrt lag damals noch in den Anfängen, und ich musste meine Phantasie gebrauchen.«

»Mag schon sein«, sagte der Pilot leicht vorwurfsvoll. »Jedenfalls muss es Ihnen recht spaßig vorkommen, das in Wirklichkeit zu erleben, worüber Sie so oft geschrieben haben.«

Das Adjektiv störte Gibson etwas, aber er wusste, worauf der andere hinauswollte. Dutzende seiner Helden – und Schurken – hatten wie hypnotisiert auf unerbittliche Sekundenzeiger gestarrt und darauf gewartet, von der Rakete in die Unendlichkeit entführt zu werden. Und nun – wie immer, wenn man lange genug wartet – hatte die Wirklichkeit die Dichtung eingeholt. Derselbe Augenblick lag nur neunzig Sekunden in seiner eigenen Zukunft. Ja, es war schon recht spaßig, ein wunderbarer Fall poetischer Gerechtigkeit.

Der Pilot streifte ihn mit einem Seitenblick, las seine Gedanken und grinste ihm ermunternd zu.

»Lassen Sie sich nicht durch Ihre eigenen Geschichten einschüchtern. Einer Wette halber habe ich den Abflug sogar schon einmal aufrecht stehend mitgemacht, obwohl ich zugeben muss, dass das ziemlich albern von mir war.«

»Ich habe keine Bange«, erwiderte Gibson, indem er unnötigen Nachdruck auf die Worte legte.

»Hmmm«, sagte der Pilot und warf einen Blick auf die Uhr. Der Sekundenzeiger hatte noch eine Runde zu machen. »Dann würde ich, an Ihrer Stelle, mich nicht so fest in den Sitz klammern. Er besteht nämlich nur aus Beryll-Mangan, und Sie könnten ihn verbiegen.«

Unbeholfen versuchte Gibson, sich aus seiner Verkrampfung zu lösen.

»Selbstverständlich«, sagte der Pilot leichthin, seine Blicke jedoch, wie Gibson bemerkte, fest auf das Armaturenbrett gerichtet, »würde es ziemlich unangenehm sein, wenn es länger als ein paar Minuten dauerte – aha, die Brennstoffpumpen haben eingesetzt. Was auch geschieht, bleiben Sie ganz ruhig und lassen Sie Ihren Sitz ausschwingen. Machen Sie meinetwegen die Augen zu, wenn Ihnen das Erleichterung verschafft. Hören Sie die Zünddüsen arbeiten? Wir brauchen etwa zehn Sekunden, um die volle Stoßkraft zu entwickeln – das ist, abgesehen von dem Lärm, den es verursacht, so gut wie gar nichts. Damit müssen Sie sich eben abfinden. Ich sagte, damit müssen Sie sich eben abfinden!«

Martin Gibson jedoch tat nichts dergleichen. Bei einer Beschleunigung, die kaum die Höchstgeschwindigkeit eines schnellen Fahrstuhls übertraf, hatte er bereits sanft das Bewusstsein verloren.

Einige Minuten und tausend Kilometer später kam er wieder zu sich und schämte sich seines Missgeschicks. Ein Sonnenstrahl schien ihm voll ins Gesicht, und ihm wurde klar, dass der Schutzvorhang beiseite gerutscht sein musste. Das Licht, obwohl hell, war längst nicht so durchdringend, wie er erwartet hatte; doch dann bemerkte er, dass nur ein Bruchteil seiner vollen Leuchtkraft durch das dunkel gefärbte Glas sickerte.

Er richtete seinen Blick auf den Piloten, der, über das Instrumentenbrett gebeugt, emsig an seinem Logbuch schrieb. Alles war sehr still, nur von Zeit zu Zeit vernahm man seltsam gedämpfte Geräusche, die an kleine Explosionen erinnerten und die Gibson leicht beunruhigten. Er hustete unterdrückt, um sich bemerkbar zu machen, und erkundigte sich bei dem Piloten, woher diese Geräusche kämen.

»Wärmezusammenziehung in den Motoren«, erwiderte dieser kurz. »Sie sind um fünftausend Grad herum gelaufen und kühlen sehr schnell ab. Sind Sie wieder in Ordnung?«

»Mir geht's ausgezeichnet«, erwiderte Gibson und meinte sogar, was er sagte. »Soll ich aufstehen?«

Psychologisch ausgedrückt, hatte er den Grund berührt und war zurückgeschnellt worden. Es war eine recht unsichere Position, obwohl er zu seinem Glück nichts davon ahnte.

»Wenn Sie wollen«, sagte der Pilot argwöhnisch. »Aber Vorsicht – halten Sie sich an etwas Solidem fest.«

Gibson fühlte sich wunderbar erleichtert und froh. Endlich war der Augenblick gekommen, auf den er sein ganzes Leben gewartet hatte. Er befand sich mitten im Weltraum! Es war zwar bedauerlich, dass er den Start verpasst hatte, aber in seinen Aufzeichnungen würde er einfach darüber hinweggleiten.

Aus einer Entfernung von tausend Kilometern gesehen, erschien die Erde noch ziemlich groß und war so was wie eine Enttäuschung. Gibson kam rasch dahinter, weshalb er sich enttäuscht fühlte; er hatte so viele Raketenaufnahmen und Filme gesehen, dass das Überraschungsmoment verlorengegangen war: Nun wusste er zu genau, was er zu erwarten hatte. Man sah die unvermeidlichen Wolkenbänke, die sich langsam um die Erde herum bewegten. In der Mitte der Scheibe traten die Grenzen zwischen Land und Meer klar hervor; unendlich viele Einzelheiten waren zu unterscheiden, aber gegen den Horizont verlor sich alles in dichtem Dunst. Selbst in dem klaren Sichtkegel senkrecht unter ihm war das meiste verwischt und deshalb bedeutungslos. Ohne Zweifel wäre ein Meteorologe über die lebendige Wetterkarte, die sich ihm unten darbot, in Entzücken geraten – aber die meisten Meteorologen befanden sich irgendwo oben in den verschiedenen Weltraumstationen, wo sie eine noch bessere Aussicht genossen. Gibson verlor schon bald die Lust, nach Städten und anderen Menschenwerken Ausschau zu halten. Der Gedanke, dass Tausende von Jahren menschlicher Zivilisation das Panorama dort unten nicht weiter zu verändern vermocht hatten, war irgendwie ernüchternd.

Dann begann Gibson nach den Sternen zu suchen und erlebte seine zweite Enttäuschung. Sie waren zwar da, zu Hunderten sogar, aber blass und bleich, nur ein Abglanz dessen, was er vorzufinden gehofft hatte. Das dunkle Glas des Ausguckloches war daran schuld; indem es das Sonnenlicht aufsog, beraubte es die Sterne all ihrer Pracht.

Gibson fühlte sich leicht gereizt. Nur eines war, wie er es sich vorgestellt hatte. Das Gefühl, frei in der Luft zu schweben und sich durch eine Fingerbewegung von einer Wand zur anderen abzustoßen, bereitete ihm genauso viel Vergnügen, wie er gehofft hatte – auch wenn die Räumlichkeiten in ihrer Begrenzung keine größeren Experimente gestatteten. Schwerelosigkeit war ein bezaubernder, märchenhafter Zustand, besonders jetzt, da es Medikamente gegen die Raumkrankheit gab. Er war froh darüber. Wie sehr hatten doch seine Helden darunter leiden müssen! Seine Heldinnen wahrscheinlich auch, aber darüber hatte man wohlweislich kein einziges Wort verloren. Er dachte an Robin Blakes ersten Flug in der ursprünglichen Fassung von »Mars-Staub«. Als er das Buch schrieb, hatte er ziemlich unter dem Einfluss von D. H. Lawrence gestanden.

Kein Zweifel, Lawrence war großartig darin, physische Empfindungen zu beschreiben, und Gibson hatte sich mit voller Absicht darangemacht, ihn auf seinem eigenen Gebiet zu schlagen. Er hatte der Raumkrankheit ein ganzes Kapitel gewidmet und alle Symptome genau beschrieben, angefangen bei den schwachen Vorahnungen, die man mitunter durch bloße Willensanstrengung unterdrücken konnte, bis zu den unterirdischen Erschütterungen, die selbst die größten Optimisten nicht mehr zu ignorieren vermochten, und den vulkanischen Ausbrüchen des Endstadiums, die eine wahre Erlösung bedeuteten.

Das Kapitel war ein wahres Meisterstück krasser realistischer Schilderung gewesen. Es war nur allzu bedauerlich, dass sein Verleger, der damit liebäugelte, den »Buch des Monats«-Klub für das Werk zu gewinnen, auf Streichung des Kapitels bestanden hatte. Er hatte eine Menge Arbeit gerade auf dieses Kapitel verwendet und, während er daran schrieb, alle Einzelheiten der Krankheit durchlebt. Selbst jetzt …

 

»Es ist mehr als rätselhaft«, sagte der Arzt, als man den im Augenblick völlig verstummten Schriftsteller durch die Luftschleuse beförderte. »Er hat seine medizinischen Test gut bestanden und vor dem Abflug bestimmt die üblichen Injektionen bekommen. Es muss psychosomatische Gründe haben.«

»Mir ist das völlig gleichgültig«, beklagte sich der Pilot, der dem Krankentransport ins Innere der Weltraumstation Eins folgte. »Mich interessiert an dem ganzen Fall nur, wer mein Schiff säubern wird.« Niemand schien geneigt, diese von Herzen kommende Frage zu beantworten, am allerwenigsten Martin Gibson, der sich nur undeutlich der weißen Wände bewusst war, die an ihm vorüberglitten. Dann verspürte er plötzlich eine leichte Gewichtszunahme, und eine belebende Wärme rieselte wohltuend durch seine Gliedmaßen. Alsbald wurde er sich seiner Umgebung deutlich bewusst. Er befand sich im Lazarett, und die infraroten Lampen strahlten eine herrliche wiederbelebende Wärme auf ihn aus, die ihm durch die Haut bis auf die Knochen drang.

»Nun?«, sagte der Arzt zu ihm.

Gibson lächelte schwach.

»Es tut mir schrecklich leid. Hoffentlich erwischt es mich nicht wieder.«

»Ich weiß nicht einmal, wieso es Sie das erste Mal erwischt hat. Es ist ganz ungewöhnlich; die Medikamente, die wir verabreichen, wirken unserer Ansicht nach unfehlbar.«

»Es ist meine eigene Schuld, glaube ich«, sagte Gibson entschuldigend. »Ich habe eine ziemlich lebhafte Phantasie und stellte mir gerade die Raumkrankheit in all ihren Symptomen vor – auf ziemlich objektive Weise, selbstverständlich –, doch ehe ich noch wusste, was geschah –«

»Schluss damit jetzt!«, sagte der Arzt in scharfem Befehlston. »Sonst müssen wir Sie zurückschicken. So etwas ist unmöglich, wenn Sie zum Mars wollen. Nach drei Monaten würde nicht mehr viel von Ihnen übrig sein.«

Gibson fühlte, wie seine Glieder anfingen zu schlottern, er erholte sich jedoch sehr bald, und der Alpdruck der letzten Stunde gehörte bereits der Vergangenheit an.

»Es wird schon gehen«, sagte er. »Nur lasst mich aus diesem Backofen heraus, sonst fange ich noch an zu schmoren.«

Etwas unsicher stand er auf. Es war seltsam, hier mitten im Weltraum sein normales Eigengewicht wiederzuhaben. Doch dann entsann er sich, dass Station Eins sich um ihre Achse drehte und dass die Wohnräume in die äußersten Wände eingebaut waren, so dass die Zentrifugalkraft ein Gefühl von Schwere hervorrief.

Das große Abenteuer, überlegte er bekümmert, hatte gar nicht gut angefangen. Er war jedoch entschlossen, sich nicht mit Schande beladen heimschicken zu lassen. Es war nicht nur eine Frage des eigenen Stolzes: die Wirkung auf seine Leser und seinen Ruf würde verheerend sein. Er wand sich förmlich, als er im Geiste die Schlagzeilen vor sich sah: »Gibson wieder zurück! Raumkrankheit macht Strich durch Weltraumbummel des Schriftstellers«. Selbst die ernsthaften literarischen Wochenschriften würden sich über ihn lustig machen, und was »Time« schreiben würde, war überhaupt unausdenkbar!

»Es trifft sich glücklich«, sagte der Arzt, »dass das Schiff erst in zwölf Stunden weiterfliegt. Ich werde Sie in die Abteilung nehmen, wo die Schwere gleich Null ist, und zusehen, wie Sie dort zurechtkommen, ehe ich Ihnen ein Attest ausstelle.«

Auch Gibson hielt es für eine gute Idee. Er hatte immer geglaubt, ziemlich widerstandsfähig zu sein, und bis zu dieser Minute war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass seine Reise nicht nur mit Unbequemlichkeiten verbunden, sondern sogar gefahrvoll sein könnte. Über die Raumkrankheit konnte man lächeln – solange man selbst nicht davon befallen war. Wenn man sie jedoch durchgemacht hatte, erhielt die Sache ein anderes Gesicht.

Die Innere Station – »Weltraumstation Eins«, wie sie gewöhnlich genannt wurde – war etwa zweitausend Kilometer von der Erde entfernt und umkreiste den Planeten alle zwei Stunden. Sie war die erste Stufe auf dem Wege des Menschen zu den Sternen. Obwohl vom technischen Standpunkt für die Weltraumschifffahrt nicht länger erforderlich, war ihr Vorhandensein von großer wirtschaftlicher Bedeutung für den interplanetarischen Verkehr. Sämtliche Fahrten zum Mond oder den Planeten hatten hier ihren Ausgangspunkt: Die schwerfälligen Atomschiffe lagen längsseits dieses vorgeschobenen Erdpostens, während die Fracht von der Elternwelt in ihre Laderäume verstaut wurde. Ein Fährdienst mit chemisch angetriebenen Raketen verband die Station mit dem Planeten unter ihr; denn kein Atomschiff, so bestimmte es das Gesetz, durfte sich der Erdoberfläche auf weniger als tausend Kilometer nähern. Selbst diese Sicherheitsgrenze schien vielen noch nicht ausreichend genug, da der radioaktive Auspuff eines solchen Schiffes diese Entfernung in knapp einer Minute zurücklegen konnte.

Weltraumstation Eins war in den vergangenen Jahren derart gewachsen, dass ihre ursprünglichen Erbauer sie nicht wiedererkannt hätten. Um den zentralen sphärischen Kern waren Observatorien und Nachrichtenübermittlungsstellen mit phantastischer Ausrüstung angelegt worden. Nur ein Fachmann konnte sich darin zurechtfinden. Doch trotz dieses Zuwachses bestand die Hauptfunktion des künstlichen Mondes noch immer darin, die kleinen Schiffe, mit denen der Mensch die ungeheure Einsamkeit des Sonnensystems herausforderte, mit Brennstoff zu versorgen.

»Na, wird's jetzt gehen?«, erkundigte sich der Arzt, als Gibson mit seinen Füßen experimentierte.

»Ich glaube schon«, erwiderte er, willens, sich nicht noch einmal bloßzustellen.

»Dann kommen Sie mit in den Empfangsraum, wo wir Ihnen etwas Heißes zu trinken geben werden. Dort werden Sie sich hinsetzen und Zeitung lesen, während wir beraten, was mit Ihnen geschehen soll.«

Gibson hatte das Empfinden, als folgte eine Niederlage der anderen. Da war er nun zweitausend Kilometer von der Erde entfernt, mitten unter den Sternen, und musste gezwungenermaßen gesüßten Tee schlürfen – Tee! – in einer Umgebung, die dem Wartezimmer eines Zahnarztes glich. Der Raum war fensterlos, wahrscheinlich deswegen, damit der schnell sich drehende Himmel den Erfolg der Behandlung nicht wieder zuschanden mache. Es blieb einem nichts weiter übrig, als in Stößen alter Zeitschriften zu blättern, die er bereits kannte und die umständlich zu handhaben waren, da es sich um Ultra-Leichtgewicht-Ausgaben handelte, die auf Zigarettenpapier gedruckt zu sein schienen. Zum Glück fand er ein altes Exemplar »Argosy«; es enthielt eine seiner Erzählungen, vor so langer Zeit geschrieben, dass er vergessen hatte, wie die Geschichte endete; damit vertrieb er sich die Zeit, bis der Arzt zurückkehrte.

»Ihr Puls scheint normal zu sein«, sagte der Doktor mürrisch. »Wir werden Sie jetzt in eine Testkammer führen, wo die Schwere gleich Null ist. Folgen Sie mir und wundern Sie sich über gar nichts.«

Mit dieser geheimnisvollen Bemerkung führte er Gibson hinaus auf einen hell erleuchteten Gang, der von der Stelle, wo er stand, nach beiden Seiten aufwärts zu führen schien. Gibson hatte keine Zeit, dieses Phänomen zu erforschen, da der Arzt eine Seitentür öffnete und sich anschickte, eine Metalltreppe hinaufzusteigen. Gibson folgte ihm automatisch in wenigen Schritten Abstand. Dann merkte er plötzlich, was vor ihm lag, und blieb mit einem unwillkürlichen Ausruf des Erstaunens abrupt stehen.

Unmittelbar zu seinen Füßen beschrieb die Treppe einen einigermaßen vernünftigen Winkel von fünfundvierzig Grad, sie wurde jedoch rasch immer steiler, bis die Stufen wenige Meter vor ihm senkrecht emporführten. Weiter oben – und es war ein Anblick, der jeden zum ersten Mal aus der Fassung gebracht hätte – nahm die Steigung unerbittlich zu, bis die Stufen überhingen und sowohl vor wie hinter ihm aus seinem Blickfeld entschwanden.

Als der Arzt seinen Ausruf vernahm, drehte er sich um und lachte ihm aufmunternd zu.

»Sie dürfen Ihren Augen nicht immer trauen«, sagte er. »Kommen Sie nur und sehen Sie, wie einfach es ist.«

Widerstrebend kam Gibson der Aufforderung nach, und indem er weiterging, merkte er, dass zwei seltsame Dinge geschahen. Erstens wurde er allmählich immer leichter, und zweitens blieb die Abschrägung unter seinen Füßen, trotz der offensichtlichen Steigung, konstant bei fünfundvierzig Grad.

Es dauerte nicht lange, bis Gibson die Erklärung dafür gefunden hatte. Die anscheinend vorhandene Schwere war auf die Zentrifugalkraft zurückzuführen, die durch das Rotieren der Station um die eigene Achse hervorgerufen wurde, und indem er sich dem Zentrum näherte, wurde diese Kraft gleich Null. Die Treppe selbst wand sich in einer Art Spirale der Achse entgegen – früher einmal hätte er den mathematischen Fachausdruck dafür gewusst –, so dass die Abschrägung trotz des Schwerefeldes, das ausgestrahlt wurde, konstant blieb. Es handelte sich um etwas, an das sich Leute, die in Weltraumstationen wohnten, sehr schnell gewöhnen mussten; eine normale Treppe auf Erden wäre ihnen wahrscheinlich ebenso unheimlich vorgekommen.

Am Ende der Treppe hörte das Gefühl für »oben« und »unten« völlig auf. Sie befanden sich in einem langen zylindrischen Raum, der, bis auf einige ausgespannte Seile, völlig leer war; nur ganz hinten fiel ein Sonnenstrahl durch ein Ausguckloch. Der Strahl bewegte sich stetig die Metallwände entlang wie ein suchendes Scheinwerferlicht, wurde momentan verdunkelt und verschwand dann durch ein anderes Fensterloch, für Gibson das erste sichtbare Anzeichen dafür, dass die Station sich tatsächlich um die eigene Achse drehte. Er versuchte, die Geschwindigkeit der Umdrehung grob abzuschätzen, indem er aufpasste, wie lange das Sonnenlicht brauchte, um an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Der »Tag« dieser kleinen künstlichen Welt dauerte kaum zehn Sekunden; doch das genügte, um einem an den Außenwänden das Gefühl normaler Schwere zu verschaffen.

Gibson kam sich vor wie eine Spinne in ihrem Netz, als er dem Arzt, Hand über Hand in die Leitseile greifend, folgte und sich mühelos durch die Luft vorwärts bewegte, bis man das Ausguckloch erreicht hatte.

Sie befanden sich, wie er bemerkte, am Ende einer kaminartigen Verlängerung, die längs der Stationsachse hinausragte, so dass keinerlei Gerät oder Apparaturen den Blick auf die Sterne einengten.

»Ich werde Sie eine Weile hier allein lassen«, sagte der Arzt. »Es gibt genügend zu sehen, und Sie müssten sich eigentlich ganz wohl fühlen hier. Wenn nicht – denken Sie daran, dass Sie unten an der Treppe jederzeit Ihr normales Gewicht wiederfinden.«

Und gleichzeitig ein Rückreisebillett nach der Erde mit der nächsten Rakete, dachte Gibson. Er war fest entschlossen, die Probe zu bestehen und in den Besitz eines Attests zu gelangen.

Es war fast unmöglich, sich bewusst zu machen, dass nicht die Sonne und die Sterne rotierten, sondern dass es die Station selber war, die sich um ihre Achse drehte. Dazu bedurfte es einer bewussten Willensanstrengung. Die Sterne bewegten sich so schnell, dass nur die helleren unter ihnen klar sichtbar waren, und die Sonne glich einem goldenen Kometen, der alle fünf Sekunden über den Himmel raste. Bei dieser phantastischen Beschleunigung des natürlichen Ablaufs der Dinge konnte man sich gut vorstellen, wieso der Mensch früherer Jahrhunderte es hartnäckig abgelehnt hatte, daran zu glauben, dass seine eigene feste Erde sich drehte, und alle Bewegung den veränderlichen Himmelskörpern zugeschrieben hatte.

Die Erde, zum Teil durch die Masse der Station verdunkelt, war ein großes halbmondförmiges Gebilde, das den halben Himmel einnahm. Während die Station auf ihrer erdballumspannenden Bahn dahinraste, wurde die Erde langsam größer: In etwa vierzig Minuten würde sie vollmondförmig sein und eine Stunde danach völlig unsichtbar, eine schwarze, die Sonne verdunkelnde Scheibe, indes die Station ihren Schattenkegel passierte. In zwei Stunden würde die Erde sämtliche Mondphasen durchlaufen haben. Man verlor das Zeitgefühl, wenn man daran dachte; die vertraute Einteilung in Nacht und Tag, in Monate und Jahreszeiten war hier bedeutungslos.

Ungefähr einen Kilometer von der Station entfernt, aber durch nichts mit ihr verbunden, bewegten sich in der gleichen Bahn die drei Weltraumschiffe, die in diesem Augenblick zufällig »im Dock« waren. Eines davon war die kleine wie ein Pfeil zugespitzte Rakete, die ihn vor einer Stunde unter solchen Beschwernissen von der Erde heraufgebracht hatte. Das zweite war ein für den Mond bestimmter Frachter von etwa tausend Tonnen. Und das dritte war die Ares, deren frische Aluminiumfarben fast die Augen blendeten.

Gibson hatte sich nie richtig mit dem Verlust der schlanken, in Stromlinienform gehaltenen Schiffe aussöhnen können, die der Traum des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gewesen waren. Die glitzernde, hantelartige Kugel, die sich gegen die Sterne abhob, entsprach den Vorstellungen, die er von einem Weltraumschiff hatte, nicht im geringsten. Im Gegensatz zu aller Welt hatte er sich nie recht damit abfinden können. Er kannte natürlich die üblichen Argumente – man brauchte keine Stromlinien mehr für ein Schiff, das nie mit irgendeiner Atmosphäre in Berührung kam und für dessen Bau allein strukturelle und krafttechnische Überlegungen ausschlaggebend waren. Da der hoch-radioaktive Antrieb so weit wie möglich von den Mannschaftsunterkünften entfernt sein musste, bot die Doppelkugel mit der langen Verbindungsröhre die einfachste Lösung.

Es war, so ging es Gibson durch den Sinn, auch gleichzeitig die hässlichste, aber das fiel kaum ins Gewicht, da die Ares fast ihre gesamte Zeit im fernen Weltraum verbringen würde, wo die Sterne die einzigen Zuschauer waren. Wahrscheinlich hatte sie bereits Brennstoff getankt und wartete nur auf den genau vorausberechneten Augenblick, um mit voller Kraft aus der Bahn zu brechen, in welcher sie kreiste und in welcher sie ihre bisherige Existenz verbracht hatte, und jene lange Hyperbel einzuschlagen, die sie zum Mars bringen würde.

Wenn dieser Augenblick kam, würde er sich an Bord befinden und endlich jenes Abenteuer erleben, an das er schon nicht mehr recht geglaubt hatte.

2

 

Die Kabine des Kapitäns der Ares war so gebaut, dass sich nicht mehr als drei Leute darin aufhalten konnten, solange die Schwerkraft ihre Wirkung ausübte, sie bot jedoch genügend Raum für sechs, wenn das Schiff sich in freiem Fall befand und man, je nach Geschmack, auf den Wänden oder auf der Decke stehen konnte. Außer einem einzigen in der Gruppe, die sich in surrealistischen Winkeln um Kapitän Norden scharte, hatten sämtliche Männer Weltraumerfahrung und wussten, was von ihnen erwartet wurde. Der Jungfernflug eines neuen Weltraumschiffes ist immer eine bedeutsame Angelegenheit, und die Ares war das erste Boot ihrer Linie – das erste Weltraumschiff überhaupt, das völlig für den Passagierdienst bestimmt war. Voll in Dienst gestellt, würde sie eine dreißigköpfige Besatzung haben und hundertfünfzig Passagiere unter etwas spartanischen Bedingungen befördern. Auf ihrer ersten Fahrt jedoch waren die Verhältnisse nahezu umgekehrt, und im Augenblick warteten die sechs Mann der Besatzung darauf, dass ihr einziger Passagier an Bord kommen sollte.

»Ich bin mir immer noch nicht klar darüber«, sagte Owen Bradley, der Elektrotechniker, »was wir mit dem Kerl anfangen sollen. Wer hat denn eigentlich diesen verrückten Einfall gehabt?«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagte Kapitän Norden und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, der noch vor wenigen Tagen mit dichtem blondem Haar bedeckt gewesen war. Auf Weltraumschiffen gibt es nur selten einen berufsmäßigen Friseur; es mangelt zwar nie an übereifrigen Amateuren auf diesem Gebiet, aber gerade deswegen versucht man, den schrecklichen Tag so lange hinauszuschieben wie möglich. »Ihr wisst natürlich alle, wer Mr. Gibson ist.«

Auf diese Bemerkung erfolgten im Chor eine Reihe von Antworten, die nicht alle sehr respektvoll klangen.

»Seine Geschichten stinken zum Himmel«, sagte Dr. Scott. »Jedenfalls seine letzten. ›Mars-Staub‹ war gar nicht so übel, ist aber jetzt natürlich völlig veraltet und überholt.«

»Unsinn!«, brummte Mackay, der Astronautiker. »Gerade seine letzten Geschichten sind die besten, darin kommt er endlich auf das Grundlegende, ohne den üblichen blutigen Theaterdonner.«

Dieser Ausbruch des kleinen sanften Schotten war höchst uncharakteristisch. Doch ehe noch jemand sich dazu äußern konnte, schaltete sich Kapitän Norden ein.

»Wir sind hier nicht zusammengekommen, um Literaturkritik zu betreiben. Dazu werden wir später noch genügend Zeit haben. Im Auftrage der Gesellschaft möchte ich jedoch vor dem Start noch zwei oder drei Punkte klären. Mr. Gibson ist ein sehr bedeutender Mann – er ist zu dieser Reise eingeladen worden, damit er später ein Buch darüber schreiben kann. Es handelt sich nicht um einen Reklametrick.«

»Selbstverständlich nicht!«, rief Bradley sarkastisch dazwischen.

»Natürlich ist der Gesellschaft sehr viel daran gelegen, dass zukünftige Fahrgäste nicht gerade entmutigt werden durch das, was sie lesen. Aber davon abgesehen, machen wir wirklich Geschichte, und alles, was mit unserer Jungfernfahrt zusammenhängt, sollte dokumentarisch festgehalten werden. Deshalb möchte ich euch bitten: Nehmt euch zusammen und betragt euch wie Gentlemen, wenigstens für eine Weile. Gibson wird von seinem Buch wahrscheinlich eine halbe Million Exemplare verkaufen, so dass euer zukünftiger Ruf von eurem Betragen in den nächsten drei Monaten abhängt.«

»Das klingt ja fast nach Erpressung«, sagte Bradley.

»So kann man es auch auffassen«, fuhr Norden munter fort. »Ich werde Gibson natürlich darauf vorbereiten, dass er auf dieser Fahrt nicht all den Komfort verlangen kann, der später selbstverständlich sein wird, wenn wir erst Stewards, Köche und Gott weiß was haben werden. Er wird das schon einsehen und nicht verlangen, dass man ihm sein Frühstück jeden Morgen ans Bett bringt.«

»Wird er auch beim Abwaschen mithelfen?«, fragte jemand.

Noch ehe Norden auf dieses Problem eingehen konnte, begann das Funkgerät zu summen, und durch das Sprechgitter kamen die Worte:

»Station Eins ruft Ares – euer Passagier kommt an Bord.«

Norden schaltete einen Hebel um und erwiderte: »O.K. – wir sind bereit.«

Dann wandte er sich an die Mannschaft.

»Mit unseren kahlgeschorenen Schädeln wird sich der arme Kerl wie im Zuchthaus vorkommen. Jimmy, gehen Sie und nehmen Sie ihn in Empfang und helfen Sie ihm durch die Luftschleuse, wenn die Barkasse anlegt.«

Gibson war noch immer bester Laune, da es ihm gelungen war, das erste große Hindernis zu überwinden – die Bedenken des diensthabenden Arztes auf Weltraumstation Eins. Der Schwereverlust, der eintrat, als man die Station verließ und in der kleinen, mit Kompressluft angetriebenen Barkasse zur Ares hinübersetzte, hatte ihm kaum etwas ausgemacht. Der Anblick jedoch, der sich ihm bot, als er Kapitän Nordens Kabine betrat, verursachte ihm ein momentanes Übelsein. Selbst wenn keine Schwerkraft vorhanden war, bildete man sich gern ein, dass irgendeine Richtung »unten« sein müsse, und so schien es nur natürlich, die Oberfläche, an welche Tische und Stühle festgenietet waren, für den Fußboden zu halten. Bedauerlicherweise schien die Mehrheit jedoch eine andere Entscheidung getroffen zu haben, denn zwei Mitglieder der Besatzung hingen wie Stalaktiten von der »Decke« herunter, während zwei weitere zusammengekauert mitten in der Luft hockten. Nach Gibsons Meinung stand nur der Kapitän richtig da. Hinzu kam noch, dass die kahlgeschorenen Schädel den normalerweise recht ansehnlichen Männern ein ziemlich schurkisches Aussehen verliehen, so dass das Ganze etwas Unheimliches hatte.

Während der kurzen Pause, die eintrat, wurde Gibson von der Besatzung einer eingehenden Musterung unterzogen. Alle erkannten den Schriftsteller auf den ersten Blick wieder. Seit seinem ersten, vor zwanzig Jahren erschienenen Bestseller war sein Gesicht einem größeren Publikum wohlvertraut. Er war ein untersetzter, kleiner Mann mit scharf ausgeprägten Zügen, noch diesseits der fünfundvierzig, und wenn er sprach, klang seine Stimme tief und volltönend.

»Dies«, sagte Kapitän Norden, indem er von links nach rechts durch die Kabine zeigte, »ist mein Ingenieur, Leutnant Hilton, dies ist Dr. Mackay, unser Steuermann – er ist aber nur Doktor der Philosophie und kein richtiger Doktor wie Dr. Scott hier. Leutnant Bradley ist Elektrotechniker, und Jimmy Spencer, den Sie bereits in der Luftschleuse kennengelernt haben, ist unser Supernumerar und hofft, Kapitän zu werden, wenn er groß ist.«

Gibson ließ seine Blicke überrascht von einem zum anderen schweifen. Es waren ihrer so wenige – fünf Männer und ein halber Knabe! Sein Gesichtsausdruck musste seine Gedanken verraten haben, denn Kapitän Norden lachte und fuhr fort: »Nicht so sehr viele, nicht wahr? Aber Sie müssen bedenken, dass dieses Schiff fast vollautomatisiert ist – und außerdem geschieht draußen im Weltall fast nichts. Sobald wir den regulären Passagierdienst aufnehmen, werden wir eine dreißigköpfige Besatzung haben. Auf dieser Fahrt jedoch ersetzen wir das Gewicht durch Fracht, so dass wir eigentlich ein schnelles Frachtflugzeug sind.«

Gibson schaute sich die Männer, die für die nächsten drei Monate seine einzigen Gefährten sein würden, genau an. Seine erste Reaktion – er misstraute ersten Eindrücken, gab sich aber immer wieder Mühe, sie festzuhalten – war ein gewisses Erstaunen darüber, dass sie so alltäglich aussahen – so oberflächliche Dinge wie ihre seltsamen Haltungen und ihre zeitweilige Kahlheit natürlich nicht mitgerechnet. Sie machten in keiner Weise den Eindruck, einem Beruf anzugehören, der romantischer war als alles, was die Welt gesehen hatte, seit die letzten Cowboys ihre Gäule gegen Hubschrauber eingetauscht hatten.

Auf ein Zeichen, das Gibson nicht wahrnahm, verließen die anderen die Kabine, indem sie sich mit faszinierender und müheloser Genauigkeit durch die offene Tür schoben. Kapitän Norden setzte sich wieder und bot Gibson eine Zigarette an. Der Schriftsteller nahm sie unschlüssig entgegen.

»Man darf also rauchen?«, fragte er. »Ist das nicht Sauerstoffverschwendung?«

»Es würde eine Meuterei geben«, lachte Norden, »wenn ich das Rauchen für drei Monate verbieten müsste. Jedenfalls fällt der Sauerstoffverbrauch kaum ins Gewicht. Früher musste man darin vorsichtiger sein. Eine Tabakfirma brachte sogar einmal eine besondere Weltraummarke heraus, die mit irgendeinem Sauerstoffträger imprägniert war, so dass sie keine Luft verbrauchte. Sie hat sich aber nie recht durchsetzen können – und einmal erhielt die gesamte Tagesproduktion der Firma durch Zufall eine Überdosis Sauerstoff. Wenn man sie ansteckte, explodierten sie wie Frösche; und das war das Ende dieser Idee.«

Kapitän Norden, dachte Gibson ein wenig traurig, passte eigentlich gar nicht recht in die übliche Schablone. Nach der besten oder zum mindesten der volkstümlichsten literarischen Tradition sollte der Kapitän eines Weltraumschiffes ein ergrauter, luchsäugiger Veteran sein, der die Hälfte seines Lebens im Äther verbracht hatte und mit geschlossenen Augen quer durch das Sonnensystem segeln konnte, das er in- und auswendig kennen musste. Außerdem musste er ein gestrenger Vorgesetzter sein, und wenn er einen Befehl gab, mussten seine Offiziere Haltung annehmen – nicht leicht zu bewerkstelligen, wenn die Schwere gleich Null war –, zackig grüßen und sich mit einer ebensolchen Kehrtwendung entfernen.

Statt dessen war der Kapitän der Ares bestimmt noch nicht vierzig; man hätte ihn für einen erfolgreichen Geschäftsmann halten können. Und was den gestrengen Vorgesetzten anging – bisher hatte Gibson noch nicht das geringste Anzeichen für irgendwelche Disziplin entdecken können. Dieser Eindruck war jedoch, wie er später feststellte, nicht ganz richtig. Die einzige Disziplin, die an Bord der Ares herrschte, war etwas völlig Selbstauferlegtes; es war die einzig mögliche Form unter dem Typus von Männern, aus denen die Besatzung bestand.

»Sie sind also noch nie draußen im Weltraum gewesen?«, sagte Norden und blickte seinen Passagier nachdenklich an.

»Leider nicht. Ich habe ein paar Versuche unternommen, auf den Mond zu kommen, aber das ist absolut unmöglich, wenn man nicht dienstlich dort zu tun hat. Es ist schade, dass Weltraumreisen immer noch so entsetzlich kostspielig sind.«

Norden lächelte.

»Wir hoffen, dass sich das mit der Ares ändern wird. Ich muss sagen«, fügte er hinzu, »dass Sie mit Ihrem Minimum an Erfahrung eine ganze Menge über das Thema geschrieben haben.«

»Ach, das!«, sagte Gibson, wie er glaubte, wegwerfend und leichthin. »Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Schriftsteller all das erlebt haben müssten, was sie schreiben. Als ich jünger war, habe ich alles Erreichbare über Weltraumfahrten gelesen und mir dann Mühe gegeben, das richtige Lokalkolorit zu treffen. Sie dürfen auch nicht übersehen, dass all meine interplanetarischen Romane zu einer Zeit entstanden sind, als die Weltraumschifffahrt noch in den Kinderschuhen steckte – in jüngster Zeit habe ich das Thema kaum noch berührt. Es ist für mich immer wieder eine Überraschung, dass man meinen Namen damit überhaupt noch in Verbindung bringt.«

Norden fragte sich, ob diese gespielte Bescheidenheit wohl ganz echt sei. Gibson musste doch schließlich wissen, dass es seine Weltraumbücher waren, die ihn berühmt gemacht hatten – und die die Gesellschaft bewogen hatten, ihn einzuladen. Die ganze Situation hatte für Norden etwas durchaus Belustigendes. Aber es musste einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben, all diese Möglichkeiten auszuspielen; im Augenblick musste diese Landratte erst einmal in die Routine des Tagesablaufs auf dem Schiff eingeweiht werden.

»Wir haben normale Erdzeit – Greenwich-Meridian – auf dem Schiff, und ›abends‹ wird alles geschlossen. Es gibt keine Wachen, wie es früher einmal üblich war; wenn wir schlafen, übernehmen die Instrumente automatisch die Lenkung des Schiffes, so dass wir nicht ununterbrochen Dienst zu machen brauchen. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir mit einer so kleinen Besatzung auskommen. Da genügend Platz zur Verfügung steht, kann auf dieser Fahrt jeder seine eigene Kabine bewohnen. Die Ihre ist eine Doppelkabine; die einzige, die zur Zeit voll ausgestattet ist. Sie werden sich bestimmt ganz behaglich darin fühlen. Ist Ihr Gepäck schon an Bord? Wie viel durften Sie denn mitnehmen?«

»Hundert Kilo. Die Sachen liegen noch in der Luftschleuse.«

»Hundert Kilo!« Norden unterdrückte sein Erstaunen. Der Kerl schien auswandern und sämtliche Familienerbstücke mitnehmen zu wollen. Wie alle Weltraumfahrer hatte Norden berechtigte Abscheu vor jedem Gramm Mehrgewicht und zweifelte nicht daran, dass Gibson eine Menge unnötigen Plunder mitschleppte. Doch das sollte ihn nicht weiter bekümmern, solange die Gesellschaft ihre Zustimmung gegeben hatte und die erlaubte Gewichtsmenge nicht überschritten war.

»Ich werde Jimmy Bescheid sagen, damit er Ihnen Ihre Kabine zeigen kann. Er arbeitet sein Fahrgeld durch Gelegenheitsarbeiten bei uns ab und lernt gleichzeitig etwas über Weltraumschifffahrt. Die meisten von uns haben auf diese Weise angefangen und sind in den Ferien zwischen Erde und Mond hin- und hergependelt. Jimmy ist ein ziemlich aufgeweckter Bursche – er hat bereits seinen Bachelorgrad erworben.«

Gibson hielt es bereits für völlig ausgemacht, dass sein Kabinenboy einmal ein Mann mit Collegebildung sein würde. Er folgte Jimmy – der durch seine Gegenwart bedrückt zu sein schien – ins Passagierlogis. Wie Geister glitten sie die hell erleuchteten Gänge entlang, die mit einer einfachen Vorrichtung versehen waren, die viel dazu beigetragen hatte, das Leben auf schwerelosen Weltraumschiffen angenehmer zu machen. Nahe den Wänden entlang lief mit einer Geschwindigkeit von einigen Stundenkilometern ein endloser, in regelmäßigen Abständen mit Handgriffen versehener Gurt. Man brauchte nur die Hand auszustrecken und sich festzuhalten und wurde auf diese Weise ohne die geringste Kraftanstrengung von einem Schiffsende zum anderen befördert, obwohl eine gewisse Geschicklichkeit dazu gehörte, an den Kreuzungen die Gurte zu wechseln.

Die Kabine war nicht sehr groß, aber dafür geschmackvoll entworfen und eingerichtet. Raffinierte Beleuchtung und Spiegelwände ließen sie viel größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Das Klappbett ließ sich »tagsüber« in einen Tisch verwandeln, und nichts erinnerte daran, dass man sich im Zustand der Schwerelosigkeit befand. Man hatte alles getan, um es dem Reisenden behaglich zu machen.

Gibson verbrachte die nächste Stunde damit, seine Sachen zu ordnen und sich mit den technischen Einrichtungen vertraut zu machen. Das größte Vergnügen bereitete ihm ein Rasierspiegel, der sich in ein Ausguckloch mit Aussicht auf die Sterne verwandelte, wenn man einen Knopf drückte. Er fragte sich, wie das wohl zugehen mochte.

Endlich hatte er alles so untergebracht, dass er die einzelnen Gegenstände mit Leichtigkeit wiederfinden konnte; und plötzlich gab es absolut nichts mehr zu tun für ihn. Er legte sich auf das Bett und schnallte sich die elastischen Gurte um Brust und Schenkel. Die Illusion, etwas zu wiegen, war nicht sehr überzeugend, aber es war besser als nichts und verlieh ihm ein entferntes Gefühl dafür, was senkrecht war und was nicht.

Eine Weile später klopfte es ein paar Mal hintereinander schüchtern gegen die Tür, und Gibson fuhr aus dem Schlaf hoch. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er sich befand; dann kehrte das volle Bewusstsein zurück, er schnallte sich los und sprang vom Bett herunter. Seine Bewegungen waren der neuen Situation noch immer nicht recht angepasst, und er musste sich erst kräftig von der Decke abstoßen, ehe er die Tür erreichte.

Jimmy Spencer, der davor stand, war leicht außer Atem.

»Empfehlungen vom Kapitän, Sir, und ob Sie kommen und sich den Abflug mit ansehen möchten?«

»Natürlich, gern«, sagte Gibson. »Einen Augenblick, ich will nur meine Kamera mitnehmen.«

Einen Augenblick später erschien er wieder mit einer neuen Leica XXA in der Hand. Jimmy starrte mit unverhohlenem Neid auf den Apparat, auf die Ersatzlinsen und Belichtungsmesser. Trotz dieses Ballastes erreichten sie den Beobachtungsstand, der wie eine Galerie um die Ares herumlief, in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Gibson sah die Sterne zum ersten Mal in ihrer ganzen Pracht; sie waren jetzt nicht mehr durch atmosphärische Einwirkungen oder geschwärztes Glas verdunkelt, da man sich auf der Nachtseite des Schiffes befand und die Sonnenfilter beiseitegezogen hatte. Im Gegensatz zu der Weltraumstation drehte sich die Ares nicht um die eigene Achse, sondern wurde in dem strengen Bezugssystem ihrer Gyroskope festgehalten, so dass die Sterne bewegungslos am Himmel hingen.

Als er sie in ihrer ganzen Herrlichkeit betrachtete, ein Anblick, den er oft und vergeblich in seinen Büchern wiederzugeben versucht hatte, fand er es schwierig, seine Empfindungen zu analysieren – und dabei hasste er Empfindungen, die er nicht sofort druckfertig beschreiben konnte. Merkwürdigerweise war es weder der Glanz noch die Vielzahl der Sterne, die den tiefsten Eindruck auf ihn machten. Einen derartigen Himmel wie diesen hatte er bereits früher von Gebirgshöhen auf Erden oder vom Beobachtungsdeck der Stratosphärenflieger aus gesehen; aber noch nie war es ihm so deutlich bewusst geworden, dass er von Sternen umgeben war bis hinunter zum Horizont, der für ihn nicht mehr existierte, ja, sogar noch weiter, bis unter seine Füße hinunter.

Weltraumstation Eins war ein kompliziertes, leuchtendes Spielzeug, das ein paar Meter hinter dem Fenster im Nichts schwebte. Es gab kein Mittel, ihre Entfernung oder ihre Größe zu berechnen, da alles an ihr fremdartig und neu war und die Gesetze der Perspektive zu versagen schienen. Erde und Sonne waren unsichtbar und durch den Schiffskörper verdeckt.

Beängstigend nahe ertönte plötzlich eine Stimme aus einem eingebauten Lautsprecher: »Hundert Sekunden bis zum Abschuss. Bitte, auf Position begeben.«

Gibson riss sich unwillkürlich zusammen und wandte sich an Jimmy um Rat. Aber ehe er ihn fragen konnte, murmelte sein Führer hastig: »Ich muss zurück an meine Arbeit«, und verschwand mit einer eleganten Tauchbewegung und ließ Gibson mit seinen Gedanken allein.

Die nächsten eineinhalb Minuten vergingen bemerkenswert langsam und wurden nur häufig durch Zeitansagen aus den Lautsprechern unterbrochen. Gibson fragte sich, wer wohl der Ansager sein mochte. Nordens Stimme klang anders, und wahrscheinlich war es nur eine Bandaufnahme, durch den automatischen Stromkreis in Gang gesetzt, der jetzt die Kontrolle über das Schiff übernommen haben musste.

»Noch zwanzig Sekunden. Es wird etwa zehn Sekunden dauern, bis wir die volle Stoßkraft erreicht haben.«

»Noch zehn Sekunden.«

»Fünf Sekunden, vier, drei, zwei, eine …«

Gibson fühlte sich äußerst sanft von irgend etwas ergriffen und gegen die Wand gedrückt, die sich plötzlich in einen Fußboden verwandelt hatte. Man hatte Mühe, einzusehen, dass es wieder oben und unten gab, und noch schwerer war es, diese Tatsache in Verbindung mit den entfernten, gedämpften Donnerschlägen zu bringen, die die bisher herrschende Stille zerrissen. Weit entfernt in der zweiten Kugel, der anderen Hälfte der Ares, in jener geheimnisvollen Welt sterbender Atome und automatischer Maschinen, die kein Sterblicher je betreten durfte, ohne mit dem Leben dafür bezahlen zu müssen, verspürte man nicht das geringste, dass die Beschleunigung unbarmherzig zunahm, wie das beim Start chemisch angetriebener Raketen der Fall ist. Die Ares verfügte über unbegrenzten Manövrierraum; sie konnte sich beliebig Zeit lassen, aus ihrer augenblicklichen Bahn herauszubrechen und langsam jene Hyperbel einzuschlagen, die sie schließlich zum Mars bringen würde. Jedenfalls vermochte die äußerste Kraft des Atomantriebs ihre Zweitausend-Tonnen-Masse mit einer derartigen Beschleunigung vorwärts zu bewegen, dass nur ein Zehntel ihrer Schwere übrigblieb. Im Augenblick wurde sie auf weniger als die Hälfte dieses geringen Wertes zurückgedrosselt. Atomantriebe erzeugten derart hohe Temperaturen, dass sie nur bei niedrig gehaltener Kraft verwendet werden konnten; das war einer der Hauptgründe, warum sie für ein direktes Absetzen von irgendeinem Planeten nicht in Betracht kamen. Aber im Unterschied zu den chemischen Kurzstreckenraketen blieb ihre Stoßkraft für Stunden hintereinander erhalten.

Es dauerte nicht lange, und Gibson hatte seine Orientierung wiedergefunden. Die Beschleunigung des Schiffes war so gering, dass er, wie er sich ausrechnete, kaum vier Kilogramm wog und praktisch ungehinderte Bewegungsfreiheit hatte. Weltraumstation Eins hatte sich anscheinend nicht vom Fleck gerührt, und er musste fast eine volle Minute verstreichen lassen, ehe er entdeckte, dass sich die Ares tatsächlich von ihr entfernte. Verspätet entsann er sich seiner Kamera und begann, den Abflug durch Aufnahmen festzuhalten. Als er – wie er hoffte – das schwierige Problem der rechten Belichtung, die für ein kleines, hell erleuchtetes Objektiv gegen einen pechschwarzen Hintergrund nötig war, endlich gelöst zu haben glaubte, war die Station schon ferner gerückt. In weniger als zehn Minuten war sie zu einem fernen Lichtfleck zusammengeschrumpft, den man kaum von den Sternen unterscheiden konnte.

Als Weltraumstation Eins nicht mehr zu sehen war, begab sich Gibson auf die Tagseite des Schiffes, um ein paar Aufnahmen von der zurückweichenden Erde zu machen. Als er sie zuerst erblickte, war die Erde ein riesiger dünner Halbmond, viel zu groß, als dass er sie mit einem einzigen Blick hätte überschauen können. Indem er sie beobachtete, bemerkte er, dass sie langsam immer größer wurde, da die Ares noch mindestens einen Kreis um sie beschreiben musste, ehe sie sich loslösen und die Spirale in Richtung Mars einschlagen konnte. Es würde noch eine gute Stunde vergehen, ehe die Erde viel kleiner wurde, und bis dahin würde sie noch einmal vom Neumond zum Vollmondstadium anwachsen.

Das wäre also dies, dachte Gibson. Dort unten liegt mein vergangenes Leben sowie das Leben meiner sämtlichen Ahnen bis zurück zu dem ersten Plasmatropfen im Urschlamm. Kein Kolonist, kein Entdecker, der aus seinem Heimatland fortsegelte, hat jemals so viel hinter sich zurückgelassen wie ich jetzt. Dort unten unter jener Wolkenschicht liegt die gesamte Geschichte der Menschheit; bald werde ich imstande sein, den ganzen Herrschaftsbereich des Menschen und alles, was er durch seinen Geist der Zeit entrissen hat, mit meinem kleinen Finger zu verdunkeln.

Das unerbittliche Fortstreben vom Bekannten ins Unbekannte hatte etwas von der Endgültigkeit des Todes. So musste die Seele zuletzt, alle irdischen Schätze hinter sich zurücklassend, sich in Nacht und Dunkelheit hinaustasten.

3

 

Dieselbe Sternkonstellation war durch das Kabinenfenster zu sehen, als Gibson durch eine Reihe von Klingelzeichen über das Lautsprechersystem des Schiffes aus traumlosem Schlaf gerissen wurde. Er kleidete sich in aller Eile an und begab sich auf das Beobachtungsdeck, neugierig darauf, was mit der Erde über Nacht geschehen sein mochte.

Als Erdmensch an einen derartigen Anblick überhaupt nicht gewöhnt, geriet er ein wenig außer Fassung, als er zwei Monde gleichzeitig am Himmel erblickte. Seite an Seite hängend, befanden sich beide im ersten Viertel, nur dass einer davon etwa doppelt so groß wie der andere war. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Gibson merkte, dass er die Erde und den Mond vor sich hatte – und ein paar weitere Sekunden vergingen, ehe er begriff, dass der kleinere und entferntere Halbmond seine eigene Welt war.

Plötzlich wurde Gibson gleichsam aus dem Nichts durch ein unterdrücktes Hüsteln in seinen Betrachtungen unterbrochen. Eine leicht verstärkte Stimme sagte im Konversationston: »Wenn Mr. Gibson so freundlich sein würde, sich in die Messe zu begeben, so wird er dort noch etwas lauwarmen Kaffee und etwas zu essen auf dem Tisch vorfinden.«

Er warf einen raschen Blick auf seine Uhr. An das Frühstück hatte er überhaupt nicht gedacht – ein noch nie dagewesener Vorfall. Kein Zweifel, jemand hatte ihn in seiner Kabine gesucht, und da man ihn dort nicht gefunden hatte, gab man durch das Lautsprechersystem bekannt, was man von ihm wollte.

Er eilte in die Schiffsmesse und verirrte sich in seiner Hast in dem Ganglabyrinth. Es bedeutete immer wieder eine Überraschung für ihn, wie geräumig das Schiff im Inneren war. Eines Tages würde man Schilder anbringen müssen, nach denen sich die Passagiere orientieren konnten. Gibson jedoch musste sich ohne diese Hilfe zurechtfinden. Da es weder oben noch unten gab und da der Raum nicht in horizontal und senkrecht eingeteilt war, verblieb ihm eine zusätzliche Dimension, in der er sich verlieren konnte. Er nutzte die Gelegenheit weidlich aus.

Als er den Messraum endlich mit einer Entschuldigung auf den Lippen betrat, war die Besatzung bereits vollzählig versammelt und in einer lebhaften Auseinandersetzung über Vorteile und Nachteile der verschiedenen Weltraumschiffstypen begriffen. Er aß nur wenig und hörte desto aufmerksamer zu. Aus irgendeinem Grunde hatte er keinen rechten Appetit. Doch dann entsann er sich, dass das Fehlen jeglicher Muskelanstrengung im Weltraum oft diese Wirkung hatte – etwas sehr Begrüßenswertes vom Standpunkt der Küche.

Während er frühstückte, beobachtete Gibson die miteinander redenden Männer und prägte sich ihr Benehmen und ihre Besonderheiten ein. Norden hatte die einzelnen Besatzungsmitglieder nur ganz allgemein charakterisiert, und bis jetzt waren sie keine festumrissenen Persönlichkeiten für ihn. Seltsam berührte ihn der Gedanke, dass er jeden einzelnen vor Beendigung der Reise wahrscheinlich besser kennen würde als die meisten seiner auf der Erde zurückgebliebenen Bekannten. In der kleinen Welt für sich, die die Ares darstellte, war es unmöglich, sich auf die Dauer zu verstellen oder Geheimnisse voreinander zu wahren.

Augenblicklich hatte Dr. Scott das Wort. – Später würde Gibson sehr bald merken, dass das nichts Ungewöhnliches war. –