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GREG BEAR

 

 

 

HEIMAT MARS

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

 

 

 

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www.diezukunft.de

INHALT

 

Widmung

 

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

2171

MARSJAHR 53

 

ZWEITES KAPITEL

2172

MARSJAHR 53

 

ZWEITER TEIL

2175-2176

MARSJAHRE 54-55

 

DRITTER TEIL

2178-2181

MARSJAHRE 57-58

 

VIERTER TEIL

2182-2183

MARSJAHR 59

 

FÜNFTER TEIL

2184

MARSJAHR 60

 

SECHSTER TEIL

2184

MARSJAHR 60

AUFTAKT

 

SIEBTER TEIL

DAS JAHR NULL DES NEUEN MARS

MARS IN BEWEGUNG

 

NACHWORT

von Dr. Dane Johansen

 

ANHANG

von Usch Kiausch

 

KURZE NACHBEMERKUNG ZUM ›BELL-KONTINUUM

 

A COUNTRY OF THE MIND‹, EIN LAND DER INNEREN VORSTELLUNG

ein Gespräch mit Greg Bear

 

Für Ray Bradbury

Ein Tag auf dem Mars ist etwas länger als ein Tag auf der Erde: 24 Stunden und 40 Minuten. Ein Jahr auf dem Mars dauert nicht ganz so lange wie zwei Erdenjahre: 686 Erdentage oder 668 Marstage. Im Vergleich zu den 12.756 Kilometern Erddurchmesser hat der Mars einen Durchmesser von 6787 Kilometern. Auf dem Mars beträgt die Schwerebeschleunigung 3,71 Meter pro Sekunde im Quadrat, nur etwas mehr als ein Drittel der Beschleunigung auf der Erde. An der Marsoberfläche liegt der atmosphärische Druck im Durchschnitt bei etwa 5,6 Millibar – das sind etwa 0,5 Prozent des atmosphärischen Drucks auf der Erde. Die Atmosphäre besteht vor allem aus Kohlendioxid. Am Bezugspunkt (einen ›Meeresspiegel‹ gibt es dort derzeit ebenso wenig wie Meere) schwankt die Temperatur zwischen -130 und +27 Grad Celsius. Ungeschützt würde ein menschliches Wesen an der Marsoberfläche höchstwahrscheinlich binnen Minuten erfrieren. Aber schon vorher würde es daran sterben, dass es einem fast luftleeren Raum ausgesetzt ist. Selbst, wenn ein solches unglückliches Menschenwesen die Kälte und den geringen Luftdruck überleben und ausreichend Sauerstoff zum Atmen finden würde, wäre die Gefahr nicht ausgestanden: Auf dem Mars sorgen die Sonne und andere Quellen für außerordentlich hohe Strahlungsbelastungen.

Nach der Erde ist der Mars der gastfreundlichste Planet im Sonnensystem.

Junge Menschen erinnern sich vielleicht gar nicht mehr an den Mars jener Tage. An den Mars unter der gelben Sonne. An seinen von Wolken durchzogenen Himmel in der Farbe von angestaubtem Rosa. An seinen rostfarbenen, feinen Boden. An seine Bewohner, die in belüfteten Karnickelbauten lebten. An die Oberfläche wagten sie sich nur, wenn ein solcher Ausflug unvermeidlich war, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen. Oder wenn sie Wartungsarbeiten verrichten mussten. Oder wenn sie sich um die Ernte kümmern mussten – faserige Feldfrüchte, die wie Knäuel schillernd grüner Schlangen über Ackerland verteilt waren, über das der Wind hinwegfegte. Dieser Mars, ein alter und erschöpfter Mars voll jungen Lebens, ist für immer dahin.

Jetzt bin ich alt und erschöpft, und der Mars ist wieder jung.

Wir haben unser Leben nicht in der Hand, aber wir müssen, bei Gott, so tun, als hätten wir es. Als ich jung war, schien mein Eingreifen von so geringer Bedeutung, dass mit irgendwelchen Folgen gar nicht zu rechnen war. Aber das Rieseln des Staubs kann sich im Laufe der Zeit bekanntlich zu einem Sturm ausweiten, der den ganzen Planeten erfasst …

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

 

 

2171

MARSJAHR 53

EINE ÄRA NÄHERTE SICH IHREM ENDE. Im Unterricht hatte ich die Anzeichen recht arglos registriert. Einige scharfsichtige Professoren hatten sogar düstere Andeutungen gemacht. Aber nie hätte ich gedacht, dass die Lage mich ganz persönlich betreffen würde … Bis zu diesem Tag.

Ich war aus der Mars-Universität Sinai relegiert worden. Zweihundert Kommilitoninnen und Kommilitonen und Professoren teilten mein Los. In der strahlend weißen Bahnhofshalle standen wir rechts und links in Schlangen an, Schattenkreuze lagen über allen Gesichtern. Sonnenstrahlen fielen durch das Netz aus Trägern und Querbalken, die das Bahnhofsdach stützten. Wir alle warteten auf den Solis Dorsa-Zug, der uns rasch zu unseren Wohnorten, den heimischen Ebenen, Gräben und Tälern tragen würde.

Meine Zimmergenossin Diane Johara hatte ihren gestiefelten und gespornten Fuß auf eine kleine Tasche gestellt. Mit der Stiefelspitze trat sie gegen den Griff. Die Lippen hatte sie wie zum Pfeifen gespitzt, aber es war kein Laut zu hören. Ihr Gesicht hatte sie den Sperren in nördlicher Richtung zugewandt, jeden Moment musste der Zug seine Nase hindurchstecken. Diane und ich waren zwar gute Freundinnen, aber über Politik hatten wir nie miteinander gesprochen. Das gehörte sich auf dem Mars einfach nicht.

»Ein Attentat«, sagte sie.

»Klappt nicht«, murmelte ich. Bis vor wenigen Tagen hatte ich gar nicht gewusst, wie heftig Dianes Emotionen kochten. »Wen willst du überhaupt erschießen?«

»Die Gouverneurin. Die Rektorin.«

Ich schüttelte den Kopf.

Man hatte mehr als achtzig Prozent der Studenten an der Mars-Universität relegiert – und damit den Vertrag praktisch für null und nichtig erklärt. Das kam mir verdammt ungerecht vor, aber meine Familie hatte nie zu den politischen Aktivisten gezählt. Als Tochter von Leuten, die einer im Finanzwesen tätigen BG angehörten, war ich in eine schon lange währende Tradition der Vorsicht hineingeboren worden. Also verhielt ich mich eher abwartend.

Die politische Struktur, die sich die ersten Siedler vor hundert Jahren gegeben hatten, siechte vor sich hin, ihre Tage waren gezählt. Die ersten Siedler waren in Gruppen von zehn oder mehr Familien angekommen. Von Pol zu Pol, über den ganzen Mars verteilt, hatten sie in wasserreichen Gegenden labyrinthische Bauten unter Tage angelegt. Die meisten Karnickelbauten befanden sich allerdings im Flachland und in den tiefen Tälern. Nach dem Vorbild der Mondsiedlungen hatten sich die ersten Familien zu Verbänden zusammengeschlossen, die sie ›Bindende Gruppen‹, kurz ›BGs‹ nannten. Die BGs agierten als wirtschaftliche Einheiten und waren gleichzeitig Großfamilien. ›Familie‹ und ›BG‹ wurden tatsächlich fast wie Synonyme gebraucht. Die späteren Siedler konnten sich entweder bestehenden BGs anschließen oder neue ins Leben rufen. Nur wenige Familien hatten die Unabhängigkeit vorgezogen.

Viele BGs verschmolzen miteinander und einigten sich im Laufe der Zeit darauf, den Mars in Flächenkataster aufzuteilen und die Ressourcen gemeinschaftlich zu erschließen. Da Land im Überfluss vorhanden war, sahen die Bindenden Gruppen einander im großen und ganzen nicht als Konkurrenten, sondern als Partner an.

»Der Zug hat Verspätung«, stellte Diane fest, die immer noch mit dem Stiefel wippte. »Angeblich sorgen die Faschisten doch dafür, dass die Züge pünktlich fahren.«

»Auf der Erde haben sie das nie getan«, antwortete ich.

»Du hältst es also für ein Märchen?«

Ich nickte.

»Faschisten taugen also zu gar nichts?«, wollte Diane wissen.

»Doch, zu Uniformen«, sagte ich.

»Unsere haben nicht mal gute Uniformen.«

Da die Gouverneure in den Bezirken gewählt wurden, waren sie – ungeachtet ihrer BG-Zugehörigkeit – nur den Einwohnern dieser Bezirke Rechenschaft schuldig. Den BGs erteilten sie Genehmigungen zum Bergbau und Siedlungsrechte, die Bezirke vertraten sie in einem Gemeinsamen Rat Bindender Gruppen. Die ›Syndikusse‹ oder führenden Rechtsvertreter, die innerhalb von BGs mit den Stimmen altgedienter Anwälte und Geschäftsführer gewählt wurden, vertraten im Rat die Interessen der BGs ganz eigenständig. Gouverneure und Syndikusse zogen selten an einem Strang. Es ging stets sehr förmlich und höflich zu – Marsleute sind ja fast immer höflich – aber viele Vorgehensweisen waren nirgendwo schriftlich festgelegt und boten entsprechende Reibungspunkte. Manche Leute hielten das System für überholt und untauglich. Inzwischen gab es Versuche, den Mars unter einer Zentralregierung zu vereinigen. Auf dem Mond war das bereits geschehen.

Die Gouverneurin von Syria-Sinai, Freechild Dauble, eine zähe, hartgesottene Verwaltungsbeamtin, hatte die BGs seit Jahren bearbeitet, endlich einer Staatsverfassung und zentralen Regierungsform zuzustimmen. Sie wollte die BGs dazu bringen, ihre Syndikusse zugunsten einer Bezirksvertretung zurückzuziehen. Was natürlich bedeutete, dass die BGs entmachtet werden sollten.

Inzwischen steht der Name Dauble für Korruption schlechthin. Aber damals war sie seit acht Jahren Gouverneurin des größten Marsbezirkes und trieb ihren langjährigen Flirt mit der Macht auf die Spitze. Durch Schmeichelei, Druck und Drohungen hatte sie einige Vereinbarungen zwischen den größten BGs erreicht – manche sagten auch: erzwungen. Dauble war zur zentralen Figur des Vereinigungsprozesses geworden und klammheimlich auf dem Vormarsch zur planetaren Präsidentschaft.

Manche sagten, Daubles Karriere sei das beste Argument für einen Wechsel. Aber nur wenige wagten, ihr offen zu widersprechen.

In einigen Tagen war im Rat eine Abstimmung fällig, die der neuen Verfassung des Mars auf Dauer Geltung verleihen sollte. Sechs Monate lang hatten wir den ›Probelauf‹ der Regierung über uns ergehen lassen. Viele Leute meckerten laut und deutlich. Die hart erkämpfte Vereinbarung stand auf tönernen Füßen. Dauble hatte zu viele Menschen gewaltsam gezwungen, die Vereinbarung zu schlucken, Dauble hatte zu viele Menschen gelinkt.

Mindestens fünf Familien, allesamt Gegner der Vereinigung, hatten Klage erhoben. Vor allem waren es kleinere BGs, die fürchteten, geschluckt und ausgelöscht zu werden. Die Zentralisten, die Befürworter der Zentralregierung, bezeichneten diese BGS als ›reaktionär‹ und hielten sie für eine echte Bedrohung. Eine Rückkehr zu der politischen Struktur, die sie als ›Chaotenherrschaft der BGs‹ betrachteten, würden die Zentralisten auf keinen Fall dulden.

»Wenn ein Attentat so schwierig ist«, überlegte Diane, »könnten wir wenigstens einigen Speichelleckern das Leben schwer machen.«

»Pssst!«, flüsterte ich.

Diane schüttelte ihr kurzes, struppiges Haar und wandte sich ab, dabei pfiff sie wieder lautlos vor sich hin. Das machte sie immer, wenn sie zu wütend war, um Höflichkeit zu wahren. ›Rote Karnickel‹, seit Jahrzehnten in engen Unterkünften zusammengepfercht, legten auf Höflichkeit großen Wert und bläuten sie auch ihrem Nachwuchs ein.

Die Zentralisten hatten Angst vor Zwischenfällen. Studentische Proteste konnte Dauble nicht hinnehmen. Selbst wenn die Studenten nicht zu den ›Reaktionären‹ zählen mochten, konnten sie so viel Unruhe stiften, dass sie damit womöglich die Vereinbarung zu Fall brachten.

Also hatte sich Dauble an ihre alte Freundin Caroline Connor gewandt. Dauble selbst hatte sie zur Rektorin der größten Universität, der Mars-Universität Sinai, ernannt. Connor, eine autoritätsgläubige Frau mit allzu viel Energie und allzu wenig Feingefühl, sprang ihrer Busenfreundin dadurch bei, dass sie den größten Teil des Campus einfach schloss und diejenigen, die womöglich mit den Aufwieglern sympathisierten, auf eine schwarze Liste setzte.

Meine Hauptfächer waren Staatslehre und Betriebswirtschaft. Ich hatte weder Petitionen unterzeichnet noch an Protestmärschen teilgenommen (anders als Diane, die sich schnell und heftig in der Protestbewegung engagiert hatte). Dennoch rutschte mein Name auf die Liste der Verdächtigen. Die Abteilung Staats- und Betriebslehre galt an der Mars-Universität von jeher als unabhängig. Wer konnte einem von uns schon trauen?

Wir hatten unsere Studiengebühren bezahlt, durften aber keine Seminare besuchen. Den meisten der relegierten Dozenten und Studenten blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren. Großzügigerweise stellte uns die Universität Fahrscheine für die eigens gecharterten Staatsbahnen zur Verfügung. Manche Leute, darunter Diane, hatten die Fahrscheine nicht angenommen und gelobt, sich gegen die widerrechtliche Relegation zu wehren. Deshalb wurden Diane und ich (ja, auch ich: Man beschuldigte mich der Mittäterschaft, dabei hatte ich einfach zu lange zum Packen gebraucht) mit einer Eskorte des universitären Sicherheitsdienstes beehrt, die uns persönlich aus den Universitätsräumen hinausgeleitete.

Diane bewegte sich steif, langsam und widerstrebend. Die Sicherheitsleute – die meisten gerade erst von der Erde eingewandert und von großer, kräftiger Gestalt – packten uns grob an den Ellbogen und scheuchten uns durch die Tunnel. Die raue Behandlung nährte den Samen meines Zweifels. Er wuchs ziemlich schnell. Wie konnte ich mich einer solchen Ungerechtigkeit beugen, ohne aufzuschreien? Meine Familie war zwar vorsichtig, aber Feigheit hatte man ihr noch nie nachsagen können.

Von Connors Wachen eingekreist, mit dem Rest der relegierten Studenten zum Pulk zusammengetrieben, mussten wir im Eilschritt an einer Gruppe Studenten vorbeimarschieren, die in einer Gartenhalle herumhing. Sie trugen die grauen und blauen Farben ihrer Familien. Es waren Sprösslinge von BGs, die enge wirtschaftliche Beziehungen zur Erde pflegten, Hätschelkinder der Leute, die Daubles Pläne am eifrigsten unterstützten. Ja, ja, sie waren alle noch da. Leise und gelassen unterhielten sie sich miteinander, drehten sich mit ausdruckslosen Mienen zu uns um und sahen zu, wie wir vorbeitrabten. Weder boten sie uns Hilfe noch Ermutigung an. Ihre Passivität baute Mauern zwischen uns auf. Diane stieß mich an. »Schweine!«, zischte sie.

Das sah ich genauso. Diese Leute fand ich noch schlimmer als Verräter. Sie verhielten sich wie uralte Zyniker. Sie traten die ernsthaften Ideale unserer Jugend mit Füßen.

Wir übrigen wurden in einen Wagen verladen und zum Bahnhof gebracht, die Campuswächter wichen nicht von unserer Seite.

Auf dem Bahnhof war einiges los.

Einige Studenten schlenderten einen Seitengang hinunter, kamen zurück und machten Meldung: Der Verbindungszug zum Knotenpunkt Solis Dorsa würde gleich einfahren. Diane leckte sich über die Lippen und sah sich nervös um. Der letzte der Wächter, die uns begleitet hatten, war jetzt sicher, dass wir uns auf dem Nachhauseweg befanden. Er tippte an seine Mütze und betrat ein Bahnhofscafé. Damit verschwand er aus unserem Blickfeld.

»Kommst du mit?«, fragte Diane.

Ich konnte nicht antworten. Mein Kopf brummte vor widersprüchlichen Gedanken. Meine Wut über die ungerechte Behandlung lag im Widerstreit mit den Erwartungen meiner Eltern. Meinen Eltern war der ganze Vereinigungsrummel zuwider. Sie waren fest davon überzeugt, es sei das Beste, sich ganz herauszuhalten. Das hatten sie mir auch gesagt, mir allerdings keinerlei Vorschriften gemacht.

Diane warf mir einen mitleidigen Blick zu und schüttelte mir die Hand. »Casseia, du denkst zu viel«, stellte sie fest. Sie ging den Bahnsteig hinunter und um die Ecke. In Gruppen von fünf oder weniger Personen eilten die Studenten zur Toilette, holten sich Kaffee oder erkundigten sich nach dem Wetter in ihren Heimatorten … Insgesamt neunzig Studenten hatten sich nach und nach von der Hauptgruppe abgesondert.

Ich zögerte. Die Studenten, die dageblieben waren, wirkten bemüht unbeteiligt. Wenn Seitenblicke ihre Gesichter trafen, wandten sie sich schnell ab.

Über den Bahnsteig senkte sich beängstigendes Schweigen. Eine Nachzüglerin, die an drei Beuteln schleppte, offensichtlich ein Erstsemester, machte ein paar Tanzschritte. Ihr kurzes braunes Haar flatterte. Dann ließ sie einen Beutel von der Schulter gleiten, tänzelte weiter und stieß den Beutel mit dem Fuß zwei Meter weiter. Sie entledigte sich auch der anderen Beutel, ging auf dem Bahnsteig in nördlicher Richtung davon und bog um die Ecke.

Ich zitterte am ganzen Körper. Ich betrachtete die stoischen Gesichter rings um mich und fragte mich, wie sie so träge sein konnten. Wie konnten sie einfach dastehen, auf die Ankunft des Zuges warten und Daubles Strafe ohne Widerspruch hinnehmen? Eine Strafe für politische Ansichten, die sie vielleicht nicht einmal teilten!

Der Zug schob einen Luftschwall vor sich her, als er durch die Schleusen und Sperren ratterte. Über dem Bahnsteig leuchteten Signale auf: der Stationsname, die Zugbezeichnung, die Fahrtziele. Mit ausgesuchter Höflichkeit und ohne jede erkennbare Emotion verkündete die Stimme einer älteren Frau: »Auf Bahnsteig Vier fährt jetzt ein der Solis Dorsa nach Bosporus, Nereidum, Argyre, Noachis – mit Umsteigemöglichkeit nach Meridiani und Hellas.«

»Scheiße Scheiße Scheiße!«, fluchte ich lautlos. Ehe ich überhaupt wusste, wofür ich mich entschieden hatte, ehe mich weitere Überlegungen hemmen konnten, trugen mich meine Beine um die Ecke und hinauf zu einer leeren weißen Nische. Sackgasse. Der einzige Ausgang bestand aus einer niedrigen Stahltür. Sie war mit zerkratztem weißen Email überzogen und stand einen Spalt breit offen. Ich bückte mich, machte die Tür weit auf, schaute mich um und trat ein.

Ich ging schnell. Trotzdem brauchte ich einige Minuten, bis ich Diane eingeholt hatte. In einem dunklen Wartungstunnel kam ich an zehn oder fünfzehn Studenten vorbei, dann stieß ich auf Diane. »Wohin gehen wir?«, fragte ich im Flüsterton.

»Bist du dabei?«

»Jetzt ja.«

Sie zwinkerte mir zu und schüttelte mir begeistert die Hand. »Irgend jemand hat einen Schlüssel und kennt den Weg zu den alten Kuppeln aus der Pionierzeit.«

Wir lachten gedämpft, schlugen uns gegenseitig auf den Rücken, schritten voller Enthusiasmus und von unserer eigenen Courage beeindruckt voran und traten nacheinander durch eine uralte Stahltür. Als nächstes krochen wir durch enge, stickige Tunnel, die durch bröckelndes, schwammiges Felsgestein führten. Als der letzte von uns das Universitätsgelände verlassen und über eine schwach beleuchtete Grenzmarkierung einen weiteren, noch älteren Tunnel betreten hatte, legten wir einander die Hände auf die Schultern. Halb im Marschtritt, halb im Tanzschritt rückten wir in einer Kette vor.

Jemand am Ende der Kette raunte uns barsch zu, wir sollten endlich die Klappe halten. Wir blieben stehen und wagten kaum noch zu atmen. Sekundenlanges Schweigen. Dann waren von hinten leise Stimmen und das mechanische Summen von Wartungsrobotern zu hören. Ein schweres, lautes Klirren drang uns schmerzhaft in die Ohren. Irgend jemand hatte den Tunneleingang hinter uns verschlossen.

»Wissen die, dass wir hier drin sind?«, fragte ich Diane.

»Glaub ich nicht«, meinte Diane. »Das war bestimmt irgend jemand von dem Trupp, der sich um den Luftdruck kümmert.«

Sie hatten die Tür verschlossen und versiegelt. Es gab kein Zurück.

Die Tunnel führten uns fünf Kilometer über die Grenze der Universität hinaus, durch ein jahrzehntealtes Labyrinth, das schon vor meiner Geburt nicht mehr benutzt worden war. Aber der Anführer unserer Gruppe, wer immer es auch sein mochte, wusste ganz sicher, wo es lang ging.

»Jetzt sind wir in der Vergangenheit«, sagte Diane und sah sich nach mir um. Vor vierzig Marsumläufen – mehr als fünfundsiebzig Erdenjahren – hatten diese Tunnel kleinere Stützpunkte der Pioniere miteinander verbunden. Im Gänsemarsch bewegten wir uns durch unterirdische Labyrinthe, die einst die ersten Familien benutzt hatten. Hier war es finster und bitter kalt. Die Belüftung funktionierte nur deshalb noch, weil diese Labyrinthe eine Reserve für äußerste Notfälle darstellten …

Im Licht unserer wenigen Taschenlampen und der Arbeitsleuchten im Tunnel waren Reste alten Mobiliars, veraltete Elektronik, Stapel großer Dosen mit Notrationen zu erkennen, außerdem auch Gerätschaften zum Überleben im luftleeren Raum.

Vor Stunden hatten wir in der Uni unser letztes Essen eingenommen und in den Wohnheimen ein warmes Dampfbad genossen. Das alles lag jetzt hinter uns. Vor uns lagen spartanische Verhältnisse.

Mir ging es ausgezeichnet. Ich tat etwas Wichtiges – und das ohne Zustimmung meiner Familie.

Ich hatte das Gefühl, endlich erwachsen zu werden.

Die neunzig Studentinnen und Studenten versammelten sich in einer dunklen Bucht am Ende des Tunnels, es handelte sich um die Kuppel über einem Graben, den die Pioniere angelegt hatten. Alle Geräusche – nervöses und aufgeregtes Lachen, Stimmen, die irgend etwas fragten, das Scharren von Füßen auf dem kalten Boden, gelegentlich auch Gesang – wurden von dem schwarzen Polyester, mit dem die Bucht ausgepolstert war, gedämpft. Diane vergaß die auf dem Mars übliche Zurückhaltung und nahm mich in die Arme. Dann übertönten einige Stimmen das dumpfe Gemurmel. Mehrere Studenten begannen damit, Namen und Zugehörigkeit zu BGs zu erfassen. Die Masse nahm nach und nach Gestalt an.

Zwei Ingenieursstudenten aus dem dritten Studienjahr – das Ingenieurswesen galt als konservative und strenge Abteilung – traten vor und nannten ihre Namen: Sean Dickinson und Gretyl Laughton. Nachdem wir Gruppen gebildet und Leiter ernannt hatten, bestätigten wir Sean und Gretyl im Laufe des Tages als unsere Anführer, taten unsere Solidarität und unser Engagement kund und erfuhren, dass wir tatsächlich so etwas wie einen Plan hatten.

Ich fand, dass Sean Dickinson auffallend gut aussah: Er war mittelgroß, schlank, hatte über einer ausgeprägten Stirn einen braunen Wuschelkopf und elegant gezeichnete, schmale und ausdrucksvolle Augenbrauen. Gretyl war zwar nicht ganz so attraktiv, kam aber aus dem gleichen Stall: Sie war eine schlanke junge Frau mit großen, vorwurfsvollen Augen und strohblondem Haar, das zu einem strengen Knoten aufgesteckt war.

Sean stellte sich auf eine alte Kiste und blickte auf uns herab. Er machte uns zu realen Menschen mit einer realen Mission. »Wir alle wissen, weshalb wir hier sind«, sagte er. Mit ernster Miene, glänzenden und mitfühlenden Augen hob er die Hände, streckte die langen, schwieligen Finger bis zur Polyesterkuppel und verkündete: »Die Alten verraten uns. Erfahrung bringt Korruption mit sich. Es ist an der Zeit, auf dem Mars ein moralisches Gleichgewicht herzustellen. Wir müssen ihnen zeigen, was es heißt, als einzelner Mensch für etwas einzutreten, und was unsere Rechte uns bedeuten. Freunde, sie haben uns vergessen. Wie sie auch ihre vertraglich festgelegten Pflichten vergessen haben. Wahre Marsianer vergessen solche Dinge nicht, sie können sie ebensowenig vergessen, wie sie das Atmen vergessen oder übersehen, ein Leck abzudichten. Was sollen wir also tun? Was können wir tun? Was müssen wir tun?«

»Sie daran erinnern«, riefen viele von uns. »Sie umbringen«, meinten einige. »Ihnen sagen, was wir …«, wollte ich einwerfen, hatte aber keine Gelegenheit, meinen Satz zu Ende zu bringen. In dem Gebrüll ging meine Stimme unter.

Sean legte seinen Plan dar, wir hörten begeistert zu. Er schürte unsere Wut und Empörung, noch nie war ich so aufgeregt gewesen. Wir, die wir uns die Frische der Jugend bewahrt hatten und gegen die Korruption wehrten, würden die Mars-Universität auf dem Landweg erstürmen und unsere vertraglichen Rechte durchsetzen. Wir waren im Recht, unsere Sache war gerecht.

Sean ordnete an, dass wir alle unsere Haut versiegeln sollten, die Schutzmittel wurden aus großen Plastikfässern gepumpt. Nackt tanzten wir unter den Duschen, aus denen die Schutzmittel spritzten. Wir lachten, deuteten mit den Fingern aufeinander und kreischten angesichts der jähen Kälte. Wir waren zwar leicht verlegen, aber amüsierten uns trotzdem königlich. Später schlüpften wir wieder in unsere Sachen, unter denen das elastische, eng anliegende Nanomer klebte. Die Versiegelung der Haut war für Notfälle mit dem Druckausgleich gedacht und zielte ganz bestimmt nicht auf unser Wohlbefinden ab. Die Benutzung der Toilette gestaltete sich äußerst umständlich. Wenn die Haut versiegelt ist, braucht eine Frau etwa vier Minuten, ein Mann zwei Minuten zum Pinkeln. Noch komplizierter wird’s beim festen Stuhlgang.

Für den Fall, dass wir bei Tageslicht herauskrochen, überzogen wir unseren Hautschutz zur Tarnung mit rotem Ocker. Wir sahen aus wie die Teufel in Cartoons.

Am Ende des dritten Tages waren wir müde, hungrig, dreckig und ungeduldig. Wir rückten in der unter Druck stehenden Polyesterkuppel zusammen – neunzig Personen in einem Raum, der für dreißig gedacht war. Unser rostiges Wasser zapften wir aus einer alten Zisterne. Wir hatten wenig oder gar nichts gegessen und machten Gymnastik, um gegen die Kälte anzukämpfen.

Auf dem Weg zur Essensausgabe oder zur Toilette kam ich ein paar Mal an einem blassen, nachdenklichen Burschen vorbei. Er war schlank, hatte eine Adlernase, dunkles Haar, große, fragende Augen, ein schiefes Grinsen und verhielt sich zurückhaltend und auf nervöse Weise albern. Irgendwie wirkte er nicht so aufgebracht und sicher wie wir übrigen. Schon sein Anblick brachte mich in Rage. Ich ging ihm nach, beobachtete sein merkwürdiges Gehabe, notierte im Geiste seine Minuspunkte – die Liste wurde immer länger. Ich war nicht gerade in bester Stimmung und musste ein bisschen Dampf ablassen. Also widmete ich mich seiner Erziehung.

Falls er meine Observation überhaupt bemerkt hatte, versuchte er, am Anfang jedenfalls, mir aus dem Weg zu gehen. Unter der alten Polyesterkuppel schlich er von Grüppchen zu Grüppchen und gab Belanglosigkeiten von sich. Alle waren gereizt. Seine Gesprächsversuche verliefen im Sand. Schließlich stand er vor einer elektrischen Wandheizung Schlange und wartete, bis er an der Reihe war, sich in dem warmen, trockenen Luftstrom aufzuwärmen.

Ich stand hinter ihm. Er sah mich an, lächelte höflich und hockte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Ich ließ mich neben ihm nieder. Er verschränkte die Hände über dem Knie, kniff die Lippen zusammen und vermied es, mich anzusehen. Offensichtlich hatte er es satt, sich um Gespräche zu bemühen, die sowieso scheiterten.

»Denkst du gerade was Böses?«, fragte ich nach angemessener Pause.

»Wie bitte?«, fragte er verwirrt.

»Du siehst so aus, als wärst du irgendwie sauer. Bist du wirklich mit dem Herzen dabei?«

Wieder setzte er sein irritierendes Lächeln auf und hob beschwichtigend die Hände: »Schließlich bin ich ja hier!«

»Dann leg, verdammt noch mal, wenigstens ein bisschen Begeisterung an den Tag!«

Einige Studenten schüttelten den Kopf und schlurften davon, zu erschöpft, sich in einen privaten Krach verwickeln zu lassen. Diane stieß am Ende der Warteschlange zu uns.

»Ich weiß gar nicht, wie du heißt«, stellte er fest.

»Sie heißt Casseia Majumdar«, sagte Diane.

»Oh!«, machte er. Ich ärgerte mich darüber, dass er den Namen erkannte. Dass man mich hier aufgrund meiner derzeit völlig nutzlosen Familienbindungen wiedererkannte, war so ziemlich das Letzte, was ich wollte.

»Ihr Onkel dritten Grades hat die BG Majumdar gegründet«, fuhr Diane fort. Ich warf ihr einen Blick zu. Sie spitzte die Lippen, während ihre Augen funkelten. Die kleine Ablenkung von den ernsthaften Vorbereitungen und von der Langeweile machte ihr Spaß.

»Du musst mit Herz und Verstand bei der Sache sein«, belehrte ich ihn.

»Bedaure. Bin bloß erschöpft. Ich heiße Charles Franklin.« Er bot mir die Hand.

Angesichts der Umstände fand ich das unglaublich daneben und linkisch. Inzwischen hatten wir es bis zum Heizkörper geschafft, aber ich wandte mich ab, als sei es mir egal, und schlenderte zu den Stapeln von Masken und Atemgeräten, die unser Studentenführer gerade überprüfte.

Sean Dickinson, weder Zentralist noch Reaktionär, erschien mir als Inbegriff dessen, wofür unsere spontan entstandene Organisation eintrat. Sean war der Sohn eines Eisenbahnarbeiters und hatte allein aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten ein Universitätsstipendium erhalten. An der Uni hatte er in der Abteilung für Ingenieurswesen rasch Karriere gemacht. Allerdings hatten ihn Versuche, für die BGs irgendwelche Dachorganisationen ins Leben zu rufen, vom rechten Wege abgebracht. Mit diesen Versuchen war er bei Connor und Dauble angeeckt.

Sean arbeitete mit völlig konzentrierter Miene. Sein Haar war zerzaust, mit seinen starken, spinnenartigen Fingern zerrte er am Polyester der Masken. Jedesmal, wenn er ein neues Leck entdeckte, verkrampfte sich sein Mund. Für ihn war ich Luft. Wäre ich ihm aufgefallen, hätte er sich wegen meines Familiennamens bestimmt von mir ferngehalten. Das änderte aber nichts daran, dass er mich schwer beeindruckte.

Charles kam mir nach und stellte sich neben den stetig wachsenden Haufen von Ausschuss. »Versteh mich bitte nicht falsch«, sagte er. »Ich unterstütze dies alles hier, voll und ganz.«

»Freut mich zu hören«, antwortete ich. Ich sah zu, wie die Vorbereitungen vorankamen, und zitterte innerlich. Wem gefällt schon der Gedanke an eine Raumkrankheit. Und niemand von uns war für einen Aufstand ausgebildet. Wir würden gegen das Sicherheitspersonal des Campus antreten müssen, dazu kamen bestimmt noch die von der Gouverneurin persönlich angeheuerten Schläger, vielleicht auch einige unserer früheren Kommilitonen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit sie – oder die Situation – bei einer Eskalation gehen würden.

Auf den Schirmen unserer Koms verfolgten wir aufmerksam die Nachrichten. Sean hatte über alle Netze verlauten lassen, Studenten seien in den Streik getreten, um gegen Connors widerrechtliche Relegationen zu protestieren. Allerdings hatte er von unseren dramatischen Plänen aus guten Gründen nichts erwähnt. Die Bürger des Dreierbundes – der Wirtschaftsunion aus Erde, Mars und Mond – ignorierten uns einfach. Sogar die LitVids{1} auf dem Mars schienen an uns kein Interesse zu haben.

»Ich dachte, ich könnte vielleicht helfen«, sagte Charles und deutete auf die Masken und Blechbehälter. »Ich hab das früher schon gemacht …«

»Zur Oberfläche aufgestiegen?«, fragte ich.

»Mein Hobby ist die Suche nach Fossilien. Ich wollte die Ausrüstungstruppe unterstützen, aber diese Ärsche haben gesagt, sie bräuchten mich nicht.«

»Hobby?«, fragte ich.

»Versteinerungen. Draußen. Im Sommer, natürlich.«

Ich sah darin eine Chance, Sean zu helfen und mich gleichzeitig bei Charles für mein gereiztes Verhalten zu entschuldigen. Ich ließ mich neben dem Stapel nieder und rief: »Sean, Charles sagt, er hat schon mal draußen gearbeitet.«

»Gut«, erklärte Sean und warf Gretyl eine poröse Maske zu. Ohne jeden Hintergedanken überlegte ich, ob die beiden wohl etwas miteinander hätten. Beim Anblick der Maske verfinsterte sich Gretyls Miene. Die Maske stammte aus einer uralten Kiste voller Notausrüstungen. Gretyl warf sie zu den anderen auf den Stapel von Ausschuss, der rings um unsere Füße immer höher zu werden drohte.

»Ich kann die Dinger reparieren«, schlug Charles vor. »In den Kisten sind Tuben mit Schnellkleber. Das klappt schon.«

»Ich schick doch niemanden mit einer kaputten Maske da rauf«, entgegnete Sean. »Tut mir leid, aber ich muss mich hier konzentrieren!«

»Schade«, sagte Charles, wandte sich zu mir um und zuckte resignierend die Achseln.

»Vielleicht reichen die Masken nicht«, bemerkte ich mit einem Blick auf den schrumpfenden Stapel unversehrter Ausrüstungen.

Sean warf einen Blick über die Schulter. Er stand unter Zeitdruck und war ziemlich mies gelaunt. »Dein Rat ist hier nicht gefragt«, schnauzte Gretyl mich an.

»Ist ja auch egal«, sagte Charles und griff nach meinem Arm. »Komm, lass sie arbeiten.«

Ich wehrte seinen Griff ab und trat den Rückzug an. Vor Verlegenheit war ich knallrot geworden. Charles kehrte mit mir zu dem Heizkörper zurück, aber inzwischen hatten wir unsere Plätze in der Warteschlange eingebüßt.

Nur noch die Hälfte der Lampen brannte. Von Tag zu Tag war die Luft schlechter und kühler geworden. Sehnsüchtig dachte ich an die warmen Zimmer daheim, tausend Kilometer von hier. Bestimmt sorgte sich meine Familie um mich. Wie würden sie es wohl aufnehmen, wenn ich in der dünnen Luft da draußen erstickte? Oder wenn irgendein Schurke aus den Reihen der Zentralisten meinen jungen Körper mit Geschossen durchsiebte … Ich stellte mir vor, wie man Dauble und Connor verhaftete und ins Gefängnis warf, wie sie ganz und gar in Ungnade fielen, wie sie ein für allemal der Schande preisgegeben waren … Es mochte sich sogar lohnen, dafür zu sterben …, vielleicht aber auch nicht.

»Mein Hauptfach ist Physik«, sagte Charles und stellte sich mit mir am Ende der Schlange an.

»Schön für dich«, stellte ich trocken fest.

»Und deine Hauptfächer sind Staatslehre und Betriebswirtschaft?«

»Deshalb bin ich ja hier.«

»Ich bin hier, weil meine Eltern gegen die Zentralisten gestimmt haben. Mehr habe ich eigentlich gar nicht mitbekommen. Sie gehören zur BG Klein. Die halten durch, weißt du.«

Ich nickte, ohne ihn anzusehen, und wünschte ihn sonst wo hin.

»Die Zentralisten sind auf Selbstmordkurs«, stellte Charles fest. »Sie sorgen von sich aus für ihren Niedergang …, selbst, wenn wir gar nicht nachhelfen.«

»Abwarten können wir uns nicht leisten«, wandte ich ein. Der Hautschutz würde nicht mehr lange halten. Wir waren nackt und verlegen voreinander herumgesprungen, das hatte uns miteinander verbunden. Wir kannten einander, wir dachten, wir hätten keine Geheimnisse voreinander. Aber unsere Haut juckte mittlerweile, wir stanken, und aus dem Gefühl des Unbehagens konnte schnell eine allgemeine Missstimmung werden. Das war bestimmt auch Sean und den anderen Studentenführern klar.

»Ich hab mich für ein Stipendium beworben, ich wollte auf der Erde studieren«, sagte Charles. »Außerdem hab ich gehofft, sie würden mir Zeit für die Arbeit mit KI, mit dem ›Denker‹, genehmigen. Jetzt haben sie mich von der Liste gestrichen, und ich hinke mit meinen Forschungsprojekten hinterher …« Er brach ab und senkte den Blick, als sei es ihm peinlich, so viel preisgegeben zu haben. »Weißt du«, sagte er dann, »wir müssen innerhalb der nächsten zwanzig Stunden was unternehmen. Der Hautschutz hält nicht länger.«

»Genau.« Ich sah ihn mir näher an. Er war durchaus attraktiv. Seine Stimme war sanft und angenehm. Und was ich zunächst für einen Mangel an Begeisterung gehalten hatte, wirkte jetzt eher wie Gelassenheit. Und die besaß ich selbst ganz und gar nicht.

Sean hatte inzwischen die beschädigten Schutzhelme aussortiert. Er stand auf. Mit schriller Stimme bat Gretyl um unsere Aufmerksamkeit. »Hört mal«, sagte Sean und dehnte seine verspannten Arme und Schultern, »wir haben eine Antwort aus Connors Büro bekommen. Sie verweigern ein Treffen und wollen wissen, wo wir sind. Ich nehme an, in ein paar Tagen bekommt selbst Connor heraus, wo wir sind. Also heißt es: jetzt oder nie! Wir haben sechsundzwanzig einwandfreie Ausrüstungen und acht oder zehn mit Schäden. Zwei davon kann ich noch reparieren. Der Rest ist Schrott.«

»Ich könnte bestimmt einige mehr reparieren, wenn er mich nur machen ließe«, flüsterte Charles mir zu.

»Gretyl und ich werden die Ausrüstungen nehmen, mit denen es Probleme geben könnte«, kündigte Sean an. Angesichts solch selbstlosen Muts schlug mein Herz schneller. »Aber das bedeutet auch, dass die meisten von uns hierbleiben müssen. Wir losen aus, wer mitkommt.«

»Und was machen wir, wenn die bewaffnet sind?«, fragte eine junge Frau aufgeregt.

Sean lächelte. »Wenn die da oben rote Karnickel abschießen, dann kommt unsere Sache mit raketenartiger Geschwindigkeit voran«, sagte er. Das war deutlich genug. Wenn Marsianer auf Marsianer schossen, dann würden die Zentralisten sich damit auch selbst zum Abschuss freigeben, und wir würden triumphieren. Natürlich hatte Sean recht. Bis zum Abend würden die Nachrichten schon die Runde durch den Dreierbund gemacht haben, wahrscheinlich sogar bis zu den planetaren Außenstationen vorgedrungen sein.

Was Sean sagte, klang so, als halte er Märtyrertum im Fall des Falles für recht nützlich. Ich blickte die jungen Gesichter ringsum an, sah in acht, neun, zehn Gesichter von Gleichaltrigen – nach irdischer Zeitrechnung alle um die neunzehn Jahre alt. Und dann sah ich Sean ins Gesicht, der mit seinen zwölf Marsjahren so alt und erfahren wirkte. Schweigend streckte die ganze Gruppe mit weit gespreizten Fingern die Hände empor: Es war das alte Zeichen der Unabhängigkeitsbewegung auf dem Mond. Das Zeichen stand für die Freiheit menschlicher Betätigung und für die Freiheit der Ideen, es stand für Toleranz und den Kampf gegen jede Unterdrückung, es symbolisierte ineinander greifende Hände anstelle geballter Fäuste.

Aber als Sean seine Hand wieder senkte, ballte sie sich ganz automatisch zur Faust. In diesem Moment erkannte ich, wie ernst es ihm war und auf was ich mich einließ.

Eine Stunde nach Zählung der Masken machten wir uns an das Auslosen. Jeder von uns zog einen Faden aus einem alten ausgefransten Stück optischer Fasern. Es waren sechsundzwanzig lange darunter. Genau wie Charles erwischte ich einen langen Faden. Diane zog einen kurzen und war furchtbar enttäuscht. Man teilte uns Masken zu. Wir stellten unsere persönlichen Empfänger auf den Koms so ein, dass sie Signale von Seans und Gretyls codierten Sendern entschlüsseln konnten.

Wieder und wieder hatten wir den Plan durchgesprochen. Zwanzig von uns würden direkt oberhalb der Tunnel, die zur Uni führten, die Strecke an der Oberfläche zurücklegen. Ich gehörte zu dieser Gruppe.

Etwa fünf Kilometer von unseren unterirdischen Kuppeln entfernt standen Universitätsgebäude an der Oberfläche. Die übrigen Studenten – zwei von Sean angeführte Vierergruppen, zu denen auch Charles gehörte – würden zu den Schlüsselpositionen ausrücken. Dort würden sie warten, bis Gretyl das Zeichen gab, dass wir bis zu den Verwaltungsgebäuden vorgedrungen waren. Gretyl führte unsere zwanzigköpfige Gruppe an.

Falls wir auf Widerstand trafen und daran gehindert wurden, unsere Forderungen Connor persönlich vorzutragen, würden Seans Gruppen eingreifen. Als erstes würden sie ein illegales Signal aussenden und damit SATKOM, die Satellitenkommunikation in Marsynch, in Beschlag nehmen. Andere Signale würden gar nicht mehr durchdringen. Auf diese Weise würden sie alle Kanäle zu der Meldung zwingen, dass die relegierten Studenten der Mars-Universität Sinai für die Einhaltung des Bildungsvertrages kämpften. Selbst während des zentralistischen Experiments hatte die Einhaltung von Verträgen als grundlegend gegolten. Verträge waren sakrosankt, schließlich hingen alle Familien davon ab.

Woher Sean das Know-how und die Ausrüstung hatte, mit einem Störsignal SATKOM lahmzulegen, wollte er nicht verraten. Er gab mir immer neue Rätsel auf, das machte ihn noch anziehender.

Sean selbst würde mit einer Vierergruppe zu den Bahngleisen am Knotenpunkt der Uni vordringen. Dort würden sie einige der speziell für die Magnetbahn gefertigten Schienen in die Luft jagen. Bis ein Reparaturwagen kam und neue Schienen installiert hatte, würden mehrere Stunden vergehen. Bis dahin würde kein Zug in die Station einfahren können, somit war die Uni von der Außenwelt abgeschnitten.

Gleichzeitig würde die zweite Vierergruppe, der Charles zugeteilt war, bestimmte Versiegelungen aufbrechen und Oxydationsmittel – ätzenden Treibsand, wie er in dieser Gegend üblich war – ins optische Netz und in die Satellitenverbindungen geben. Auf diese Weise würden sie alle Breitbandkommunikation zwischen der Uni und dem übrigen Mars unterbrechen. Private Anschlüsse würden zwar noch funktionieren. Aber das allgemeine Datennetz, einschließlich der Netze für die Forschungseinrichtungen und die Bibliothek, wäre auf der Stelle tot …

Bis die Leitungen repariert waren, würde die Uni vielleicht drei oder vier Millionen Dollar einbüßen (der Dreierbund hatte damals eine gemeinsame Dollarwährung).

Und das würde ihre Repräsentanten ganz bestimmt zur Weißglut bringen.

Wir warteten in zwei Schlangen, die am Mittelpunkt der Hauptkuppel ihren Anfang nahmen. Am Rande der Schlangen standen Sean und Gretyl. Sie sagten nichts und hatten die Zähne fest zusammengebissen. Einige Studenten schwenkten ihre mit rotem Hautschutz überzogenen Hände, um sich gegen die Kälte zu wappnen. Hautschutz machte das Leben keineswegs nett und behaglich. Er schützte nur gegen Unterkühlung und Erfrierungen.

Mein eigener Hautschutz war an den Gelenken bröckelig geworden. Dort sammelte sich Schweiß an, der am Nanomer heruntersickerte. Ich musste zur Toilette, aber das lag wohl eher an meiner Nervosität als an einem echten dringenden Bedürfnis. Meine Füße und Beine waren geschwollen, aber nicht schlimm. Eigentlich ging es mir gar nicht so schlecht. Aber diese kleinen Unannehmlichkeiten lenkten mich wenigstens von der mühseligen Anstrengung ab, nur ja nicht zu einem zitternden Häufchen Elend zu werden.

»Hört mal«, ergriff Sean laut das Wort und trat auf eine Kiste, damit er unsere Köpfe überblicken konnte. »Als wir mit dieser Sache angefangen haben, hat keiner von uns gewusst, auf was er oder sie sich einlässt. Wir wissen nicht, was die nächsten Stunden bringen werden. Aber wir alle haben ein gemeinsames Ziel: Wir kämpfen für die Freiheit, unser Studium ohne jede politische Einmischung fortsetzen zu können. Wir kämpfen für die Freiheit, die Sünden unserer Eltern und Großeltern nicht wiederholen zu müssen. Genau darum geht es hier, auf dem Mars. Es geht um etwas ganz Neues, um ein gewaltiges Experiment. Entweder schaffen wir es hier und jetzt, an diesem Experiment teilzuhaben – oder wir finden bei dem Versuch den Tod, bei Gott.«

Ich schluckte heftig und sah mich nach Charles um, aber er stand zu weit weg. Ob er wohl immer noch so gelassen lächelte?

»Möge es dazu nicht kommen«, sagte Gretyl.

»Amen«, ergänzte jemand hinter mir.

Sean sah sehr angespannt aus. In dem kleinen Oval ungeschützter Haut rund um Augen, Nase und Mund traten seine Gesichtsmuskeln deutlich hervor. »Also los«, sagte er.

In Fünfergruppen zogen wir uns aus. Manche legten ihre Sachen sorgfältig zusammen, andere ließen sie einfach auf den Boden fallen. Die ersten durchquerten die Luftschleuse und kletterten die Leiter hinauf. Als ich an die Reihe kam, quetschte ich mich mit vier anderen in die Schleuse, hielt angesichts des herumwirbelnden roten Staubes die Luft an und befestigte Maske und Atemgerät. Die alte Maske roch widerlich. Als ihre Ränder sich gegen den Hautschutz pressten, gab es ein schmatzendes Geräusch, wie beim Kuss einer alten Tante. Ich hörte das Kreischen der Pumpen, die die Luft zurückdrückten. Der Hautschutz blähte sich während des Druckausgleichs auf. Jede Bewegung fiel jetzt schwerer.

Meine Gefährten hatten die Luftschleuse schon passiert und begannen mit dem Aufstieg. Jetzt war ich an der Reihe. Ich hielt mich an den Leitersprossen fest und zwängte mich oberhalb des Wirbels aus rostrotem und ockerfarbenem Staub durch die Luke. Mit einem letzten Tritt verließ ich den Eingang, kletterte auf die steinige Ebene hinaus und fand mich unter einem Morgenhimmel wieder. In östlicher Richtung strahlte über einer Hügelkette die Sonne, die ein mattrosa schimmernder Lichterkranz umgab. Die plötzliche Helligkeit machte mich blinzeln.

Der Weg zur Uni führte über diese Hügelkette. Schon für den Aufstieg zur Oberfläche hatten wir eine halbe Stunde gebraucht.

Wir stellten uns ein paar Meter östlich der Kuppel auf und warteten auf Gretyl. Innerhalb weniger Minuten klebten wir alle vor Dreck. Wenn dies alles erst hinter uns lag, würden wir wohl eine halbe Stunde brauchen, bis wir wieder sauber waren.

Endlich tauchte Gretyl aus dem Loch auf. Leicht gedämpft drang ihre Stimme durch den Empfänger in meinem rechten Ohr. »Wir sammeln uns hinter Seans Gruppe«, sagte sie.

Wir konnten atmen, wir konnten miteinander sprechen. Bisher lief alles gut.

»Auf geht’s«, sagte Sean. Seine Gruppen machten sich auf den Weg, entfernten sich vom Graben. Manche winkten. Charles Rücken tauchte kurz in meinem Blickfeld auf. Seine Gruppe marschierte in offener Formation auf die Hügel zu, wir würden ihr auf einer Route, die etwas weiter südlich lag, folgen. Mir war nicht klar, warum ich Charles überhaupt beachtete. Nun ja, der Hautschutz verbarg nicht viel. Er hatte einen süßen Hintern. Schlank und straff geformt.

Ich biss mir auf die Lippe, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Ich bin ein rotes Karnickel{2}«, sagte ich mir. »Zum ersten Mal seit zwei Jahren bin ich hier oben. Und hier gibt es keine Pfadfinder- oder sonstige Wanderführer, die sich darum kümmern, dass unsere Ausrüstung in Ordnung ist und wir alle sicher zu Mammi nach Hause zurückkehren. Nimm dich zusammen, verdammt noch mal

»Auf geht’s!«, sagte Gretyl, und wir machten uns auf den Weg.

Es war ein typischer Marsmorgen, milder Frühling und minus zwanzig Grad. Der Wind hatte sich fast gelegt. Die Luft war so klar, dass man zweihundert Kilometer weit sehen konnte. Tausende von Sternen funkelten wie winzige Edelsteine am Himmelszelt. Der Horizont leuchtete wie rosa Perlmutt.

Alle meine Gedanken ordneten sich. Dieser Augenblick hatte etwas Magisches. Ich hatte das Gefühl, mir sei unsere Situation plötzlich völlig klar … und auch, welche Überlebenschance wir wirklich hatten.

Die Marsoberfläche war normalerweise sterbenskalt. Aber so nahe am Äquator waren die Temperaturen verhältnismäßig mild: selten unter minus sechzig Grad. Ganz normale Stürme konnten Windböen von mehr als vierhundert Stundenkilometern mit sich bringen, die Wolken feinen Staubs und Treibsands so hoch und so weit vor sich hertrieben, dass man sie bis von der Erde aus sehen konnte. Gelegentlich konnten plötzliche atmosphärische Turbulenzen auch einen Hochdruckwirbel erzeugen, der über Tausende von Kilometern dahinfegte und vom Orbit aus wie eine dunkle Schlangenlinie aussah. In der Folge eines solchen Wirbelsturms konnte sich der größte Teil des Mars schnell ganz und gar mit Wolken überziehen. Aber auf der Hochebene Sinai war die Luft bei fünf Millibar normalerweise so dünn, dass man so etwas nicht befürchten musste. Die Winde waren hier meistens nur sanfte, kaum spürbare Brisen.

In meinen Stiefeln stampfte ich über den verkrusteten Sand und das Geröll. Unberührter Marsboden überzieht sich nach wenigen Monaten mit einer dünnen Kruste. Die Sandkörner verbinden sich zu einer Art Zement, der ähnlich wie Raureif wirkt. Die knirschenden Schritte der anderen drangen schwach an mein Ohr. Der Schall in dieser dünnen Atmosphäre gaukelte mir vor, sie seien Dutzende von Metern von mir entfernt.

»Wir müssen nah beieinander bleiben«, mahnte Gretyl.

Ich kam an einem von Gletschern rund geschliffenen Felsen vorbei, der höher als unsere unterirdische Zentralkuppel war. Uralte Ströme von Eis hatten den verkrusteten Basalt in einen rundlichen Kobold verwandelt. Seine Arme hatte er am Boden ausgestreckt und seinen flachen Kopf wie zum Schlafen darauf gebettet … vielleicht tat er auch nur so, als ob er schliefe.

Aus irgendeinem Grund hatten die ›roten Karnickel‹ mit der Marsoberfläche nie abergläubische Vorstellungen verbunden. Vielleicht lag das an den allzu grellen Farben, an dem Orange, Rot und Braun des Marsbodens, vielleicht aber auch daran, dass dieser Boden so völlig unbelebt wirkte. Jedenfalls sprach die Marsoberfläche unsere morbiden Instinkte nicht an.

»Falls sie schlau sind und irgend jemand uns erwartet, kann es sein, dass sie hier draußen Posten aufgestellt haben«, sagte Sean über Funk. »Vielleicht überwachen sie auch das Umfeld der Universität.«

»Kann ja auch sein, dass jemand getratscht hat«, ergänzte Gretyl. Allmählich mochte ich sie. Zwar hatte sie eine unangenehme Stimme und ein starres, verkrampftes Gesicht, aber anscheinend blickte sie ganz gut durch. Warum hatte sie ihr Gesicht nicht verändern lassen? Na ja, vielleicht war dieses Gesicht so etwas wie ein Familienerbe – etwas, auf das man dort, wo sie herkam, sogar stolz war. So wie ja auch die englische Königsfamilie ihre Gesichtszüge beibehielt, das war sogar per Gesetz verordnet worden. Die lange Nase König Heinrichs von England kam mir in den Sinn.

Verdammt.

Meine Konzentration war dahin.

Egal, sagte ich mir. Vielleicht war es gar nicht gut, wenn ich mich allzu sehr darauf konzentrierte, meine Konzentration zu bewahren.

Inzwischen leuchtete die Sonne wie eine weißliche, leicht rosa eingefärbte Fackel über der Bergkette. Feine blaue Nebel wirbelten um die Sonne herum. Vor dem Orange des sich aufhellenden Tages zeichneten sich die hohen Silikat- und Eiswolken wie zartes Gespinst ab. Allmählich warfen die Felsen Schatten, das machte uns den Marsch etwas leichter. Wenn man nicht achtgab, konnte es passieren, dass man hinter Felsblöcken plötzlich in ein tiefes Loch trat. Diese Löcher hatte der Wind in den Marsboden gegraben.

Gretyls Gruppe hatte sich auseinander gezogen. Ich ging ziemlich an der Spitze, ein paar Schritte rechts von Gretyl.

»Ein Wachposten«, warnte Garlin Smith rechts von mir und hob den Arm. Er hatte mit mir zusammen den Kurs in Massenpsychologie belegt und war ein großer, stiller Mann. Er sah genauso aus, wie sich unbedarfte Erdenbürger einen Marsbewohner vorstellen mochten.

Wir alle blickten in die Richtung, in die Garlin deutete. Östlich von uns, etwa zweihundert Meter entfernt, stand auf einem Felsvorsprung eine einsame Gestalt. Sie trug ein Gewehr.

»Bewaffnet«, flüsterte Gretyl. »Ist ja nicht zu fassen.«

Die Gestalt trug eine volle Druckausrüstung, eine Profi-Ausstattung, wie sie Landvermesser, Landwirtschaftsinspektoren und Polizisten benutzten. Die Gestalt langte nach oben und klopfte gegen ihren Helm. Offensichtlich hatte sie uns noch nicht gesehen, aber das Gesumm unserer verschlüsselten Signale aufgeschnappt.

»Geht weiter«, ordnete Gretyl an. »Wenn wir es bis hierher geschafft haben, lassen wir uns doch nicht von einem einzelnen Posten abschrecken.«

»Falls das überhaupt ein Posten ist«, warf Sean ein, der unser Gespräch mitgehört hatte. »Macht euch bloß nicht selbst was vor.«

»Es muss ein Posten sein«, gab Gretyl zurück.

»Also gut«, sagte Sean mühsam beherrscht.