Hanser E-Book
Barbara Beuys
Die neuen Frauen –
Revolution im Kaiserreich
1900–1914
Carl Hanser Verlag
ISBN 978–3–446–24542-6
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2014
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München Motiv: © akg-images
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Vorgeschichte
Wurzeln: »Die Freiheit ist unteilbar«
Mit der Zeitung für die Revolution – Mit dem Gesetz gegen politische Teilnahme – Louise Otto, Auguste Schmidt und Henriette Goldschmidt gründen einen Verein
»Also vorwärts«: Studium jenseits der Grenze
Franziska Tiburtius: Examen in Zürich, Ärztin in Berlin – Bürgerinnen im neuen Reich – Hedwig Dohm: Menschenrechte haben kein Geschlecht – Professor Treitschke: Gegen Frauen und Juden – Erste weibliche Poliklinik
Höhere Töchter: Zur Heirat verdammt?
Das »Paradepferdchen« bricht mit dem Bürgertum – Gabriele Reuter: Aus Ägypten in die Provinz – Agnes Bluhm: Umweg als Lehrerin – Clara Zetkin: Harte Jahre in Paris – Ein Backfisch träumt vom hohen Turm – Helene Langes »Gelbe Broschüre« macht Schlagzeilen – Die Kronprinzessin: Das Ende der Hoffnungen
Die Emanzipation nimmt Fahrt auf
Als Journalistin für die SPD nach Stuttgart – Als fünfte Ärztin nach Berlin – Stille Tage in München und eine zündende Idee – Ein Frauen-Netzwerk entsteht – Alice Salomon und die »Mädchengruppen«
»Nicht bloß wegen der Männer auf der Welt«
Durch Heirat von Elberfeld nach Berlin: Else Lasker-Schüler – Zum Gymnasialkurs: Hermine Edenhuizen setzt sich durch – Lebensgemeinschaften – Skandalös: Gabriele Reuters Bestseller – Die Schlacht um das BGB – Minna Cauer: Radikal, aber solidarisch – Henriette Fürth: Acht Kinder und berufstätig
»Das Recht der Frau, über sich selbst zu verfügen«
Frauenclubs: Für Arbeiterinnen und Bürgerfrauen – Demütigend: 2 Frauen unter 300 Studenten – Emanzipation in der Mädchenliteratur –
Frauen gehen auf Kreuzfahrt – Paula Becker: Ein eigenes Zimmer
in Worpswede – Clara Zetkin heiratet einen Jüngeren –
Else Lasker-Schüler verrät den Vater ihres Sohnes nicht
Ab 1900
Von Männerbünden und weiblichen Marksteinen
Eine Welt ohne Scham und Zucht – Bei Siemens: Eine Frau übernimmt – Breslau: Clara Immerwahr, die erste Chemikerin – Karen Danielsen: Die »sexuelle Frage« taucht auf – »Die Frau als Hausärztin« klärt auf – Konkurrenz: Mit allen Mitteln gegen Ärztinnen – Alice Salomon:
Kuchen und Sahne zur Promotion
Gegen viele Widerstände: Frauen erobern neue Berufe
Weibliche Profis im Fürsorgeamt – Das Frankfurter Modell – Die besseren Nerven: Das Fräulein vom Amt – Schrille Propaganda für die Frau am Herd – Erfolgreich: Der Internationale Frauenkongress – Am Kaiserhof:
Verstaubter Glanz – Katholische Frauen emanzipieren sich
Beruf und Familie – geht das? Es geht!
Scheidung – geht das? Es geht!
Arbeitsehe in Worpswede: Der Ehemann ist einverstanden – Ein eigenes Zimmer: Clara Habers Ehemann grollt – Henriette Fürth ernährt die Familie – Das Ende des Tabus: Scheidung im Kaiserhaus – Else Lasker-Schüler: Die neue Liebe ist ein junger Mann – Lehrerinnen bleiben ledig – Neue Diakonissen werden selbständig
Sex vor der Ehe – warum nicht?
Mütter müssen immer bei ihren Kindern sein – eine Lüge!
Eine Beziehung zu Dritt und kein Duell – Heirat: Karen Horney, geb. Danielsen – Elisabeth Macke: Die Braut ist schwanger – Die Angst der Männer vor dem Weiber-Staat – Das Vereinsverbot fällt – Alice Salomons Werk: Die Soziale Frauenschule – Henriette Fürths Utopie: Ganztagsschulen – Paul genießt das Landschulheim
Rassenhygiene: Die Neue Frau und der Neue Mensch
Gabriele Reuters »Tränenhaus«: Die Schande unehelicher Kinder – Wer ist Lili? – Der Bund für Mutterschutz und die freie Liebe – Zuchtwahl: Fremdbestimmung oder Emanzipation? – Ida Gerhardi: Kunstagentin zwischen Paris und Berlin – Zarathustra: Held der jungen Frauen
Skandal: Der Kaiser und seine weibischen Freunde
Auf der Anklagebank: Homosexualität – Asta Nielsen:
Das Kino ist weiblich – Hermine Edenhuizen: Flucht von Köln
nach Berlin – Karen Horney schafft Familie und Studium –
Else Lasker-Schüler: Ruhm, Scheidung und kein Geld – Frankfurt: Erfolgreicher Frauen-Protest
Gegen den Trend: Die Antifeministen verbünden sich
Für das Wahlrecht auf die Straße – Katholikinnen werden politisiert – Berlin im Glanz des Frauenkongresses – Lehrer und Postbeamte fürchten weibliche Konkurrenz – Partnertausch in Lankwitz – Heirat nur mit Ehekontrakt – Starke Frauen im Film – Rassenhygieniker fordern »neuen Gebärtyp« – Vertriebsleiterin mit Prokura
Das Jubeljahr 1913: Frauen setzen Akzente
Auch die Mädchen sind dabei – Männlicher Heldentod: Sterben
ist tabu – Mutter-Blut macht Staatsbürger – Der Streit um
den Gebärstreik – England: Bürgerkrieg ums Stimmrecht –
Ein mutiger Film: »Die Suffragette« – Karen Horney: Ärztin,
zwei Kinder und Freud’sche Abende – Elisabeth Macke: Mit Baby nicht zum Festbankett
Sommer 1914 – Die Frauenbewegung und der Burgfriede
Gut vernetzt: Kongress in Rom – Alice Salomon fährt nach Dublin – August 14: Kein ungeteilter Kriegsjubel – Gertrud Bäumer gewinnt die SPD-Frauen – Clara Zetkin: Allein gegen den Krieg – Henriette Fürth fordert patriotische Opfer – Lily Brauns Roman: Einsatz für das Vaterland
Der Krieg: Kein Motor für die Emanzipation
Anita Augspurg: Kampf gegen das Ende der internationalen Frauensolidarität – Therese von Bayern: Pazifistin im Königshaus – Johanna Boldt schmeißt den Laden – Elisabeth Macke: Mitwisserin des Grauens – Clara Immerwahr: Tödliche Verachtung für den Ehemann –
Karen Horney macht Schluss mit dem Penisneid
Anhang
Verzeichnis der Abbildungen
Literatur
Register
Mit der Zeitung für die Revolution – Mit dem Gesetz gegen politische Teilnahme – Louise Otto, Auguste Schmidt und Henriette Goldschmidt gründen einen Verein
Welch ein Ziel, was für eine Aufgabe: »Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen.« Es ist das Motto der Frauen-Zeitung, deren »No. 1« mit dieser Unterzeile am 21. April 1849 erscheint und die sich in aufgewühlten Zeiten vier Jahre auf dem Zeitungsmarkt halten kann. Herausgeberin ist die dreißigjährige Schriftstellerin Louise Otto, eine »Tochter aus gutem Hause« in Meißen, die mit knapp siebzehn Jahren Waise geworden war und in allem Unglück das große Glück hatte, ein ausreichendes Erbe anzutreten: Sie war nicht, wie die meisten ihrer bürgerlichen Zeitgenossinnen, auf eine Heirat zur Versorgung angewiesen. Das junge Mädchen fühlte sich zur Schriftstellerin berufen, und das war auch die einzige Berufsmöglichkeit für Frauen ihres Standes, weil es dazu keiner professionellen Ausbildung bedurfte. Denn dergleichen gab es nicht für sie, mit Arbeit hatten nur Arbeiterinnen etwas zu schaffen. Am zierlichen Schreibtisch mit Feder und Tinte zu hantieren und romantische Fantasien aufs Papier zu bannen, das passte gerade noch ins bürgerliche Frauenbild.
Aber Louise Otto ging es nicht um schöne Geschichten. Sie wollte durch ihr Schreiben »nicht allein in und mit meiner Zeit leben, sondern auch für sie«. Zielstrebig und selbstbewusst hatte sie sich mit Gedichten, engagierten Zeitungsartikeln und sozialkritischen Romanen einen Namen gemacht. Ihr war früh klar geworden: Nur wer als Frau den Schritt auf die Bühne der Öffentlichkeit wagte, die nach herrschender Sitte und Moral ausschließlich von Männern besetzt war, konnte Aufmerksamkeit wecken für eine Idee, eine gerechte Sache. Louise Otto war entschlossen, den Frauen eine Stimme zu geben.
Mit einem Leserbrief an die Sächsischen Vaterlandsblätter in Dresden mischte sich Louise Otto 1843 in die Diskussion um »die Teilhabe des weiblichen Geschlechts am Staatsleben« ein. Von da an wurde der Bereich Frauen und Politik zu ihrem Lebensthema, vor allem in ihren Zeitungsartikeln. Oft war sie für längere Zeit in Leipzig, der Stadt der Verlage, Schriftsteller und Künstler, und knüpfte als alleinstehende Frau viele Beziehungen. Mit Robert Blum, dem radikalen Demokraten und Herausgeber der Sächsischen Vaterlandsblätter, und seiner Frau war sie eng befreundet. Als 1846 ihr Roman Schloss und Fabrik erschien, hatte zuvor der staatliche Oberzensor eingegriffen und damit das Aufsehen um die mutige Verfasserin und ihr sozialkritisches Werk noch vergrößert.
Zwei Jahre danach, im Februar 1848, jagten die Pariser ihren König davon, und der revolutionäre Funke sprang auf die deutschen Länder über. Studenten und Professoren, Kaufleute, Rechtsanwälte und Handwerker gingen auf die Straße und forderten in hitzigen Versammlungen von ihren Landesfürsten Freiheit und demokratische Verfassungen. Zum Zeichen ihrer Solidarität und demokratischen Gesinnung ließ Louise Otto an ihrem Haus in Meißen »triumphierend« die schwarz-rot-goldene Fahne flattern, das Symbol der Revolution. Es blieb nicht bei symbolischen Handlungen.
»Wohlauf denn, meine Schwestern,« fordert sie in der ersten Nummer der Frauen-Zeitung im April 1849, »vereinigt Euch mit mir, damit wir nicht zurückbleiben, wo alles um uns und neben uns vorwärts drängt und kämpft. Wir wollen auch unser Teil fordern und verdienen an der großen Welt-Erlösung, welche der ganzen Menschheit, deren eine Hälfte wir sind, endlich werden muss. Wir wollen unser Teil fordern: das Recht, das Rein-Menschliche in uns in freier Entwicklung aller unserer Kräfte auszubilden, und das Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat.« Über ein Jahr alt war die Revolution nun. Triumph und Scheitern lagen dicht beieinander.
In den deutschen Fürstentümern und Königreichen hatten die Herrscher unter dem öffentlichen Druck die Minister des alten Regimes entlassen und liberale eingesetzt; die Zensur bei Zeitungen und Schriften aller Art abgeschafft, gleiches Recht für alle versprochen. Und der revolutionäre Schwung sollte mit der Freiheit auch die nationale Einheit bringen. Im Mai 1848 versammelten sich in der Frankfurter Paulskirche rund achthundert Abgeordnete zum ersten gesamtdeutschen Parlament, gewählt von Männern über fünfundzwanzig, die einen selbständigen Beruf hatten. Es sollte eine Verfassung beschließen für einen Staat, in dem endlich alle Deutschen – so wie Engländer oder Franzosen – in einer Nation zusammenlebten.
Louise Otto unterstützt die Revolution von 1848, gründet die erste gesamtdeutsche Frauenzeitung, schreibt populäre Romane, engagiert sich für die Arbeiterinnen und fordert 1871 Mitbestimmung der Frauen im Deutschen Reich.
Nach endlosen Debatten, von vielen Frauen auf der Galerie der Frankfurter Paulskirche mit Missfallen oder Zustimmung begleitet, einigte sich die Mehrheit der Abgeordneten auf eine Verfassung für ein einiges Deutschland. An der Spitze des neuen Deutschen Reiches sollte als Kaiser der Deutschen der König von Preußen stehen, nicht als Fürst von Gottes Gnaden, sondern ein Souverän des Volkes. Im Januar und März 1849 wurden die »Grundrechte des deutschen Volkes« und die neue Verfassung rechtskräftig als Reichsgesetze verkündet.
»Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«: Louise Ottos Unternehmung einer Frauen-Zeitung hatte mit den Erfahrungen zu tun, die Tausende von Frauen im Revolutionsjahr 1848 gemacht hatten. Als Gefährtinnen im Kampf für die Freiheit, die demokratische Frauenvereine zur Unterstützung gründeten, Geld sammelten, Fahnen bestickten, Flugblätter entwarfen und verteilten, gefährliche Kurierdienste taten, vereinzelt sogar auf Barrikaden standen, waren sie den Männern willkommen. Doch wo es ums Grundsätzliche ging, da standen die Helferinnen abseits und alleine. Louise Otto hat gleich auf der zweiten Seite der ersten Nummer der Frauen-Zeitung scharf und nüchtern analysiert, was die Revolution den Frauen gebracht hat: »Und nun lasst uns einmal fragen, wie viele Männer gibt es denn, welche, wenn sie durchdrungen sind von dem Gedanken, für die Freiheit zu leben und zu sterben, diese eben für alles Volk und alle Menschen erkämpfen wollen? Sie antworten gar leicht zu Tausenden mit Ja! Aber sie denken bei all ihren endlichen Bestrebungen nur an eine Hälfte des Menschengeschlechts – nur an die Männer. Wo sie das Volk meinen, da zählen die Frauen nicht mit. Aber die Freiheit ist unteilbar!« Ein kurzer Blick in die Gesetze für den neuen deutschen Staat, der doch ein demokratischer sein soll, genügt: Louise Otto fordert eine Revolution in der Revolution. Denn am Eingang zum Reich der Freiheit, das die Paulskirchen-Männer geschaffen hatten, steht: Für Frauen kein Zutritt.
In den Grundrechten der neuen Verfassung heißt es in Artikel 2 § 7: »Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.« Und in Artikel 6 § 28: »Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wo und wie er will.« Die Sprache verrät es: damit waren nur die Männer gemeint. Die Diskriminierung der Frauen in allem, was Politik, Bildung, Rechte und Teilnahme am öffentlichen Leben betraf, war so tief verankert, dass es keiner Worte bedurfte.
Eine berufstätige Bürgerstochter? Unmöglich, undenkbar: Für Mädchen war auch im demokratischen Staat nicht an eine schulische Bildung gedacht, die über das Abitur an die Universität führte – das blieb Männersache. Wer unbedingt über Sticken und Klavierspielen hinaus tätig werden wollte und kein Talent zum Schriftstellern hatte, für den gab es seit den 1840er Jahren private höhere Töchterschulen mit angeschlossenem privatem Lehrerinnenseminar. Bedingung für diesen einzigen bürgerlichen Frauenberuf mit Ausbildung, so diffus sie auch war: zölibatär zu leben. Wenn eine Frau heiratete, war sie automatisch entlassen, denn mit der Heirat hatte sie ja ihren eigentlichen Beruf ergriffen: als Ehefrau und Mutter zu leben. In der Politik galt das gleiche Ausschlussverfahren: Die Revolutionäre von 1848/49 hatten nur Männern das Wahlrecht zugestanden, um männliche Abgeordnete für den Reichstag zu wählen. Wähler oder wählbar ist »jeder unbescholtene Deutsche« heißt es im Reichsgesetz vom 12. April 1849, und das war wörtlich zu nehmen.
Louise Otto will die Opferrolle von Frauen abschaffen. Die Frauen-Zeitung ist ihr Angebot und eine Plattform für alle »Schwestern«, den Kampf für Freiheits- und Menschenrechte selber in die Hand zu nehmen: »Wir wollen unsere Kräfte aufbieten, … dass wir den großen Gedanken der Zukunft: Freiheit und Humanität (was im Grunde zwei gleichbedeutende Worte sind) auszubreiten suchen in allen Kreisen, welche uns zugänglich sind …« Eine tollkühne Vision, quer zu allen Strömungen und Machtverhältnissen der Zeit: Für Louise Otto gehört die »Frauenfrage« in die Mitte von Politik und Gesellschaft. Bescheidenheit ist weder Frauen-Zier noch weibliche Tugend. Die Frauen »werden sich vergessen sehen«, wenn sie »vergessen, selbst an sich zu denken«.
Die Botschaft von politischer Freiheit und Emanzipation der Frauen geht an Leserinnen aus bürgerlichem Hause. Aber Louise Otto legt ihnen eindringlich ans Herz: auch mit denen solidarisch zu sein, »welche in Armut, Elend und Unwissenheit vergessen und vernachlässigt schmachten«. Gemeint sind die Arbeiterinnen. Auch das ist eine revolutionäre Forderung, denn zwischen ihnen und den Frauen des Bürgertums klafft ein Abgrund. Die Herausgeberin schließt ihr Editorial selbstbewusst mit einem Appell: »Wohlauf, meine Schwestern, helft mir zu diesem Werke!«
Drei Tage nach dem erstmaligen Erscheinen der Frauen-Zeitung lehnte der preußische König am 24. April 1849 ab, wofür sich die Mehrheit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ausgesprochen hatte: Er sollte Kaiser aller Deutschen werden. Doch im Berliner Schloss dachte man anders: Ein Herrscher von Volkes Gnaden – niemals. Ein König war nur seinem Gott verantwortlich. Damit lag die gesamte Verfassungskonstruktion für das neue Deutsche Reich in Trümmern. Für die adligen Machthaber in den übrigen deutschen Ländern war es das Signal, die liberalen Minister wieder zu entlassen, die mit liberalen Bürgern besetzten Parlamente aufzulösen und die alten feudalen undemokratischen Zustände wiederherzustellen.
Nicht alle, die auf die Freiheit gesetzt hatten, resignierten. In Sachsen, im Rheinland, in Baden brachen Aufstände aus und Frauen machten mit. In der fünften Ausgabe vom 19. Mai 1849 – die Frauen-Zeitung erschien immer samstags – stand unter der Rubrik »Blicke in die Runde«: »An dem Kampf des sächsischen Volkes in Dresden vom 3. bis 9. Mai haben auch viele Frauen teilgenommen, und zwar aus allen Ständen. Viele halfen mit am Barrikadenbau, schleppten Steine und Meublen herzu … Noch andere nahmen sich der Verwundeten an, verbanden sie … mitten unterm Kugel-Regen auf offner Straße oder trugen sie in ihre Häuser.« Und sie waren auch Kämpferinnen: »Eine Jungfrau, deren Bräutigam, ein Turner, am ersten Tag gefallen war, hat eine Barrikade drei Tage lang mit Löwen-Mut verteidigt und mit ihrem Pistol viele Soldaten niedergeschossen, bis sie selbst von einer feindlichen Kugel gefallen ist.«
Preußen schickte seine Truppen los. Nach blutigen Gefechten im Südwesten Deutschlands musste das restliche Heer der Aufständischen, die in der Festung von Rastatt eingeschlossen waren, im Juli 1849 kapitulieren. Führende Köpfe, Frauen inbegriffen, flohen außer Landes; die Zahl der deutschen Auswanderer in die Vereinigten Staaten von Amerika stieg in diesem Jahr auf 250 000. Die Sieger vollstreckten 27 von 61 Todesurteilen und warfen Tausende ins Gefängnis, die sich für Freiheit und Einheit engagiert hatten, sei es mit dem Schwert, sei es mit der Feder. Die bürgerliche Revolution von 1848 war gescheitert.
In den deutschen Staaten hatten wieder die konservativ-reaktionären Kräfte das Sagen. Zwar blieben die Verfassungen, die erst 1848 durchgesetzt worden waren, bestehen, aber um entscheidende Rechte bereinigt. Die deutschen Fürsten waren wieder die Herren im Land – von Gottes Gnaden. Der Adel als eigener Stand war nicht abgeschafft, wie es die demokratische Reichsverfassung vorgesehen hatte. Das Bürgertum, seine männliche Hälfte vor allem, musste weiterhin in allen Belangen hinter den Privilegien des Adels – der ein Prozent der Bevölkerung ausmachte – und seinem Herrschaftsanspruch zurückstecken. Auch den Frauen, die während der Revolution in großer Zahl gegen ihre traditionelle Geschlechterrolle rebelliert hatten, erteilte die neue alte Obrigkeit eine Lektion.
Zu den kleinen Freiheiten nach 1849 gehörte die Möglichkeit, sich je nach politischer Richtung in festen Strukturen zu verbinden. Liberale und konservative Politiker gründeten Parteien; die Arbeiter fanden sich in Vereinen zusammen. Nur die Männer natürlich, das musste nirgendwo festgeschrieben werden. Von den Liberalen bis zu den Arbeiterführern, von Rechts bis Links war man sich einig: Politik blieb Männersache. Doch die Obrigkeit war misstrauisch geworden. Die Frauenvereine, die sich während der Revolution und noch nach deren Scheitern gebildet hatten, um die Familien der getöteten und gefangenen Revolutionäre zu unterstützen, waren ihr ein Dorn im Auge. Was konnte die Frauenzimmer, waren sie erst auf den Geschmack gekommen, daran hindern, sich in Zukunft mit Männern zusammenzutun? Auch auf die Männer war kein Verlass, das hatten die vergangenen Monate gezeigt. Das Schlupfloch, das die Vereine boten, musste geschlossen werden.
Am 18. Mai 1850 schreibt Louise Otto einen langen bissigen Artikel über das neue preußische Vereinsgesetz, »eine Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts«, die »unseres Jahrhunderts und einer aufgeklärten zivilisierten Nation unwürdig« sei. Der Kern des Gesetzes stellt die Frauen auf eine Stufe mit den Minderjährigen, den Unmündigen: »Für Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in den Versammlungen zu erörtern, gelten … nachstehende Beschränkungen: a) sie dürfen keine Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen; b) … Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge dürfen den Versammlungen und Sitzungen solcher politischen Vereine nicht beiwohnen.« Falls dennoch Frauen angetroffen werden und sich nach Aufforderung der Polizei nicht entfernen, »so ist Grund zur Auflösung der Versammlung oder der Sitzung vorhanden«.
Mit dieser Maßnahme, so Louise Otto, seien die Frauen »der heiligsten Menschenrechte beraubt« worden. Offenbar fürchte die Obrigkeit die Teilnahme der Frauen am öffentlichen Leben und verbanne sie aus den Vereinen, um sie in »Küche und Kinderstube zu kasernieren«. Wie könne Preußen, der »Staat der Intelligenz«, nur so dumm sein, denn »Gedanken sind und bleiben ewig zollfrei … trotz diesem Vereinsgesetz«. Die »deutschen Frauen« haben erkannt, »dass wir allein nur die wahre Begeisterung in der Seele der zartesten Kinder erwecken können, dass in unserer Hand die Zukunft der deutschen Freiheit liegt«. Louise Ottos Kampfgeist war ungebrochen. Doch bis 1908 wird das Vereinsgesetz als abschreckende Drohung über allen Aktivitäten von Frauen schweben, die auch nur im Ansatz politisch genannt werden können. (Das preußische Gesetz war Vorbild für ähnliche in Bayern und Sachsen, womit de iure weit über die Hälfte der deutschen Frauen betroffen waren und de facto alle: Dass Hamburg, Bremen, Baden und Württemberg solche Verbote nicht kannten, blieb mehr als fünfzig Jahre unbekannt.)
Die Zeiten waren rauh geworden für alle, die sich keine Untertanenmentalität zulegen wollten. Doch die Herausgeberin der Frauen-Zeitung verspricht im Juni 1850 ihren Leserinnen, »ihrem Wahlspruch unwandelbar treu« zu bleiben, auch wenn sie davon ausgeht, »unter polizeilicher Aufsicht« zu stehen. Louise Otto macht keine Abstriche an der politischen Ausrichtung ihrer Zeitung, die inzwischen über Deutschland hinaus gelesen wird, in der Schweiz und in Frankreich, sogar aus New York kommt ein begeisterter Leserinnen-Brief. Als Anfang Dezember 1850 der Artikel »Ein Blick auf die politischen Gefangenen« von Louise Otto erscheint, fühlt sich die Obrigkeit von dieser Kritik so herausgefordert, dass die Ausgabe nachträglich konfisziert wird.
In der Frauen-Zeitung vom 21. Dezember 1850 informiert Louise Otto über den »§ 12 des Entwurfs eines Pressgesetzes für das Königreich Sachsen«, die nächste Diskriminierung: »Die verantwortliche Redaktion einer Zeitschrift dürfen nur … männliche Personen übernehmen oder fortführen …« Das gilt auch für die Mitredakteure. Die Herausgeberin nennt es eine »neue Unmündigkeitserklärung der Frauen«. Selbst in diesen reaktionären Zeiten ein starkes Stück, »wenn man Frauen durch ein solches Gesetz sagt, dass sie nicht fähig oder würdig sind für einen Beruf, der ihnen bisher noch niemals und nirgends streitig gemacht worden ist«.
Louise Otto will das Heft des Handelns behalten. In der folgenden Ausgabe erscheint zum 31. Dezember 1850 ihr »Abschiedswort«. Ausführlich erinnert sie an ihr »Programm« in der ersten Nummer vom 21. April 1849 und ist überzeugt: »Die Frauen-Zeitung hat gehalten, was sie versprochen … Sie hat ›dem Reich der Freiheit Bürgerinnen geworben‹, sie hat unzählige Frauen aufgeweckt aus ihrem Halbschlummer und angeregt, ›ihr Teil zu fordern‹…« Louise Otto stellt ihre Frauen-Zeitung von sich aus ein, bevor die Umstände sie dazu zwingen, und sie nimmt den Trost mit, »dass die Frauen-Zeitung heute nicht für immer begraben wird. … Es werden wieder andere, menschlichere Zeiten kommen … Dann wird die Frauen-Zeitung wieder erstehen mit neuer Kraft in dem altem Geist«. Getreu ihrer Maxime, die Sache der Frauen stets in einem politischen Gesamtzusammenhang zu sehen, stellt sie unter den Augen der Zensur ihre Vision in die Öffentlichkeit: »… dann werden wir wieder frei sprechen und schreiben dürfen, und … man wird dann keines mehr uns weigern von alle den Rechten, die jetzt vielleicht noch in Frage sind. … Bis dahin, lebet wohl – auf Wiedersehen! Die Redaktion.«
Es war nicht das Ende der Frauen-Zeitung. Von Briefen und Aufmunterungen überwältigt, den einzigartigen überregionalen Leuchtturm der Frauensache zu erhalten, macht Louise Otto am 5. Februar 1851 weiter. Um vor dem sächsischen Pressegesetz geschützt zu sein, liegt der neue Druckort in Gera im Fürstentum Reuß jüngere Linie, und die Herausgeberin gibt die Redaktionsleitung an die dortige männliche Verlagsleitung ab. Eine Formalität, Louise Otto schreibt weiterhin. Und sie nennt ihren Leserinnen den Preis für das journalistische Weiterleben: Politischen Klartext konnte sie nicht mehr schreiben, sie will sich vor allem »sozialen Angelegenheiten« zuwenden. Sie vertraut darauf, dass ihre Leserinnen zwischen den Zeilen lesen und den »Ideenschmuggel« erkennen können. Im November 1851 verspricht sie stolz, »wenigstens mit den Ketten zu klirren, die man nicht lösen kann«.
Das sächsische Innenministerium hatte inzwischen die Obrigkeit im Fürstentum Reuß informiert, dass Louise Otto sich mit ihrer Zeitung das Ziel gesetzt habe, »die Grundlagen des bestehenden Rechts und der gesellschaftlichen Ordnung zu untergraben« und »das weibliche Geschlecht zum Umsturz geneigt zu machen«. Das Frauenzimmer sei immer noch »gemeingefährlich«. Prompt durchsucht die Polizei die Druckerei und verhört den Verleger. Doch nichts Belastendes wird gefunden, die Frauen-Zeitung erscheint ungehindert bis Ende Juni 1852. Dann gibt es keine weiteren Ausgaben mehr, auch keine Erklärung, keinen Hinweis, warum. Anfang 1853 taucht sie genau so rätselhaft wieder auf, gedruckt in Leipzig, wo der neue Verleger auch die redaktionelle Leitung hat. Sie heißt nun Deutsche Frauen-Zeitung, aber Briefe von Louise Otto lassen keinen Zweifel, dass es die Fortführung ihrer Zeitung ist und sie daran redaktionell mitarbeitet.
Allerdings mehren sich die Auseinandersetzungen mit dem neuen Leipziger Verleger, sie betreffen den persönlichen Umgang wie den Inhalt der Zeitung. Zum 1. Juli 1853 wird der dritte Versuch der Frauen-Zeitung scheitern. Diesmal ist es endgültig, und Louise Otto schreibt erleichtert, »jetzt denke ich nur an den Ärger, den ich bei jeder Nr. hatte, Druckfehler u. Anderes, u. bin vollkommen ausgesöhnt mit diesem Ende«.
Die Korrespondenz mit diesen Informationen führt zu August Peters, der im Königreich Sachsen eine Zuchthausstrafe als politischer Gefangener verbüßt. Im Revolutionsjahr 1848 hatte Louise Otto den engagierten Demokraten als Herausgeber der Dresdener Wochenzeitung Die Barrikade brieflich kennengelernt. Sie schrieb für seine Zeitung, es entwickelte sich eine intensive Brieffreundschaft. Der gescheiterte Aufstand im Mai 1849 brachte Peters als aktiven Kämpfer in den Kerker. 1852 haben sich Louise Otto und August Peters verlobt. Im Sommer 1856 wurde er entlassen, gezeichnet von den brutalen Haftbedingungen. Die beiden heirateten und lebten seit 1860 in Leipzig, wo sie zusammen die Mitteldeutsche Volkszeitung herausgaben. August Peters starb 1864.
Die enorme schriftstellerische Produktion nach dem Ende ihrer Frauen-Zeitung legt Zeugnis ab, dass die vierunddreißigjährige Louise Otto ungebrochen die nächste Etappe ihres Lebens gestaltete. Fast jährlich erscheint ein Roman, mindestens in drei Bänden, in dem sie die Revolution von 1848 oder Frauenthemen behandelt. Ungebrochen ist auch ihre Fähigkeit, Menschen zu gewinnen und Netzwerke unter Frauen aufzubauen. Zu den neuen Freundinnen in Leipzig zählt bald Auguste Schmidt. Die junge Lehrerin hatte es 1861 von Breslau in die lebendige sächsische Großstadt gezogen. Leipzig bedeutete für Auguste Schmidt einen Karrieresprung, denn sie wurde Leiterin einer angesehenen »höheren Privattöchterschule«. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Zugezogenen mit Henriette Goldschmidt bekannt wurden, der Frau des liberalen Leipziger Rabbiners. Sie engagierte sich für eine Reform der Frauenbildung und für moderne Kindergärten nach dem Modell des Pädagogen Friedrich Fröbel. Die drei Frauen trafen sich regelmäßig und haben nicht nur eine Tasse Tee getrunken.
Auguste Schmidt ist Leiterin einer angesehenen höheren Töchterschule in Leipzig und gründet 1865 mit Louise Otto und Henriette Goldschmidt den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF). Ihre Forderung: gleichberechtigte Bildung für Frauen.
Der Blick auf ihre Zeit war ernüchternd. Bei den Bürgern war der 48er-Ruf nach Freiheit und demokratischer Beteiligung – der Männer – an den Staatsgeschäften verstummt. Sie hatten sich den reaktionären Machtverhältnissen angepasst, zumal eine positive Wirtschaftsentwicklung steigenden Wohlstand brachte. Und dann wurde 1862 vom preußischen König ein neuer Ministerpräsident eingesetzt, der zwar nichts von Freiheit hielt, aber die frustrierten Liberalen mit der Aussicht köderte, unter seiner und Preußens Führung die deutsche Einheit zu verwirklichen. Welchen Weg er dazu einschlagen würde, verkündete Otto von Bismarck, der neue Ministerpräsident, im September 1862 im preußischen Abgeordnetenhaus: »Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht … nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden –, das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.« Die Liberalen verstanden. Ihr Scheitern als Revolutionäre unter dem Motto »Durch die Freiheit zur Einheit« lag an der falschen Reihenfolge. »Einheit und Freiheit« hieß nun die Parole, für die sie sich begeisterten. Der Einheit musste sich alles unterordnen.
Louise Otto-Peters, Auguste Schmidt und Henriette Goldschmidt haben dem resignierenden Zeitgeist nicht ihre Ideale geopfert – gleiche Rechte für Frauen in allen Bereichen als Teil der Freiheits- und Menschenrechte. Sie fanden einen Weg, dem Verbot politischer Anteilnahme und Betätigung zum Trotz, wie es das Vereinsgesetz von 1850 für Frauen festschrieb, die Sache der Frauen weiterzubringen und in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten.
Im März 1865 gründeten die drei Frauen den Leipziger Frauenbildungsverein; im Oktober luden sie zu einer deutschen Frauenkonferenz nach Leipzig ein und gründeten den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF). Sein Hauptzweck wurde mit § 1 der Statuten am 17. Oktober 1865 von der Konferenz verabschiedet: »Der Allgemeine deutsche Frauenverein hat die Aufgabe, für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften zu wirken.« Wenn das kein politisches Ziel war, so umständlich und wenig konkret es formuliert war. Und gerade darin liegt die listige Klugheit der Gründerinnen: Bildung als Schlüssel zu erkennen, der eine ganze Welt aufschließt und hinausführt aus den traditionellen Bezügen und Fesseln, dazu fehlte den Aufsehern, Zensoren und Machthabern in den Amtsstuben jedes Vorstellungsvermögen. Der Verein wurde zum gesamtdeutschen Katalysator. In Städten und Gemeinden bildeten sich lokale Frauenvereine, um sich als gemeinsame Front in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen und Forderungen zu stellen.
Den drei Frauen war daran gelegen, nicht nur die Lage der bürgerlichen Frauen zu verbessern. Sie kritisierten die elenden Arbeitsumstände von Fabrik- und Heimarbeiterinnen und organisierten in Leipzig Abendschulen und Fortbildungskurse, zu denen Arbeiterinnen eingeladen waren. Dass ein moderner Verein auf die Macht der Medien angewiesen war, musste diesen Pionierinnen niemand erzählen. Schon ab Dezember 1865 gaben Auguste Schmidt und Louise Otto die Vereinszeitschrift Neue Bahnen heraus, benannt nach einem Roman von Louise Otto, der im Jahr zuvor erschienen war und sich mit dem Thema weiblicher Berufstätigkeit befasste.
Interessierte Männer waren willkommen bei der ersten gesamtdeutschen Frauenkonferenz, auch wenn der Allgemeine Deutsche Frauenverein ausdrücklich ein Verein von Frauen für Frauen war. Der Drechslermeister August Bebel, Vorsitzender des Leipziger Arbeiterbildungsvereins, war 1865 unter den Eingeladenen. Er kannte und schätzte die drei Gründerinnen. Dreieinhalb Jahre später, im April 1869, gehörte Bebel als Vorsitzender des Verbandes Deutscher Arbeiterbildungsvereine bei einer Konferenz in Eisenach zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Als es um die Grundsätze der neuen Partei ging, votierte die Mehrheit der Teilnehmer für die Forderung nach einem Allgemeinen Wahlrecht für alle Männer ab Zwanzig. August Bebel zählte mit seinem Antrag, auch Frauen in das Wahlrecht einzuschließen, zur Minderheit.
Und überhaupt: Wen interessierten schon Frauenfragen in diesen aufregenden politischen Zeiten. Nur neun Monate nach Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, im Sommer 1866, hatte die preußische Armee in einem Blitzkrieg Österreich geschlagen, und damit die brisante Frage entschieden, unter welcher Führung sich die einheitliche Deutsche Nation bilden sollte – Österreichs oder Preußens. Otto von Bismarck, dem preußischen Ministerpräsidenten, der diesen Bruderkrieg bewusst eingefädelt hatte, jubelte die Mehrheit der Deutschen zu und wartete gespannt auf seinen nächsten politischen Schachzug.
Louise Otto hatte den Leserinnen in der ersten Nummer ihrer Frauen-Zeitung eingeschärft: Es liegt an den Frauen, aktiv zu werden. Im November 1867 trauten sich einundneunzig großbürgerliche Frauen in Berlin und gründeten einen Verein für Frauen mit einem revolutionären praktischen Ziel. Es war der Verein der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen, der schon 1868 soviel Geld von Spenderinnen und Spendern zur Verfügung hatte, dass in seiner neuen Mal- und Zeichenschule mit dem Unterricht begonnen werden konnte. Junge Frauen erhielten durch den Verein erstmals in Deutschland eine professionelle Ausbildung zur Künstlerin, denn das Studium an den Kunsthochschulen war ihnen verboten. Von einer prominenten Absolventin werden wir noch hören: Paula Modersohn-Becker wird nach der Jahrhundertwende nach Paris aufbrechen, und es in die Avantgarde der modernen Malerei schaffen.
Der Aufbruch der Frauen, die sich als »Neue Frauen« empfanden, ist eine Erfolgsgeschichte und Teil des Aufbruchs der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich bis zum August 1914, als der Große Krieg einen tiefen Einschnitt brachte. Es ist überfällig, diesen Prozess als die Erfolgsgeschichte der Frauen zu erzählen. Sie bedeutet eine historische Zäsur, eine Revolution, die in die Geschichte von Freiheits- und Menschenrechten gehört.
Es gab innerhalb der Frauenbewegung Diskussionen und Widersprüche, heftigen Streit inbegriffen. Ja warum denn nicht? Was im Rückblick zählt, sind die radikal neuen Lebensentwürfe, die Frauenvereine erkämpften und einzelne Frauen als Pionierinnen lebten. So gesehen, wirft die Frauengeschichte auch ein Licht auf das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, als die »Frauenfrage« plötzlich wieder Gesellschaft und Politik beschäftigt und als »zeitgenössischer Feminismus« Schlagzeilen macht. Ungelöste Fragen erscheinen modern und aktuell, für die schon vor über hundert Jahren engagierte Frauen gerechte Lösungen gefordert haben.
So wie die Wurzeln der Frauenbewegung bis in die Revolution von 1848 reichen, gehört zum Kern deutscher Geschichte, wie im Kaiserreich zwischen 1871 und 1900 Frauen Breschen in ideologische Mauern schlugen, und sich zusammentaten, um Reformen einzufordern. Diese Zeitspanne, als vieles im Werden war und sich die Gegner der Emanzipation mit schrillen Pamphleten Gehör verschafften, hat jene Frauen geprägt, die dann nach 1900 auf breiter Front in die Öffentlichkeit traten und der Neuen Frau endgültig Kontur gaben.