Axel Bojanowski
Die Erde
hat ein Leck und andere
rätselhafte Phänomene
unseres Planeten
Deutsche Verlags-Anstalt
Axel Bojanowski
Die Erde
hat ein Leck und andere
rätselhafte Phänomene
unseres Planeten
Deutsche Verlags-Anstalt
Die Karten und Grafiken im Innenteil stammen von Peter Palm, Berlin (→ nach Vorlage von Sebastian Rost/ASU modifiziert), mit Ausnahme von: US Geological Survey, Denver, und Norbert Jürgens/Science dpa/picture-alliance.
1. Auflage
Copyright © 2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
und SPIEGEL-Verlag, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
Typografie und Satz: Brigitte Müller/DVA
Gesetzt aus der Minion
ISBN 978-3-641-11795-5
www.dva.de
Für meine Eltern
»Das schönste Glück des denkenden Menschen ist,
das Erforschliche erforscht zu haben und das
Unerforschliche ruhig zu verehren.«
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt
Vorwort
1
Die Erde kippt
2
Das Zittern der Kompassnadel
3
Eine Melodie von dieser Welt
4
Seltsame Wesen tief unter der Erde
5
Die Erde hat ein Leck
6
Die Erde atmet
7
Tsunami nach Schluckauf
8
Monsterwellen am Strand
9
Die Ostsee-Sintflut
10
Landwippe stoppt Eiszeiten
11
Mythos von der weißen Weihnacht
12
Das Geheimnis der warmen Nordhalbkugel
13
Am Hitzepol der Erde
14
Die Alpen werden zur Seenlandschaft
15
Die Alpen rutschen nach Osten
16
Knacken unterm Ozean
17
Eine Kaskade von Beben
18
Erdbeben auf Speed
19
Der wankende Dom zu Köln
20
Die dunkle Gefahr
21
Unterschätzte Starkstromfackeln
22
Der Biowetter-Unsinn
23
Friedhof der Kontinente
24
Das plötzliche Erwachen der Supervulkane
25
Der unfassbare Vulkan
26
Das Vesuv-Orakel
27
Feuerraketen aus dem Boden
28
Mysterium der Feenkreise
29
Rätsel der polierten Felsen
30
Tropfen aus Sand
31
Neuland in der Nordsee
32
Es führt ein Weg nach nirgendwo
33
Wo die Welt ins Rutschen kommt
34
Vom Erdboden verschluckt
35
Leere unter Metropolen
36
Unheimliches Fracking
37
Die Epoche Mensch
Epilog
Die größten Rätsel der Erde
Literatur
Dank
Vorwort
Auf mein erstes Buch, Nach zwei Tagen Regen folgt Montag, das im Frühjahr 2012 erschienen ist, habe ich zahlreiche inspirierende Reaktionen erhalten. Leser und Besucher meiner Vorträge erzählten von ihren Erfahrungen mit Naturgewalten und rätselhaften Phänomenen der Erde. Die vielleicht beste Frage hörte ich nach einem Vortrag in Mannheim, sie kam von einer Sechsjährigen: »Woher wissen Sie das?«, rief sie aus der sechsten Reihe in Richtung Bühne. Welch gute Frage! Auf Pressekonferenzen hört man so etwas eher selten. Journalisten erkundigen sich bei Wissenschaftlern meist nicht nach Grundlagen, sondern eher nach Ergebnissen und Folgerungen. Das erklärt womöglich auch, warum sich Forschungsberichte in den Medien so häufig als feststehende Erkenntnisse lesen, nicht aber als Ideen, Entdeckungen oder Indizien, um die es sich genau genommen in den meisten Fällen handelt. Erst die magische Kinderfrage »Woher wissen Sie das?« öffnet den Blick für die faszinierende Arbeit des Wissenschaftlers.
Kaum jemand freut sich allerdings, werden seine Ansichten öffentlich angezweifelt. Selbst Forscher reagieren nicht immer begeistert, wenn sie mit Wissenslücken konfrontiert werden. Auf einem Vortrag im voll besetzten Hörsaal der Universität Leipzig berichtete ich den versammelten Geoforschern von Themen ihres Faches, die bei Lesern von SPIEGEL ONLINE auf besonderes Interesse stoßen. Ich legte dar, wie begeistert über Naturgewalten und ihre Mysterien diskutiert wird, sofern keine Wortungetüme und Zahlenkolonnen die Schönheit der Wissenschaft überdecken. Vor allem einige ältere Professoren im Leipziger Auditorium fremdelten jedoch mit meiner Darstellung. Der Fachbegriffe beraubt, erschienen ihnen ihre Studien nicht ehrwürdig genug.
Ich verstand diese Wissenschaftler sehr gut, teile ich doch ihre Begeisterung darüber, mit Begriffen und Zahlen den Blick für wissenschaftliche Details schärfen zu können. Doch Forschung kann ebenso leuchten, wenn Außenstehende sie mittels klarer Sprache verstehen können. Aufgabe der Wissenschaft sei es gar, tiefe Wahrheiten auf Trivialitäten zurückzuführen, sagte der Physiknobelpreisträger Niels Bohr zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vereinfachung diene Experten als Prüfung, meinte sein Zeitgenosse Albert Einstein: Wer seine Arbeit Laien nicht erklären könne, sagte der Physiker, der habe sie vermutlich gar nicht verstanden. Man solle Dinge so einfach wie möglich machen – aber nicht einfacher.
Schwer fällt die Berichterstattung über Wissenschaft mitunter, wenn sie Einfluss auf politische Entscheidungen hat. Wie zum Beispiel bei der Suche nach einer Erdschicht, die beweisen soll, dass das Anthropozän begonnen hat, das geologische Menschen-Zeitalter. Den Text darüber (Kapitel 37) habe ich zusammen mit meinem geschätzten Kollegen Christian Schwägerl geschrieben. Zurzeit wird hitzig über das Thema Fracking gestritten, über diese besondere Art der Erdgasförderung, und bei dieser Debatte gehen die tatsächlichen geologischen Kenntnisse oft unter (Kapitel 36). Ähnliches gilt für die Klimaforschung. Harmlos erscheinende Darstellungen über Temperaturen (Kapitel 13) lösen mitunter emotionale Ausbrüche aus. Auch mir wurde schon unterstellt, mit Berichten über Klimarätsel politische Umweltziele zu untergraben. Zum Beispiel nach einem Vortrag im niedersächsischen Oldenburg, als ein älterer Gymnasiallehrer mir vorhielt, ein »Klimaskeptiker« zu sein, der unberechtigte Zweifel an einem »Konsens der Wissenschaft« säen würde. Anstoß erregten meine Berichte über die Auswirkungen von Klimaschwankungen in der Geschichte. Auf die Vorhaltungen hin versuchte ich zu erläutern, dass faszinierende Phänomene nicht unbedingt in politische Debatten gezwungen werden müssten. Seit dem 19. Jahrhundert beispielsweise grübelten Wissenschaftler, warum die Nordhalbkugel wärmer ist als der Süden, jetzt haben sie eine Antwort (Kapitel 12). Politik ist aus meiner Sicht in solchen Texten meist fehl am Platz.
»Das ganz natürliche Motiv der Neugier auf das Verstehen der Natur ist hochlegitim«, betonte der von mir sehr bewunderte Wiener Klimatologe Reinhard Böhm zeit seines Lebens. »Lassen Sie sich nicht einreden, wir wüssten genug«, sagte er gegenüber Laien. »Trachten Sie stets, die Wissenschaft kritisch zu hinterfragen, seien Sie skeptisch, kontrollieren Sie auch das, was ich so alles behaupte.« Reinhard Böhm starb zur Bestürzung aller, die ihn kannten, im Oktober 2012 im Alter von nur 64 Jahren. Er forschte gerade auf einem Gletscher, als er einen Herzinfarkt erlitt. Um sich die Faszination an der Natur zu bewahren, helfe es, rauszugehen ins Gelände, so lautete Böhms Credo, der Wissenschaft am liebsten im Hochgebirge betrieb. Mir geht es ähnlich. Habe ich eine Zeit lang Studien gelesen, Interviews geführt und Texte geschrieben, fahre ich in die Natur. Dieses Vorwort schreibe ich auf der Azoren-Insel São Miguel, umgeben von aktiven Vulkanen und dem tosenden Meer. Für die Flugreise zu dem abgelegenen Atlantik-Archipel hatte ich rechtzeitig den Geologenplatz im Flugzeug reserviert: einen Fenstersitz vor der Tragfläche mit bester Sicht auf die Landschaft.
Beim Schreiben musste ich nun wieder an die Leipziger Professoren denken: Sie würden womöglich die Formulierung »Die Erde kippt« (Kapitel 1) infrage stellen, wo doch die wissenschaftliche Formulierung des Vorgangs »true polar wander« oder »Echte Polwanderung« laute. »Kippen« beschreibt jedoch erheblich klarer, welch erstaunlichem Vorgang Geoforscher auf die Spur gekommen sind: Mit einer Geschwindigkeit von 1700 km/h dreht sich die Erde am Äquator. Unwucht im Inneren des Planeten kann ihn aus der Balance bringen. Und genau das scheint derzeit zu geschehen, wie Sie im ersten Kapitel lesen können.
Jetzt fragen Sie vermutlich: Woher wissen Sie das? Woher kennen Sie diese dramatischen Vorgängen im Innern unseres Planeten und die anderen Rätsel der Erde in diesem Buch? Im Literaturverzeichnis habe ich die wissenschaftlichen Grundlagen meiner Geschichten aufgelistet.
Axel Bojanowski, Ponta Delgada, im Januar 2014
1
Die Erde kippt
Mit 1700 km/h dreht sich die Erde am Äquator. Fliehkräfte beulen sie aus, platten sie an den Polen ab. Riesige Gesteinswobbel im Bauch des Planeten sorgen für Unwucht, die ihn aus der Balance bringt – und genau das scheint derzeit zu geschehen: Die Erde sucht ihr Gleichgewicht, sie kippt.
Mit einer neuen Methode haben Geoforscher um Bernhard Steinberger vom Helmholtz-Zentrum Potsdam das Taumeln des Planeten berechnet. Demnach ist die Erde zweimal in den vergangenen 100 Millionen Jahren so stark gekippt, dass Kontinente in neuen Klimazonen lagen. Und gegenwärtig neige sich der Planet erneut. Experten sprechen von »echter Polwanderung« – denn die Erde kippe gegenüber ihren Drehpolen.
Auch zuvor soll es bereits zwei solche dramatischen Neigungen gegeben haben: Vor 320 Millionen Jahren ist der Planet um 18 Grad verrutscht. Deutschland würde nach einem solchen Ereignis auf der Höhe der Sahara liegen. Und vor 550 Millionen Jahren, just als die komplexeren Lebewesen entstanden, scheint der Planet ebenfalls gekippt zu sein. Nordamerika etwa schob sich damals offenbar tief aus dem Süden auf den Äquator. Steinberger und seine Kollegen Pavel Doubrovine und Trond Torsvik von der Universität Oslo haben die Bewegung der Kontinente neu vermessen. Das größte Problem dabei war, die Verschiebung einzelner Erdplatten von der Bewegung der gesamten Erde zu unterscheiden. Zeigen geologische Spuren, dass einst alle Platten in dieselbe Richtung gerutscht sind, so deuten Experten das als Beleg für das Kippen des Planeten. Das Forscherteam rekonstruierte die Wege der Erdplatten anhand der Bewegungen des darunterliegenden zähflüssigen Erdmantels.
Als beste Spuren der Krustenplatten eignen sich sogenannte Hot-Spot-Vulkane: Die Erdplatte rutscht über eine Magmaquelle, die einem Schweißbrenner gleich Vulkane in den Meeresboden brennt. Die Vulkane erlöschen, sobald die Plattendrift sie vom Magma weggeschoben hat – auf diese Weise ist die Inselkette von Hawaii entstanden, die im Pazifik verrät, in welche Richtung sich der Meeresboden verschoben hat. Steinberger und seine Kollegen haben aber festgestellt, dass sich nicht nur der Meeresboden verschiebt, sondern auch die Magmaquelle darunter. »Das zeigen unsere Computersimulationen«, berichtet Steinberger. Grundlage hierfür waren Erdbebenwellen, die das Innere des Planeten gewissermaßen durchleuchtet haben und Strömungen zähflüssiger Gesteinsmasse unter den Erdplatten offenbaren, die die Platten mitschleppt wie Flöße. Überprüft hätten sie ihre Simulationen der Erdplattenbewegungen, indem sie die Ergebnisse mit geologischen Daten der Erdgeschichte abglichen, erzählt Steinberger. Die Ausrichtung magnetischer Minerale etwa, die sich nach dem Erdmagnetfeld richten, verrät die Drift der Kruste: Nach dem Erstarren von Magma zu Gestein haben eisenhaltige Partikel die Nordrichtung früherer Zeiten gewissermaßen eingefroren. Ihre heutige Position zeigt also, wie sich Erdplatten verschoben haben. Mit Steinbergers Simulationen lassen sich die Bewegungen auf der Erde bis zu 120 Millionen Jahre zurückverfolgen.
Echte Polwanderung: Unwuchten im Innern lassen die Erde gegenüber ihren Drehpolen kippen.
Und das Ergebnis lässt staunen: Um neun Grad sei der Planet jeweils vor 90 bis 60 und vor 60 bis 40 Millionen Jahren gekippt. Damals hat sich den Simulationen nach nicht nur die Erdkruste, sondern auch der darunterliegende Mantel gegenüber den Drehpolen verschoben; das unterstreiche ihr Ergebnis, meinen die Wissenschaftler. Ursache für die Kipp-Ereignisse waren vor allem zwei riesige Wobbel im Bauch der Erde, die noch heute für Unwucht sorgen: Unter Afrika und unter dem Pazifik zeigt die Durchleuchtung mit Erdbebenwellen zwei gewaltige Blasen teils geschmolzenen Gesteins. Sie haben sich im Lauf der Jahrmillionen in der Nähe des Äquators zwar eingependelt, sorgen aber immer noch für Ungleichgewicht und lassen die Erde schwanken. Der Planet kippt gemächlich, berichtet Steinberger, er neigt sich heute noch mit 0,2 Breitengraden pro Jahrmillion.
Erheblich schneller als die geografischen Erdpole ändern sich die Magnetpole, wie Geoforscher im nächsten Kapitel anhand alter Logbücher herausfinden. Ein Pol wandert derzeit mit etwa 50 Kilometern pro Jahr von Kanada nach Russland. Gleichzeitig schwächelt das Magnetfeld. Hält die rapide Abnahme des Feldes an, droht das Kippen der Pole. Die Folgen könnten schon in wenigen Jahren sichtbar sein.
2
Das Zittern der Kompassnadel
Der unsichtbare Schutzschild der Erde wird durchlässiger. Bislang schirmt das weit in den Weltraum reichende Magnetfeld die Erde vor Strahlung aus dem All ab. Doch in den letzten 170 Jahren hat es sich stetig abgeschwächt. Hält die Entwicklung an, dürften sich die Pole in 2000 Jahren umkehren – die Kompassnadel zeigte dann nach Süden. Zuvor schon könnte ein Anstieg der kosmischen Strahlung das Leben auf der Erde gefährden.
Um zu klären, ob dieses Szenario wahrscheinlich ist, versuchen Forscher um David Gubbins von der Universität Leeds zu verstehen, wie sich das Magnetfeld in der Vergangenheit entwickelt hat. Anhand historischer Logbuchaufzeichnungen von Schiffskapitänen ist es ihnen gelungen, das Feld bis ins Jahr 1590 zu rekonstruieren. Grob lassen sich die Feldschwankungen sogar über Jahrmillionen zurückverfolgen. Wenn geschmolzenes Gestein erstarrt, schließt es seine momentane Magnetisierung ein – eisenhaltige Minerale zeigen stets nach Norden. Die Untersuchung solcher Felsblöcke zeigt, dass sich das Erdmagnetfeld im Durchschnitt alle paar Hunderttausend Jahre umpolt. Die letzte Inversion fand vor 780000 Jahren statt. Was der Natur anscheinend nicht viel ausmacht, könnte für die Menschheit zum Problem werden. Der hochenergetische Sonnenwind würde tief in die Atmosphäre eindringen und Schaltkreise von Computerchips stören. Besonders gefährdet wären Flugzeuge und Satelliten, Energie- und Kommunikationsnetze.
Schon heute hat sich das Magnetfeld an bestimmten Orten erheblich abgeschwächt. Flugpassagiere sind über dem Südatlantik einer Strahlung ausgesetzt, die tausendmal so hoch ist wie anderswo. Die Besatzung der Internationalen Raumstation empfängt in südlichen Breiten 90 Prozent ihrer Strahlendosis, obwohl sie dort nur zehn Minuten pro Tag unterwegs ist. Die Astronauten fürchten, dass sie während Reparaturarbeiten außerhalb der Station eine extreme Strahlendosis abbekommen könnten.
Die Veränderung des Magnetfelds können Forscher auch mit Satelliten nachvollziehen. Demnach hat es seit 1979 um 1,7 Prozent abgenommen, über dem Südatlantik um deutlich mehr. Die Ursache liegt im flüssigen Erdinneren. Große Temperaturunterschiede zwischen dem Kern und der Grenze zum Erdmantel lassen glutflüssige Eisenschmelze zirkulieren wie in einem Kochtopf. Die Erdrotation verwirbelt die Masse – wie bei einem Fahrraddynamo wird aus Bewegung Strom gemacht. Der Strom wiederum erzeugt das Erdmagnetfeld. Und weil sich die Eisenwirbel ungefähr parallel zur Erdachse ausrichten, befinden sich die magnetischen Pole fast immer in der Nähe der geografischen Pole. Die Schwankungen des Magnetfeldes an der Erdoberfläche sind somit ein Spiegel der gewaltigen Walzen im Inneren. Das Feld schwächt sich ab, weil Teile des Dynamos eine Gegenbewegung begonnen haben, wie Computersimulationen von Ulrich Christensen vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung zeigen. Je größer die sogenannten Antidynamos werden, desto schwächer ist das Magnetfeld. Gibt es irgendwann mehr Antidynamos als Dynamos, polt es sich um.
Der stärkste Antidynamo befindet sich derzeit im Erdkern unter dem Südatlantik. Dass das Magnetfeld in dieser Region gestört ist, können Schiffskapitäne auf dem Kompass ablesen. Zwar zeigt die Kompassnadel dort nach wie vor nach Norden, der Winkel zum Kompassboden, Inklination genannt, variiert jedoch in ungewöhnlicher Manier. Normalerweise steht die Kompassnadel an den Polen senkrecht, am Äquator waagerecht und in den Breiten dazwischen in entsprechender Mittelstellung. Ist das Magnetfeld wie im Südatlantik gestört, verändert sich die Inklination von Ort zu Ort in geradezu chaotischer Weise.
Dieses Phänomen haben David Gubbins und seine Kollegen genutzt, um das Erdmagnetfeld bis ins Jahr 1590 zu rekonstruieren. Sie werteten dazu die Angabe des Inklinationswinkels in den historischen Logbüchern aus. Aus den regionalen Unterschieden dieser Werte konnten die Forscher die Stärke des Magnetfeldes ableiten. Denn je mehr die Inklination in der Region schwankt, desto schwächer das Feld. Eindeutige Messdaten über die Feldstärke gibt es erst seit 1840; um etwa zehn Prozent hat sich das Erdmagnetfeld seither abgeschwächt. Zuvor war das Feld 250 Jahre lang recht stabil. Hauptgrund für das stärkere Magnetfeld sei gewesen, dass es seinerzeit noch keinen Antidynamo unter dem Südatlantik gegeben habe.
Dass die Abschwächung des Feldes just dann eingesetzt haben soll, als man in der Lage war, das Feld eindeutig zu messen, lässt manchen an der Zuverlässigkeit des Ergebnisses zweifeln. »Das könnte für Diskussionen sorgen«, sagt Karl-Heinz Glaßmeier, Geophysiker an der Technischen Universität Braunschweig. Sollte sich Gubbins’ Ergebnis jedoch als korrekt erweisen, belegt es, dass das Magnetfeld in den letzten 170 Jahren ungewöhnlich rapide abgenommen hat. Es muss aber nicht so weitergehen: Magnetisierte Gesteine zeigen, dass das Feld vor etwa 6000 und vor 10500 Jahren deutlich schwächer war und sich wieder erholte.
Wahrscheinlicher, aber kaum weniger riskant als eine Polumkehr erscheint eine extreme Wanderung der Magnetpole. Zur sogenannten Exkursion kommt es alle paar Zehntausend Jahre. Dabei laufen die Pole immer schneller Richtung Äquator – die Feldstärke sinkt dramatisch ab –, um nach einiger Zeit an ihren Ursprung zurückzukehren. Derzeit bewegt sich der magnetische Südpol, der sich in der Nähe des geografischen Nordpols befindet, mit etwa 50 Kilometern pro Jahr von Kanada nach Russland. Diese Strecke nahm er auch bei früheren Exkursionen – womöglich ist das schon ein Alarmsignal. Die Wanderung hat sich jedenfalls deutlich beschleunigt, ein Anzeichen, dass sich im Erdkern Strömungen verändern, sagt Tilo von Dobeneck, Geophysiker an der Universität Bremen. Sollte die Tendenz anhalten, wäre Mitte des Jahrhunderts regelmäßig bis nach Österreich Polarlicht zu sehen. Denn nahe den magnetischen Polen gelangt kosmische Strahlung tief in die Atmosphäre und bringt die Luft zum Leuchten.
Die Erde erzeugt nicht nur visuelle Reize, sondern auch akustische: In 60 verschiedenen Tonlagen brummt sie vor sich hin. Für das menschliche Ohr sind die Laute zwar nicht wahrnehmbar, im nächsten Kapitel aber lauschen Forscher dem Planeten mit speziellen Mikrofonen. Ihnen ist es gelungen, den Untergrund gewissermaßen zum Sprechen zu bringen – und ihm Geheimnisse zu entlocken.
3
Eine Melodie von dieser Welt
Fast scheint es, die Erde wolle mit uns reden. In 60 Stimmlagen grummelt sie unentwegt vor sich hin – allerdings elf Oktaven zu tief, um vom Menschen wahrgenommen zu werden. Wissenschaftler jedoch lauschen dem Planeten: Im Stollen eines aufgegebenen Erzbergwerks nahe Schiltach im Schwarzwald etwa haben sie tief unter der Erde, wo kein Lüftchen die Messungen stört, hochempfindliche Sensoren installiert, die das stete Brummen aufnehmen. Und manche Melodie des Planeten konnten die Wissenschaftler entschlüsseln – erstmals werden Geheimnisse aus großer Tiefe verraten.
Ozeane beispielsweise lassen die Erde brummen: Breite Windfronten bringen das Wasser in Wallung. Wie bei einem Tsunami, nur viel schwächer, schwingt das Meer bis hinunter in die Tiefsee. Es massiert sozusagen den Grund. Der Boden gerät in Wallung wie eine extrem dicke Basssaite. Winterstürme verstärken das Brummen. Einer wabernden Seifenblase gleich beult sich die Erde alle paar Minuten um wenige Tausendstel Millimeter aus, dann zieht sie sich wieder zusammen. Wie schwach die Bewegung ist, verdeutlicht die Energieleistung: Obwohl sich der ganze Planet bewegt, erzeugt er nur 500 Watt, das entspricht der Leistung von fünf Glühbirnen. Die Klangwellen schwingen äußerst langsam mit einer Frequenz von drei bis sieben Millihertz.
Mittlerweile ist es Wissenschaftlern sogar gelungen, mithilfe des Brummens, das in Fachkreisen Rauschen genannt wird, verborgene Gesteine tief im Bauch der Erde nachzuweisen. Die Schwingungen erleuchten gewissermaßen das Innere: Sie durchlaufen den Planeten, wobei manche an Schichtgrenzen abprallen wie an einer Wand. Bislang waren Geoforscher auf die sporadischen Wellen starker Erdbeben angewiesen, um den Aufbau des Erdinneren zu erforschen. Piero Poli von der Universität Grenoble und sein Team wiesen jedoch mithilfe des steten Brummens zwei markante Schichten in großer Tiefe nach: In 410 Kilometer Tiefe endet das leichtere Gestein des oberen Erdmantels. Darunter beginnt eine Übergangszone, in der Minerale so stark zusammengedrückt werden, dass sie dichtere Formen annehmen. In 660 Kilometer Tiefe folgt dann der schwere untere Erdmantel. Mysterien der Tiefe werden mit den Schichtgrenzen gleichsam sichtbar.
Um dem Brummeln des Planeten seine Aussage zu entlocken, mussten Piero Poli und seine Kollegen alle anderen Schwingungen des Bodens herausrechnen – eine verzwickte Sache: Die Erdoberfläche bewegt sich kontinuierlich, meist mit ähnlich schwacher Frequenz wie das Erdinnere. Mit Daten aus Sensoren im abgelegenen Norden Finnlands gelang es den Forschern aber nun, störende Wellen gleichsam auf null zu setzen: Sie eliminierten alle Muster in ihren Daten, die an Oberflächenwellen erinnerten, und übrig blieb das Brummen aus dem Bauch der Erde.
Die Zunft ist beeindruckt: »Die Kollegen waren die Ersten, die so mutig waren, nach diesen winzigen Signalen zu suchen«, sagt Rudolf Widmer-Schnidrig von der Universität Stuttgart. Und Christoph Sens-Schönfelder vom Helmholtz-Zentrum Potsdam ergänzt: »Die Arbeit ist innovativ und richtungweisend.« Die seismischen Geräusche der Erde würden nun zu einem »Schlüssel«, um Strukturen in der Tiefe zu erkennen, meint German Prieto von der Universität Bogotá in Kolumbien. Die Klänge des Planeten könnten womöglich gar Erdbeben ankündigen, spekuliert David Schaff von der Columbia Universität. Eine extrem schwache Veränderung des Brummens könnte seinen Berechnungen zufolge auf gefährliche tektonische Spannungen deuten.
Aber noch lange nicht alle Melodien der Erde wurden entziffert. Rudolf Widmer-Schnidrig und seine Kollegen haben im Schwarzwald Geräusche aufgezeichnet, die nicht von den Wallungen der Ozeane stammen können. Die Erde schwingt demnach nicht nur auf und ab, sondern auch auf komplexe Weise hin und her – wie ein Ball, dessen obere Hälfte nach links und dessen untere Hälfte nach rechts verdreht wird, um dann in jeweils umgekehrter Richtung zurückzupendeln. Diese Schwingungen können nicht durch eine Massage der Erdkruste von oben nach unten entstehen. Sie werden von Kräften erzeugt, die waagerecht auf den Boden treffen. Der Boden wird also gedehnt. Welche Kräfte sind hier am Werk? Spekulationen gibt es viele: Stürme geladener Teilchen von der Sonne kämen infrage, meinten manche Forscher. Andere glaubten an Turbulenzen in der wässrigen Eisensuppe des Erdkerns als Auslöser. Auch das Drücken des Windes gegen Gebirgsketten wurde diskutiert. Vermutlich seien die Schwingungen der Erde jedoch zu stark, um derart erklärt werden zu können, meint Widmer-Schnidrig. Das Geheimnis ihrer vielstimmigen Melodie behält die Erde also für sich.
Einem anderen Geheimnis der Tiefe kommen Forscher im nächsten Kapitel auf die Spur: Kilometer unter der Erde gedeihen rätselhafte Wesen. Wie können sie dort überdauern? Wissenschaftler gelangen zu einer geradezu dramatischen Erkenntnis: Die Kreaturen könnten der Ursprung des Lebens sein.