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ARTHUR C. CLARKE

 

 

 

DIE ANDERE SEITE DES HIMMELS

 

Utopisch technische Erzählungen

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

INHALT

 

Alle Namen Gottes

Sonderzuteilung

Der gefiederte Freund

Nimm einen tiefen Atemzug …

Freiheit des Weltraums

Ein Besucher zieht vorbei

Der Ruf der Sterne

Der Wall der Finsternis

Spionage der Zukunft

Es gibt keinen vierten Morgen

Unternehmen Luna

Robin Hood

Die grünen Finger

Alles, was glänzt

Der Reklametrick

Nur eine Frage des Wohnortes

Die Invasion

Alle Zeit der Welt

Der kosmische Casanova

Der Stern

Aus der Sonne heraus

Der Kreis ohne Ende

Die Lieder der fernen Erde

 

 

 

 

 

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www.diezukunft.de

Alle Namen Gottes

 

»Das ist eine etwas ungewöhnliche Bitte«, sagte Dr. Wagner mit, wie ihm schien, lobenswerter Zurückhaltung. »Soviel mir bekannt ist, dürfte dies das erste Mal sein, dass jemand ersucht wurde, ein tibetisches Kloster mit einem Automatic-Sequenz-Rechengehirn auszustatten. Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber ich war eigentlich nicht der Meinung, dass Ihr – äh – Institut mit einer solchen Maschine viel anfangen könnte. Wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir zu erklären, was Sie vorhaben?«

»Gerne«, erwiderte der Lama, schob seine seidene Robe zurecht und legte den Rechenschieber weg, den er zur Währungsumrechnung benützt hatte. »Ihre Rechenanlage Modell V kann jeden Rechenvorgang mit bis zu zehnstelligen Zahlen ausführen. Für unsere Arbeit sind wir jedoch an Buchstaben interessiert, nicht an Ziffern. Die Maschine soll, nach einer Umgestaltung der Ausgangsstromkreise, Wörter, nicht Zahlenreihen produzieren.«

»Ich verstehe nicht ganz …«

»An diesem Projekt arbeiten wir seit dreihundert Jahren – seit der Gründung des Lamaklosters, um genau zu sein. Ihrer Denkweise wird das alles ein bisschen fremd erscheinen, weshalb ich hoffe, dass Sie mich unvoreingenommen anhören.«

»Selbstverständlich.«

»In Wirklichkeit ist die Sache höchst einfach. Wir haben eine Liste zusammengestellt, die alle denkbaren Namen Gottes enthält.«

»Wie bitte?«

»Wir haben Grund zu der Annahme«, fuhr der Lama ungerührt fort, »dass sich alle solchen Namen in einem von uns entwickelten Alphabet mit nicht mehr als neun Buchstaben schreiben lassen.«

»Und das treiben Sie jetzt seit dreihundert Jahren?«

»Ja. Wir rechneten ursprünglich damit, dass die Lösung der Aufgabe etwa fünfzehnhundert Jahre in Anspruch nehmen würde.«

»Oh.« Dr. Wagner machte ein betroffenes Gesicht. »Jetzt verstehe ich, warum Sie eine unserer Anlagen mieten wollen. Aber welchem Zweck soll denn nun dieses Unternehmen dienen? Können Sie mir das sagen?«

Der Lama zögerte den Bruchteil einer Sekunde, und Dr. Wagner glaubte schon, ihn beleidigt zu haben. Der Erwiderung jedoch war davon nichts anzumerken.

»Nennen Sie es Ritus, wenn Sie wollen, aber das ist eine der Grundlagen unseres Glaubens. All die vielen Namen des Allerhöchsten – Gott, Jehova, Allah, usw. – sind nur von Menschen erfundene Bezeichnungen. Dabei handelt es sich natürlich um ein schwieriges philosophisches Problem, das ich hier nicht anschneiden will, aber irgendwo unter allen möglichen Buchstabenkombinationen verbergen sich, was man die wirklichen Namen Gottes nennen mag. Wir haben versucht, sie durch systematische Permutation von Buchstaben alle aufzuführen.«

»Aha. Sie fingen mit AAAAAAA an … und arbeiten sich bis ZZZZZZZ durch …«

»Genau … allerdings benützen wir ein Sonderalphabet eigener Erfindung. Der Umbau der elektromatischen Schreibmaschinen zur Bewältigung dieser Aufgabe ist natürlich einfach. Als wesentlich interessanteres Problem ergibt sich da schon die Konstruktion geeigneter Stromkreise zur Eliminierung alberner Kombinationen. Zum Beispiel darf kein Buchstabe öfter als dreimal hintereinander auftreten.«

»Dreimal? Entschuldigen Sie, aber Sie meinen doch sicher zweimal?«

»Nein. Dreimal ist richtig. Eine Erklärung würde wohl zu viel Zeit in Anspruch nehmen, selbst wenn Sie unsere Sprache verstünden.«

»Das kann ich mir vorstellen«, versicherte Dr. Wagner hastig. »Fahren Sie bitte fort.«

»Zum Glück wird es sehr einfach sein, Ihr Automatic-Sequenz-Rechengehirn für diese Arbeit umzugestalten, da es nach richtiger Programmierung jeden Buchstaben der Reihe nach permutieren und das Ergebnis niederschreiben kann. Was uns fünfzehnhundert Jahre gekostet hätte, wird es in hundert Stunden schaffen.«

Dr. Wagner hörte kaum die von den tief unten liegenden Straßen Manhattans heraufdringenden Geräusche. Er war in einer anderen Welt, in einer Welt naturgegebener, nicht von Menschenhand erbauter Berge. Hoch oben in ihren abgelegenen Klöstern waren diese Mönche geduldig an der Arbeit, Generation um Generation Listen bedeutungsloser Worte zusammenstellend. Gab es keine Grenze für die fixen Ideen der Menschen? Trotzdem, er durfte sich seine Gedanken nicht anmerken lassen. Der Kunde hatte immer recht …

»Es steht außer Zweifel«, erwiderte der Doktor, »dass wir unser Modell V entsprechend umkonstruieren können. Weit mehr Sorgen macht mir das Problem der Aufstellung und Wartung. Heutzutage ist eine Reise nach Tibet nicht gerade einfach.«

»Das lässt sich regeln. Die Bauteile sind klein genug, um per Luftfracht verschickt werden zu können – das ist übrigens ein Grund, warum wir Ihre Anlage ausgewählt haben. Wenn Sie das Material nach Indien liefern können, sorgen wir von dort aus für den Weitertransport.«

»Und Sie wollen zwei von unseren Technikern engagieren?«

»Ja, für die drei Monate, die das Projekt in Anspruch nehmen wird.«

»Die Personalabteilung kann das sicherlich regeln.« Dr. Wagner kritzelte eine Notiz auf seinen Schreibblock. »Da wären nur noch zwei Detailfragen …«

Bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, legte der Lama ein Blatt Papier auf den Tisch.

»Das ist mein beglaubigter Kontoauszug bei der Asiatischen Bank.«

»Vielen Dank. Das scheint mir wirklich – äh – zu genügen. Der zweite Punkt ist derart nebensächlich, dass ich kaum davon zu sprechen wage – aber man wundert sich, wie oft gerade das Einfachste übersehen wird. Woher beziehen Sie elektrischen Strom?«

»Wir besitzen einen Dieselgenerator, der bei hundertzehn Volt fünfzig Kilowatt liefert. Er ist vor fünf Jahren aufgestellt worden und arbeitet zufriedenstellend. Das Leben im Kloster ist dadurch wesentlich bequemer geworden, obwohl er natürlich installiert wurde, um die Motoren der Gebetsmühlen anzutreiben.«

»Natürlich«, wiederholte Dr. Wagner. »Das versteht sich von selbst.«

 

Der Blick vom Geländer war schwindelerregend, aber mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Nach drei Monaten ließ sich George Hanley von der sechshundert Meter tiefen Schlucht oder dem fernen, schachbrettartigen Muster der Felder im Tal nicht mehr beeindrucken. Er lehnte an den vom Wind geglätteten Steinen und starrte mürrisch zu den Bergriesen hinüber, nach deren Namen zu erkundigen er sich nie die Mühe gemacht hatte.

Das war wirklich das Tollste, das ihm jemals begegnet war, dachte George. »Projekt Shangri La« hatten es ein paar Witzbolde zu Hause in den Labors getauft. Seit Wochen spuckte jetzt Modell V Quadratkilometer von Papierbögen, beschriftet mit Unsinn, aus. Geduldig und unerbittlich hatte die Rechenanlage Buchstaben in allen möglichen Kombinationen aneinandergereiht und jede Klasse durchgearbeitet, bevor sie zur nächsten überging. So wie die endlosen Bogen aus der elektromatischen Schreibmaschine glitten, hatten die Mönche sie sorgfältig zerschnitten und in riesige Bücher geklebt. Noch eine Woche, dann würden sie fertig sein, Lob und Dank dem Himmel. Welche ausgefallenen Berechnungen die Mönche davon überzeugt hatten, dass sie sich nicht mit Wörtern von zehn, zwanzig oder hundert Buchstaben zu befassen brauchten, wusste George nicht. Zu den häufig wiederkehrenden seiner Albträume zählte die Vorstellung, dass der Plan eine Änderung erfahren und der Lama – den sie natürlich Sam Jaffe nannten, obwohl er ihm nicht im Geringsten ähnlich sah – plötzlich verkünden würde, dass das Projekt bis ungefähr zum Jahre 2060 verlängert sei. Zuzutrauen war ihnen alles.

George hörte die schwere Holztür im Wind schlagen, als Chuck an die Brüstung trat. Wie üblich rauchte Chuck eine der Zigarren, die ihn bei den Mönchen so beliebt machten – sie waren, allem Anschein nach, mehr als bereit, sich allen kleineren und den meisten größeren Vergnügungen des Lebens hinzugeben. Eines sprach allerdings zu ihren Gunsten: Sie mochten verrückt sein, aber hochnäsig durfte man sie nicht nennen. Die regelmäßigen Ausflüge ins Dorf hinunter, zum Beispiel …

»Hör mal, George«, sagte Chuck aufgeregt. »Ich habe etwas erfahren, das mir nicht geheuer vorkommt.«

»Was ist los? Bockt die Maschine?« Schlimmeres konnte sich George nicht vorstellen. Dadurch würde sich die Heimreise verzögern, und ein größeres Unglück ließ sich nicht denken. Ihm wäre sogar der Anblick einer Fernseh-Werbesendung wie Manna vom Himmel erschienen. Immerhin hätte man dann wieder Verbindung mit zu Hause.

»Nein – nichts dergleichen.« Chuck setzte sich aufs Geländer, was einigermaßen ungewöhnlich war, weil ihm die senkrecht abfallende Felswand sonst höllische Angst einzujagen pflegte. »Ich habe nur herausgefunden, worum es hier eigentlich geht.«

»Was soll das heißen? Ich dachte, das wüssten wir.«

»Sicher – wir wissen, was die Mönche vorhaben. Aber wir wussten noch nicht, warum sie es tun. Das ist das Verrückteste …«

»Da musst du dir schon etwas Neues ausdenken«, grollte George.

»… aber der alte Sam hat mich eben eingeweiht. Du weißt ja, dass er nachmittags immer erscheint, um das Auftauchen der Bogen zu beobachten. Nun, diesmal kam er mir ziemlich aufgeregt vor, im Verhältnis zu seiner üblichen Ruhe wenigstens. Als ich ihm sagte, dass wir bei der letzten Reihe angelangt sind, fragte er mich in seinem lustigen Akzent, ob ich mir jemals die Frage gestellt hätte, worauf sie eigentlich hinauswollten. Ich meinte: ›Na ja, gewiss doch …‹, und dann sagte er mir Bescheid.«

»Na los, erzähl schon.«

»Tja, sie glauben, wenn alle seine Namen aufgeführt sind – und nach ihrer Schätzung müssten das ungefähr neun Milliarden sein –, sei Gottes Wille erfüllt. Die Menschheit habe dann erreicht, wofür sie geschaffen sei, und es habe dann keinen Sinn mehr weiterzumachen. Mir kommt das Ganze wie eine Blasphemie vor.«

»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Selbstmord begehen?«

»Das ist nicht nötig. Wenn die Liste vollständig ist, tritt Gott auf den Plan und macht allen Dingen ein Ende … verstehst du, dann ist alles aus!«

»Ach so, ich verstehe. Wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind, kommt das Ende der Welt.«

Chuck lachte nervös. »Genau dasselbe habe ich zu Sam auch gesagt. Und weißt du, was geschehen ist? Er sah mich merkwürdig an, so als sei ich der Dümmste in der ganzen Klasse, und sagte: ›So trivial dürfen Sie sich das nicht vorstellen.‹«

George dachte eine Weile nach.

»Das nenne ich einen weiten Blick haben«, meinte er schließlich. »Aber was, glaubst du, sollten wir dagegen tun? Ich finde, dass sich nicht das Geringste geändert hat. Wir wussten ja schon, dass sie verrückt sind.«

»Ja – aber siehst du denn nicht, was passieren könnte? Wenn die Liste vollständig ist und die letzte Posaune nicht geblasen wird – oder was immer sie sonst erwarten –, gibt man uns vielleicht die Schuld. Schließlich arbeiten sie ja mit unserer Maschine. Mir gefällt die Sache ganz und gar nicht.«

»Ich verstehe«, sagte George langsam. »Da hast du nicht unrecht. Aber so etwas hat es früher auch schon gegeben, weißt du. Als ich klein war, damals in Louisiana, hatten wir einen verrückten Prediger, der einmal behauptete, die Welt würde am nächsten Sonntag untergehen. Hunderte glaubten ihm – sie verkauften ihre ganze Habe. Aber als nichts geschah, wurden sie nicht böse, wie man eigentlich erwarten könnte. Sie meinten nur, er habe sich verrechnet, und glaubten nach wie vor an ihn. Manche werden es wohl immer noch tun.«

»Na ja, wir sind hier nicht in Louisiana, falls du das noch nicht gemerkt haben solltest. Wir sind nur zu zweit und haben es mit einigen hundert Mönchen zu tun. Ich kann sie gut leiden, und der alte Sam tut mir sehr leid, wenn seine Lebensarbeit nutzlos vertan ist. Aber ich wäre trotzdem sehr gerne woanders.«

»Das wünsche ich mir schon seit Wochen. Aber wir können leider nichts tun, bevor der Vertrag ausläuft und die Transportmaschine uns abholt.«

»Wir könnten es immer noch mit Sabotage versuchen«, meinte Chuck nachdenklich.

»Du bist wohl übergeschnappt! Das würde alles nur noch verschlimmern.«

»Ich habe es anders gemeint. Pass auf. Die Anlage wird bei dem üblichen Zwanzig-Stunden-Betrieb in vier Tagen fertig sein. Die Transportmaschine kommt in einer Woche. Schön – wir brauchen also bei der Wartung nur etwas zu finden, das ausgebaut und ersetzt werden muss – also etwas, das den Betrieb ein paar Tage aufhält. Wir reparieren natürlich, aber nicht zu schnell. Wenn wir richtig kalkulieren, können wir unten am Flugplatz sein, sobald der letzte Name aus dem Register hüpft. Sie holen uns dann nie mehr ein.«

»Mir passt das nicht«, sagte George. »Das wäre wirklich das erste Mal, dass ich eine Arbeit nicht zu Ende bringe. Außerdem würde das nur Verdacht erregen. Nein, ich bleibe und nehme hin, was kommt.«

 

»Mir passt es immer noch nicht«, sagte er sieben Tage später, als die zähen, kleinen Gebirgsponys sie die Serpentinenstraße hinuntertrugen. »Und glaub nur ja nicht, dass ich davonlaufe, weil ich etwa Angst hätte. Mir tun die armen alten Knaben da oben einfach leid, und ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn sie erkennen müssen, dass sie sich geirrt haben. Wie wird sich wohl Sam damit abfinden?«

»Komisch«, meinte Chuck, »aber als ich mich verabschiedete, hatte ich den Eindruck, als wüsste er, dass wir ihn im Stich lassen – als sei es ihm gleichgültig, weil er sieht, dass die Maschine glatt läuft und die Arbeit bald beendet ist. Danach – tja, natürlich, für ihn gibt es einfach kein Danach …«

George drehte sich im Sattel um und starrte die Straße hinauf. Von dieser Stelle aus konnte man das Lamakloster zum letzten Mal ganz sehen. Die hohen, rechteckigen Gebäude zeichneten sich vor dem rotschimmernden Hintergrund des Sonnenuntergangs scharf ab; hier und dort blitzten Lichter wie Bullaugen in einem durch die Nacht gleitenden Ozeandampfer. Elektrisches Licht, natürlich, gespeist von derselben Stromquelle wie das Modell V. Wie lange würden sie den Strom noch redlich teilen, fragte sich George. Würden die Mönche in ihrer Wut und Enttäuschung die Rechenanlage zertrümmern? Oder würden sie sich still hinsetzen und von Neuem mit ihren Berechnungen beginnen?

Er wusste genau, was in diesem Augenblick oben auf dem Berg geschah. Der große Lama und seine Gehilfen in ihren Seidengewändern saßen jetzt vor der Maschine und studierten die Bogen, die von den jüngeren Mönchen aus den Schreibmaschinen gezogen und in die großen Bände geklebt wurden. Niemand würde sprechen. Das einzige Geräusch würde das unablässige Knattern der Typen auf dem Papier sein, denn die Anlage selbst arbeitete völlig geräuschlos, während sich pro Sekunde Tausende von Rechenvorgängen in ihr abspielten. Drei Monate würden genügen, um jeden an der Wand hochgehen zu lassen, dachte George.

»Da ist sie!«, rief Chuck und deutete ins Tal hinunter. »Ist sie nicht herrlich!«

Das kann man wohl sagen, dachte George. Die zerbeulte alte DC-3 lag wie ein winziges Kreuz aus Silber am Ende der Startbahn. In zwei Stunden würde das Flugzeug sie in die Freiheit tragen. Ein Gedanke, den man wie köstlichen Likör genießen musste. George labte sich daran, während das Pony geduldig den steilen Weg hinabtrabte.

Die schnell hereinbrechende Nacht des Himalaja hatte sie fast eingeholt. Zum Glück war die Straße verhältnismäßig gut, außerdem besaßen sie Fackeln. Es bestand nicht die geringste Gefahr. Nur die bittere Kälte machte den Ritt ein wenig unangenehm. Der Himmel über den beiden war völlig klar; die zahllosen vertrauten Sterne glitzerten freundlich. Wenigstens brauchten die Männer nicht zu befürchten, dass der Pilot wegen des Wetters keine Starterlaubnis bekommen würde, dachte George. Das war seine letzte Sorge gewesen.

Er begann zu singen, gab es aber nach einer Weile wieder auf. Die riesige Bergwelt, in der ringsumher weißverhüllte Geister zu leuchten schienen, förderte solchen Überschwang nicht. Nach einiger Zeit sah George auf die Uhr.

»In einer Stunde müssten wir es geschafft haben«, rief er Chuck über die Schulter zu. Dann fügte er, einem plötzlichen Einfall folgend, hinzu: »Ob die Anlage jetzt wohl fertig ist? Sie müsste jetzt ungefähr so weit sein.«

Chuck erwiderte nichts. George drehte sich im Sattel um. Er konnte Chucks Gesicht gerade noch erkennen, ein weißes Oval, das dem Himmel zugewandt war.

»Schau«, flüsterte Chuck, und George hob die Augen zum Himmel. (Alles geschieht irgendwann zum letzten Mal.)

Über ihnen erloschen still die Sterne.

Sonderzuteilung

 

Ich entsinne mich noch sehr gut der Aufregung, als Russland im Jahr 1957 den ersten künstlichen Satelliten startete und damit erreichte, ein paar Pfund Instrumente über die Atmosphäre zu bringen und an den Himmel zu hängen. Selbstverständlich war ich damals noch ein Kind, aber wie jeder andere ging auch ich am Abend hinaus und versuchte, die wandernden Lichtpunkte zu finden, die Hunderte von Kilometern über mir am dämmrigen Himmel entlangzogen. Es ist merkwürdig, daran zu denken, dass einige von ihnen heute noch kreisen, aber nun sind sie unter mir; ich muss also zur Erde hinabschauen, wenn ich sie sehen will.

In den vergangenen vier Jahrzehnten ist viel geschehen, und sehr oft fürchte ich, dass Sie dort unten auf der Erde unsere Raumstationen für zu selbstverständlich nehmen und dabei vergessen, welcher Mut und wie viel Können dazu gehörte, sie zu schaffen. Wie oft denken Sie eigentlich daran, dass Ihre Ferngespräche und fast alle Ihre Fernsehprogramme von einem unserer Satelliten ausgestrahlt werden? Oder entsinnen Sie sich manchmal unserer Meteorologen hier oben, denen Sie es zu verdanken haben, dass die Wettervorhersagen keine faulen Witze wie zu Großvaters Zeiten, sondern todsicher und absolut verlässlich geworden sind?

Das war damals in den siebziger Jahren eine unruhige Zeit, als ich meine Arbeit in den äußeren Raumstationen aufnahm. Sie sollten so schnell wie möglich in Betrieb genommen werden, um den vielen Millionen neuen Fernseh- und Radiostationen Gelegenheit zu geben, ihre Programme in alle Teile der Welt zu senden.

Die ersten künstlichen Satelliten hatten sich nahe der Erdoberfläche bewegt, aber die drei Stationen der sogenannten Relaiskette mussten 35 000 Kilometer hoch sein und sich genau in gleichem Abstand über dem Äquator befinden. In dieser Höhe – und in keiner anderen – benötigten sie genau vierundzwanzig Stunden für eine Erdumkreisung, und damit standen sie für alle Zeiten über ein und demselben Punkt der Erdoberfläche.

Ich bin auf allen drei Stationen gewesen, aber meinen Dienst begann ich damals in Relais Nr. 2. Wir standen über Entebbe in Uganda und versorgten Europa, Afrika und einen großen Teil Asiens. Heute ist Relais Nr. 2 eine gewaltige Konstruktion von vielen hundert Metern Durchmesser, die unaufhörlich tausend Programme und mehr hinab auf die Erde sendet und fast den gesamten Funkverkehr aufrechterhält. Aber damals, als ich die Station zum ersten Mal von der Luke der Transportrakete aus sehen konnte, die mich in die Kreisbahn gebracht hatte, sah Relais Nr. 2 aus wie ein im Raum treibender Müllhaufen. Vorgefertigte Teile schwebten in hoffnungslosem Durcheinander umher.

Die Unterkünfte für den technischen Stab und die zugeteilten Mannschaften waren primitiv und bestanden aus ausrangierten Transportraketen, aus denen man alles – bis auf die Lufterzeugungsanlagen – entfernt hatte. In diesen »Rümpfen«, wie wir sie nannten, besaß jeder von uns gerade genügend Platz für sich und seine wenigen Habseligkeiten. Eine feine Ironie lag in der Tatsache verborgen, dass wir inmitten des unendlichen Raumes lebten, aber nicht einmal genug Platz hatten, uns – ohne irgendwo anzustoßen – umdrehen zu können.

Es war also ein großer Tag, als wir die Neuigkeit vernahmen, dass die ersten drucksicheren Quartiere zu uns unterwegs waren. Sie sollten sogar mit Düsenbrausebad versehen sein, das selbst im schwerelosen Raum, wo weder Wasser noch sonst etwas Gewicht besaß, funktionierte. Wenn Sie nicht selbst in einem überfüllten Raumschiff gewohnt haben, werden Sie nicht ganz begreifen können, was diese Nachricht für uns bedeutete. Wir konnten unsere verdreckten Schwämme fortwerfen und würden wieder sauber sein …

Die Brausebäder waren nicht das Einzige, was man uns versprach. Von der Erde aus war eine aufblasbare Mannschaftskabine unterwegs, in der nicht weniger als acht Personen Platz fanden. Dazu eine Mikrofilmbibliothek, ein magnetischer Billardtisch, für die Schwerelosigkeit speziell konstruierte Schachspiele und andere Neuigkeiten für sich langweilende Raumfahrer. Allein der Gedanke an alle diese Dinge machte das Leben in den »Rümpfen« schier unerträglich, obwohl wir wöchentlich 1000 Dollar bekamen, um es zu ertragen.

Die zweite Auftankstation stand 3000 Kilometer über der Erdoberfläche. Die Transportrakete mit der wertvollen Ladung benötigte von dort bis zu uns sechs Stunden. Ich hatte zu dieser Zeit dienstfrei und setzte mich wie gewöhnlich hinter das Teleskop. Hier verbrachte ich meist meine freien Stunden, denn niemals konnte ich müde werden, die gewaltige Welt zu erforschen, die neben uns im Raum schwebte. Mit der stärksten Vergrößerung war es so, als sei man nur wenige Kilometer über der Oberfläche. Wenn keine Wolken vorhanden waren, konnte man selbst Gegenstände von der Größe eines Hauses leicht ausmachen. Ich bin nie in meinem Leben in Afrika gewesen, aber in meiner dienstfreien Zeit hier auf der Station lernte ich es durch und durch kennen. Ob Sie mir glauben oder nicht, aber ich habe oft Elefanten durch die Steppen wandern sehen, und oft konnte ich die riesigen Herden der Zebras oder Antilopen in den Reservationen hin und her fluten sehen.

Mein Lieblingsschauspiel war jedoch die aufkommende Dämmerung über den Gebirgen im Herzen des Kontinents. Vom Indischen Ozean her kroch die breite Front des Sonnenlichts und damit des neuen Tages heran und ließ die blinkenden Lichter der Städte, die aus der Dunkelheit zu mir heraufleuchteten, jäh erlöschen. Noch ehe das Sonnenlicht die Ebenen erreichen konnte, funkelten die Spitzen des Kilimandscharo und des Mount Kenya wie Sterne im Meer der Nacht. Erst wenn die Sonne höher stieg, kroch die Helligkeit die Abhänge hinab ins Tal und erfüllte die Ebenen mit Licht. Die Erde stand dann im ersten Viertel und wurde schnell voller.

Zwölf Stunden später konnte ich das gleiche Schauspiel in umgekehrter Reihenfolge bewundern. Die gleichen Berge blitzten im letzten Licht der Sonne und überdauerten die Dämmerung. Dann aber sank die Nacht über Afrika herein.

Doch nicht die Schönheit des irdischen Globus interessierte mich an diesem Tage. Ich beachtete sie nicht einmal, sondern richtete mein Augenmerk auf den feurigen, blauen Stern dicht über dem westlichen Rand der gewaltigen Kugel. Der automatisch gesteuerte Frachter stand im Erdschatten, und was ich sah, waren die grellen Flammen der Düsen, die unsere Rakete in die Höhe trieben.

Ich hatte schon zu oft den Aufstieg der Transportraketen beobachtet, um nicht das geringste Manöver bis ins Kleinste genau zu kennen. So wusste ich sofort, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, als die Raketen einfach weiterflammten und nicht erloschen. In hilfloser Wut sah ich zu, wie die sehnlichst erwartete Sonderzuteilung – und, was noch schlimmer schien, unsere Post – schneller und schneller in die unbeabsichtigte Bahn getragen wurde. Die Automatik des Frachters musste sich verklemmt haben; wäre ein Pilot an Bord gewesen, so hätte dieser das Triebwerk abstellen können, aber in unserem Fall würde die Rakete so lange beschleunigen, bis der Treibstoff für Hin- und Rückflug aufgebraucht war … verschwendet in einem ununterbrochenen Energiestrahl …

Als die Treibstofftanks endlich geleert waren und der nun schon ferne Stern erlosch, hatten die Tasterstationen meine Vermutung längst bestätigt. Der Frachter war viel zu schnell geworden, um von der Erdgravitation noch eingefangen werden zu können. Er flog Pluto entgegen und würde weit über ihn hinausschießen, hinein in die große Leere jenseits des äußersten Planeten.

Es dauerte sehr lange, bis die Moral auf der Station wiederhergestellt war, aber als jemand von der Berechnungsabteilung die genaue Flugbahn des verlorengegangenen Frachters ausarbeitete, hätte es beinahe eine Revolte gegeben. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass auch im Weltraum nichts verlorengeht. Wenn die Bahn errechnet ist, kann man sie auch bis in alle Ewigkeit verfolgen. Während wir also dieser den Grenzen des Sonnensystems entgegeneilenden Kinokabine, unserer Bibliothek, den Brausebädern und der Post nachschauten, wussten wir bereits, dass alles eines Tages in bester Verfassung zurückkehren würde. Wenn wir dann eine Rakete bereithalten, wird es sogar leicht sein, den Frachter einzufangen, wenn er auf die Sonne zueilt – etwa im Frühling Anno Domini 15862 …

Der gefiederte Freund

 

Soweit ich mich entsinnen kann, gab es niemals eine besondere Vorschrift, die das Halten von Haustieren in einer Raumstation verbietet. Niemand schien das für notwendig gehalten zu haben, aber selbst dann, wenn es eine solche Vorschrift gegeben hätte, wäre ich sicher gewesen, dass Sven Olsen sie ignoriert hätte.

Wenn Sie den Namen hören, stellen Sie sich bestimmt einen zwei Meter großen nordischen Recken vor, der wie ein Stier gebaut ist und auch eine entsprechende Stimme besitzt. Sähe er so aus, wären seine Chancen gering gewesen, jemals Raumfahrer zu werden. Tatsächlich war er von kleiner Gestalt, wie fast alle von uns, und hielt leicht sein Gewicht unter den vorgeschriebenen 150 Pfund. Er hatte nicht einmal die von uns oft durchgeführten Hungerkuren nötig.

Er war einer unserer besten Konstruktionsarbeiter. Seine Geschicklichkeit blieb unübertroffen, wenn er die frei im Raum neben der Station schwebenden Verstrebungen mit einem leichten Stoß in Bewegung setzte und seinen Kraftaufwand dabei so genau berechnete, dass die Teile mit dem richtigen Ende auf die passende Stelle trafen und dort zusammengeschweißt werden konnten. Ich konnte ihm und seinen Leuten stundenlang zusehen, wie sie aus dem Durcheinander langsam – wie bei einem Zusammensetzspiel – die geplanten Konstruktionen schufen. Es war eine komplizierte und schwierige Arbeit, denn ein Raumanzug ist nicht gerade die ideale Kleidung. Immerhin genoss Svens Mannschaft einen gewaltigen Vorteil gegenüber der Arbeitsweise auf der Erde. Jeder von ihnen im Weltraum konnte, wenn er wollte, einfach zurücktreten, um das Werk zu bewundern, ohne befürchten zu müssen, durch die Erdgravitation davon getrennt zu werden.

Fragen Sie mich nur nicht, warum Sven so großen Wert auf ein Haustier legte oder warum er ausgerechnet das wählte, welches wir später entdeckten. Ich bin kein Psychologe, aber ich muss zugeben, dass Svens Wahl nicht ohne Überlegung getroffen wurde. Claribel wog praktisch nichts, seine Nahrungsaufnahme war gering, und im Gegensatz zu allen anderen Tieren störte ihn die Schwerelosigkeit nicht.

 

Ich saß in meinem winzigen Loch, lächerlicherweise auch Büro genannt, und sah die Liste der noch vorhandenen Materialvorräte durch, um festzustellen, was demnächst neu angefordert werden müsse. In diesem Augenblick erfuhr ich zum ersten Male von Claribels Anwesenheit. Als das musikalische Pfeifen dicht neben meinem Ohr ertönte, vermutete ich eine Durchsage der Bordsprechanlage. Ich wartete, aber die Durchsage kam nicht. Dafür kam etwas anderes – eine gezwitscherte Melodie. Ich hob den Kopf in solcher Überraschung, dass ich das Winkeleisen hinter meinem Rücken völlig vergaß. Vor meinen Augen explodierten die Sterne. Als sie endlich erloschen, erblickte ich Claribel.

Er war ein kleiner, gelber Kanarienvogel und hing wie eine dicke Hummel bewegungslos in der Luft. Die Flügel lagen eng am Körper. Wir sahen uns für einige Augenblicke verdutzt an, dann machte er eine seltsame Rückwärtsbewegung und schlug einen Salto, wie ihn sicherlich niemals zuvor ein Kanarienvogel geschlagen hat. Langsam schwebte er davon und verschwand. Es war offensichtlich, dass der Vogel sich bereits an das Fehlen jeglicher Schwerkraft gewöhnt hatte und nicht viel von unnötiger Kraftvergeudung hielt.

Sven stellte sich einige Tage dumm und gab den Besitz von Claribel nicht zu, aber dann spielte es auch keine Rolle mehr, denn der Vogel gehörte bereits allen. Er hatte ihn nach seinem letzten Urlaub mit auf die Transportrakete und damit in die Station geschmuggelt – natürlich nur aus wissenschaftlichem Interesse, wie er immer wieder eifrig betonte. Er wollte wissen, wie sich ein Vogel benahm, wenn er kein Gewicht, aber noch seine Flügel besaß.

Claribel wuchs, gedieh und wurde dicker. Eigentlich hatten wir niemals besondere Schwierigkeiten, ihn vor den strengen Augen inspizierender Kommissionen zu verbergen. Auf einer Raumstation gibt es unzählige Verstecke. Nur hatte Claribel den Fehler, seine Unzufriedenheit sehr lautstark kundzutun, und so war unser einziges Problem, den Besuchern von der Erde ständig die merkwürdigen Pfeiftöne zu erklären, die aus Ventilationsschächten und Laderäumen kamen. Oft entgingen wir nur knapp der Entdeckung, aber wer denkt auch schon daran, auf einer Station einen Kanarienvogel vorzufinden?

Unser Dienst dauerte nun zwölf Stunden, was sich schlimmer anhört, als es in Wirklichkeit ist. Man benötigt nur wenig Schlaf im Weltraum. Tag und Nacht gibt es zwar nicht, wenn man ständig im Licht der Sonne gebadet wird, aber trotzdem erwies es sich als vorteilhaft, die gewohnten Begriffe beizubehalten. Ganz besonders an diesem Morgen kam es mir wie sechs Uhr früh vor. Ich hatte Kopfschmerzen und entsann mich unruhiger Träume. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich die Halteriemen lösen und mich zu den anderen in die Messe begeben konnte. Es herrschte eine ungewohnte Ruhe beim Frühstück. Ein Platz am Tisch war leer.

»Wo ist Sven?«, fragte ich, obgleich es mir ziemlich gleichgültig war.

»Er sucht Claribel«, antwortete jemand. »Wie Sven behauptet, weckt er ihn jeden Morgen, und nun kann er ihn nicht finden.«

Bevor ich entgegnen konnte, dass Claribel auch mich jeden Morgen weckte, trat Sven ein. Man konnte seinem Gesicht sofort ansehen, dass irgendetwas nicht stimmte. Langsam öffnete er seine ausgestreckte Hand. In ihr lag ein kleines Häufchen Federn, aus denen zwei Füße senkrecht hervorragten.

»Was ist geschehen?«, fragten wir, alle gleichermaßen betrübt.

»Ich weiß es nicht«, sagte Sven traurig. »Ich habe ihn so gefunden.«

»Kann ich ihn mir anschauen?«, fragte Doc Duncan, unser Koch und Arzt. In angstvollem Schweigen sahen wir zu, wie er Claribel nahm, ans Ohr hielt und auf das winzige Pochen des kleinen Herzens wartete. Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich kann nichts hören, aber das beweist noch lange nicht, dass er tot ist. Ich habe noch nie in meinem Leben den Puls eines Kanarienvogels gefühlt«, setzte er entschuldigend hinzu.

»Vielleicht täte ein Schuss Sauerstoff gut«, schlug jemand vor. Er zeigte dabei auf einen Zylinder nahe der Tür, dessen grüner Streifen ihn als Notvorrat kennzeichnete. Jeder stimmte bei und hielt den Vorschlag für eine gute Idee. Behutsam wurde Claribel in eine Sauerstoffmaske gelegt, die groß genug war, dem Vogel als Sauerstoffzelt zu dienen.

Zu unserer freudigen Überraschung wurde Claribel sofort wach. Über das ganze Gesicht strahlend, öffnete Sven die Maske. Claribel hüpfte auf seinen ausgestreckten Finger und begann zu jubilieren – um dann erneut in Ohnmacht zu fallen.

»Das begreife ich nicht«, lamentierte Sven. »Was ist denn nur mit ihm los? Das hat er doch noch nie gehabt!«

Während dieser ganzen Vorgänge versuchte ich, mich an etwas zu erinnern, das mir aufgefallen war. Außerdem war ich noch so müde, dass ich kaum die Augen offen halten konnte. Ein wenig von dem Sauerstoff würde mir auch guttun, aber bevor ich meine Gedanken in die Tat umsetzen konnte, durchzuckte die Erkenntnis wie ein Blitz mein Gehirn. Ich wandte mich an den Ingenieur vom Dienst und sagte drängend:

»Jim, da stimmt etwas nicht. Die Luft ist nicht in Ordnung. Allein wie Claribel bewusstlos wurde – das erinnert mich daran, dass Bergleute sehr oft Kanarienvögel mit sich führen, weil diese das Gas zuerst spüren.«

»Unsinn!«, entgegnete Jim. »Der Alarm wäre ausgelöst worden. Wir haben doppelte Anschlüsse, jeder vom anderen unabhängig.«

»Eh – der zweite Anschluss ist noch nicht komplett«, erinnerte ihn sein Assistent. Das rüttelte Jim wach. Er ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Raum, während wir zurückblieben und warteten. Diskutierend reichten wir die Sauerstoffflasche herum wie eine Friedenspfeife.

Er kehrte zehn Minuten später mit einem nicht sehr intelligenten Gesicht zu uns zurück. Einer jener Unglücksfälle, so erfuhren wir dann, die es eigentlich nicht geben durfte. In dieser »Nacht« hatte es eine Sonnenfinsternis gegeben, hervorgerufen durch den Erdschatten. Ein Teil der Luftreinigungsanlage war eingefroren, ebenso die Alarmanlage. Chemische und elektronische Ausrüstung im Wert von einer halben Million Dollar hatte uns einfach im Stich gelassen. Ohne Claribel wären wir tot gewesen.

Wenn Sie also heute eine Raumstation besuchen, brauchen Sie nicht weiter erstaunt zu sein, vom unverkennbaren Gesang eines Kanarienvogels begrüßt zu werden. Im Gegenteil, Sie dürfen beruhigt sein; denn es bedeutet, dass Sie praktisch ohne Extraausgaben doppelt gesichert sind.

Nimm einen tiefen Atemzug …

 

Schon vor längerer Zeit fand ich heraus, dass Leute, die niemals die Erde verlassen hatten, ganz bestimmte Vorstellungen über die Bedingungen im Weltraum besaßen. Jeder »wusste« zum Beispiel, dass ein Mensch, setzt man ihn dem Vakuum jenseits der Atmosphäre aus, auf schreckliche Weise sofort stirbt. In der utopisch technischen Literatur können Sie zahllose blutige Beschreibungen explodierter Raumfahrer finden, aber ich werde Ihnen nicht den Appetit verderben, indem ich sie hier aufzähle. Viele dieser Geschichten sind allerdings wahr. Ich selbst habe einige Männer durch die Luftschleuse gezogen, die alles andere als eine gute Reklame für den Raumflug waren.

Doch jede Regel hat ihre Ausnahme, so auch diese. Ich muss es wissen; denn ich machte die Erfahrung am eigenen Leibe.

Nachrichten-Satellit Nr. 2 ging seiner Vollendung entgegen. Die Hauptteile waren zusammengebaut worden, die Quartiere enthielten Luft unter den richtigen Druckverhältnissen, und das ganze Gebilde begann sich langsam um seine Achse zu drehen, um den Insassen das Gefühl einer Gravitation zu vermitteln, die man schon vergessen zu haben glaubte. Ich sagte »langsam«, aber der äußere Rand unseres siebzig Meter messenden Riesenrades bewegte sich immerhin mit 45 Stundenkilometern im Kreise. Wir selbst spürten natürlich von dieser Bewegung nichts, aber die Zentrifugalkraft gab uns halbes Erdgewicht. Das genügte, lose Gegenstände vor dem Herumschweben zu bewahren, und war auf der anderen Seite nicht zu viel, unsere an die Schwerelosigkeit gewöhnten Glieder unnötig zu belasten.

Wir waren vier Mann in der zylindrischen Kabine, bekannt unter der Bezeichnung »Schlafbunker Nr. 6«, als es passierte. Für uns war Nacht, und wir schliefen. Die Schlafbunker befanden sich am äußersten Ring. Wenn Sie sich das Rad eines Fahrrades vorstellen, bei dem der Reifen durch aneinandergereihte Würste ersetzt wurde, so haben Sie etwa das richtige Bild. Schlafbunker 6 war eine dieser Würste, und in seinem Innern schliefen wir unbesorgt.

Ein plötzlicher Ruck ließ mich erwachen; er war nicht stark genug, mich besonders zu erschrecken, aber er genügte, dass ich mich im Bett aufsetzte und mir einige Gedanken machte. Die geringste Unregelmäßigkeit muss in einer Raumstation beachtet werden, also griff ich automatisch nach dem Hörer der Bordsprechanlage.

»Hallo, Zentrale!«, meldete ich mich. »Was ist geschehen?«

Keine Antwort. Die Leitung war tot.

Das gab mir den Rest. Ich sprang aus dem Bett – und erlebte eine noch größere Überraschung. Ich hatte kein Gewicht mehr! Wie von der Sehne geschnellt, schoss ich gegen die Decke, konnte mich erst im letzten Augenblick an einer Strebe festhalten und verstauchte mir das Handgelenk.

Es war völlig unmöglich, dass die Station ihre Drehbewegung eingestellt hatte. Für unsere Situation gab es nur eine Antwort. Der Ausfall des Telefons und das Versagen der Beleuchtungsanlage bestätigten meine Vermutung: Wir waren kein Teil der Station mehr. Unser Schlafbunker hatte sich vom drehenden Rad gelöst und war durch die Rotation davongeschleudert worden.