cover

Buch

In der Kleinstadt Acker’s Gap in der Provinz West Virginias fließt das Leben so träge vor sich hin wie der nahe gelegene Bitter River, dessen kalte Wasser sich gemächlich um die Berge winden. Doch die eisigen Fluten des Flusses bergen eine grausame Wahrheit. Denn dort wird ein Autowrack entdeckt – darin die Leiche der 16-jährigen Lucinda Trimble, einer Highschoolschülerin aus ärmlichen Verhältnissen, die eine vielversprechende Zukunft vor sich hatte. Was auf den ersten Blick wie ein tragischer Unfall aussieht, entpuppt sich bald als schrecklicher Mord: Das Opfer war schwanger und wurde brutal erwürgt. Der zuständigen Bezirksstaatsanwältin Bell Elkins geht der Fall sehr nahe. Schließlich ist sie selbst Mutter einer Tochter im Teenageralter. Und die Ermittlungen laufen nur schleppend, da sich wichtige Zeugen in Schweigen hüllen – allen voran die wohlhabende Familie von Shawn Doggett, Lucindas Freund. Doch dann wird das Gerichtsgebäude zum Ziel eines Anschlags, und Bell selbst gerät auf ihrer Suche nach der Wahrheit in tödliche Gefahr …

Weitere Informationen zu Julia Keller
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.

Julia Keller

Am
kalten Fluss

Psychothriller

Aus dem amerikanischen Englisch
von Verena Kilchling

GOLDMANN_Seite3_28mm_1C_R_Reg.eps

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel »Bitter River« bei Minotaur Books,
an imprint of St. Martin’s Press, NewYork.

Nachweis;
Umberto Eco,
Der Name der Rose. Übersetzt aus dem Italienischen von
Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag, 1982, München, S. 295-296.
Mit freundlicher Genehmigung von Carl Hanser Verlag.

1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung September 2014
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Julia Keller
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Juan Carlos Muñoz / Getty Images;
Dylon Kitchener / Trevillion Images
Redaktion: Alexander Groß
KS · Herstellung: Str.
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-13179-1
www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Goldmann_Icon_sw.tif Facebook_sw.tif youtube_sw.tif Twitter_sw.tif google%2b_sw.tif

Den Geistern meiner Heimat

Nichts in der Welt, weder Mensch noch Teufel noch sonst etwas, ist so zwiespältig wie die Liebe, denn sie dringt tiefer in deine Seele ein als alles andere. Nichts beschäftigt und bindet das Herz so sehr wie die Liebe. Deswegen kann sie dich, wenn deine Seele nicht die nötigen Waffen hat, um sie zu meistern und zu beherrschen, in tiefes Verderben stürzen.

Umberto Eco, Der Name der Rose

Teil eins

1

Drei Personen standen am südlichen Ufer des Bitter River. Zwei von ihnen, eine zierliche Frau und ein stämmiger Mann, hatten direkt am Wasser Posten bezogen, während die dritte Person, ein älterer, noch kräftigerer Mann mit einem langen schwarzen Mantel und einem braunen, flachkrempigen Sheriff-Hut, auf halber Höhe der steilen Uferböschung stand, eine Position, die ihm einen besseren Überblick bot. Alle drei wirkten angespannt, nervös, als wüssten sie nicht genau, wie sie sich verhalten sollten. Bewegung war ihr bevorzugter Zustand, Handeln der Maßstab, über den sie sich definierten, und dieses Zwischenspiel, dieses Dastehen und Warten, war ihnen fremd. Sie fühlten sich unbeholfen, fehl am Platz, nutzlos. Ihre Arme hingen nicht entspannt herunter, sondern standen ein wenig ab, und die Hände krampften sich auf Oberschenkelhöhe zu Fäusten. Alle drei trugen staubige schwarze Stiefel, und sie standen ein wenig breitbeiniger da als sonst, um am abschüssigen Flussufer nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Es war ein kalter, trockener Donnerstagmorgen Anfang März. Die vereinzelten Wolken, die vorüberzogen, waren kaum vom Himmel zu unterscheiden, wirkten ebenso kontrastarm, grau und formlos. Unten auf der Erde hingegen war alles scharfkantig und klar, als hätte jemand die Umrisse erst sorgfältig nachgezeichnet, dann ausgeschnitten und anschließend möglichst dramatisch als Scherenschnitt drapiert.

Der Anruf war kurz nach Sonnenaufgang eingegangen. Eine Passantin hatte etwas metallisch Glänzendes im Fluss entdeckt, was sich als Dach eines Autos herausgestellt hatte. Als sie näher herangetreten sei, berichtete die Anruferin, seien ihr die parallelen Reifenspuren aufgefallen, die ins Wasser führten. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Müll oder Schrott im Bitter River gefunden wurde – Reifen, alte Waschmaschinen und Bierdosen führten die Liste an –, aber wenn der Gegenstand größer war, möglicherweise sogar so groß wie ein Auto, meldeten die Leute ihre Entdeckung lieber der Polizei, damit die der Sache auf den Grund ging. In diesem Fall hatte sich die Untersuchung jedoch verzögert, weil man erst auf Leroy Perkins und seinen Sattelschlepper hatte warten müssen.

Im Moment stocherte Leroy bis zum Bizeps im grünlich schwarzen Wasser herum und fluchte dabei leise vor sich hin, ein ununterbrochenes Murmeln, das das gleichmäßige Plätschern des Flusses nachzuahmen schien. Leroy versuchte, einen großen rostigen Haken unter einem beliebigen Teil des Autos anzubringen, ein Unterfangen, das dadurch erschwert wurde, dass dieser Haken am Ende eines öligen schwarzen Drahtseils pendelte, das Leroy von einer Winde an seinem LKW abrollte. Diesen hatte er rückwärts die Uferböschung hinuntergefahren, soweit es gefahrlos möglich war. Der Sattelschlepper war hellblau, und auf der Fahrertür stand in abblätternden weißen Buchstaben LP Abschleppdienst, Transporte & Bergung und darunter Acker’s Gap, West Virginia.

Der Fluss war an dieser Stelle nicht besonders tief und die Strömung recht schwach, eher ein munteres Raunen als das donnernde Brodeln, das weiter flussabwärts folgte, nachdem sich der Bitter River um den Berg herumgewunden und auf seinem Weg zum mächtigen Ohio Fahrt aufgenommen hatte. Es bestand also keine echte Gefahr, aber die Bergung des Fahrzeugs erwies sich dennoch als lästige, mühselige Aufgabe, und Leroy war am Ende seiner Geduld.

»Verdammt noch mal!«, schimpfte er. Er war ein mittelgroßer, kompakter Mann mit einer mächtigen Nase und einer Stirnglatze. Die verbliebenen grauen Locken lagen hufeisenförmig auf seinem Kopf, als hätte ihm jemand einen Lorbeerkranz aufgesetzt. Sein Baumwoll-Overall wies nicht mehr entfernbare Öl- und Schmutzflecken auf, und seine oberschenkelhohen Gummistiefel – die gerade nicht zu sehen waren, da sie unter den trägen Fluten des Bitter River steckten – waren dunkelgrün und hatten oben einen schmalen gelben Rand.

»Verdammt noch mal!«, wiederholte er und packte den Haken fester, nachdem er die Heckstoßstange erneut verfehlt hatte. Er hatte fleischige, schwielige Hände, denen man ansah, dass sie so etwas schon unzählige Male getan hatten. »Ich sag dir eins, Nick: Das Ganze ist nicht so leicht, wie es aussieht«, klagte er.

Sheriff Nick Fogelsong, der kräftige Mann im langen schwarzen Mantel, der etwas weiter oben an der Böschung stand, nickte. »Das glaub ich dir gern, Leroy.«

Sein Deputy Greg Greenough drehte sich um und blickte fragend zu ihm herauf. Sollten wir nicht vielleicht mit anpacken?, sagte sein Gesichtsausdruck.

Fogelsong schüttelte den Kopf. Nein. Leroy war der Profi. Der Sheriff wollte nicht, dass seine Leute sich einmischten. Die Winde musste nur einmal zu viel Seil ausspucken, der große Haken nur einmal in die falsche Richtung schwingen, dann würde Deputy Greenoughs Kopf zerbersten wie eine Melone, die einem versehentlich aus der Hand rutscht und auf den Gehweg fällt. Der Sheriff hatte es selbst erlebt. Vor dreißig Jahren, als junger Deputy, hatte ihn sein Revier vorübergehend an ein anderes Revier ausgeliehen, wo Fogelsong einen Überfall auf einen Kohle-Lastkahn untersuchen musste. Während er auf Deck herumgeschlendert war, aufgerollte Taue mit dem Fuß beiseitegeschoben und sich hingekniet hatte, um mit dem Daumen über verschiedene Flecken auf den schartigen Holzplanken zu fahren, hatte er mit ansehen müssen, wie ein sechsjähriger Junge – der Sohn des Kahnbesitzers – gestolpert und dadurch in die Flugbahn eines vorbeischwingenden Hakens geraten war, der ihm einen Teil des Schädels weggerissen hatte. Das große Bestürzen über diesen Unfall, die Tränenfluten und das grenzenlose Bedauern hatten den Jungen auch nicht wieder lebendig machen können. Er war innerhalb weniger Minuten verblutet, und sein kleiner Körper hatte an Deck gezuckt wie ein frisch gefangener Fisch.

Chauncey Simms – so hatte der Junge geheißen. Der Sheriff war überrascht, dass ihm nach so langer Zeit noch der Name einfiel. Der Anblick des großen Hakens in Leroys Hand musste ihn in sein Bewusstsein zurückbefördert haben.

Chauncey Simms.

Er fragte sich, was der Vater des Jungen wohl mit seinem Kummer und seiner Schuld getan hatte – und mit seiner Liebe zu seinem Sohn. Wo hatte er das alles hingesteckt? Hatte er diese Gefühle all die Jahre mit sich herumgeschleppt, wie eine zusätzliche Fracht auf seinem Kahn? Oder war es ihm gelungen, sie irgendwo unterwegs abzuladen?

»Halt! Stopp!«, rief Leroy plötzlich. Beim Herumtasten war er unter Wasser in das offene Fenster auf der Fahrerseite geraten, und dort waren seine forschenden Finger auf etwas gestoßen. Etwas, das sich nicht anfühlte wie ein Autoteil.

Fogelsong schob seine Erinnerungen beiseite und stürzte los, wobei er auf der steilen Uferböschung fast ins Straucheln geraten wäre. Er hatte vorübergehend vergessen, wo er sich befand. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, stieg er vorsichtig zum Wasser hinunter. Greenough und seine Kollegin Pam Harrison traten beiseite, damit der Sheriff zuerst ins Wasser waten konnte, und folgten dann dicht hinter ihm.

»Wartet kurz«, sagte Leroy. »Ich räume das Ding hier lieber erst aus dem Weg.« Er packte den großen Haken fest mit beiden Händen und machte sich in kleinen Schritten auf den Weg zurück ans Ufer. Dadurch hatte der Sheriff freien Zugriff auf die Fahrerseite des Autos.

»Du hättest lieber auch deine Anglerstiefel anziehen sollen«, belehrte Leroy den Sheriff gutmütig, als er sah, wie das Wasser sich zuerst um Fogelsongs Knie, dann um seine Hüften und schließlich um seine Taille und seine Brust schloss. Der lange schwarze Mantel des Sheriffs wogte um ihn herum wie eine Seerose.

Fogelsong antwortete nicht. Er tastete unter der Wasseroberfläche nach dem Gegenstand, der Leroys Aufmerksamkeit erregt hatte, ohne dabei seine eigenen Hände sehen zu können – das Wasser war erschreckend kalt und dunkel, Vorbote der gewaltigen Schmelzwassermassen, die jedes Frühjahr aus den Bergen in die Täler flossen. Der schlammige Grund des Flusses saugte an seinen Stiefeln und erschwerte ihm die Aufgabe zusätzlich.

Fogelsong hatte inzwischen den Fensterrahmen lokalisiert und wanderte mit den Fingern daran entlang, wie ein Blinder, der ein Gesicht zu ertasten versucht. Anschließend schob er die Hand ins Innere des Wagens.

Und dann spürte er es. Der Schreck ließ ihn einen Moment reglos verharren, bis der Sheriff in ihm die Oberhand gewann und das Kommando übernahm.

Er wusste sofort, was er da ertastet hatte.

Eine Leiche.

Und er wünschte sich sehnlich, er hätte in seinem Repertoire an verbalen Reaktionen etwas Tiefsinnigeres zur Verfügung gehabt, ein Gedicht vielleicht oder eine Zeile aus einem Choral. Etwas Würdevolles. Etwas, das der Ungeheuerlichkeit dessen, womit er nun rechnen musste, angemessen gewesen wäre.

Stattdessen sagte er das erste Wort, das ihm in den Sinn kam.

»Scheiße.«

2

Bell Elkins verzog angewidert das Gesicht. Sie war immer noch knapp hundertvierzig Kilometer von Acker’s Gap entfernt und hatte den Fehler gemacht, eine Kaffeepause an einer Raststätte einzulegen, die sie nicht kannte. Sie hatte die dort erstandene schwarze Flüssigkeit in einem Zug hinuntergestürzt, und jetzt brannte und brodelte sie in ihrem Magen.

Genauso gut hätte ich ein bisschen Teer von der Straße kratzen und ihn mit heißem Wasser auflösen können, dachte Bell. Wäre auf das Gleiche hinausgelaufen.

Dabei hätte sie es eigentlich besser wissen müssen, verdammt! Kaffee war nun einmal nicht gleich Kaffee.

Sie zerdrückte den leeren Pappbecher und warf ihn, ohne hinzusehen, über die Schulter auf den Rücksitz des Explorers. Er landete neben den Zeitungen, Heftmappen und der Aktentasche, die sie gestern Nachmittag, als sie in aller Eile aus Acker’s Gap aufgebrochen war, dort hingeschleudert hatte. Den Rest der Fahrt würde der Becher in einem Nest aus zerknüllten Keksverpackungen verbringen.

Sie hatte Koffein gebraucht. Dringend. Schließlich war sie schon um vier Uhr morgens aus dem Motel am Stadtrand von Alexandria, Virginia, aufgebrochen, um vor Beginn des Arbeitstages wieder zu Hause zu sein. Doch bereits nach der ersten guten Stunde am Steuer hatte Bells Konzentration nachgelassen, und die Straße vor ihr war immer wieder verschwommen. In ihrem Wagen hatte wie bei allen Autofahrten vor Sonnenaufgang eine muffige, missmutige, klaustrophobische Atmosphäre geherrscht, die sich nicht einmal durch das Herunterlassen aller vier Fenster hatte vertreiben lassen. Also hatte Bell die Fenster mit unruhigen Fingern gleich wieder geschlossen. Ihr Kopf hatte gedröhnt, und sie hatte Mühe gehabt, die Augen offen zu halten. Ihr war klar gewesen: Wenn sie nicht bald einen Kaffee bekam, würde sie auf Kollisionskurs mit den wuchtigen Kohlelastern gehen, die auf der Gegenfahrbahn vorbeidonnerten und den schmutzigen Schatz West Virginias davontrugen, eine schlingernde Ladung nach der anderen.

Sie hatte also angehalten. Die Raststätte hatte Lively’s Market geheißen, und auf dem Schild war zu lesen gewesen, dass hier Benzin, kaltes Bier, Angelköder sowie Jagd- und Angellizenzen zu haben waren. Bell hatte inständig gehofft, dass die Liste auch Kaffee beinhaltete.

Das Glück war ihr hold gewesen. Mit einem Rucken ihres schmutzstarrenden Daumens hatte die Frau hinter dem Tresen – schlitzäugig, teigig, breithüftig und dickbäuchig, mit schlecht gefärbten Haaren und einer deformierten Nase, die einen brutalen Zwischenfall und eine schlampig ausgeführte Korrektur erahnen ließ – auf eine trübe Kaffeekanne und einen kleinen Stapel staubiger Pappbecher in der Ecke gewiesen. Bell hatte sich Kaffee eingegossen, eineinviertel Dollar dafür berappt und war zu ihrem Auto gegangen.

Wieder auf der Straße hatte sie sofort einen gierigen Schluck genommen. Ihr erster Impuls war gewesen, das Zeug direkt zurück in den Becher zu spucken, aber sie befand sich gerade auf einem schmalen Abschnitt des Highways und war auf drei Seiten von Kohle-LKWs umzingelt. Also schluckte sie die ungenießbare Flüssigkeit herunter, und weil das Ausmaß ihrer Müdigkeit sie noch mehr beunruhigte als die Qualität des Kaffees, kippte sie noch einen Schluck hinterher, und dann noch einen und noch einen, bis der ganze verdammte Becher leer war.

Teufelszeug, dachte sie.

Bell gab sich der nicht durchführbaren, aber befriedigenden Fantasie hin, den Explorer auf der Stelle zu wenden und mit quietschenden Reifen zur Raststätte zu rasen, um ihr Geld zurückzuverlangen und die Frau lautstark über sämtliche Gesetze aufzuklären, die den Verkauf einer Mischung aus altem Motoröl, Batteriesäure und Reinigungsflüssigkeit unter dem Namen »Kaffee« verboten.

Wenn sie Zeit gehabt hätte, hätte sie genau das getan.

Bell Elkins konnte jähzornig sein. Im Normalfall war sie ruhig und vernünftig, doch in ihrem Inneren schlummerte eine rasiermesserscharfe Aggression, die jederzeit hervorbrechen konnte, wie eine Sprengsatzkiste, deren Deckel man fünfzig Mal gefahrlos öffnen kann, bis beim einundfünfzigsten Mal die Ladung hochgeht. Sie hatte einen guten Grund für ihre explosive Wut – eine knüppelharte Kindheit, die sie nur dank ihrer Wildheit und ihres Starrsinns überlebt hatte –, aber dass sie begründet war, machte es noch lange nicht leichter, damit zu leben. Nicht für ihre Mitmenschen und auch nicht für sie selbst. Dein Wutproblem – so hatte es ihr Exmann immer genannt. Dieses praktische Etikett hatte er beim Streiten stets griffbereit gehabt. Du musst dein Wutproblem endlich in den Griff kriegen, Belfa. Sonst gerätst du irgendwann noch ernsthaft in Schwierigkeiten.

Pah, sie kam bis heute ganz gut damit klar. Zum Teufel mit ihrem Exmann.

Obwohl sie in knapp einem Monat vierzig wurde, waren ihre schulterlangen Haare, die je nach Licht braun oder rötlich schimmerten, noch immer nicht von grauen Strähnen durchzogen, auch nicht entlang der Schläfen oder des Scheitels, den sie auf der linken Seite trug. Bell wusste, dass die grauen Haare nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Seit Monaten zählte sie die Fältchen, die allmählich um ihre Augen herum auftauchten und die mal mehr und mal weniger sichtbar waren, je nach Mimik, je nach Tiefe eines Lächelns oder einer Grimasse. Tick-tack, dachte Bell jedes Mal, wenn sie die Gesamtheit ihrer Alterserscheinungen beäugte. Tick-tack.

Was sie beunruhigte, war nicht nur das Altern an sich – älter wurde schließlich jeder –, sondern die Tatsache, dass sie in Acker’s Gap, West Virginia, alterte, wo die Uhren anders zu ticken schienen, wo eine andere Zeitrechnung herrschte. Die Zeit verging langsamer hier, doch die Menschen alterten schneller. Das klang unlogisch, war aber so. Hier geht die Zeit zum Sterben hin, hatte Carla einmal voller Verachtung zu ihr gesagt, und Bell hatte ihr widersprochen und halbherzig Gegenargumente formuliert, auch wenn sie genau wusste, was Carla meinte: Die Zeit blieb zwar nicht direkt stehen in Acker’s Gap, drosselte ihr Tempo jedoch so sehr, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie stelle sich tot. Und dennoch hatte Bell in dem viel zu gut beleuchteten Badezimmerspiegel des Hampton Inn an diesem Morgen eine neue Falte in ihrem Gesicht entdeckt, die sich bereits tief eingegraben hatte. Verdammt.

Der Fahrer eines ihr entgegenkommenden Kohlelasters hupte anhaltend, eine langgezogene, klagende Beschwerde. Ihr linkes Vorderrad war über die Mittellinie nach links ausgeschert, nur ein kleines bisschen, aber das genügte auf dieser gefährlichen Straße schon, um eine Katastrophe auszulösen. Bell riss das Lenkrad nach rechts.

»Du kannst mich mal«, murmelte sie dem längst verschwundenen Truckfahrer hinterher, im Grunde ein schroffes Dankeschön dafür, dass er sie aus ihrer Trance gerissen hatte.

Sie musste sich konzentrieren. Dass ihre Gedanken beim Autofahren abschweiften, war inzwischen zur gefährlichen Gewohnheit geworden, nicht nur, wenn sie unter akutem Schlafmangel litt. Seit letztem Herbst suchte sie bei jeder Autofahrt – ob sie nun durch Acker’s Gap, durch Raythune County oder durch ganz West Virginia fuhr – die Straßenränder auf beiden Seiten ab, ein schneller, gründlicher Kontrollblick, einmal auf und ab, einmal von links nach rechts, mehr nicht. Aber es reichte, um sie vorübergehend vom Fahren abzulenken.

Sie hielt Ausschau nach ihrer Schwester.

Du spinnst, schimpfte Bell nicht zum ersten Mal mit sich selbst. Die Chance, dass sie ihre Schwester ausgerechnet hier an diesem Abschnitt des Highways entdeckte, war gleich null – oder lag mit Sicherheit unter einem Prozent, wenn man es statistisch korrekt ausdrücken wollte. Wie sollte das denn auch gehen?, setzte Bell ihre verächtliche Selbstkritik fort, und ihre Gedanken waren so schwarz und bitter wie der Kaffee, den sie gerade wider besseres Wissen hinuntergestürzt hatte.

Wie viele unwahrscheinliche Zufälle mussten zusammenkommen, damit Shirley Dolan plötzlich am Rand derselben Straße auftauchte, auf der Belfa gerade mit dem Auto fuhr, noch dazu zu exakt demselben Zeitpunkt?

Du spinnst wirklich.

Trotzdem, sie konnte es nicht lassen und suchte weiter. Ob sie nun in ihrer Freizeit unterwegs war oder für die Arbeit, egal, wo sie sich befand und wie viele andere Dinge sie im Kopf hatte, sie hielt unermüdlich Ausschau. So ging das seit dem letzten November, als Shirley nach fast dreißig Jahren Gefängnis auf Bewährung freigekommen und spurlos verschwunden war. Bell war am Tag ihrer Entlassung gekommen, um sie abzuholen, doch statt mit Bells Hilfe ein neues Leben anzufangen, hatte Shirley die Haftanstalt in Lakin eine Stunde vor dem Eintreffen ihrer Schwester verlassen.

Bell hatte mit Shirleys Bewährungshelfer telefoniert, der aufreizend kurz angebunden gewesen war, auch wenn das Gesetz natürlich auf seiner Seite war. Ich kann ihr gern Ihre Telefonnummer geben, Mrs Elkins, hatte er gesagt, und ich kann ihr etwas von Ihnen ausrichten, aber ihren Aufenthaltsort darf ich nicht preisgeben. So lauten die Vorschriften.

Also suchte Bell die Straßen ab, auch wenn sie wusste, dass die Chance, ihre Schwester irgendwo durch Zufall zu entdecken, lächerlich gering war. Das Suchen war inzwischen zur Gewohnheit geworden. Sie suchte in Raythune County, und sie suchte in Washington, D.C. Und überall dazwischen auch. Selbst bei ihrem Kaffeestopp hatte sie den Blick kurz und gründlich durch den Verkaufsraum schweifen lassen und sich gefragt, was sie tun würde, wenn sie entgegen jeder Wahrscheinlichkeit tatsächlich eine dürre Frau mit abgekämpftem Gesicht und mausgrauem Haar neben dem Postkartenständer entdeckt hätte, eine gebeugte, scheue Gestalt, die die Welt mit Augen betrachtete, die die gleiche Farbe hatten wie Bells Augen und doch so vollkommen anders waren, weil sie Dinge gesehen hatten, die Bell weder ahnen noch sich vorstellen konnte.

Oder sich zwar vorstellen konnte, aber nicht vorstellen wollte.

Ihr Handy, das in der Ritze zwischen Sitzfläche und Lehne des Beifahrersitzes klemmte, erwachte plötzlich zum Leben und gab eine fröhliche kleine Melodie von sich. Carla hatte ihr diesen neuen Klingelton eingerichtet, indem sie den Standardton gelöscht und dieses bekannte Jazz-Riff ausgewählt hatte. Jetzt bist du cool, Mom, hatte sie gesagt, als sie am Vorabend zu viert – Bell, Carla, Sam und Sams Lebensgefährtin – in einem Restaurant in Georgetown gesessen und auf einen Freund von Sam gewartet hatten, der sich zum Essen zu ihnen gesellen wollte. Was? Mehr braucht man nicht, um cool zu sein?, hatte Bell geantwortet und das Handy zurück in ihre Handtasche gesteckt. Ihre Tochter und ihr Exmann hatten gelacht.

Bell griff nach dem klingelnden Handy, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»Elkins.«

»Bist du schon zurück?«

Sheriff Fogelsong. Er wusste, dass sie am Vortag nach D.C. gefahren war, um den Abend mit Carla zu verbringen, die seit Weihnachten bei Sam lebte.

Überhaupt musste Fogelsong zu jeder Tages- und Nachtzeit wissen, wo Bell sich aufhielt, schließlich war sie die Staatsanwältin von Raythune County. Wenn es Schwierigkeiten gab – und die schien es ständig zu geben –, war Bell die Erste, die er benachrichtigte.

»Fast«, antwortete sie. »Noch eine Stunde. Vielleicht ein bisschen weniger.« Das war reines Wunschdenken, aber Nick kannte sie und würde ihre Schätzung automatisch ein wenig aufrunden. »Ich wollte dich auch gerade anrufen«, fuhr Bell fort. »Ich habe nämlich Neuigkeiten. Gestern beim Abendessen habe ich erfahren, dass …«

»Warte kurz«, unterbrach er sie. »Wäre es für dich okay, wenn ich meine Neuigkeiten zuerst loswerde?«

Bell hörte, wie er tief einatmete und die Luft dann langsam wieder ausstieß, wofür er doppelt so lang brauchte wie fürs Einatmen. Sie wartete darauf, dass er endlich etwas sagte. Als er stumm blieb, hakte sie nach.

»Nick?«

»Kein schöner Empfang für dich.«

»Jetzt sag endlich.«

»Leichenfund, heute Morgen.«

»Wo?«

»Im Bitter River.«

Sie spürte leise Panik in sich aufsteigen, eine zarte Ranke, die für einen kurzen Moment ihre Stacheln in Bells Fleisch stieß. Dieses Gefühl überkam sie immer wieder, seit sich ihre Schwester im November heimlich davongeschlichen hatte.

Jedes Mal, wenn Sheriff Fogelsong auf eine Leiche stieß – und das geschah öfter, als die meisten Leute vermutet hätten, selbst in einem so kleinen Bezirk wie Raythune County, auch wenn es sich in den meisten Fällen um alte Menschen handelte, die eines natürlichen Todes gestorben waren, oder um junge Unfallopfer, die mitten in der Nacht auf einer einsamen, kurvigen Bergstraße verunglückten –, spürte Bell, wie sich dieses kleine pflanzenähnliche Ding in ihrem Bauch rührte, wie es sich entfaltete und dann wieder zusammenrollte.

Jedes Mal rechnete sie damit, dass es sich bei der Leiche um ihre Schwester handelte.

»Ertrunken?«, fragte sie.

»Vermutlich. Die Leiche wurde in einem versenkten Auto gefunden.«

»Identität?«

»Ist noch nicht offiziell bestätigt.« Fogelsong machte eine Pause. »Aber intern wissen wir, dass es sich um Lucinda Trimble handelt.«

Bell kramte in ihrem Gedächtnis. Sie kannte diesen Namen. Nicht gut, aber sie hatte ihn schon gehört. Acker’s Gap war eine Kleinstadt.

Ein verschwommenes Bild tauchte aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf: das Gesicht einer jungen Frau, etwa ein Jahr jünger als Carla, vielleicht auch zwei. Braune Haare? Ja, braune Haare. Lange, muskulöse Beine. Sportlerin. Eine gute noch dazu.

»Wir warten derzeit auf die vorläufigen Ergebnisse der Autopsie«, fuhr Fogelsong fort. »Es könnte ein Unfall gewesen sein oder Selbstmord. Aber ich wollte dich informieren, für den Fall, dass es doch komplizierter wird.«

Bell presste ihr Handy jetzt nicht mehr ganz so fest ans Ohr. Nichts lag ihr ferner als eine hohle Phrase à la Es hat alles seinen Grund oder Gottes Wege sind unergründlich. Worte konnten Lucinda Trimble jetzt auch nicht mehr helfen. Sie verdiente Bells und Nicks Sorgfalt, nicht ihre Sentimentalität.

»Wer hat den Fund gemeldet?«

»Deputy Harrison hatte die Nachtschicht. Kurz nach Sonnenaufgang ging ein Anruf von Marylou Ferguson ein, die einen seltsamen metallischen Gegenstand im Fluss bemerkt hatte. Marylou joggt fast jeden Morgen am Bitter River entlang, wie sie uns erzählt hat, um nach ihrem sechsten Kind wieder in Form zu kommen. Als Harrison am Fluss eintraf, sah sie, dass es sich bei dem Gegenstand um das Dach eines Autos handelte, woraufhin sie Deputy Greenough anrief, der wiederum mich informierte. Als Leroy Perkins um sechs endlich mit seinem Bergungsfahrzeug eintraf, hatte sich die Sache schon herumgesprochen, und am Flussufer ging es zu wie in einer gottverdammten Bahnhofshalle.« Er brach ab und seufzte.

Jetzt wird es interessant, dachte Bell. Bereits kurz nach ihrer Wahl zur Obersten Staatsanwältin war ihr aufgegangen, dass normale Menschen unangenehme Erlebnisse oder Informationen einfach verdrängen und sich wieder angenehmeren Dingen zuwenden konnten, wohingegen Sheriffs oder Staatsanwälte schreckliche Ereignisse immer wieder neu erzählen und die Tragödie in jedem erdenklichen Licht, aus jedem möglichen Blickwinkel betrachten mussten, um sämtliche verfügbaren Informationen in die Ermittlungsarbeit einzubeziehen. Sie mussten die Geschichte bis in alle Ewigkeit mit sich herumschleppen, wie eine kleine, juckende Narbe, die allerdings nur geliebte Menschen an einem wahrnahmen, Menschen, die einen in- und auswendig kannten.

»Leroy hat das Auto aus dem Fluss gezogen«, sagte Fogelsong. »Und dabei haben wir die Leiche gefunden.«

»Sie war allein im Auto.«

»Ja.«

Bell wollte noch eine Frage stellen, aber der Sheriff unterbrach sie.

»Bleib kurz dran«, bat er. »Buster Crutchfield ruft gerade an.« Buster Crutchfield war der Gerichtsmediziner von Raythune County.

Nachdem es einige Zeit heftig in der Leitung gerauscht hatte, vernahm Bell ein Klicken. Dann erklang wieder Fogelsongs Stimme: »Ich habe neue Informationen.«

Sie wartete.

Abermals holte er tief Luft. Sie hörte deutlich, wie er einatmete, so deutlich, als würde sie ihm in seinem Büro im Gerichtsgebäude gegenübersitzen und nicht – wie sie es seit Beginn des Telefonats tat – viel zu schnell auf der Route 234 dahinrasen.

»Lucinda Trimble ist nicht ertrunken, sondern war schon vorher tot«, berichtete der Sheriff. Seine Stimme veränderte sich nicht, aber Bell kannte ihn lange genug, um auch ohne hörbare Veränderung zu wissen, was in ihm vorging. »Es deutet alles darauf hin, dass sie erwürgt wurde. Das war kein Unfall, Bell. Wir haben es hier mit einem Mord zu tun. Und …«

»Und was?« Ihr Bauch krampfte sich zusammen. Schlechter Kaffee und schlechte Nachrichten – was für eine Kombination.

»Und sie war schwanger, sagt Buster. Im dritten Monat.«

3

Madeline Trimble wurde von allen Maddie genannt, was nicht nur eine Abkürzung ihres Vornamens war, sondern nach Ansicht der meisten Bewohner von Acker’s Gap auch gut zu ihr passte, galt sie doch als ziemlich verschroben.

Sie wohnte in einem kleinen Häuschen, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, an der Route 4, knapp zwanzig Kilometer südöstlich der Stadt. Wenn nicht gerade Regen angekündigt war, sah ihr Vorgarten schon morgens aus wie die überfüllte Auslage eines Ramschladens. Jeder Quadratzentimeter war mit selbstgebastelten Gegenständen bedeckt, mit deren Verkauf Maddie den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter Lucinda bestritt: Gebilden aus Schnüren und Federn, die sich Traumfänger nannten, Aquarellen von Flüssen und Gebirgsketten, Keramikgeschirr mit bunten Rändern, Tassen und Aschenbechern, gehäkelten Überwürfen, Babydeckchen und Steppdecken und lebensgroßen weißen Plastikstatuen von eleganten Hirschen, sich aufbäumenden Hengsten, Weißkopfseeadlern und einem milde lächelnden Jesus mit schräg gelegtem Kopf, seitlich ausgestreckten Armen und nach oben gedrehten Handinnenflächen, der aussah, als wüsste er die Antwort auf eine Quizfrage nicht.

Bis auf die Plastikstatuen, die sie in einem Kommissionsladen in Swanville erstand und mit zwanzig Prozent Aufschlag weiterverkaufte, stellte Maddie jedes ihrer Stücke in Handarbeit selbst her.

Doch es waren nicht die über ihre Büsche drapierten Decken oder die Jesusfigur mit den gütigen Augen in ihrem Blumenbeet, die die Bewohner von Acker’s Gap davon überzeugt hatten, dass Maddie Trimble nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Im Gegenteil, diese Gegenstände wurden als letzte zerfledderte Überreste ihres gesunden Menschenverstands betrachtet, die sich an ihr festklammerten, um nicht vom Sturm ihrer Eigentümlichkeit fortgeweht zu werden.

Was die braven Bürger von Raythune County so irritierte, waren vor allem zwei Autoaufkleber, die Maddie vor einigen Jahren bei einer Comicmesse erstanden und stolz auf ihre Haustür geklebt hatte. Ich bremse nur für Hexen und Elfen. Kobolde mache ich platt!, stand auf dem einen Aufkleber und auf dem anderen: Akademie für Hexenausbildung.

Maddie spielte gern mit den Erwartungen der Stadtbewohner, um »ihre Köpfe zu entrümpeln«, wie sie einmal zu Nick Fogelsong gesagt hatte. Auf ihre Bitte hin war er eines Nachmittags im letzten Jahr bei ihr vorbeigekommen, weil jemand Knallkörper in ihren Briefkasten gestopft und die schwarze Metalltrommel damit sauber vom Holzständer gesprengt hatte. Im ganzen Garten waren die geringelten Metallsplitter verstreut gewesen.

Nick hatte auf ihrer Veranda gestanden, sich den Nacken gerieben und beschlossen, ehrlich zu ihr zu sein: Es bestehe nahezu keine Chance, dass sie jemals herausfänden, wer das getan hatte.

Dann hatte er sich in ihrem Vorgarten umgesehen und den Blick über die bunte Ansammlung von Trödel schweifen lassen, die sie auf Klapptischen aufgebaut hatte. Dank der gelegentlich vorbeikommenden Touristen und Lastwagenfahrer liefen Maddies Geschäfte gar nicht so schlecht, jedenfalls reichten die Einnahmen, um die Hypothek zu bedienen. Schließlich war Nicks Blick wieder zur Haustür und den Aufklebern zurückgekehrt.

»Warum machst du dir das Leben so verdammt schwer, Maddie?«, hatte er gefragt und eine matte Handbewegung Richtung Tür gemacht, damit sie wusste, was er meinte. »Die Leute hier … die mögen diesen Hexenkram einfach nicht. Ganz und gar nicht. Manche von ihnen behaupten felsenfest, du hättest einen großen schwarzen Kessel hinterm Haus, in dem du deinen Zaubertrank kochst. Und jedes Mal, wenn es ein paar Wochen nicht regnet, heißt es, du hättest die Gegend mit einem Fluch belegt, weil die Grundsteuer für dein Haus schon wieder gestiegen sei und du deswegen sauer wärst. Manche Leute glauben sogar, du würdest in deinem Werkzeugschuppen den Teufel anbeten.« Er schüttelte den Kopf. »Warum fachst du die Gerüchte noch weiter an? Warum, Maddie?«

Der Blick, den sie ihm als Antwort zugeworfen hatte, war stolz und trotzig gewesen. Sie weigerte sich, ihre langen grauen Haare zu einem Zopf oder Pferdeschwanz zu binden, wie es andere Frauen ihres Alters in Raythune County taten. Ihre Augen waren von einem erstaunlich intensiven Grün, und ihr Gesicht war scharf geschnitten, mit markanten Kiefer- und Wangenknochen. Darüber spannte sich eine jung gebliebene, rosige Haut, um deren Straffheit sie viele Gleichaltrige beneideten. Maddies vierundfünfzig Jahre alter Körper war stark und geschmeidig, ein weiterer Grund für Neid und Verbitterung unter Frauen ihres Alters, die weit weniger begünstigt waren.

»Weißt du was, Nick?«, hatte Maddie gesagt. Sie hatte direkt neben ihm auf der Veranda gestanden, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich lebe hier draußen am Arsch der Welt, damit ich tun und lassen kann, was ich will, und zwar genau dann, wann es mir passt. Und wenn ich dabei hin und wieder ein bisschen mit dem Teufel schäkere, geht das niemanden was an, klar?«

Als sie den beunruhigten Ausdruck in Nicks Augen gesehen hatte, sein schmerzvoll verzogenes Gesicht, war sie in ihr tiefes, rauchiges, verschwenderisches Lachen ausgebrochen.

»Herrgott noch mal, Nick Fogelsong! Jetzt kennen wir uns schon so viele Jahre, und du merkst immer noch nicht, wenn ich dich auf den Arm nehme!«

Daraufhin hatte er gelächelt, aber es war ein mattes Lächeln gewesen. Ein höfliches. »Mach du ruhig deine Witze, Maddie«, hatte er gesagt. »Aber wenn die Leute wütend genug sind, dein Eigentum zu zerstören« – sein Blick wanderte zu dem geborstenen Pfosten, auf dem einst ihr Briefkasten geruht hatte –, »dann ist es vielleicht an der Zeit, sich ein bisschen zusammenzureißen. Nicht nur für deine eigene Sicherheit. Du musst auch an Lucinda denken.«

»Das tue ich«, hatte sie ernst erklärt. »Ich denke die ganze Zeit an sie. Und genau deshalb darf ich mich nicht verbiegen, Nick. Denn was wäre ich sonst für ein Vorbild für sie?«

In diesem Punkt hatte Nick ihr recht geben müssen. Sie war alleinerziehende Mutter einer sechzehnjährigen Tochter, und man konnte Maddie Trimble vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie eine schlechte Mutter war. Lucinda spielte Basketball und war Präsidentin des Schachvereins und des Computerclubs. Außerdem schrieb sie Gedichte, von denen eines einen landesweiten Schülerwettbewerb gewonnen hatte. Zwei Universitäten – Duke und Stanford – hatten ihr bereits ein Vollstipendium angeboten, aber ihr Herz gehörte der Virginia Tech University, wie sie ihrer Mutter anvertraut hatte, weil dort ihre Lieblingsdichterin Nikki Giovanni lehrte. Zuletzt war dem Sheriff zu Ohren gekommen, dass Lucinda gute Chancen hatte, als Beste ihres Jahrgangs die Acker’s Gap Highschool abzuschließen. Er verfolgte genau, was die jungen Leute in seinem Revier taten, und wenn ihm die Einwohner von Raythune County dafür auf die Schulter klopften, wies er sie darauf hin, dass er im eigenen Interesse handelte, denn wenn die Jugendlichen auf die schiefe Bahn gerieten, war er es, Nick Fogelsong, der es ausbaden musste.

»Weißt du was?«, hatte Fogelsong zu Maddie gesagt. Auch wenn sie sich den Ärger zum größten Teil selbst zuzuschreiben hatte, gefiel ihm der Gedanke nicht, unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Die Sprengung des Briefkastens mochte eine Lappalie sein, aber es handelte sich dennoch um Vandalismus und damit um eine Straftat. »Deputy Greenough wohnt hier in der Gegend. Ich werde ihn bitten, hin und wieder vorbeizukommen, sich ein bisschen umzuschauen, sich auf die Lauer zu legen.«

Sie hatte dankbar genickt. »Ich weiß es zu schätzen, Nick. Lucinda bestimmt auch. Sie lernt oft bis spät in die Nacht und hat schon hin und wieder unheimliche Geräusche gehört und Angst bekommen.« Wenn Maddie von ihrer Tochter sprach, erschien ein zärtliches Lächeln auf ihrem Gesicht, das ihre Züge sofort weicher aussehen ließ. »Abhalten lässt sie sich davon natürlich nicht. Lucinda ist ein ganz schöner Dickkopf, das sage ich dir. Meine Kleine wird es noch weit bringen im Leben, blitzgescheit wie sie ist. Sie weiß genau, was sie will, und arbeitet so lange, bis sie es erreicht hat.«

Der Sheriff hatte genickt. Wenn ein junger Mensch in seinem Einflussbereich sich so glänzend entwickelte wie Lucinda Trimble, hatte er immer ein wenig das Gefühl, auch dazu beigetragen zu haben. Ihm kam es so vor, als wären die Schicksale all dieser jungen Leute miteinander verbunden, und wenn einer von ihnen Erfolg hatte, wenn einer von ihnen es bis ganz nach oben schaffte, dann zog er auch alle anderen mit – nur ein kleines Stück zwar, aber das genügte schon. Diesen Gedanken behielt Nick allerdings für sich, aus Angst, dass man ihn für sentimental hielt, doch er begleitete ihn oft auf seinen langen Fahrten durch die nächtlichen Straßen von Raythune County.

Und nun war er wieder hier bei Maddie Trimble, nur ein Jahr später, und hatte die schlimmste Nachricht zu überbringen, die es gab.

Der Sheriff spürte, wie Erinnerungen in ihm aufstiegen, als er den Blazer vor Maddie Trimbles kleinem, heruntergekommenem Häuschen zum Stehen brachte. Im Geist sah er Lucindas strahlendes Gesicht vor sich, als sie im letzten Frühjahr mit den Acker’s Gap Lady Tigers das Halbfinale der West-Virginia-Meisterschaften gewonnen hatte. Im Finale hatte die Mannschaft haushoch verloren, aber dass sie es überhaupt so weit geschafft hatte – mit einer winzigen Turnhalle und einem der knappsten Budgets im ganzen Bundesstaat –, kam einem Wunder gleich. Nach dem Sieg im Halbfinale, der nicht zuletzt Lucindas neunundzwanzig Punkten und sieben Steals zu verdanken war, hatte die ganze Stadt euphorisch gefeiert. Fast hätte es genügt, dass die Leute Maddie ihre Spleens verziehen. Nachdem die Schlusssirene an jenem Abend wie ein Nebelhorn durch die Halle gedröhnt hatte, war Lucinda, die als Aufbauspielerin alles gegeben hatte, triumphierend im Mittelkreis stehen geblieben, das Gesicht glühend vor Schweiß und Anstrengung, die braunen Ponyfransen nass und klebrig.

Nick schob die Erinnerung beiseite. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Seufzend schaltete er den Motor aus.

Es war kurz nach neun. Maddies Ware war bereits in ihrer ganzen buntgemischten, hoffnungsfrohen Pracht im Garten verteilt, all der Tand und Nippes, der Schnickschnack und Firlefanz, die Kinkerlitzchen und Souvenirs und Ramschartikel, ohne die man unmöglich leben konnte, wenn man sie einmal gesehen hatte. Und selbst wenn man es konnte, warum sollte man es wollen?, fragte Maddie auf den frechen kleinen Hinweistafeln, die sie überall aufgestellt hatte. Nick fiel auf, dass sie entlang der Veranda eine ganze Reihe hölzerner Vogelhäuschen an einer Wäscheleine aufgehängt hatte. Jedes Vogelhaus war sorgfältig in einem fröhlichen Farbton gestrichen: ananasgelb, kürbisorange oder apfelrot. Wirklich hübsch, dachte Nick. Maddie konnte meisterhaft mit Hammer und Säge umgehen.

Er stieg aus dem Wagen. Seine Kleider waren immer noch nass vom Fluss, klebten knittrig an seinem Körper und machten klatschende Geräusche, als er den Pfad entlangging. Er hatte nicht erst nach Hause fahren und sich umziehen wollen. Es war nicht gut, das Überbringen schlechter Nachrichten aufzuschieben. Sobald Nick Fogelsong von einem tragischen Umstand erfuhr, fühlte er sich verpflichtet, ihn sofort den Menschen mitzuteilen, die er betraf. Alles andere war nicht fair. Wenn man zögerte, schonte man damit nur sich selbst.

Eigentlich hätte er mittlerweile völlig durchgefroren sein müssen, doch er war wie betäubt von der schrecklichen Nachricht, die er Maddie überbringen musste. Seine Stiefel fühlten sich an, als wöge jeder von ihnen fünfzig Kilo, und das nicht nur, weil sie völlig durchnässt waren. Er arbeitete jetzt seit über dreißig Jahren als Ordnungshüter und hatte unzählige Male Angehörige vom Tod geliebter Menschen unterrichten müssen. Der heutige Tag kam ihm dennoch wie der schlimmste seines Lebens vor.

Vielleicht übte er seinen Beruf schon zu lange aus, denn in letzter Zeit ging es ihm an vielen Tagen so. Das schlechte Gefühl ging einfach nicht mehr weg.

Während er sich seitlich an dem guten Dutzend Klapptischen in Maddies Vorgarten vorbeischlängelte, von denen einige den Weg zur Haustür verstellten, während er langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um nicht anzuecken und die Töpferwaren und Glaskugeln und langen transparenten Schals und bunten Strickmützen und gerahmten Bilder von Sonnenuntergängen nicht zu Boden zu werfen, legte sich Nick in Gedanken Worte zurecht, verwarf sie wieder und fing noch einmal von vorn an. Auf der ganzen Fahrt hierher hatte er sich bereits dieser quälenden Aufgabe gewidmet, hatte darüber nachgegrübelt, wie er Maddie Trimble am besten von dem Anruf erzählen sollte, den er am frühen Morgen von Deputy Greenough erhalten hatte, davon, wie er hastig in seine Hose geschlüpft war und im Dunkeln nach seinen Stiefeln getastet hatte, um seine Frau nicht aufzuwecken. Bereits da hatte ihn eine dunkle Vorahnung gestreift, leise wie der Flügel eines Habichts. Trotzdem war er nicht auf das vorbereitet gewesen, was dann kam. Er konnte es auch jetzt noch nicht fassen, wankte unter der grausamen Last dessen, was er erfahren hatte – und nun an Maddie weitergeben musste.

Er suchte nach den richtigen Worten, um Maddie mitzuteilen, dass ihre Tochter tot war, dass man sie an diesem Morgen im Bitter River gefunden hatte.

Und dass ihr Tod kein Unfall gewesen war.