1 Einleitung

Der Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, und die Ausführung von Suizidhandlungen, d. h. von Suiziden und in noch stärkerem Maße Suizidversuchen, sind Ausdruck tief greifender persönlicher Belastungen und Krisen, die nicht bewältigt werden können. Ihre Prävention und Behandlung innerhalb des Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik eines Landes bereiten gesellschaftlich betrachtet nicht zu unterschätzende Probleme. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jedes Jahr etwa eine Million Menschen durch Suizid, in den europäischen Mitgliedsstaaten waren es 2006 rund 59 000 Personen, die sich das Leben nahmen, 45 000 Männer und 14 000 Frauen. In Deutschland gibt es im Jahr mehr als 9 000 Tote durch Suizid. Der Suizid gehört damit zu den Hauptursachen für vorzeitige Sterbefälle (premature death) (Wahlbeck & Mäkinen, 2008). Noch erschreckender ist die Zahl der Suizidversuche, die von keiner amtlichen Statistik erfasst wird. Sie übersteigt nach übereinstimmender Schätzung die der Suizide mindestens um das Zehnfache.

Besonders von tödlichen Suizidhandlungen betroffen sind in allen Industrieländern die alten Menschen. Das gilt besonders für Männer, aber auch für Frauen. In Deutschland beträgt z. B. der Anteil der 60-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung rund 26 %, ihr Anteil an allen Suiziden dagegen rund 41 %. Diese seit langem bekannte Tatsache wird im Unterschied zu anderen Ländern, in denen das Problem des Alterssuizids durch Public-Health-Programme, durch Forschung und Aufklärungsarbeit stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt wird (Beispiel: USA), in Deutschland eher als gesundheitliches Randphänomen behandelt und in politischen Kreisen und damit auch in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Publizität bekommen Selbsttötungen erst dann, wenn sich bekannte Persönlichkeiten aus Industrie, Kultur und Geistesleben, die man eigentlich für erfolgsverwöhnt hält, das Leben nehmen. Generell wird dem Alterssuizid im Unterschied zu Suizidhandlungen jüngerer Menschen ein größeres Verständnis und eine größere Akzeptanz entgegengebracht. Mit ihm wird häufig assoziiert, dass das Alter so unerträglich sein muss, dass es, solange noch Handlungsfreiheit besteht, besser ist, das Leben vorzeitig zu beenden als es unter Leiden bis zum bitteren Ende zu erdulden. Durch diese größere Akzeptanz wird es auch schwieriger, Prävention und Therapie in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und politisch durchzusetzen. Erst das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) hat u. a. die besondere Suizidgefährdung alter Menschen in seinen Aktionsplan aufgenommen und zur Bewusstseinsbildung in Sachen Prävention und Therapie beigetragen.

Dieses bundesweite Programm, das sehr wertvolle Arbeit leistet, gibt es seit 2002, weitgehend getragen vom freiwilligen Engagement zahlreicher Verbände, Organisationen und Einzelpersonen, die die Notwendigkeit von Suizidprävention in unserem Lande erkennen und sich für deren Umsetzung und Weiterentwicklung einsetzen. Es ist bemerkenswert, was sich im Rahmen von Fachgesellschaften, Institutionen und Arbeitsgruppen, die sich unter dem Dach des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland zusammengeschlossen haben, in der Zwischenzeit alles entwickelt hat. Zu diesen positiven Entwicklungen gehört auch die Beobachtung, dass das Thema des Alterssuizids von Medien, Verbänden, Weiterbildungsträgern und Berufsgruppen stärker als bisher aufgegriffen und bearbeitet wird. Auf Kongressen und Tagungen einschlägiger Fachgesellschaften wird der Alterssuizid ebenfalls thematisiert und in Publikationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dazu beigetragen haben vor allem die Aktivitäten der Arbeitsgruppe Alte Menschen im NaSPro, in der sich Experten für Fragen des Alterssuizids aus unterschiedlichen Disziplinen und Praxisfeldern zusammengetan haben. Eine zentrale Aufgabe, die sich die Arbeitsgruppe Alte Menschen gestellt hat, besteht im Erfahrungsaustausch und in der Zusammenarbeit mit Berufsgruppen, die in ihrer Praxis mit der Suizidgefährdung (Suizidalität) alter Menschen zu tun haben und nach Ansätzen und Methoden suchen, diesem Problem persönlich und fachlich gerüstet zu begegnen. Zu diesem Zweck werden Informationsmaterialien erstellt, Fort- und Weiterbildungsangebote gemacht und sonstige Gelegenheiten genützt, um das Thema des Alterssuizids ins Gespräch zu bringen. Auch das vorliegende Buch, das zahlreiche Anregungen zu diesem Thema aus der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachdisziplinen aufgreift und verarbeitet, dient diesem übergeordneten Ziel.

Es gehört zu den zentralen Anliegen der Suizidprävention, durch Information, Aufklärung und Unterrichtung grundlegende Aspekte wie Häufigkeit, Entstehungsbedingungen und Erklärungsansätze von Suizidalität (hier besonders im Alter) zu thematisieren. Ferner ist es ein Anliegen, präventive, diagnostische und therapeutische Hilfen bei Suizidgefährdung praxisnah zu erarbeiten. Es gibt seit geraumer Zeit einen Kreis von Wissenschaftlern und Praxisvertretern, die sich mit der Suizidgefährdung alter Menschen beschäftigen und Fortschritte in Prävention und Therapie suizidaler alter Menschen herbeiführen wollen. Darüber hinaus muss es gelingen, noch weitere Personen für dieses Thema zu interessieren, die dann als Multiplikatoren in ihrem Lebens- und Berufsumfeld tätig werden können. Arbeiten zum Thema der Suizidalität und Suizidprävention im höheren Lebensalter liegen mittlerweile in großer Anzahl aus dem deutschen, vor allem aber aus dem englischen Sprachraum vor. Sie werden hier angemessen berücksichtigt.

Gegliedert wird das Buch nach folgenden Gesichtspunkten. Da der Autor sich dem Thema der Alterssuizidalität aus seiner längjährigen Tätigkeit als Lehrer und Forscher auf Gebieten der Gerontopsychologie nähert, wird der Einstieg über Aspekte und Fragen des Alter(n)s gewählt. Diese sollen aufzeigen, dass es im Verlauf des Altwerdens zu Belastungskumulierungen und krisenhaften Zuspitzungen kommen kann, die Suizidalität und suizidales Handeln nach sich ziehen. Insbesondere werden körperliche und psychosoziale Alternsveränderungen aufgegriffen, die das Leben im Alter erschweren und es unter bestimmten Bedingungen unerträglich machen. Der Mehrheit alter Menschen gelingt es zwar, mit Hilfe personaler und sozialer Ressourcen (Schutzfaktoren) den Einbußen und Verlusten des Altwerdens zu begegnen, einer Minderheit dagegen stehen diese Ressourcen im hohen Alter nicht zur Verfügung. Die Bewältigung der körperlichen, seelischen und sozialen Herausforderungen des Altwerdens scheint für diese Gruppe so aussichtslos, dass sie nicht mehr weiterleben möchte.

Thematisiert werden zu Beginn des ersten Kapitels Lebensqualität und Wohlbefinden als übergreifende Zielkonzepte der persönlichen Lebensführung, der körperlichen und seelischen Gesundheit sowie der politischen Weichenstellungen im Alter, zu denen auch die vorherrschenden Altersbilder in der Gesellschaft ihren Beitrag leisten. Behandelt werden dann Belastungsfaktoren auf der einen und Schutzfaktoren des hohen Alters auf der anderen Seite. Gefragt wird auch nach dem heuristischen Wert von psychologischen Modellen des Alterns für das Verständnis von krisenhafter und suizidaler Entwicklung im Alter.

Das zweite Kapitel wendet sich dem eigentlichen Thema der Suizidalität im Alter zu. Terminologische und epidemiologische Fragen werden geklärt und durch internationale Untersuchungsbefunde untermauert. Für die Früherkennung suizidaler Gefährdung wichtig ist die Vermittlung von diagnostischen Zugangsmöglichkeiten und Methoden, die besonders bei alten Menschen erschwert sein können. Ein umfangreicher Abschnitt des Buches befasst sich mit den Entstehungsbedingungen von Suizidalität alter Menschen, die gut mit Belastungsmerkmalen des Alters verknüpft werden können (s. Kapitel 1). Sind diese Entstehungsbedingungen empirisch gut belegt und prognostisch von Relevanz, spricht man auch von Risikofaktoren.

Um die Suizidalität alter Menschen in ihrer Genese, Mehrdimensionalität und Psychodynamik besser begreifen zu können, muss auf Erklärungsansätze eingegangen werden, die besonders aus psychiatrischer und psychologischer Perspektive entwickelt wurden. Dabei verbietet sich jede monokausale Erklärung, die z. B. nur auf psychische oder körperliche Erkrankungen im Alter als Ursache für Suizidalität im Alter rekurriert. Psychologisch relevant sind vor allem tiefenpsychologische, verhaltenspsychologische und stresstheoretische Erklärungsansätze. Psychologische Modelle der Suizidalität haben den Vorteil, die biografischen und persönlichkeitsspezifischen Einflussgrößen in ihrer wechselseitigen Bedingtheit ins Blickfeld zu rücken. Sie sind auch in der Lage, Art und Verlauf der Auseinandersetzung mit Belastungen des Alters zu fokussieren, einschließlich der Schutzfaktoren, die krisenhaften Entwicklungen bis hin zu suizidaler Gefährdung entgegenwirken können.

Das dritte Kapitel leitet über zu den Schwerpunktthemen Suizidprävention, Krisenhilfe und Psychotherapie im Alter. Angesprochen werden Formen der Suizidprävention. Des Weiteren wird ein Blick geworfen auf Stand und Entwicklung der Suizidprävention im internationalen und nationalen Raum, unter besonderer Berücksichtigung der suizidpräventiven Konzepte und Programme für alte Menschen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Beschreibung der gegenwärtigen Versorgungslage suizidaler alter Menschen in der Bundesrepublik. Diese lässt in mehreren Punkten noch zu wünschen übrig und muss verbessert werden, insbesondere was den Umgang mit Suizidalität alter Menschen in Pflegekontexten betrifft. Zu den Einflussfaktoren für Suizidalität alter Menschen gehören auch kritische Lebensereignisse, die nicht verkraftet werden und ein Weiterleben erschweren (z. B. der Tod des Partners). Krisenintervention und Psychotherapie können die Antwort darauf sein und Wege aus Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeitsgefühlen und Zukunftsangst aufzeigen.

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Abb. 1: Zusammenwirken von Belastungs- und Schutzfaktoren im Alter – Bedingungen gelingenden Alterns

Im letzten Kapitel geht es um rechtliche und ethische Aspekte von Suizid und Suizidprävention, die nach wie vor wegen der Komplexität der Problemlage sowie der unterschiedlichen Grundhaltung und persönlichen Betroffenheit der Beteiligten kontrovers bewertet und diskutiert werden. Eine besondere Qualität erfährt die ethische Einstellung zum Suizid und zur Suizidprävention bei alten Menschen dadurch, dass einseitig negative wie positive Altersbilder ein eher permissives Verständnis für selbst gewählte, vorzeitige Lebensbeendigung im Alter fördern. Suizidprävention im Alter kann dadurch eine mindere gesellschaftliche Relevanz erfahren als Suizidprävention bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Warum und wieweit sollte in Suizidprävention alter Menschen „investiert“ werden?

Die Gesamtkonzeption des Buches wird im Überblick (Abb. 1) noch einmal verdeutlicht. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen inneren und äußeren Bedingungen das Altern gelingen kann. Es kann gelingen, wenn es zu einer Ausbalancierung von Anforderungen und Belastungen (Verlusten) auf der einen und Ressourcen und Schutzfaktoren (Gewinnen) auf der anderen Seite kommt. Diese Ausbalancierung ist die Voraussetzung für die Erhaltung von Lebensqualität und subjektivem Wohlbefinden unter erschwerten Bedingungen. Den meisten alten Menschen gelingt diese schwierige Entwicklungsaufgabe, eine beachtliche Minderheit wird mit dieser Aufgabe jedoch nicht fertig und sieht keinen Wert mehr im Weiterleben. Diesen Menschen kann in ihrer Lebenskrise und psychisch-sozialen Not mit Mitteln der Suizidprävention und Therapie ein Hilfsangebot gemacht werden.

Danksagung

Mein Dank gilt vor allem Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag, der dieses Buchprojekt von Beginn an unterstützt, gefördert und begleitet hat, ferner Ulrike Merkel und Claudia Campisi für das sorgfältige Lektorat. Dank sagen möchte ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe Alte Menschen des Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, mit denen ich seit mehreren Jahren in regem Austausch und interdisziplinärer Kollegialität gut zusammenarbeite. Dass es zu dieser intensiven und kontinuierlichen Beschäftigung mit Fragen der Alterssuizidalität und Suizidprävention gekommen ist, verdanke ich auch den zahlreichen Begegnungen und Fachgesprächen auf Treffen, Tagungen und Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention und des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland. Danken möchte ich besonders auch meiner Frau Bärbel Erlemeier-Widera, die mich voller Geduld gewähren ließ, wenn die Fertigstellung des Manuskripts mich wieder und wieder an den Schreibtisch fesselte.

Hinweis:

Auf die Verwendung von Doppelformen oder anderen Kennzeichnungen für weibliche und männliche Personen wird verzichtet, um Lesbarkeit und Übersichtlichkeit des Textes zu wahren. Mit allen im Text verwendeten männlichen Personenbezeichnungen sind stets beide Geschlechter gemeint.

2 Altern und Alter

Die Kernbegriffe Altern und Alter sind inhaltlich zu unterscheiden. Altern ist ein vielschichtiger Prozess, dem biologische, psychische und soziale Einflussfaktoren zugrunde liegen. Altern umfasst nach herkömmlichem Sprachverständnis Veränderungen in der zweiten Lebenshälfte des Menschen. Es gibt jedoch auch Alternsforscher (z. B. Alternsbiologen), die das Altern konsequent als lebenslangen Prozess verstehen, „der mit der Geburt beginnt und mit dem Tode endet“ (Kruse & Wahl, 2010, S. 7).

Die Mehrschichtigkeit des Alternsprozesses wurde von Thomae (1968) in seinem Beitrag „Persönlichkeit und Altern“ treffend beschrieben. In Anlehnung an sein Modell sind die folgenden Veränderungsdimensionen zu unterscheiden, die jeder Mensch hinsichtlich seines Alterns in unterschiedlicher Gewichtung erfährt:

Alter ist im Unterschied zum Prozess des Alterns ein Abschnitt im Lebenslauf. Dem Begriff Alter lassen sich mehrere Bedeutungsgehalte zuordnen. Zunächst denkt man an die verflossene Zeit in Lebensjahren eines Menschen, an das kalendarische oder chronologische Alter. Dieses dient auch dazu, nach bestimmten gesellschaftlichen Konventionen Altersgrenzen zu setzen, z. B. für die Verrentung oder die zeitliche Abgrenzung bestimmter Altersphasen oder Altersgruppen, z. B. hohes Alter (65–80 Jahre), sehr hohes Alter (80 Jahre und älter) und extrem hohes Alter (100 Jahre und älter) (Martin & Kliegel, 2005, S. 28). Das chronologische Alter weist auch auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation hin. Als Angehöriger einer bestimmten Generation ist das Individuum zeitlebens bestimmten generationsspezifischen Einflüssen ausgesetzt. Dazu gehören historische, gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse und Prozesse, die in die Lebensplanung und den Lebensverlauf von ganzen Generationen prägend eingreifen. Sie haben auch deren Einstellungs- und Verhaltensmuster beeinflusst. So spricht man z. B. von der „Kriegsgeneration“, die harte Jahre der Bedrohung und Entbehrung durchstehen musste und heute, wenn sie überlebt hat, sich in einem hohen bis sehr hohen Alter befindet, in dem traumatische Erlebnisse immer noch nachwirken können. Das Alter ist außerdem eine sozial-differenzierende Kategorie, mit Hilfe derer gesellschaftliche Status- und Rollenzuschreibungen erfolgen. An Angehörige bestimmter Altersgruppen werden unterschiedliche Verhaltenserwartungen gerichtet (Altersnormen). Übergreifend wird Alter verstanden als eine Phase im Lebenslauf (z. B. hohes Alter, sehr hohes Alter), die weitgehend durch gesellschaftliche Konventionen festgelegt wird (z. B. das Rentenalter). Diese Lebensphase hebt sich durch besondere Ereignisse, Problemlagen und Anforderungen von früheren Lebensphasen ab, steht aber zugleich mit ihnen in biografischer Verknüpfung. Ihre Abgrenzung als eine homogene Lebensphase wirft heute Probleme auf, da sich ihre zeitlichen Markierungen nach oben (erhöhte Lebenserwartung) wie nach unten (vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben) bedeutsam verschoben haben. Es werden deshalb weitere interne Differenzierungen (z. B. junge Alte, alte Alte, sehr alte oder hochbetagte Menschen) vorgenommen, die deshalb sehr wichtig sind, weil Lebenssituation, Bedürfnisse und Lebensansprüche in den verschiedenen Altersgruppen sehr unterschiedlich sind.

Das Altern zeigt bei grober Betrachtung ein Doppelgesicht, ähnlich dem Doppelantlitz des römischen Gottes Janus. Auf der einen Seite bieten sich Chancen und Entwicklungspotenziale, die für die späten Jahre eine Perspektive eröffnen und sinnvoll genutzt werden können. Auf der anderen Seite sind Abbauerscheinungen, Einschränkungen und Verluste im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich nicht zu vermeiden. Altwerden ist, je mehr es dem Lebensende zugeht, oft belastend und schwer zu ertragen. Das trifft besonders auf die sehr Alten, d. h. die 80-Jährigen und Älteren zu. Das Doppelgesicht des Alters, das auch als Spannungsfeld zwischen Gewinnen und Verlusten gesehen werden kann, verbietet deshalb eine einseitige Betonung der positiven auf der einen oder der negativen, belastenden Merkmale auf der anderen Seite. Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass mit zunehmendem Alter das Erleben von Verlusten immer stärker die Überhand gewinnt. Schaut man allerdings genauer auf das Altern, tut sich ein breites Spektrum von Formen und Entwicklungsverläufen auf, zeigt sich eine Vielzahl von Gesichtern, die einem einseitig negativen oder positiven Bild vom Altern widersprechen.

Es gab, wie in der Kultur- und Sozialgeschichte nachzuweisen ist, verbreitet polarisierte Sichtweisen vom Altern (Altersbilder), die die gesellschaftliche Stellung und Behandlung alter Menschen beeinflussten (BMFSFJ, 2010; Filipp & Mayer, 1999). Die Bewertung des Alters entspringt einerseits unterschiedlichen privaten und beruflichen Erfahrungskontexten, andererseits wirkt sie auf den Umgang mit alten Menschen in vielen Situationen zurück. Lange Zeit wurde Altern eher als Kumulierung von Defiziten gesehen, dann umgewertet im Sinne der Betonung von Kompetenzen und Potenzialen. Ein einseitiges Defizitmodell ist aber genau so wenig wie ein überzogenes Kompetenzmodell des Alterns geeignet, die Mehrschichtigkeit und Bandbreite des Alterns angemessen und realistisch abzubilden. Gerade der Begriff des differenziellen Alterns betont sowohl die großen individuellen Unterschiede in Verlauf und Ausprägung des Alternsprozesses als auch die Mehrschichtigkeit und unterschiedliche Gerichtetheit dieses Prozesses in der zweiten Lebenshälfte (Kruse & Wahl, 2010; Lehr & Thomae, 1987; Wahl & Heyl, 2004).

Im Alternsprozess selbst durchläuft der Mensch heute wegen der hohen durchschnittlichen Lebenserwartung verschiedene Phasen, die ihn durch eine relativ lange Zeit des gesunden Alterns führen. In der Phase der Hochaltrigkeit, die die Zeit über 80 umfasst, wird dann das Leben immer stärker durch Krankheit, Funktionsverlust und Einbußen an Selbstständigkeit gezeichnet. Gerontologen sprechen, um diese Altersphasen zu unterscheiden, vom dritten und vierten Lebensalter (Baltes, 2001). Mit Eintritt ins hohe Alter nimmt die Krankheitshäufigkeit, körperlich wie psychisch, zu. Behinderungen in der Alltagsbewältigung erschweren das normale Leben. Hilfe- und Pflegebedürftigkeit werden wahrscheinlicher (Böhm, Tesch-Römer & Ziese, 2009; Ding-Greiner & Lang, 2004; Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1996; Weyerer & Bickel, 2007). Es kommt zum Nachlassen geistiger Fähigkeiten, soziale Beziehungsgeflechte werden brüchiger, Verluste sind zu verkraften. Für manche Alte kann das Dasein so zur Last werden, dass sie nicht mehr leben wollen. Statistisch gesehen ist das hohe Alter ein starker Indikator für tödliche Suizidhandlungen. Die Kumulierung und das Zusammenspiel mehrerer Belastungsfaktoren und Beweggründe können die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden alter Menschen so stark beeinträchtigen, dass sie unter den desolaten Lebensumständen nicht mehr weiterleben wollen und sich das Leben nehmen. Was unter den komplexen Begriffen Lebensqualität und Wohlbefinden verstanden wird, soll im Folgenden eingehender behandelt werden.

2.1 Lebensqualität und psychisches Wohlbefinden

Die Erhaltung von Lebensqualität und Wohlbefinden ist eines der zentralen Ziele menschlicher Lebensführung. Die äußeren Lebensbedingungen und inneren Dispositionen müssen möglichst so gestaltet werden, dass bis ins hohe Alter diese Ziele erreichbar bleiben. Zu den Leitbildern der gerontologischen Forschung, der praktischen Altenarbeit sowie der Sozial- und Gesundheitspolitik gehören die Förderung und weitgehende Erhaltung von Lebensqualität und Wohlbefinden, auch und gerade unter den erschwerten Bedingungen des hohen Alters. Diese Konzepte, einschließlich des Konzepts der Lebenszufriedenheit, werden in der Gerontologie gerne dem Oberbegriff des gelingenden Alterns zugeordnet. Eine trennscharfe Unterscheidung, die die inhaltliche Bedeutung der Begriffe Lebensqualität, Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit genau bestimmt, kann kaum geleistet werden. Dafür überschneiden sich die Begriffe in ihrem Bedeutungsgehalt zu sehr. Sie können deshalb nur akzentuierend unterschieden werden.

Lebensqualität und Wohlbefinden dienen erstens als Kriterien für die Wirksamkeit gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion in bestimmten Lebensbereichen wie der materiellen Sicherung, Gesundheit, Wohnsituation und der sozialen Integration. Zweitens richtet sich sozial-psychologisch der Blick auf die individuellen und sozialen Bedingungen für Lebensqualität und Wohlbefinden, vor allem auf Verhaltensmuster bei der Verarbeitung von Belastungen und kritischen Lebensereignissen, die zur Aufrechterhaltung von Lebensqualität und Wohlbefinden beitragen. Drittens verweisen Lebensqualität und Wohlbefinden auf die subjektive Bedeutsamkeit bestimmter Lebensziele, Wertorientierungen, persönlicher Standards und Erfahrungen in der Lebensführung.

Der bereits eingeführte, umfassende Begriff des gelingenden Alterns dient als Ausdruck einer flexiblen Anpassung an Veränderungen, die mit dem Altern einhergehen. Diese Anpassung wiederum kann als Gleichgewichtsregulation zwischen den Bedürfnissen und Strebungen des alternden Individuums und den inneren und äußeren Anforderungen der Lebenssituation im Alter verstanden werden. Nach Baltes und Baltes (1989) wird gelingendes Altern durch mehrere Indikatoren genauer bestimmt (sie nennen es „erfolgreiches Altern“ nach dem englischen Terminus „successful aging“): ein langes Leben, körperliche und seelische Gesundheit, psychosoziale Entwicklungsfortschritte und Produktivität, Lebenssinn, Gefühle der Selbstwirksamkeit und Lebenszufriedenheit. Die Grundvoraussetzung für gelingendes Altern ist nach diesem Konzept zwar ein hohes Alter, hinzukommen müssen jedoch qualitative Indikatoren, die einem langen Leben erst Inhalt und Sinn verleihen. Verkürzt kann von Lebenslänge plus Lebensqualität als Ausdruck gelingenden Alterns gesprochen werden, mit den Worten von Tesch-Römer (2002, S. 165): „Ein langes Leben zu erreichen ist das Ziel der meisten Menschen, doch sollte dieses Leben auch und gerade im fortgeschrittenen Alter ein gutes Leben sein.“ Dieses „gute Leben“ im Alter ist immer nur aus dem Zusammenwirken von Person- und Umweltressourcen zu verwirklichen. Dazu kommen günstige Gelegenheiten (z. B. eine menschliche Begegnung), die als Wendepunkte das Leben beeinflussen können (Thomae 2002). Diese Bedingungen für ein „gutes Leben“ sind bei alten Menschen, die nicht mehr leben wollen, sehr eingeengt oder nicht mehr gegeben.

Als Voraussetzung und zugleich als Folge gelingenden Alterns können Lebensqualität und Wohlbefinden angesehen werden. Lebensqualität gilt als übergreifendes Konzept, aus dem sich die anderen Konzepte ableiten lassen. Bei der Betrachtung von Lebensqualität müssen objektive Lebensbedingungen und subjektive Bewertungen dieser Lebensbedingungen ins Kalkül gezogen werden. Zu den objektiven Bedingungen zählen als Ressourcen vor allem die gesundheitliche Verfassung und funktionale Leistungsfähigkeit, die Einkommens- und Wohnsituation sowie die Qualität und Stabilität sozialer Netzwerke. Ebenso wichtig wie die objektiven Bedingungen sind die subjektiven Bewertungen, die die individuelle Bedürfnis- und Zielstruktur sowie emotionale Aspekte wie Zufriedenheit mit dem bisherigen Leben, Hoffnungen, Erwartungen, aber auch Sorgen und Befürchtungen widerspiegeln. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Lebensqualität als „subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Standards und Anliegen.“ (WHO-QOL, 1997). Betont wird vor allem die subjektive Seite der Lebensqualität.

Die Erhaltung von Lebensqualität auch unter den erschwerten Bedingungen des Alters ist somit von objektiver Seite wie von Seiten subjektiver Bewertungen und Einflussnahmen anzustreben. Objektiv gesehen muss z. B. bei Pflegebedürftigkeit eine qualifizierte Pflegeinfrastruktur vorgehalten werden, aus subjektiver Sicht sind die Erhaltung bestmöglicher Selbstverantwortung und Einflussnahme auf die Pflegesituation anzustreben.

Der Begriff Wohlbefinden wird häufig als subjektive Komponente unter dem Oberbegriff Lebensqualität subsumiert. Er hat in der Wohlfahrtsforschung jedoch einen eigenen und spezifischen Bedeutungsgehalt. Allgemeines Einverständnis herrscht darüber, dass Wohlbefinden zwei Hauptfaktoren einschließt: erstens einen emotionalen Faktor, der Aspekte wie das Vorhandensein positiver und als Gegenpol das geringe Auftreten negativer Gefühlszustände sowie längerfristige Glücksgefühle umfasst, und zweitens einen kognitiv-evaluativen Faktor mit den Aspekten der allgemeinen und bereichsspezifischen Lebenszufriedenheit (Mayring, 1991). Häufig wird ähnlich wie bei der Lebensqualität auch nach objektiven und subjektiven Bedingungen des Wohlbefindens gefragt. Zu den objektiven Bedingungen gehören z. B. die materiellen Lebensumstände, der Gesundheitszustand, das soziale Lebensumfeld, die Wohnsituation sowie gesellschaftliche und politische Strukturen. Subjektive Bedingungen umfassen Handlungs- und Sozialkompetenzen, Gefühle der Selbstwirksamkeit, effektives Kontrollerleben und ein stabiles Selbstwertgefühl. Wohlbefinden stellt sich nicht ohne eigenes Zutun ein, sondern ist das Ergebnis aktiver Auseinandersetzung mit Anforderungen des Lebens, die im sehr hohen Alter immer beschwerlicher wird. Die Voraussetzungen für diese aktive Auseinandersetzung müssen bereits früh im Leben grundgelegt sein. Die Meisterung von Alternsproblemen geht auch zurück auf frühere positive Erfahrungen in der Bewältigung von Lebensproblemen und kritischen Lebensereignissen, vor allem im mittleren Erwachsenenalter.

Ein großes Anliegen der Forschung ist die Untersuchung von materiellen, sozialen und psychischen Korrelaten von Lebensqualität und Wohlbefinden. Deren Bedingungsgefüge stellt sich als sehr komplex und wechselseitig heraus. Sowohl allgemeine wie bereichsspezifische Faktoren wirken sich auf die Qualität von Lebensqualität und Wohlbefinden aus. Zu ihnen gehören sozio-demografische Merkmale wie Alter, Geschlecht, Indikatoren der Lebenslage (z. B. Bildungsstand, Gesundheit, Sozialkontakte) und psychische Ressourcen (u. a. Kontrollerleben, Zuversichtlichkeit, Kompetenzen). Lebensqualität und Wohlbefinden sind nur aus dem dynamischen Zusammenwirken innerer und äußerer Bedingungen zu verstehen. Sie resultieren im biografischen Zeitverlauf aus der kognitiven und emotionalen Verarbeitung äußerer Gegebenheiten und Lebensumstände. Umgekehrt tragen objektive Basissicherheiten und Gelegenheitsstrukturen zu mehr Lebenszufriedenheit, einem stärkeren Selbstwertgefühl und stabileren positiven Bewertungskonzepten und Selbstzuschreibungen bei.

Einige neuere Studien sollen exemplarisch Auskunft geben über das mehrdimensionale Bedingungsgefüge von Lebensqualität und Wohlbefinden im Alter. Es soll auch der Frage nachgegangen werden, wie stark das „Subjektive“ – hier die subjektiven Bewertungen von inneren und äußeren Veränderungen im Alter – empirisch zum Ausdruck kommt. Als erstes Beispiel dient die Berliner Altersstudie (BASE) bei Hochbetagten, in der u. a. das subjektive Wohlbefinden der Teilnehmer erfasst wurde (Smith, Fleeson, Geiselmann, Settersten & Kunzmann, 1996). Ein Einflussfeld sind sozio-demografische Daten wie Alter, Geschlecht, Familienstand und Wohnsituation, ein anderes objektive Lebensbedingungen wie Gesundheitszustand, Mobilität, Finanzen, soziale Netzwerke und Aktivitäten. Ein drittes Einflussfeld umfasst die subjektiven Bewertungen der oben genannten Lebensbereiche. Erstens ergab sich ein beachtlicher Grad an subjektivem Wohlbefinden. Über 60 % der Befragten waren mit ihrem gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Leben zufrieden. Bei den Altersgruppen von 70 bis 100 Jahren nahm der Zufriedenheitsgrad allerdings ab. Das zweite Hauptergebnis lautet: Im Großen und Ganzen trugen die sozio-demografischen Indikatoren wenig zum Wohlbefinden bei. Viel einflussreicher waren die subjektiven Bewertungen einzelner Lebensbereiche, insbesondere des Gesundheitszustandes.

Dieser Befund zieht sich wie ein roter Faden durch weitere Untersuchungen. Bestätigt wird er u. a. durch Ergebnisse des Alterssurveys für Deutschland, das 1996 und 2002 bei repräsentativen Stichproben dreier Altersklassen durchgeführt wurde (Tesch-Römer & Wurm, 2006). Die objektiven Indikatoren für Lebenssituationen klären direkt nur einen relativ geringen Anteil der Varianz in den Dimensionen des Wohlbefindens auf (Lebenszufriedenheit, positive emotionale Befindlichkeit, negative emotionale Befindlichkeit). Psychische Ressourcen wie Zuversichtlichkeit und Kontrollerleben sowie bereichsspezifische Bewertungen sind dagegen von größerem Gewicht bei der Aufklärung der Unterschiede im Wohlbefinden innerhalb der Altersgruppen. In dieser und anderen Studien erweisen sich der selbst eingeschätzte Gesundheitszustand und die Art und Qualität der Partnerschaft als wichtige Indikatoren für Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit im Alter. Verständlich wird deren Übergewicht durch die mit dem Alter immer stärker werdende Focussierung des Erlebens auf Körperlichkeit und Gesundheitszustand sowie die Qualität sozialer Bindungen im Sinne der sozioemotionalen Selektivitätstheorie von Carstensen (Carstensen & Lang, 2007).

Die Berliner Altersstudie und weitere Untersuchungen liefern den Beleg für das sogenannte Zufriedenheits-Paradox. Obgleich objektive Verschlechterungen in der Lebenssituation alter Menschen nachzuweisen sind, bleibt das subjektive Wohlbefinden bis ins hohe Alter relativ stabil (Wurm, Lampert & Menning, 2009). Mit den Worten von Smith et. al. (1996, S. 518): „Objektive Lebensbedingungen wirken sich hauptsächlich indirekt auf das subjektive Wohlbefinden aus. Selbst wenn objektive Bedingungen sich tatsächlich verändern, werden die Auswirkungen auf das subjektive Wohlbefinden durch interne selbstregulative Prozesse aufgefangen und moduliert.“ Alte Menschen sind offenbar in der Lage, mit Hilfe psychischer Ressourcen und Regulationsprozesse ihr inneres Gleichgewicht und Selbstwertgefühl trotz sich verschlechternder äußerer Umstände relativ stabil zu halten, zumindest so lange wie ihre Kapazitätsreserven, mit denen sie sich an Altersveränderungen anpassen können, nicht überfordert werden. Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit sind immer nur in Relation zu dieser Anpassungsleistung zu sehen, die mit Zunahme von Altersbeschwerden und biologischem Abbau immer schwieriger zu erbringen ist. Die Biologie ist, wie Baltes meint, eben nicht die Freundin des Alters (s. Kap. 2.4).

Das vierte Lebensalter stellt die Auseinandersetzung mit Altern und nahendem Lebensende auf eine harte Probe, nicht selten so hart, dass das Leben zur Last werden kann und krisenhaft erlebt wird. Biografische Explorationen bei alten Menschen, die von Thomae und seinem Arbeitskreis durchgeführt wurden, kamen zu dem Ergebnis, das ca. zwei Drittel der berichteten einschneidenden Ereignisse (Wendepunkte), die das spätere Leben mitprägten, als belastend bis krisenhaft erlebt wurden (Thomae 2002).

2.2 Belastungen des Alterns

Es ist besonders die Häufung von Belastungen, die das Leben im Alter beschwerlich und so unerträglich machen kann, dass Menschen nicht mehr leben wollen. Zu diesen Belastungen zählen körperliche Abbauprozesse und Erkrankungen, gesundheitliche Beschwerden, materielle Einbußen, gesellschaftliche Benachteiligung, soziale Einschnitte wie Partnerverlust und Wohnungsaufgabe, psychische Leidenszustände und Selbstwertprobleme, soziale Isolation und Vereinsamung sowie die Auseinandersetzung mit „letzten Fragen der menschlichen Existenz“, die Endlichkeit, Sterben und Tod berühren und mit der Sinngestalt des ganzen Lebens zu tun haben.

Auf einige dieser zentralen Belastungsbereiche, die in ihrer Gewichtung und Verschränktheit alte Menschen bis zum Entschluss, nicht mehr leben zu wollen, niederdrücken können, wird gestützt auf den gegenwärtigen Kenntnisstand ausführlicher eingegangen.

2.2.1 Körperliche Erkrankungen

Zum negativen Altersbild gehört die Auffassung, dass Altern mit Krankheit, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit gleichzusetzen ist. Diese stereotype Sichtweise ist in ihrer Absolutheit jedoch nicht zu halten. Ein Großteil der über 65-Jährigen ist trotz funktional-gesundheitlicher Einschränkungen in der Lage, ein weitgehend selbstständiges Leben im eigenen Haushalt zu führen und mit den Alltagsanforderungen zurechtzukommen. Zu übersehen ist aber auch nicht, dass im vierten Lebensalter, d. h. bei den Hochbetagten, die Häufigkeit von Krankheiten zunimmt, funktionale Einschränkungen stärker werden und das gesundheitliche Wohlbefinden generell abnimmt (Saß, Wurm & Ziese, 2009). Von den über 70-jährigen Teilnehmern der Berliner Altersstudie litten 96 % mindestens unter einer Krankheit, 30 % sogar unter fünf und mehr Erkrankungen, am häufigsten unter solchen des kardio- und zerebrovaskulären Systems und unter Erkrankungen des Bewegungsapparates. Letztere stehen auch bei den subjektiven Beschwerden im Vordergrund und sind oft mit chronischen Schmerzzuständen verbunden (Forstmeier & Maerker, 2008, S. 3ff).

Um das gesundheitliche Erleben alter Menschen besser verstehen zu können, muss der Gesundheitsbegriff um seine Funktion bei der Bewältigung von Alltagsanforderungen erweitert werden. Die funktionale Gesundheit wird umfassender definiert als der heute überholte Begriff von Gesundheit der WHO im Sinne der Abwesenheit von Krankheiten. „Die funktionale Gesundheit beschreibt, wie Menschen aufgrund ihrer gesundheitlichen Voraussetzungen in der Lage sind, Alltagsanforderungen zu erfüllen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“ (Menning, 2006, S. 4). Das heißt auch, dass funktionale Gesundheit selbst bei Vorliegen einer Krankheit nicht immer in gleichem Maße eingeschränkt sein muss. Es ist davon auszugehen, dass eine gute funktionale Gesundheit im Zusammenwirken mit günstigen Umweltbedingungen und Unterstützungssystemen wesentlich das Ausmaß von Selbstständigkeit in der Lebensführung bestimmt. Gravierende Einschränkungen dagegen engen Entscheidungs- und Handlungsräume ein und führen beim Fortschreiten zu Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, die psychisch verarbeitet werden muss. Zu unterscheiden sind funktionale Einschränkungen, die mit dem „normalen Altern“ zu erwarten sind (z. B. sensorische Veränderungen) und krankheitsbedingte Prozesse (z. B. Veränderungen im Gefolge von Demenzen). Mit zunehmendem Lebensalter sind Auswirkungen des „normalen“ und „pathologischen Alterns“ jedoch kaum noch zu trennen.

Die möglichst lange Erhaltung des Gesundheitszustandes ist für alte Menschen trotz der nicht abzuweisenden Veränderungen ein hohes Gut und steht unter den Lebensthemen („dominant concerns“) bei den meisten alten Menschen an erster Stelle. Fragt man nach den Bedingungen des Wohlbefindens oder nach Selbstzuschreibungen alter Menschen, steht das Gesundheitserleben an erster Stelle, gefolgt von guten sozialen Beziehungen (Freund & Smith, 1997; Smith et al., 1996). Das subjektive Gesundheitsbefinden ist für das Erleben eines „guten Alterns“ oft wichtiger als der durch medizinische Diagnosen attestierte Gesundheitszustand. Beide Formen von Gesundheit stimmen nur mäßig überein und sind deshalb zu unterscheiden (Wurm et al., 2009; Wurm et al., 2010).

Die funktionalen gesundheitlichen Einschränkungen zeigen mit zunehmendem Alter einen eindeutigen Verlauf. Bei Männern wie Frauen kommt es häufiger zu solchen Einschränkungen. Während nach der internationalen Studie SHARE (Survey of Health, Aging and Retirement in Europe) bei den 50–59-Jährigen nur etwa ein Drittel über Einschränkungen in den Alltagsaktivitäten berichtet, waren bei den 80-Jährigen und Älteren über 80 % davon betroffen. Bei Frauen waren mit Ausnahme der höchsten Altersgruppe solche Einschränkungen stärker zu beobachten (Menning, 2006). Zu den funktionalen Einschränkungen gehören vor allem auch Einschränkungen des Sehens und Hörens. Sensorische Probleme können das Alltagsleben und die Kommunikation mit anderen sehr erschweren und zur Isolation und Vereinsamung beitragen. Nach Daten des Alterssurveys (Kohli, Künemund, Motel & Szydlik, 2000) haben z. B. fast ein Drittel der über 70-Jährigen Schwierigkeiten beim Lesen der Zeitung und 17 % von ihnen beim Erkennen von Personen auf der Straße. Auch Schwerhörigkeit ist ein Merkmal der über 70-jährigen Männer und Frauen. Sie ist oft mit Kommunikations- und Sprachverständnisproblemen verbunden. Sensorische Beeinträchtigungen sind oft verantwortlich für Unfälle und Folgeerkrankungen, z. B. für Stürze, Hüftfrakturen, Gleichgewichtsstörungen oder depressive Erkrankungen. Mit zunehmender Lebenserwartung und Zunahme der Altenbevölkerung werden die sensorischen Beeinträchtigungen noch stärker ins Gewicht fallen.

Nachteilig auf Alltagsverrichtungen und Teilhabe am Leben wirken sich auch Mobilitätseinschränkungen aus. Ältere Frauen sind stärker als Männer von solchen Einbußen betroffen. „Mobilitätseinschränkungen gehören zu den wichtigsten Risikofaktoren für Hilfebedürftigkeit im Alter“ (Menning, 2006, S. 7). Sie sind oft Ursache für verlangsamtes Gehen, für unsicheren Gang und damit für Stürze und Unfälle. Nach den Daten des Alterssurvey (Kohli et al., 2000) haben vor allem Befragte über 75 Jahre einen erhöhten Bedarf an Hilfsmittel zur Verbesserung ihrer Mobilität, z. B. beim Steigen mehrerer Treppenabsätze und beim Überqueren von Straßenkreuzungen. Nach neueren Daten des Alterssurveys ist über die Hälfte der 70–85-Jährigen nicht mehr in der Lage, sich problemlos zu beugen, zu bücken oder niederzuknien (BMFSFJ, 2010b).

Aktivitätseinschränkungen im Alltag werden oft gemessen mit dem Instrument der ADL (Activities of Daily Living) bzw. mit dem der IADL (Instrumental Activities of Daily Living). Einschränkungen, gemessen durch diese Befragungsinstrumente, weisen auf einen fortschreitenden Grad an Hilfebedürftigkeit hin, der jedoch erst mit dem 80. Lebensjahr nach der SHARE-Untersuchung sprunghaft ansteigt. Bei Männern wie Frauen ist es dann rund ein Drittel, das bei mindestens einer der Basisverrichtungen wie Anziehen, Baden/Duschen oder Essen eingeschränkt ist. (Menning, 2006, S. 8). Bei den IADL, die im Unterschied zu den ADL der körperlichen Selbstversorgung auch Einkaufen, Mahlzeiten zubereiten, Haushaltsreinigung und Wäsche waschen einschließen, zeigen sich noch stärkere Einschränkungen bei den über 80-Jährigen als bei den ADL, nämlich rund 40 % der Untersuchten sind davon betroffen. Die IADL spiegeln nicht nur gesundheitliche Einschränkungen wider, sondern auch solche in sozialen Rollen, in der Umweltkontrolle und der Teilhabe am kulturellen Leben.

Funktionale Einschränkungen und Einbußen an Autonomie sind vor allem auch mit bestimmten Krankheiten korreliert, die einen erhöhten Hilfe- und Pflegebedarf nach sich ziehen. Dazu gehören an erster Stelle Hirnleistungsstörungen (Demenzen) und danach Herzinsuffizienz, Schlaganfälle und Herzinfarkte.

Auch der Anteil der Personen mit gesundheitlichen Beschwerden nimmt mit dem Alter zu. Bei den über 80-Jährigen sind es 84 % der Frauen und 76 % der Männer. Es handelt sich vor allem um chronische Gesundheitsbeschwerden, von denen Frauen in stärkerem Maße betroffen sind. Ein weiteres schwerwiegendes Gesundheitsproblem im Alter ist die Mehrfacherkrankung (Multimorbidität), hier das gleichzeitige Auftreten von zwei oder mehreren Erkrankungen, die sich wechselseitig beeinflussen und einen chronischen Verlauf nehmen. Bei den über 80-Jährigen sind zwei Drittel nach der SHARE-Studie mehrfach chronisch krank. Als Folge dieser gesundheitlichen Beschwerden und chronischen Erkrankungen wird mit dem Alter auch die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes immer schlechter, nicht zuletzt wegen der Zunahme von starken Schmerzen. Bei den 75–84-jährigen Frauen liegt der Anteil z. B. bei 47 %, bei den gleichaltrigen Männern bei 32 % (Wurm et al., 2009).

Zu den Todesursachen im Alter sollen noch einige Fakten beigesteuert werden. Es gibt Todesursachen, die zur Sterblichkeit im Alter sprunghaft beitragen (z. B. Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems) und solche, bei denen die Sterbeziffern (Zahl der Sterbefälle, bezogen auf 100 000 Personen einer bestimmten Alters- und Geschlechtsgruppe in einem Jahr) etwas langsamer ansteigen (z. B. Krebserkrankungen) (Menning, 2006, S. 10). Chronische Erkrankungen führen im Alter am häufigsten zum Tode, darunter vor allem zwei Krankheitsgruppen: Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems und Krebserkrankungen. Bei den 60–64-Jährigen sind es bösartige Neubildungen (Krebserkrankungen) unterschiedlicher Organsysteme, die an der Spitze der Todesursachen stehen. Im höheren Alter sind es dann Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, die am ehesten zum Tode führen, darunter ischämische Herzerkrankungen. Sie verursachen zwischen 16 und 23 % aller Sterbefälle bei Männern über 60 Jahren, aber auch bei Frauen ab dem 70. Lebensjahr. Ab dem 80. Lebensjahr sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen in unterschiedlichen Formen für ca. die Hälfte aller Todesfälle verantwortlich.

Auch bei den stationären Behandlungsanlässen steht die Diagnosegruppe der Herz-Kreislauf-Erkrankungen an erster Stelle. „Diese Erkrankungsgruppe ist damit nicht nur die häufigste Todesursache, sondern auch der erstrangige stationäre Behandlungsanlass im Alter“ (Menning, 2006, S. 15). Weitere Behandlungsanlässe waren Krebserkrankungen und Erkrankungen des Verdauungssystems. Rund 70 % der Neuerkrankungen an Krebs z. B. beziehen sich auf ältere Menschen ab 60 Jahren. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt dagegen rund 25 %. Bei den Hochaltrigen spielt die Gruppe der Verletzungen, Vergiftungen und Folgen anderer äußerer Ursachen, z. B. Frakturen in Folge von Stürzen, noch eine wichtige Rolle.

Erstaunlich ist jedoch immer wieder, dass viele alte Menschen trotz der Zunahme und Häufung körperlicher Erkrankungen und funktionaler Einschränkungen in der Lage sind, ihr psychisches Wohlbefinden in Grenzen stabil zu erhalten.

2.2.2 Psychische Erkrankungen

Rund ein Viertel der 65-Jährigen und Älteren leiden nach dem 4. Altenbericht der Bundesregierung (BMFSFJ, 2002) an einer psychischen Erkrankung. Dieses Ausmaß ist ähnlich dem in jungen und mittleren Erwachsenengruppen (Weyerer & Bickel, 2007). An erster Stelle stehen mit einer Prävalenz1 von 8,7–11,6 % affektive Störungen, besonders Depressionen. Schwere Depressionen liegen je nach Studie und Altersgruppe zwischen 0,7 und 5,8 %. Fasst man alle Schweregrade der Depression zusammen, so ergeben sich Werte, die bei rund 10 % liegen. Andere psychische Erkrankungen im Alter sind zu beachten. Mittelschwere und schwere Demenzen machen je nach Altersstichprobe einen Anteil von 5 bis 8 % aus. Rechnet man auch leichtere Grade der Demenz dazu, werden Prävalenzraten von 10 und knapp darüber erreicht. Ihre Prävalenz- und Inzidenzraten steigen mit dem Alter steil an. Die Gesamtprävalenz für Angststörungen, darunter vor allem Phobien, liegt bei 5,5 %. Erstaunlich ist, dass in allen Studien die Prävalenzen bei den über 65-Jährigen niedriger waren als bei jüngeren Erwachsenen. Die Lebenszeitprävalenz schizophrener Psychosen beträgt 0,5 bis 1,0 %. Die Mehrzahl erkrankt erstmals im jüngeren Erwachsenenalter. Neuerkrankungen nach dem 65. Lebensjahr sind extrem selten. Häufiger hingegen treten paranoide Störungen als Begleitsymptom sensorischkognitiver Defizite und depressiver Störungen auf. Unter dem Stichwort Substanzmissbrauch sind im Alter Alkohol und Benzodiazepine (Schlaf- und Beruhigungsmittel) erwähnenswert. Der Alkoholmissbrauch ist im Altersgruppenvergleich bei den über 60-Jährigen zwar niedriger, steigt jedoch von Alterskohorte zu Alterskohorte wieder an (Zeman, 2009). Die Verschreibung und Einnahme von Benzodiazepinen steigt dagegen mit dem Alter exponentiell, besonders bei Frauen. Über 80 % der mit Benzodiazepinen Behandelten nehmen dieses Psychopharmakon über einen längeren Zeitraum und meist täglich ein. Die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung und Überdosierung von Benzodiazepin-Präparaten ist besonders im Alter hoch (BMFSFJ, 2002; Weyerer & Bickel, 2007).

Schwerpunktmäßig sollen hier depressive Störungen behandelt werden. Studien sprechen dafür, dass Prävalenz- und Inzidenzraten krankheitswertiger Depressionen im Alter nicht höher liegen als in jüngeren Altersgruppen. Auch scheint die Prävalenz ab dem 65. Lebensjahr nicht anzusteigen. Im Alter kommt es zu einer Abnahme der schweren Depression (Major Depression) und zu einer Zunahme subdiagnostischer depressiver Störungen und Verstimmungen. Letztere sind im Alter häufiger mit somatischen Beschwerden und Erkrankungen assoziiert (Komorbidität; lavierte Depressionen). Vor allem sind es chronische Leiden und Schmerzzustände sowie Einschränkungen der alltäglichen Aktivitäten, die mit depressiven Störungen und Angstsymptomen einhergehen. Außerdem ist der Einfluss zwischen körperlichen Erkrankungen und depressiven Störungen im Alter oft wechselseitig (Forstmeier & Maercker, 2008). Das Erkrankungsrisiko für Depression erhöht sich, wenn sich kritische Lebensereignisse und nagende Alltagssorgen (daily hassles) im Laufe der Zeit häufen. Zu kritischen Lebensereignissen im Alter gehören z. B. Verwitwung und Scheidung, frühe Stadien einer Demenzerkrankung, akute oder chronische (schmerzhafte) Leiden, Einschränkungen der Alltagskompetenz, Verlusterfahrungen, ökonomische Schlechtstellung, Klagen über belastende soziale Beziehungen und Einsamkeit (s Kap. 5.7.1).

Depression

Insgesamt ist bei depressiven Störungen von einem Zusammenwirken genetischer, neurobiologischer, ökonomischer und psychosozialer Einflussfaktoren auszugehen. Auch Persönlichkeitsmerkmale wie Ängstlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und instabiles Selbstwertgefühl sind bei der Genese depressiver Störungen nicht zu unterschätzen. Heute wird allgemein von einem biopsychosozialen Erklärungsansatz für Depression ausgegangen. Die Depression ist wie in anderen Altersgruppen auch bei alten Menschen ein zentraler Risikofaktor für die Entstehung von Suizidalität.

Definition (nach ICD-10)

Die Depression gehört zu den affektiven Störungen (F 30–F 39). Die Hauptsymptome bei dieser Kategorie von Störungen bestehen in der Veränderung der Stimmung und Affektivität, die entweder zur Depression mit oder ohne begleitende Angst oder zur gehobenen Stimmung tendiert. Mit dem Stimmungswechsel geht in der Regel ein Aktivitätswechsel einher (Dilling, 2002, S. 3). Unterschieden werden verschiedene Schweregrade von leicht, mittelgradig bis schwer. Zu den affektiven Störungen gehören: