Media in vita in morte sumus – kehrs umb – media in morte in vita sumus
(Mitten im Leben wir sind vom Tode umfangen
– kehrs umb –
Mitten im Tode wir sind vom Leben umfangen)
Martin Luther (1483–1546) nach Notker der Stammler (um 900 n. Chr.)
Als bedeutende Aufgabe im Lebenslauf ist die Integration zweier grundlegender Ordnungen zu verstehen: die Ordnung des Lebens und die Ordnung des Todes. In den einzelnen Lebensaltern besitzen die beiden Ordnungen unterschiedliches Gewicht: In den frühen Lebensaltern steht eher die Ordnung des Lebens im Zentrum – ohne dass die Ordnung des Todes damit ganz „abgeschattet“ werden könnte – in den späten Lebensaltern tritt hingegen die Ordnung des Todes immer mehr in den Vordergrund, ohne dass dies bedeuten würde, dass die Ordnung des Lebens damit aufgehoben wäre. Wenn Menschen an einer fortgeschrittenen Demenz leiden, dann werden sie selbst, dann werden auch ihre engsten Bezugspersonen immer stärker mit der Ordnung des Todes konfrontiert: Die hohe Verletzlichkeit und die Vergänglichkeit dieser Existenz sind zentrale Merkmale der Ordnung des Todes. Doch dürfen wir auch bei der Konfrontation mit der Ordnung des Todes nicht die Ausdrucksformen der Ordnung des Lebens übersehen. Denn auch im Stadium höchster Verletzlichkeit, auch beim Vorliegen stark ausgeprägter psychopathologischer Symptome und körperlicher wie kognitiver Einbußen, ist nicht selten ein differenzierter emotionaler Ausdruck zu beobachten, der auf die Ordnung des Lebens verweist. Wer sich umfassend mit der Lebenssituation demenzkranker Menschen auseinandergesetzt und diese begleitet hat, erkennt auch bei weit fortgeschrittener Erkrankung nicht nur Zeichen der Ordnung des Todes, sondern auch Zeichen der Ordnung des Lebens. Er wird niemals die Lebensqualität des demenzkranken Menschen grundsätzlich in Frage stellen.
Wenn von der Ordnung des Todes gesprochen wird: Was ist mit dem Begriff der „Ordnung“ gemeint? Mit diesem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, dass der Tod nicht ein einzelnes Ereignis darstellt, sondern vielmehr ein unser Leben strukturierendes Prinzip, das in den verschiedensten Situationen des Lebens sichtbar wird – z. B. dann, wenn wir an einer schweren, lang andauernden Erkrankung leiden, die uns unsere Verletzlichkeit und Begrenztheit sehr deutlich vor Augen führt, oder dann, wenn wir eine nahestehende Person verlieren.
Mit Ordnung des Lebens ist hingegen das Streben des Menschen nach Selbstaktualisierung angesprochen. Damit soll ausgesagt werden, dass die erhaltenen Funktionen und Fähigkeiten der Person nach Ausdruck, nach Verwirklichung streben und dieser Ausdruck, diese Verwirklichung die Grundlage für das Erleben glücklicher, gelungener, erfüllter Momente bildet. Das Streben nach Selbstaktualisierung ist erkennbar, solange der Mensch lebt. Nun ist bei der Erörterung der Menschenwürde im Prozess der Demenz und des Sterbens nicht selten die Tendenz erkennbar, die Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen ganz in das Zentrum zu rücken und andere Aspekten des Menschseins in den Hintergrund treten zu lassen. Abgesehen davon, dass wir nicht die Würde des anderen definieren können – der Mensch besitzt grundsätzlich als Mensch Würde – erscheint die alleinige Betonung von Selbstbestimmung und Autonomie viel zu eng. Genauso bedeutsam – und im Verlauf der Demenz oder im Prozess des Sterbens vielleicht noch bedeutsamer – ist die Selbstaktualisierung. Das Bedürfnis nach Selbstaktualisierung wie auch deren Ausdrucksformen zu verstehen und sensibel auf diese zu antworten, ist eine anspruchsvolle, im höchsten Sinne humane Aufgabe der Begleitung demenzkranker und sterbender Menschen. Dabei mag sich dieses Bedürfnis nach Selbstaktualisierung zum Teil hinter körperlichen und kognitiven Symptomen verbergen – doch ist es bei einer tieferen Zuwendung und kontinuierlichen Begleitung des Menschen immer erkennbar.
Das vorliegende Buch gibt ein eindrucksvolles Zeugnis von der Verbindung der Ordnung des Todes mit der Ordnung des Lebens in der Grenzsituation der Demenzerkrankung. Sie verleugnet nicht die ausgeprägte Verletzlichkeit des an einer Demenz leidenden Menschen, nicht die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, die gerade bei der weit fortgeschrittenen Demenz so deutlich hervortritt. Und doch macht sie die Ordnung des Lebens in dieser Grenzsituation stark: Die Beiträge zeigen in ihrer Gesamtheit auf, welche Wirkungen eine fachlich und ethisch fundierte Pflege und Begleitung demenzkranker Menschen am Ende ihres Lebens zu erzielen vermag. Die hohen Anforderungen an das betreuende Team werden dabei nicht verschwiegen, sondern – im Gegenteil – besonders hervorgehoben, was aber gerade notwendig ist, wenn es darum geht, neben dem Humanen dieser Begleitung deren fachliche Fundierung aufzuzeigen. Es wird weiterhin die Vielfalt und Komplexität der Anforderungen dargestellt, die mit der Begleitung demenzkranker Menschen am Lebensende verknüpft sind, doch zugleich deutlich gemacht, welches Potenzial Pflege und Begleitung besitzen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden, auf diese fachlich wie ethisch fundiert zu antworten.
Dabei ist zu bedenken: Gerade bei jenen Menschen, die an einer Demenz leiden, tritt die Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen sehr deutlich hervor. Es ist ein großer Entwicklungsschritt, in einer Lebenssituation, in der auf Hilfe und Beistand anderer Menschen nicht mehr verzichtet werden kann, zu einer Haltung der bewusst angenommenen Abhängigkeit zu finden. Diese bewusste Annahme ist nur möglich, wenn sich Menschen in ihrer Würde geachtet sehen, wenn sie Vertrauen in andere Menschen haben, wenn sie sich als geschützt erleben. Pallium, ein aus dem Lateinischen stammendes Wort, ist mit Mantel zu übersetzen – auf die Palliativmedizin und Palliativpflege übertragen, heißt dies: Wir legen um den besonders verletzlichen Menschen einen Mantel, wir schützen diesen vor Schmerzen, vor Symptomen, aber auch vor übermäßiger seelischer Not. Vor allem aber: Wir versichern diesen unserer Solidarität in einer Grenzsituation, in der er ohne diese Solidarität nicht mehr sein kann. Diese Haltung durchzieht die Beiträge dieses Buches wie ein cantus firmus – neben den sehr wertvollen Kenntnissen und Einsichten, die der Leser beim Studium der Beiträge gewinnt, ist es dieser cantus firmus, ist es diese von Solidarität und Fürsorge bestimmte Grundhaltung, die in besonderer Weise anspricht.
Gerade bei Demenzkranken besteht die Gefahr, dass noch vorhandene Kompetenzen übersehen werden. Offenkundige kognitive Defizite können dazu verleiten, anzunehmen, dass der Demenzkranke gar nichts mehr versteht, dass er zu einer normalen Interaktion gänzlich unfähig ist. Dagegen zeigen neuere Erkenntnisse – und diese gehen in die Beiträge dieses Buches ein –, dass Demenzkranke auch im weit fortgeschrittenen Stadium der Krankheit in der Lage sind, differenziert auf Ansprache zu reagieren. Da Demenzkranke fähig sind, Emotionen zumindest nonverbal auszudrücken, ist es Ärzten, Pflegefachkräften und ehrenamtlich Tätigen auch prinzipiell möglich, Zugang zu ihnen zu finden und aufrechtzuerhalten. Einen solchen Zugang vorausgesetzt, ist die Pflege Demenzkranker nicht lediglich oder primär Belastung, sondern auch zwischenmenschliche Begegnung, in der Hilfeleistung mit Dankbarkeit begegnet und damit Helfen auch als befriedigend erlebt werden kann. Die Beiträge in diesem Buch machen dies sehr deutlich. Sie setzen bei der Grundannahme an, dass Demenz keinen Verlust von Individualität bedeutet, sondern dass sich in der Demenz Individualität anders ausdrückt, dass deren Erkennen besondere Sensibilität, Zuwendung, Kontinuität in der Begleitung erfordert. Wird diese Forderung erfüllt, so stellt sich auf Seiten der Pflegenden und Begleitenden vielfach das Erleben von Erfüllung und Glück ein.
Von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Pflegeeinrichtungen wird vielfach hervorgehoben, dass sie in einem Maße mit der Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens konfrontiert werden, das sie ursprünglich nicht erwartet haben. Dabei heben sie hervor: Nur dann, wenn sie in der Lage sind, sich intensiv mit diesem existenziellen Thema auseinanderzusetzen und dieses auch im Arbeitskontext zu reflektieren, finden sie die Motivation, sich auch weiterhin in der Pflege und Betreuung demenzkranker Menschen zu engagieren. Dabei betonen sie zugleich, dass die fachlich und ethisch verantwortungsvolle Pflege und Betreuung auch von den Rahmenbedingungen beeinflusst ist, unter denen sie arbeiten. Dies spiegeln die Beiträge dieses Buchs ebenfalls in sehr überzeugender Weise wider: Sie zeigen die institutionellen Rahmenbedingungen auf, die gegeben sein müssen, damit eine fachlich wie ethisch fundierte Pflege und Begleitung geleistet werden und sich der Gedanke der Solidarität auch in dieser letzten – schwersten – Grenzsituation der menschlichen Existenz verwirklichen kann.
Ein fachlich, ethisch und persönlich sehr ansprechendes, bewegendes Buch!
Die Red ist uns gegeben
Auf dass wir nicht allein
Für uns nur sollen leben
Und fern von Menschen sein.
Wir sollen uns befragen
Und sehn auf guten Rat
Das Leid einander klagen
So uns befallen hat.
Simon Dach (1605–1659)
Andreas Kruse
Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind bislang noch wenig als eigene Zielgruppe palliativer Versorgung oder als Sterbende, die der besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge bedürfen, in den Blick gekommen: Das gilt für die Praxis ebenso wie für die wissenschaftliche Reflexion oder die populärwissenschaftliche Wahrnehmung des Themas im deutschsprachigen Raum.
„Umsorgt sterben“ realisiert in einem Reigen von Beiträgen unterschiedlicher Professionen und Stimmen, was es alles für die letzte Lebensphase von Menschen mit Demenz zu bedenken gilt. Jeder Beitrag ist in sich eine Einheit. Um das zu erreichen, sind da und dort Überschneidungen in inhaltlichen Ausführungen nicht zu vermeiden. Neben Beiträgen, die eine eher wissenschaftliche Sprache sprechen, stehen solche, die eher alltagspraktisch und erfahrungsbezogen Zugänge eröffnen oder Blickwinkel zeigen. Dabei waren der Herausgeberin zwei Zielrichtungen wichtig: Einmal galt es, möglichst viele Stimmen (Fachrichtungen, Ehrenamtliche, Angehörige) sprechen zu lassen, zum anderen soll „Umsorgt sterben“ viele ansprechen: Pflegekräfte in der Altenhilfe und in Hospizen, ambulant Pflegende wie die, mit denen sie zu tun haben, wie Ärzte, Angehörige, ehrenamtlich Engagierte – allen sollen die ganz verschiedenen Aspekte palliativer Sorge gut verständlich zu Gehör gebracht werden. Diese Gratwanderung, zugleich fundiert und praxisnah Eindrücke von den Besonderheiten und Notwendigkeiten, aber auch den Defiziten und Lernbedarfen in der Versorgung Demenzerkrankter in ihrer letzten Lebensphase zu vermitteln, haben Autorinnen und Autoren verschiedener Versorgungskontexte und Professionen gemeinsam unternommen.
Wir alle wünschen uns, dass wir uns als Gesellschaft um eine angemessene und würdevolle Begleitung von Menschen mit Demenz bemühen. Aus vielen kleinen und großen Reflexionen mögen Impulse für die Praxis erwachsen und eine Kommunikationskultur entstehen, die uns gemeinsam eine bessere Versorgung für Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz erzielen lässt.
In diesem Sinne wünschen wir uns Leserinnen und Leser, die ihre eigenen Erfahrungen mit unseren abgleichen, und die aus den Aspekten palliativer Versorgung, wie sie hier dargestellt sind, auch gesundheitspolitische Forderungen ableiten. Eine gute Begleitung für Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase ist nur möglich, wenn uns über alle professionellen Grenzen hinweg der Dialog gelingt, wenn wir Finanzierungsmodelle für den professionellen Bereich entwickeln und solidarisch-mitmenschliches Engagement in unserer Gesellschaft fördern.
Solingen, im August 2009 |
Ida Lamp |
Martin Haupt
Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen, also von ausgeprägten Störungen der Hirnleistung, wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit dem steigenden Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung weiter zunehmen. Auch wenn Demenzen bereits im 3. oder 4. Lebensjahrzehnt vorkommen können, tritt die weitaus größte Zahl der Krankheitsfälle doch nach dem 70. Lebensjahr auf. Insbesondere diejenigen Demenzursachen, die zu einem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen in unterschiedlichen Gebieten des Gehirns führen (sog. degenerative Formen), und diejenigen, die eine allmählich zunehmende Beeinträchtigung der Durchblutung des Gehirns nach sich ziehen (sog. vaskuläre Formen), sind mit Abstand die häufigsten Ursache für Demenzen im hohen Lebensalter. Insofern konzentriert sich die ärztliche Erkennung der Demenzursache nach dem 70. Lebensjahr v. a. auf diese beiden Formengruppen, da andere Demenzursachen seltener werden, beispielsweise Stoffwechselstörungen (z. B. Vitaminstoffwechsel), hormonelle Erkrankungen (z. B. Schilddrüsenunterfunktion), Bluterkrankungen (z. B. Vermehrung von Blutkörperchen: Polyzytämie) oder langsam wachsende Tumoren (z. B. Hirnhauttumore: Meningeom). Gleichwohl stehen bei diesem diagnostischen Zugangsweg nicht allein die Alzheimer-Demenz und vaskuläre Demenz sowie Mischformen aus beiden Erkrankungen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern durchaus auch Demenzen bei Parkinson Krankheit, die Demenz mit Lewy-Körperchen oder Demenzformen bei Stirnhirnerkrankungen. Auch in der letzten Lebensphase können auftretende depressive Verstimmungen so stark ausgeprägt sein, dass bei dem Betroffenen das Symptombild mit Antriebs- und Interesselosigkeit sowie Störungen der Merkfähigkeit und der Konzentrationsleistung wie eine Demenz erscheinen kann.
Dies bedeutet einerseits, dass sich die ärztliche Diagnostik im Praxisalltag auf einige Kernursachen der Demenzprozesse beschränken darf, auch wenn seltenere Ursachen mit zu bedenken sind. Die Erkennung der Erkrankung wird sich zudem besonders im höheren Lebensalter und in Anbetracht des hier im Mittelpunkt stehenden Zeitraums der letzten Lebensphase auf die Einbußen konzentrieren, die noch vorhandene Funktionen und Fertigkeiten im täglichen Leben beeinträchtigen oder zu einer Verschlechterung von bereits gestörten Funktionsbereichen führen. Hier sind innerhalb der Demenzsymptomatik die Stimmungs- und Verhaltensauffälligkeiten gemeint, zu denen Unruhezustände, unvermittelte abwehrende, unter Umständen auch aggressive Verhaltensweisen gehören, wie auch Antriebs- und Teilnahmslosigkeit oder auch wahnhafte Verkennungen und Sinnestäuschungen. Darüber hinaus muss bei der Einordnung solcher Auffälligkeiten bei Menschen mit Demenz sorgfältig die meist gleichzeitig bestehenden körperlichen Erkrankungen und die damit verknüpfte Medikation, auch hier in der Regel eine begleitende Mehrfachmedikation, berücksichtigt werden.
Die hieraus getroffenen ärztlichen Entscheidungen zur Behandlung sollten in der letzten Lebensphase und bei schwerem Demenzgrad mit den körperlichen und psychischen Leistungsreserven des Kranken abgeglichen und gemeinsam auf ihre mögliche Umsetzung überprüft werden, v. a. im Hinblick auf Angemessenheit, Zumutbarkeit und Sicherheit der jeweiligen Maßnahme für den schwerkranken Menschen.
Tab. 1: Häufigkeit ausgewählter Demenzerkrankungen
Häufige Erkrankungen (85 %) |
Seltenere Erkrankungen (10 %) |
Potenziell umkehrbare Demenzen (5 %) |
Alzheimer-Demenz (60 %) |
Stirnhirnbezogene |
Kommunizierender |
vaskuläre Demenz |
Demenz mit Lewy- |
Schilddrüsenunterfunktion |
Mischdemenz (Alzheimer |
Parkinson-Krankheit |
Depression |
Die leichten und mittelschweren Stadien von Demenzerkrankungen werden hier in ihrem klinischen Erscheinungsbild nicht näher dargestellt. Die folgende Schilderung orientiert sich an den Symptomen der letzten Stadien einer Demenz.
Im Übergang vom mittelschweren zum schweren Stadium der Demenz ist in der Regel die Fähigkeit zur selbstständigen Vornahme alltäglicher Handlungen verloren gegangen, etwa sich selbst zu baden oder anzuziehen. Die Toilette wird kaum noch ohne Hilfe aufgesucht, es entwickelt sich eine zunehmende Inkontinenz (Kontrollschwäche), meist zunächst der Blase, dann des Darms. Selbst einfache Aufgaben (Nachsprechen von Wörtern oder Zahlen, Rückwärtszählen von zehn bis eins o. ä.) können nicht mehr erbracht werden, nicht selten versteht der Kranke bereits die Aufgabenstellung selbst nicht mehr. Es werden aktiv nur noch Bruchstücke der eigenen Adresse erinnert, biografische Daten kommen nur noch sehr lückenhaft und meist ungeordnet. Selbst die nächsten Angehörigen werden häufig bereits mit Namen nicht gekannt, in der Begegnung mitunter nicht mehr erkannt. Verwechslungen von Bezügen zu vertrauten Menschen sind im Gespräch feststellbar (Eltern mit Partner oder Kindern), der eigene Name ist oft noch erinnerlich. In diesem Stadium ist die Häufigkeit von herausfordernden Verhaltensstörungen am höchsten. Phasenhafte Erregungszustände, motorische Unruhe, unerwartet auftretende aggressive Impulse, ebenso wie erhebliche Verunsicherungen bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Situationen können auftreten, ferner plötzliche und mitunter nur schwer zu beruhigende Ängste, Panikattacken in unterschiedlichen sozialen Situationen, labile Emotionen mit wechselnden Phasen von Weinen, Traurigkeit und Wehklagen oder stillem Rückzug. Auch Beeinträchtigungen des Tag-Nacht-Rhythmus beginnen sehr häufig erst in diesem Stadium der Demenz. Manchmal ist es erst das gestörte Einschlafen, manchmal der unterbrochene Schlaf mit Umhergeistern und Erregung in der Nacht, dann bei fortgesetzter nächtlicher Schlafstörung auch der Beginn von Tagesmüdigkeit mit gelegentlichem Einnicken (sog. „naps“) und erschwerter Orientierungsfähigkeit beim Aufwachen. Bei rund einem Viertel der Betroffenen kommt es zu wahnhaften Symptomen und Trugwahrnehmungen (sog. Halluzinationen). Hierzu gehören auch die Verkennungen von Personen, auch der eigenen im Spiegelbild, die Verkennung des im Fernsehen verfolgten Filmgeschehens als tatsächlich sich ereignend oder auch die Verkennung von vertrauter Umgebung (etwa der eigenen Wohnung) als fremd.
Bei den körperlichen Funktionen ist es in diesem fortgeschrittenen Stadium ebenfalls bereits zu Störungen gekommen. Die Fähigkeit zur Handlungskoordination, die Möglichkeit, mehr als eine Wahrnehmung gleichzeitig verarbeiten zu können, die sinnvolle Aufeinanderfolge von Einzelhandlungen zu einem Ziel sind durch die Störung der Hirnleistung nicht mehr abrufbar. Daher können immer mehr auch einfachste Handlungen in der Selbstversorgung (z. B. Haare kämmen, einen Rasierer führen, Zähne mit der Zahnbürste putzen, mit einem Waschlappen den Körper reinigen) nicht mehr eigenständig und erfolgreich ausgeführt werden. Einfach erscheinende, im Prinzip aber komplexe Handlungen, wie das Glas zum Mund führen und trinken, einen Tisch decken, ein Handtuch falten u. ä., werden immer weiter erschwert. Die Gangmotorik, die Koordination bei der Aufeinanderfolge der Schritte und der Aufrechterhaltung der Körperachse sowie die Wahrnehmung der Bodenbeschaffenheit und der Räumlichkeit sind schwer beeinträchtigt und führen zu Gleichgewichtsproblemen und einer Verlangsamung der Fortbewegung. Mitunter wissen die Betroffenen nicht mehr, wie sie vom Stuhl aufstehen und die ersten Schritte voreinander setzen müssen; das Ändern der Laufrichtung, das Ausweichen bei Hindernissen (z. B. Personen, Mobiliar) wird problematisch, Stufen oder Unebenheiten am Boden werden weniger erkannt. Viele Menschen mit einer solch ausgeprägten Demenz können nur noch schwer alleine auf einem Stuhl Platz nehmen, da sie entweder den Zweck des Gegenstands nicht mehr wissen oder ihren Körper nicht mehr angemessen zur Sitzgelegenheit ausrichten können. Sie setzen sich dann auf die Lehne oder drohen zu stürzen, da sie den Stuhl verfehlen.
Bei einigen Demenzprozessen treten andere Störungen typischerweise auf, z. B. häufige Stürze bei Demenz mit Lewy-Körperchen, motorische Schwächen oder Sensibilitätsstörungen bei vaskulären Demenzen; epileptische Anfälle und Myoklonien, also unwillkürliche abrupte, kurzzeitige Bewegungen von Extremitäten, können bei Alzheimer-Demenz auftreten.
Bestehen gleichzeitig Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems mit Blutdruckschwankungen oder Herzrhythmusstörungen und einer insgesamt geringeren Belastbarkeit, dann wirkt sich diese Funktionseinschränkung zusätzlich verschlechternd auf die neurologischen und psychischen Funktionen aus.
Das gleiche gilt für die häufig im höheren Lebensalter und bei vorhandenen körperlichen Beeinträchtigungen aufkommenden Schmerzzustände. Wegen der großen Häufigkeit von Schmerzen im späten Verlauf einer Demenz bei hochaltrigen Menschen muss die ärztliche Untersuchung des Kranken immer auch eine Überprüfung der Körperfunktionen auf Schmerzhaftigkeit umfassen. Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen oder Gewebe- und Gelenkdruckpunkte sind zu bestimmen.
Die Alzheimer-Krankheit steht unter den Ursachen der Demenz mit rund 60 % an erster Stelle; häufig bestehen zusätzliche Schädigungen der Hirngefäße (siehe Tabelle 1). Zerebrovaskuläre (hirngefäßbezogene) Krankheiten machen 10–15 % aus. Seltenere irreversible Ursachen sind die weitgehend auf das Stirnhirn bezogenen Demenzen einschließlich der sog. Pick-Krankheit sowie die Lewy-Körperchen-Krankheit oder die Demenz bei Parkinson Krankheit. Behebbare Ursachen, die insgesamt wohl nicht mehr als 5 % aller Demenzfälle ausmachen, wegen ihrer grundsätzlich bestehenden Heilbarkeit in der ärztlichen Untersuchung aber besonders bedeutsam sind, beziehen sich auf Hormon- oder Vitamin-Mangelzustände, Abflussstörungen des Nervenwassers, wie den sog. kommunizierenden Hydrozephalus, oder die depressive Krankheit.
Die Alzheimer-Krankheit als weitaus häufigste Form irreversibler Demenzen steht für alle diejenigen degenerativen Erkrankungsformen des Gehirns, die durch einen Verlust von Nervenzellen sowie durch weit verbreitete krankhafte Eiweißveränderungen (sog. Plaques und Neurofibrillen) in zahlreichen Hirnregionen gekennzeichnet sind. Die Erkrankung kann im frühen Erwachsenenalter auftreten, beginnt aber in der Mehrzahl der Fälle jenseits des 65. Lebensjahres. Gegenwärtig gibt es, auch wenn ausgewählte Eiweiße im Nervenwasser (A-beta1-42 -Protein, Gesamt-tau-Protein und phspho-tau-Protein) zur Bestimmung allgemein verfügbar sind, noch keine verlässlichen klinisch-biologischen Krankheitsmarker, sodass die Diagnose mit letzter Sicherheit nur durch Gewebeuntersuchung des Gehirns (autoptisch) nach dem Tode gestellt werden kann. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit für den kundigen Facharzt, die Alzheimer-Krankheit klinisch zutreffend zu erkennen, mit > 90 % außerordentlich hoch. Charakteristisch für die Krankheit sind ein schleichender Beginn und ein chronisch fortschreitender Verlauf. Das führende Symptom zu Beginn ist die Gedächtnisstörung. Der Antrieb ist nahezu ausnahmslos gestört, häufig im Sinne einer Antriebsverarmung (siehe Tabelle 2). Die Persönlichkeit des Kranken bleibt in den ersten Jahren erhalten und ist meist durch eine Liebenswürdigkeit in den Umgangsformen sowie durch eine Verbindlichkeit im Sozialverhalten gekennzeichnet. Später treten unter den herausfordernden Verhaltensweisen nicht selten Unruhezustände, aggressives Verhalten und psychotische Auffälligkeiten hinzu. Neurologische Symptome sind in den ersten Jahren der Krankheit selten. In späteren Stadien entwickeln sich bei einem Teil der Betroffenen unwillkürliche Muskelbewegungen (Myoklonien), bei rund jedem siebten Kranken epileptische Anfallserscheinungen. Gangstörungen bis zum Auftreten von Immobilität und Bettlägrigkeit kommen bei schwerer Demenz hinzu. Insgesamt dauert die Krankheit rund 8 Jahre, nach den bisherigen Erkenntnissen rund vier bis fünf Jahre nach ärztlicher Diagnosestellung. Der Symptomverlauf schwankt jedoch erheblich mit recht kurzen Verläufen von nur drei Jahren bis zu mehr als 20 Jahren Krankheitsdauer. Der Tod tritt meist in der Folge der Bettlägrigkeit durch Infektionen der Lunge oder der Harnwege ein, seltener führt wohl die Alzheimer-Demenz direkt zum Tode, indem ihre krankhaften Eiweißablagerungen entscheidend in die lebenswichtigen Regulationszentren im Hirnstamm eindringen.
Häufige Todesursachen bei Demenzerkrankungen:
In den vergangenen Jahren sind wichtige Erkenntnisse zu den genetischen Ursachen und den Risikofaktoren der Krankheit gewonnen worden. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand sind rund 1–2 % aller Fälle von Alzheimer-Krankheit auf eine Mutation innerhalb von drei heute bekannten Genen zurückzuführen. Diese Veränderungen finden sich auf den Chromosomen 21 (APP-Mutation), 14 (Präsenilin I) und 1 (Präsenilin II). Diese familiären Formen der Alzheimer-Krankheit folgen alle einem autosomal-dominanten Erbgang und zeichnen sich durch einen frühen Beginn der Krankheit aus. Das Alter bei Manifestation ist innerhalb einer Familie relativ konstant, und der Krankheitsverlauf, die Zusammensetzung der Symptomatik und die Überlebenszeit bei erkrankten Familienmitgliedern sind sehr ähnlich (Brodaty 1995). Als wichtigster Risikofaktor für ein gehäuftes Auftreten der Krankheit wurde das Apolipoprotein E (APO-E), das auf Chromosom 19 codiert, erkannt. Einen wesentlichen Beitrag zur Diagnose der Krankheit leistet der Nachweis aber nicht. Darüber hinaus hat die neuere Forschung belegt, dass die für Herz-Kreislauf-Erkrankungen relevanten Risikofaktoren, wie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Übergewicht, Diabetes mellitus und Fettstoffwechselstörung, auch das Risiko für die Alzheimer Demenz erhöhen.
Die Demenz bei zerebrovaskulärer Krankheit (vaskuläre Demenz) entsteht meist als Folge einer ausgedehnten Schädigung des Marklagers auf der Grundlage von durch Bluthochdruck bedingten Wandveränderungen kleiner, wenig verzweigter Gefäße. Klinisch äußert sie sich v. a. in neurologischen Herdsymptomen wie Halbseitenlähmungen, Schluckstörungen, Gangstörungen und Harninkontinenz. Über Gedächtnisstörungen und Minderungen des Denk- und Urteilsvermögens hinaus bestehen insbesondere Antriebsmangel, Depressivität und Veränderungen der Persönlichkeit (siehe Tabelle 2). Die Gedächtnisstörung beginnt relativ oft schleichend, manchmal auch – im Gefolge eines Schlaganfalls – plötzlich. Ihr Verlauf ist aber häufig stufenförmig, kann seltener auch langsam fortschreitend sein. Die gleichzeitige Entwicklung von neurologischen Herdbefunden und Hirnleistungsabnahme bei langjährig bestehendem Bluthochdruck ist diagnostisch wegweisend. Die Krankheitsdauer ist unterschiedlich lang und hängt wesentlich von der Behandelbarkeit der Begleiterkrankungen ab, zu denen v. a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören. So führen nicht selten die Folgen erneut auftretender Schlaganfälle zum vorzeitigen Tod.
In den letzten Jahren ist die Lewy-Körperchen-Demenz zusätzlich ins Blickfeld gerückt. Sie ist mittlerweile eingehend beschrieben worden und scheint offenbar häufiger zu bestehen als früher angenommen. Möglicherweise macht sie klinisch mehr als 5 % aller Demenzprozesse aus. Die in den Nervenzellen liegenden Einschlusskörper, Lewy-Körper genannt, sind im gesamten Gehirn nachweisbar. Sie lassen sich im Gehirn mit dem Mittel Antiubiquitin chemisch markieren; zusätzlich findet man senile Plaques und Neurofibrillenveränderungen. Die klinischen Merkmale bestehen im Beginn v. a. in rasch wechselnder Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und Konzentration, unterbrochen durch symptomfreie Intervalle. Darüber hinaus kommt es zu optischen, seltener akustischen Halluzinationen, die häufig von wahnhaftem Erleben begleitet werden. Auch depressive Verstimmungszustände, mitunter von erheblicher Ausprägung, können bestehen (siehe Tabelle 2). Zusätzlich liegen bewegungsbezogene Veränderungen wie bei der Parkinson-Krankheit (Verlangsamung der allgemeinen Bewegungsabläufe) vor; ferner kommt es zu häufig kaum erklärbaren Sturzereignissen. In der Vorgeschichte können Schlaganfallereignisse oder kurzfristige Durchblutungsstörungen ausgeschlossen werden. Im Krankheitsverlauf schwankt die Hirnleistung nach wenigen Jahren immer weniger und geht in ein kontinuierlich fortschreitendes Demenzsyndrom über. Demenzkranke mit einem Lewy-Körperchen-Demenztyp reagieren häufig auf herkömmliche neuroleptische Medikamente paradox bzw. atypisch oder mit einem überraschend frühzeitigen Auftreten ausgeprägter motorischer Nebenwirkungen. Der Verlauf dieser Demenzform ist im Durchschnitt kürzer als die Alzheimer-Krankheit, die Ursachen des Lebensendes sind aber ähnlich. Die Demenz bei Parkinson-Krankheit tritt in der Regel erst nach vielen Jahren der Parkinson-Symptome auf. Zum klinischen Bild gehört eine erhebliche Verlangsamung der hirnleistungsbezogenen Prozesse (Denk- und Urteilsvermögen, Entscheidungskraft, Informationsverarbeitung, Sprachflüssigkeit) als Spiegelbild der motorischen Verlangsamung. Antriebsminderung, depressive Verstimmungen und Halluzinationen sind sehr häufig. Auch diese Kranken reagieren wie die Kranken mit einer Demenz bei Lewy-Körperchen auffällig auf herkömmliche Neuroleptika. Die Behandelbarkeit der Parkinson-Symptome bedingt bei dieser Demenzform die Krankheitsdauer, sodass starke Schwankungen mit 4–30 Jahren bestehen. Infolge der Bewegungsstörungen führen v. a. Immobilität und Bettlägrigkeit bei schwerster Bewegungseinschränkung mit Immunschwäche und antibiotikaresistenten Infektionen zum Tode.
Zu den irreversibel fortschreitenden Demenzen gehören auch die den vorher erwähnten Demenzformen gegenüber selteneren auf das Stirnhirn bezogenen Demenzen.
Diese sog. Frontallappendegenerationen, die durch einen fortschreitenden Nervenzellverlust im Stirnhirn (frontaler Kortex) und den Schläfenlappen (temporaler Kortex) des Gehirns verursacht werden, sind vor dem 65. Lebensjahr in etwa so häufig wie die Alzheimer-Krankheit. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei rund 58 Jahren, wobei es eine große Streubreite gibt (20–85 Jahre). Die Erkrankung beginnt mit einer Veränderung von Verhalten und Persönlichkeit. Die Patienten erscheinen im Vergleich zu ihrem früheren Verhalten meist sorgloser und oberflächlicher. Ein Teil der Kranken zeigt enthemmtes, häufig sozial inadäquates, manchmal taktloses oder sogar aggressives Verhalten. Nicht selten führt diese Enthemmung dazu, dass die Patienten (Bagatell-) Delikte begehen oder unbedachte finanzielle Transaktionen durchführen. Bei einem anderen Teil der Patienten fällt von Beginn an eine zunehmende Antriebslosigkeit und Apathie auf. Sie ziehen sich aus Familie und Freundeskreis zurück, verlieren das Interesse an ihren Hobbys. Viele Patienten entwickeln einen ausgesprochenen Heißhunger, v.a. auf Süßes; andere nehmen nur noch bestimmte Speisen zu sich. Nicht selten entwickeln die Patienten Rituale, z. B. indem sie ihren Tagesablauf völlig gleichförmig gestalten, und zeigen sich wiederholendes Verhalten, z. B. mehrfaches Duschen oder unentwegtes Sammeln unterschiedlichster Dinge. Typischerweise ist die Krankheitseinsicht deutlich beeinträchtigt, die Patienten nehmen ihre Veränderung selbst nicht wahr. In der Pflege auftretende herausfordernde Verhaltensweisen sind aber deutlich ausgeprägt und wegen der fehlenden Krankheitseinsicht kommunikativ oder mit sozialen Maßnahmen schwer zu behandeln. Eher selten lässt sich bei den Patienten eine depressive Symptomatik feststellen. Mit oder nach dem Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten kommt es zu einer Beeinträchtigung der sprachlichen Fähigkeiten mit Reduktion des Wortschatzes, Wortfindungs- und schließlich auch Sprachverständnisstörungen. Beeinträchtigungen von Gedächtnis und Orientierung sind v. a. zu Beginn der Erkrankung meist wenig offensichtlich, nehmen im Verlauf aber zu. Die durchschnittliche Krankheitsdauer wird mit 6–8 Jahren angegeben, wobei sich eine große Streuung findet. Die Todesursache ist in zahlreichen Fällen unklar, viele der Patienten sterben an durch Bettlägerigkeit verursachten somatischen Erkrankungen. Für die Bezugspersonen dieser Kranken ist die Pflege im Vergleich zur Pflege von Alzheimerkranken noch stärker belastend, da die Persönlichkeitsstörungen und Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens mit affektiver Verflachung, Verlust des Taktgefühls und zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert zwischenmenschlicher Beziehungen besonders schwer zu bewältigen sind (Kurz 2000).
Tab. 2: Häufige Verhaltensauffälligkeiten bei verschiedenen Demenzen (modifiziert nach McKeith und Cummings 2005)
Demenzart |
Verhaltensauffälligkeit |
Alzheimer-Demenz |
Apathie, Reizbarkeit, Agitiertheit, Depression, Angst; Wahn und Halluzinationen seltener |
Demenz mit Lewy-Körperchen |
optische Halluzinationen, Wahn, Depression, Schlafstörungen |
Vaskuläre Demenz |
Apathie, Depression, Wahn |
Parkinson-Demenz |
Optische Halluzinationen, Wahn, Depression, Schlafstörungen |
Frontotemporale Demenz |
Apathie, Enthemmung, stereotype Handlungen, Appetit- und Essveränderungen |
Zu der kleineren Gruppe der potentiell behebbaren Ursachen zählt der kommunizierende Hydrozephalus, die Schilddrüsenunterfunktion, die depressive Krankheit und Stoffwechsel- sowie Vitaminmangel-Krankheiten oder auch raumfordernde Prozesse. Bei frühzeitiger erfolgreicher Behandlung dieser Erkrankungen wird die Lebenszeit des Betroffenen nicht verkürzt. Bei der Demenz mit kommunizierendem Hydrozephalus besteht in der Regel neben einer Gangstörung auch eine Harninkontinenz. Oft gehen diese Veränderungen der allmählich sich entwickelnden kognitiven Leistungsabnahme voraus. Die Demenz zeigt im klinischen Bild eine allgemeine Verlangsamung und Teilnahmslosigkeit sowie Störungen der Aufmerksamkeit und des Antriebs. Einschränkungen des Gedächtnisses und der Orientierungsfähigkeit kommen hinzu; Sprachstörungen oder Störungen des räumlichen Erkennens gehören nicht zum typischen Bild.
Frühe Auffälligkeiten der Demenz bei Schilddrüsenunterfunktion liegen im Leistungsabfall, einer Antriebsminderung, Initiativverlust und Stimmungswechsel. Aber auch Konzentrationsschwächen, Gedächtnisstörungen und Denkverlangsamung können bereits frühzeitig hinzutreten. Sprachstörungen fehlen in der Regel. Neurologisch findet sich eine Verlangsamung der Sehnenreflexe, Störungen der Hautempfindung, muskuläre Schwäche und Gangunsicherheit. Die Veränderung des Schilddrüsenhormons (thyreoidea-stimulierendes Hormon: TSH) ist in der Blutuntersuchung diagnostisch wegweisend.
Störungen der Merkfähigkeit und der Konzentration bei depressiver Krankheit treten im Alter bei rund einem Drittel der Betroffenen auf. Sie betreffen die Gedächtnisleistung, die Konzentrationsfähigkeit und die Geschwindigkeit der Denkvorgänge. Zwar ist der Ausprägungsgrad der Beeinträchtigungen meist gering; mitunter fällt aber die Abgrenzung gegenüber frühen Stadien der Alzheimer-Krankheit schwer. Ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal zwischen Depression und leichtgradiger Demenz ist, dass Störungen der Sprache, der Handlungsorganisation oder des räumlichen Erkennens bei depressiv Kranken in der Regel nicht auftreten. Die Orientierungsfähigkeit im täglichen Leben ist erhalten. Auch klingen die Störungen bei Depression mit erfolgreicher medikamentöser Behandlung ab.
Unter den chronischen psychischen Störungen gibt es auch andere Erkrankungen, die mit teilweise ähnlichen Symptomen wie Demenzerkrankungen einhergehen. Hierzu zählen etwa Korsakow-Erkrankte oder Menschen mit einer chronischen schizophrenen Störung.
Der enge Zusammenhang von der Funktionstüchtigkeit der psychischen Systeme mit der der körperlichen Leistungen besteht auch bei den schwergradigen Demenzprozessen. Zu beobachten ist dabei, dass mit zunehmender Demenz die Widerstandsreserve des Körpers gegen weitere Einbußen in seinen Funktionen fortschreitend abnimmt.
Im schweren Demenzstadium sind die Hirnleistungen nahezu ausnahmslos in ausgeprägter Weise gestört. Die Merkfähigkeit ist aufgehoben, die Orientierung ist in allen Qualitäten gestört, sprachliches Ausdrucksvermögen auf wenige Wörter oder Laute gemindert. Mitunter können subjektiv als extrem bewertete Situationen (z. B. Schmerz oder helle Freude) die Hirnleistungen vorübergehend stimulieren. Im körperlichen Bereich ist nun meist die selbstständige Fortbewegung nicht mehr möglich, mit Gehhilfen wird nicht mehr verständig umgegangen, die Haltung des Körpers in der Aufrechten (vertikale Achse) gelingt zunehmend nicht mehr.
Viele demenzkranke Menschen sterben in der Zeit, in der sie die Fähigkeit verlieren zu gehen oder zu sitzen. Hier sind häufigste Todesursachen infizierte Dekubitus oder Pneumonien. Bei anderen Demenzkranken entwickeln sich Muskelkontrakturen, zunächst an den Füßen und Händen mit Überwiegen der Beugerfunktion der Muskeln. Das Spektrum der Verhaltensstörungen ist meist beschränkt auf motorische Unruhe, Schlafstörungen und lautes Rufen oder Schreien. Schmerzen und Verletzungen, das Erfordernis zu essen oder trinken sind als Ursachen auszuschließen, bevor eine medikamentöse Behandlung verordnet wird. In diesem Stadium ist es völlig überflüssig, den Kranken mit Testverfahren zu untersuchen; vielmehr stellt dies eine unwürdige Zumutung und Quälerei für den Kranken dar und ergibt auch keine für die Therapie sinnvolle Information mehr.
Brodaty, H. (1995): Consensus statement on predictive testing for Alzheimer disease. Alz Dis Assoc Disord, 9/95, S. 182–187
McKeith, I./Cummings, J. (2005): Behavioural changes and psychological symptoms in dementia disorders. Lancet (Neurol), 4/05, S. 735–742
Kurz, A. (2000): Demenz. In: Möller, H.-J./Laux, G./Kapfhammer, H.-P. (Hrsg.): Psychiatrie und Psychotherapie. New York/Berlin/Heidelberg: Springer, S. 852–894
Deutsche Alzheimer Gesellschaft (Hrsg.) (2006): Ratgeber (5) Häusliche Versorgung Demenzkranker. Schriftenreihe der DALZ. Berlin
Haupt, M. (2001): Der klinische Verlauf der Alzheimer Krankheit. Paderborn: Schöningh
Förstl, H. (Hrsg.) (2001): Demenzen in Theorie und Praxis. NewYork/Heidelberg: Springer
Wächtler, C. (Hrsg.) (2003): Demenzen. Stuttgart: Thieme
Ida Lamp
„Man stelle sich vor, als Tourist sich auf einem Flughafen mit fremden Schriftzeichen (z. B. ein Provinzflughafen in Russland oder China) zu befinden, in dem Bewusstsein, einen bestimmten Flug erreichen zu müssen, um nicht zu spät nach Hause zu kommen. Würde man den Flug versäumen, verlöre man seine Arbeitsstelle, da man am folgenden Tag wieder zur Arbeit müsste. Man steht also unter einem enormen Druck. Nun kann einem aber auf dem Flughafen keiner helfen: Man versteht die Sprache nicht, man kann die schriftlichen Hinweise nicht lesen und die knappe Zeit verrinnt. In dieser Situation könnte man in der Regel in Angst und Furcht, Wut und Verzweiflung geraten. Man würde je nach Temperament reagieren: mit Schreien und Fluchen, Handgreiflichkeiten oder auch mit Apathie und Resignation.“ (Lind 2005).
Menschen mit Demenz befinden sich bildlich gesehen in solch einer Notsituation; sie sind der Fähigkeit beraubt, mit Sprache zu kommunizieren. Sie geraten in die verschiedensten Stimmungslagen, weil sie die Welt um sich herum nicht mehr verstehen, und in tiefe Einsamkeit, weil sie keinen Zugang mehr zu Menschen und der sie umgebenden, fremden Welt finden. Alles Verhalten dient der Orientierung und Verständigung in einer Welt, die dem Menschen mit Demenz ungeheuer und fremd ist. „Herausforderndes Verhalten“ ist – sofern es nicht eindeutig krankheitsbedingt ist – keine Provokation, sondern ein Kommunikationsversuch. Das Verhalten eines Menschen mit Demenz kann man also nur verstehen, wenn man im Kontext von Pflege und Begleitung möglichst vielfältige erklärende Aspekte berücksichtigt. Dazu gehören auch solche, die sich nicht nur unmittelbar auf die Demenz beziehen. Dazu sind Strukturmodelle (z. B. das Needdriven Dementia compromised Behavior-Modell NDB – bedürfnisgesteuertes demenzbezogenes Verhalten; Kolanowski et al. 1999) entwickelt worden. Sie integrieren neben dem neurologischen Status des Patienten (also den krankheitsbedingten Faktoren) physiologische (wie z. B. Hunger, Durst, Schmerz, schlechte Sitzhaltung) und psychosoziale Aspekte (z. B. Langeweile oder Angst), die Verhalten bedingen, ebenso wie biografische und soziografische Blickpunkte (wie Geschlecht, Familienstand, Schulbildung), Aspekte der physikalischen (Raumgestaltung, Geräuschpegel usw.) und sozialen (Personal, andere Menschen) Umgebung, um Verhalten zu deuten.
Marina Kojer, die Wiener Fachfrau für Palliative Geriatrie, wird nicht müde, in ihren Vorträgen zu betonen, dass Demenzerkrankte keine Möglichkeit haben, sich nach den Pflegenden oder Angehörigen zu richten: Sie sind auf deren Entgegenkommen angewiesen. Von sich aus können Menschen mit Demenz nicht mehr in Kontakt treten; selbst aktive mimische Kontakte, wie sie sogar dem Kleinkind zur Verfügung stehen – wie Blickkontakt, Lächeln – gehen Menschen mit Demenz zunehmend verloren. Sie brauchen andere als Begleiter, die sich ihnen zuwenden, die ihre Gefühle beachten, ihre Interessen und ihre Würde wahren, die ihre Befindlichkeiten sehen und Bedürfnisse zu erfüllen suchen. Um Menschen mit fortgeschrittener Demenz angemessen zu versorgen, braucht es daher komplexe Fachlichkeit, aber mehr noch menschliche Haltungen der Zuwendung und Beziehungsfähigkeit.
„Wir unterschätzen vielfach die Ressourcen demenzkranker Menschen. Dies hat v. a. damit zu tun, dass wir unsere Form der Kommunikation nicht den kognitiven, sprachlichen und emotionalen Besonderheiten demenzkranker Menschen anpassen.“ (Kruse 2004). In dieser Hinsicht sind Pflegende wie Begleitende allemal Lernende. Solche kommunikativen Anpassungsprozesse an Menschen mit Demenz sind hochkomplex und fordern Begleitende in jeder Hinsicht, „normale Muster“ der Kommunikation aufzugeben und Neues in einem andauernden Prozess einzuüben. Dabei geht es zunächst um Verlangsamung – unseres Sprechens wie Handelns (und das in einer Welt der Schnelligkeit). Dann müssen wir die Komplexität zerlegen und zu kleineren Segmenten kommen: keine „Oder“-Angebote, nur Ja/Nein-beantwortbare Fragen, gefühls- und sinnesorientierte, wertschätzend-empathische Sprache. Wir müssen „Türöffner“ nutzen: gleich bleibende, sich wiederholende, eindeutige Kontakt-Berührungen, die unsere Nähe signalisieren und körperlich verstehbar machen. Es gilt unsere Wahrnehmungsfähigkeit für mimische Reaktionen, für Hautfarb-, Muskelspannungs- und Atemveränderungen zu schärfen, die Erfahrungen mit deren Deutung auszutauschen und so zu prüfen. Nur mit dieser geschärften Wahrnehmung können wir erkennen, ob uns da und dort der Zugang in die Welt des anderen gelingt.
In einem ihrer Vorträge beschreibt Kojer als Grundbedürfnisse hilfloser Kranker:
Diesen Grundbedürfnissen gilt es mitmenschlich wie fachlich zu begegnen. Dabei ist v. a. dem Aspekt der Kommunikation besonderes Augenmerk zu zollen: Erst wenn wir den Menschen mit Demenz wirklich erreichen, können wir von gelingender Kommunikation sprechen. Und wir erreichen ihn dann, wenn wir spürbar mehr Lebensqualität für ihn schaffen: entspannte Atmung, Schmerzfreiheit, gelöste Angst usw. Es gilt – so Kojer – alles daran zu setzen:
Erst wenn sich Pflegende und Begleitende auf den kranken Menschen als Du, als lebendiges (und nicht als vegetierendes!) Gegenüber einlassen, kann die Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz sinn-voll und mit Lebensqualität für den Kranken gelingen. Letztendlich ist entscheidend, dass der Betreuende den dementen Menschen in seiner „Ver-rücktheit“ kennenlernen will. Dann, erst dann, werden Pflegende und Begleitende auch damit leben lernen müssen, dass sie keinen Zugang zum anderen finden und dass es gut ist, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse in die Prozesse der Begegnung einzubringen. Dies gilt beispielsweise auch für apathisches Verhalten bei fortgeschrittener Demenz. Apathie – die für Angehörige und Pflegende oftmals eine Belastung darstellt – ist für den Kranken vielleicht ein Schutz, eine Fähigkeit, mit den vorhandenen nicht-abstellbaren Einschränkungen zu leben. Vielleicht steht sie nicht im Widerspruch zu Wohlbefinden. Vielleicht braucht es, wenn Wohlbefinden nicht mehr artikulierbar ist (die subjektive Dimension von Erleben ist für Menschen mit Demenz nicht zu kommunizieren), ganz andere Ideen davon, eine Balance des Miteinander-Lebens (zu dem dann eben auch Menschen mit fortgeschrittener Demenz gehören) zu finden.
Studien zum Verhalten und Empfinden von Menschen mit fortgeschrittener Demenz bzw. richtiger gesagt: zur Interaktion mit Pflegenden, anderen Professionen und Angehörigen (also zu Wechselwirkungen), zur Wahrnehmung von Begleitenden, zu positiven Schutzstrategien von Pflegenden stehen dringend aus!
Kojer, M. (2006): Sterbefall Mensch. Vortrag beim Wiener Kongress 2006. iffpallorg_1145952743_ Marina_Kojer_iff_sterbefall_mensch.pdf
Kolanowski, A.M. (1999): An overview of the need-driven dementia-compromised behavior model. In: J Gerontol Nurs. 25 (9): S. 7–9
Kruse, A. (2004): Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz in Wissenschaft und Gesellschaft. Vortrag bei der Fachtagung „Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz“ der Robert Bosch Stiftung, Berlin, 19./20.03.2004
Lind, S. (2000): Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Ergebnisse einer Literaturrecherche und Sekundäranalyse der Fachliteratur in internationalen Pflegezeitschriften zur psychogeriatrischen Pflege und Betreuung Demenzkranker. Erstveröffentlichung: Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung 2000; http://freenet-homepage.de/Sven.Lind; Zugriff am 29.06.09
Ida Lamp
„Manches Mal wusste ich nicht, ob ich meine Mutter gerade im Leben oder
im Sterben begleite. Bis mir klar wurde, dass es eigentlich keinen Unterschied gibt.
Es geht doch in jedem Fall darum, jede Minute des Lebens lebenswürdig zu gestalten.
Es geht darum, dass ein Mensch sich wohl fühlt. Dass er oder sie nicht mehr tun
muss, als sie kann. Aber dass wir alles unterstützen, damit sie ihre Person zum Aus-
druck bringen kann. Dass wir sie in der Lebenswirklichkeit, in der sie sich gerade
befindet, ernst nehmen – im Leben und im Sterben.“
Geertje Froken-Bolle
Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind nicht mehr dazu in der Lage, Krankheitseinsicht zu zeigen, Endlichkeit zu thematisieren und ihr Sterben zu antizipieren; der gedankliche Weg in die Zukunft („Was muss ich noch erleiden? Wie wird es einmal mit mir sein? Gibt es ein Fortleben nach dem Tod?“) ist ihnen unzugänglich.
Sie leben in einem Zustand der Gegenwärtigkeit, in dem die Vergangenheit als gewusste, erinnerte, bedachte Vergangenheit verloren gegangen ist. Über die Art und Weise, wie sie Sterben erleben, kann man bislang – und wird man wohl auch zukünftig, da Studien kaum vorstellbar sind – nur wenig aussagen. Bei Demenzerkrankten fehlt uns jedenfalls die verbale Selbsteinschätzung zum Sterbeprozess („Jetzt ist es bald soweit mit mir“) fast durchgängig. Demenzkranke fragen nicht, ob, wann und warum sie sterben müssen. Auch das Sterben anderer, ihnen naher Menschen ist nur kurzzeitig und vor allem (dann aber u. U. auch sehr tief) emotional bedeutsam.