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Grundriss Gerontologie

 

Band 10

 

Eine Reihe in 22 Bänden

herausgegeben von Clemens Tesch-Römer, Hans-Werner Wahl, Siegfried Weyerer und Susanne Zank

 

Diese in sich geschlossene Taschenbuchreihe orientiert sich konsequent an den Erfordernissen des Studiums und der professionellen Praxis. Knapp, übersichtlich und verständlich präsentiert jeder Band das Grundwissen eines Teilbereichs.

 

Band 1

H.-W. Wahl/V. Heyl

Gerontologie – Einführung und Geschichte

 

Band 3

M. Martin/M. Kliegel

Psychologische Grundlagen der Gerontologie

 

Band 5

F. Schulz-Nieswandt

Sozialpolitik im Alter

 

Band 8

C. Tesch-Römer

Soziale Beziehungen

alter Menschen

 

Band 9

B. Leipold

Lebenslanges Lernen

und Bildung im Alter

 

Band 10

K. Claßen/F. Oswald/M. Doh/

U. Kleinemas/H.-W. Wahl

Umwelten des Alterns

 

Band 11

R. G. Heinze/G. Naegele/

K. Schneiders

Wirtschaftliche Potentiale

des Alters

 

Band 12

J. Werle/A. Woll/S. Tittlbach

Gesundheitsförderung

 

Band 13

S. Weyerer/C. Ding-Greiner/

U. Marwedel/T. Kaufeler

Epidemiologie körperlicher

Erkrankungen und

Einschränkungen im Alter

 

Band 14

S. Weyerer/H. Bickel

Epidemiologie psychischer

Erkrankungen im höheren

Lebensalter

 

Band 15

T. Gunzelmann/W. D. Oswald

Gerontopsychologische

Diagnostik und Assessment

 

Band 17

H. Gutzmann/S. Zank

Demenzielle Erkrankungen

 

Band 18

O. Dibelius/C. Uzarewicz

Pflege von Menschen höherer

Lebensalter

 

Band 19

S. Zank/M. Peters/G. Wilz

Klinische Psychologie und

Psychotherapie des Alters

 

Band 20

F. Schulz-Nieswandt/U. Köstler

Bürgerschaftliches Engagement im Alter

 

Band 21

A. Kruse

Das letzte Lebensjahr

 

Band 22

H. Helmchen/S. Kanowski/

H. Lauter

Ethik in der Altersmedizin

Katrin Claßen
Frank Oswald
Michael Doh
Uwe Kleinemas
Hans-Werner Wahl

Umwelten des Alterns

Wohnen, Mobilität,
Technik und Medien

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Piktogramme

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1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-018065-9

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-023899-2

epub: ISBN 978-3-17-025378-0

mobi: ISBN 978-3-17-025379-7

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M. Powell Lawton (1923–2001) gewidmet

Inhalt

  1. 1     Einführung
  2. 2     Grundlegende theoretische Sichtweisen mit Bedeutung für die Rolle räumlich-technisch-medialer Umwelten für gutes Altern
  3. 2.1    Erste Meta-Perspektive: Person-Umwelt-Austausch (P-U-Austausch)
  4. 2.2    Zweite Meta-Perspektive: Selektive Optimierung mit Kompensation (SOK)
  5. 2.3    Dritte Meta-Perspektive: Mediatisierung
  6. 3     Wohnen im Alter
  7. 3.1    Einleitung und übergreifende theoretische Einordnung
  8. 3.2    Konzeptuelle Grundlagen zum Wohnen im Alter
  9. 3.2.1    Konzepte des Wohnverhaltens (Agency)
  10. 3.2.2    Konzepte des Wohnerlebens (Belonging)
  11. 3.3    Wohnformen älterer Menschen
  12. 3.4    Befunde zum Privatwohnen im Alter
  13. 3.4.1    Wohnumweltbedingungen
  14. 3.4.2    Befunde zum Wohnverhalten (Agency)
  15. 3.4.3    Befunde zum Wohnerleben (Belonging)
  16. 3.4.4    Befunde zu Zusammenhängen von Wohnverhalten und Wohnerleben
  17. 3.4.5    Befunde zu Wohnfolgen
  18. 3.5    Umzug im Alter
  19. 3.5.1    Umzug in private Haushalte
  20. 3.5.2    Umzug ins Betreute Wohnen und ins Gemeinschaftliche Wohnen
  21. 3.5.3    Umzug ins institutionalisierte Wohnen (Heim)
  22. 3.6    Wohnen und Sterben
  23. 3.7    Interventionsperspektiven
  24. 4     Altern jenseits der Wohnumwelt: Außerhäusliche Mobilität und außerhäusliche Aktionsräume
  25. 4.1    Einleitung und übergreifende theoretische Einordnung
  26. 4.2    Begriffsbestimmung: Außerhäusliche Mobilität im alterns- und lebenslaufbezogenen Kontext
  27. 4.3    Implikationen des demografischen Wandels
  28. 4.4    Lebensstile und Mobilitätsbedürfnisse
  29. 4.4.1    Slow Modes
  30. 4.4.2    Automobil
  31. 4.4.3    Öffentliche Verkehrsmittel
  32. 4.5    Spezielle Problemfelder außerhäuslicher Mobilitätsentwicklung
  33. 4.5.1    Unfallexposition und Risikopotenziale
  34. 4.5.2    Mobilitätsrelevante Gesundheits- und Leistungseinbußen
  35. 4.5.3    Kompensationsmechanismen
  36. 4.6    Interventionsperspektiven
  37. 5     Technik im Alter
  38. 5.1    Einleitung und übergreifende theoretische Einordnung
  39. 5.2    Begriffsbestimmung, Klassifikation und Entwicklung von Technik
  40. 5.2.1    Begrifflichkeit
  41. 5.2.2    Gerontechnology: Konzeptuelle Einordnung
  42. 5.2.3    Dimensionen zur Ordnung und Klassifikation
  43. 5.2.4    Technische Entwicklung: Beschleunigung, Zugänglichkeit, Diffusion
  44. 5.3    Der Technik zugeschriebene Ziele und Funktionen
  45. 5.3.1    Allgemeine Ziele des Technikeinsatzes im Alter
  46. 5.3.2    Potenzial von Technik aus Sicht des älteren Techniknutzers
  47. 5.3.3    Potenzial von Technik aus Sicht von Pflegenden im häuslichen und institutionellen Bereich
  48. 5.4    Technikakzeptanz und Techniknutzung im Alter
  49. 5.4.1    Modell der Technikakzeptanz
  50. 5.4.2    Die Rolle von Personeneigenschaften
  51. 5.4.3    Die Rolle der Technik
  52. 5.4.4    Die Schnittstelle von Person und Technik
  53. 5.4.5    Die Rolle kognitiver Beeinträchtigungen
  54. 5.5    Kritische Betrachtung des Einsatzes von Technik im Alter
  55. 5.6    Interventionsperspektiven
  56. 6     Medien im Alter
  57. 6.1    Einleitung und übergreifende theoretische Einordnung
  58. 6.2    Mediatisierung: Dynamisierung medialer Entwicklung und ihrer Nutzung
  59. 6.2.1    Produktbezogene Innovationsdynamik
  60. 6.2.2    Nutzungsbezogene Diffusionsdynamik
  61. 6.3    Begrifflichkeit und Klassifikation von Medien
  62. 6.4    Zur Entwicklung »mediengerontologischer« Forschung
  63. 6.5    Befunde zum Mediengebrauch im Alter
  64. 6.5.1    Medienausstattung
  65. 6.5.2    Mediennutzung
  66. 6.5.3    Mediennutzung im Tagesverlauf
  67. 6.5.4    Funktionen der Medien
  68. 6.6    Potenziale und Barrieren digitaler Medien im Alter am Beispiel des Internets
  69. 6.6.1    Potenziale des Internets im Alter
  70. 6.6.2    Barrieren des Internets im Alter
  71. 6.7    Interventionsperspektiven
  72. 7     Umwelten älterer Menschen: Entwicklungschancen und -grenzen – ein Ausblick
  73. 7.1    Förderliches Potenzial von Umwelten
  74. 7.1.1    Szenario A: Frau Jansen
  75. 7.1.2    Implikationen des Szenarios A
  76. 7.2    Hemmnisse von Umwelten
  77. 7.2.1    Szenario B: Herr Huber
  78. 7.2.2    Implikationen des Szenarios B
  79. 7.3    Umwelten sind gestaltbar
  80. 7.3.1    Anforderungen an die älterwerdende Person zur Mitgestaltung
  81. 7.3.2    Anforderungen an die Politik zur Mitgestaltung
  82. 7.3.3    Anforderungen an die Forschung zur Mitgestaltung
  83. 7.4    Umwelten älterer Menschen – ein Ausblick
  84. Literatur
  85. Stichwortverzeichnis

1          Einführung

 

 

 

Was haben Wohngemeinschaften für ältere Menschen, die Erschließung außerhäuslicher Räume durch Ältere etwa mit Hilfe des Autofahrens, Pflegeroboter als potenzielle Hilfen für pflegebedürftige alte Menschen und das Internet als ein zunehmend auch von Älteren genutztes Medium gemeinsam? Mit dieser möglicherweise etwas absonderlich, vielleicht gar ein wenig absurd klingenden Frage »im Gepäck« gehen wir in dem vorliegenden Buch davon aus, dass für diese auf den ersten Blick höchst unterschiedlich anmutenden Themenfelder eine Klammer existiert. Und nicht nur das! Wir behaupten, dass es notwendig und sinnvoll ist, eine derartige Klammer zu bilden und die Konsequenzen eines solchen »Verklammerns« ausführlich auszubuchstabieren. Wir behaupten weiter, dass wir viel über Altern lernen und in der Tat Altern besser verstehen können, wenn wir dies tun. Wie das?

Es geht uns in diesem Buch um Umwelten des Alterns. Umwelten des Alterns sind, wie unsere alltäglichen Umwelten insgesamt:

•  belebt und unbelebt,

•  real und virtuell,

•  räumlich-dinglich und sozial,

•  bestimmt durch Nahumwelten und ferne Blicke,

•  »getönt« durch Lärm und Stille – und viele »Zwischentöne«,

•  sichtbar um uns herum und unsichtbar in unseren Köpfen,

    von der Natur oder von Menschenhand geschaffen,

•  »anregend« und »beschränkend« durch Lichtverhältnisse, Geruchsschattierungen, Weite und Enge sowie ästhetische Eigenschaften von Dingen und Räumen,

•  anreichernd und begrenzend auch in ökonomischer Hinsicht,

•  konstant und in dauernder Veränderung begriffen – in großer Langsamkeit (z. B. Landschaften) oder sehr schnell (z. B. Tag-Nacht-Wechsel); aber auch sich verändernd über die eigene Biografie und die historische Zeit hinweg.

Was also ist das Gemeinsame, was die »richtige« Antwort auf die eingangs gestellte Frage? Wir würden sagen: Umwelten des Alterns! Wohngemeinschaften für Ältere gehören zu den »neuen« Wohnumwelten, die sich ein zunehmender, wenngleich noch relativ kleiner Teil der Altenbevölkerung als Lebensort ausgesucht hat. Aber es steckt ja viel mehr dahinter. Es geht auch um Wohnen im Alter ganz generell, drinnen und draußen – und diese Thematik betrifft alle älteren Menschen.

Als Auto fahrende »Mobilisten« bewegen sich zunehmend auch ältere Menschen durch außerhäusliche Umwelten – oder weniger hochtrabend: nehmen am Verkehrsgeschehen unserer Gesellschaft teil. Ältere Menschen waren generell noch nie so mobil wie heute; sie erschließen sich außerhäusliche Aktionsräume – häufig allerdings auch zu Fuß – wie historisch noch nie zuvor, sehen nicht selten im Alter zum ersten Mal ferne Länder und Kontinente. Was sind die Herausforderungen einer stark alternden Verkehrsgesellschaft? Was macht die »neue« Mobilität, was machen die damit verbundenen »neuen« Umwelterfahrungen mit den älteren Menschen von heute und morgen? Und was mit ihren Angehörigen? Was sind politische Implikationen dieser Prozesse und kann die Alternsforschung hier einen Beitrag leisten? Umwelten des Alterns schwingen also auch bei dieser Thematik sehr deutlich mit.

Aber der Pflegeroboter, wie passt der ins Bild? Zugegeben, hier waren wir etwas provozierend, denn wer möchte schon im Falle von Pflegebedürftigkeit einen Pflegeroboter als Teil seiner Wohn- und Pflegeumwelt sehen? Niemand? Gemach, würden wir sagen, denn Technik bestimmt zunehmend den Alltag auch von älteren Menschen. Auf der einen Seite können sich die älteren Menschen dem vielfältigen Prozess der immer weiter fortschreitenden Technisierung gar nicht entziehen. Sie gehen (gezwungenermaßen) immer häufiger auch an Bank- und Fahrkartenautomaten, nutzen zunehmend Personalcomputer und Smartphones, Navigationsgeräte und intelligente Küchengeräte. Auf der anderen Seite scheint es eine wachsende Gruppe von Älteren zu geben, die technische Lösungen ganz gezielt einsetzt, um alternsbezogene Kompetenzeinbußen zu kompensieren (Wahl, Oswald, Claßen, Voss & Igl, 2010). Aber nicht nur das! Auch um »neue« Alternsformen, »neue« Alternserlebnisse zu kreieren. Die Umrüstung von traditionellen Wohnungen/Häusern in Smart Homes wäre ein Beispiel:

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Beispiel

Images PC-gesteuerte Haushaltsgeräte, die sich wie von selbst an- und ausschalten, automatisierte Kontrolle von Heizung und Lichtverhältnissen, virtuelles Einkaufen vom Wohnzimmersessel aus, diverse Sicherheits- und Überwachungsfunktionen – das sind einige der Charakteristika von solchen intelligenten Wohnlösungen. Im Grunde gar nicht nur sinnvoll für ältere Menschen, aber für diese in besonderer Weise hilfreich. Denken wir auch an die Möglichkeiten und Wirkungen »neuer« emotionaler Bindungen von pflegebedürftigen, speziell an Demenz erkrankten älteren Menschen an Robotertiere wie die Robbe Paro.Images

Und das Internet? Auch eine schon gar nicht mehr so »neue« Umwelt für Ältere! Ältere nutzen diese medialen Welten immer häufiger, suchen sich dort politische und gesellschaftlich relevante Informationen oder gesundheitlichen Rat und kommunizieren über E-Mail oder Internettelefonie mit Freunden oder Enkelkindern. Medien, vor allem das Fernsehen, transportieren nicht zuletzt auch Altersbilder bzw. Altersstereotype und nehmen mit diesem »Umweltreiz« einen direkten Einfluss auf unsere Kultur des Alterns. Wie bedeutsam sind solche Einflüsse, insbesondere für die älteren Menschen selbst, die ja auch zu den intensivsten Fernsehkonsumenten gehören? Und für unsere zunehmend »mediatisierte« Gesellschaft und Politik?

Nicht von ungefähr haben wir eben häufig das Attribut »neu« verwendet, denn wir glauben, dass das oft in der Alternswissenschaft, in politischen Kontexten und auch in den Alltagswelten des Alters im Munde geführte »neue Altern« nicht zuletzt deshalb neu ist, weil die Wechselwirkungen älterer Menschen mit ihren Umwelten sich rasant verändern – und damit neues Altern ermöglichen:

•  hinsichtlich des Wohnens entstehen beispielsweise zunehmend neue Wohnformen oder eine neue Wahrnehmung und Nutzung der angestammten Wohnräume;

•  durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und neue, manchmal speziell an ältere Menschen gerichtete Angebote sind auch ferne Orte mittlerweile bequem zu erreichen;

•  neue Technologien, wie Assistenzsysteme im häuslichen Umfeld, helfen, selbstständig und sicher zu leben und Neues leichter mitzubekommen;

•  und neue Medien, wie das Internet und seine sozialen Kommunikationsformen, bieten ein breites Spektrum an neuen Informations-, Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten.

Der vielbeschworene demografische Wandel – die stetig steigende Zunahme der älteren Menschen, speziell der sehr alten Menschen über 80 Jahre, aber auch der Rückgang des Anteils der jüngeren Menschen durch die Stagnation der Geburtenzahlen auf niedrigem Niveau – bedarf also in jedem Fall auch eines »Umweltblickes«. Im Zuge der demografischen Veränderungen entstehen zum einen neue Umwelten (etwa neue Formen des Wohnens im Alter, neue seniorengerechte Mobilitätslösungen), welche den kulturellen Raum unserer Gesellschaft insgesamt anreichern und weiterentwickeln. Auf der anderen Seite überlagern sich auch sogenannte Megatrends, vor allem das Älterwerden unserer Gesellschaft und die immer stärkere Rolle der digitalen Informations- und Kommunikationsmedien, und verändern auf diesem Wege auch das Älterwerden selbst. Hochaltrigkeit und Medienkompetenz beispielsweise werden wahrscheinlich in Zukunft ein für erfolgreiches Altern bedeutsames Tandem werden. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang sogar von einer neuen Person-Umwelt-Kultur alternder Gesellschaften gesprochen worden (Wahl, 2008), die allerdings auch auf andere Lebensalter Ausstrahlungen haben dürfte. Vielfach geht es ja auch um das zukünftige Miteinander der Generationen.

Diese Veränderungen eröffnen jedoch nicht nur neue Entwicklungsmöglichkeiten; sie gehen auch mit neuen Anforderungen, Risiken und ethischen Fragen einher. Man denke zum Beispiel an die Bedienung moderner Mobiltelefone, die Gefahren einer unmenschlichen Pflegerobotik oder die Gestaltung unserer gebauten Umwelt auch im Hinblick auf kognitiv veränderte ältere Menschen. Zu fragen ist demnach: Wo liegen die Potenziale, wo aber möglicherweise auch die Gefahren in den neuen Umwelten des Alterns? Welche Antworten kann die bislang in diesen Bereichen vorgelegte Forschung geben? Welche Interventionsformen und Gestaltungsmöglichkeiten empfehlen sich eher als andere?

Das vorliegende Buch setzt an derartigen Fragen an und möchte dabei sowohl traditionelle Umwelten alter Menschen (wie das Wohnen im Privathaushalt) als auch neuere Kontexte des Alterns (wie die Bereiche Technik und Kommunikationsmedien) berücksichtigen. Ziel ist die relativ umfassende Behandlung der insbesondere im Alter bedeutsamen Umwelten mitsamt ihrer Möglichkeiten und Herausforderungen. Die genannten Umwelten hängen natürlich auch sehr stark mit sozialen Umwelten bzw. Beziehungen zusammen und diese werden deshalb im vorliegenden Band auch immer wieder thematisiert werden. Querverbindungen zu dem Grundriss-Band von Clemens Tesch-Römer zu sozialen Beziehungen (Tesch-Römer, 2010) sind zu erwarten. Ebenso versteht sich das vorliegende Buch als komplementär zu dem Grundriss-Band zu Wirtschaftskraft Alter (Naegele, Heinze & Schneiders, 2011).

Dreh- und Angelpunkt des Buches ist die Annahme, dass Altern in besonderer Weise von den Ressourcen und Begrenzungen der jeweils gegebenen Umweltbedingungen, speziell dem räumlich-dinglichen Kontext, abhängt. Angesprochen ist damit in der Alternsforschung das Gebiet der Ökologischen Gerontologie (Lawton, 1977; Lawton & Nahemow, 1973; Oswald & Wahl, 2005; Wahl & Oswald, 2005). Dieser Zugang zum Älterwerden ist vor allem von dem amerikanischen Gerontopsychologen und Gerontologen M. Powell Lawton, der im Jahre 2001 im Alter von 77 Jahren gestorben ist, begründet und ausgearbeitet worden. Lawton hat zudem die gerontologische Lebensqualitätsforschung bereichert, und er hat auch unsere eigenen Arbeiten in vielerlei Hinsicht geprägt. Vor diesem Hintergrund widmen wir das Buch dem Andenken an diese alternswissenschaftlich und im persönlichen Umgang herausragende Persönlichkeit.

Die Annahme einer bedeutsamen Rolle der räumlich-dinglichen Umwelt für den Verlauf von Altern rekurriert auf der einen Seite auf die Verletzlichkeit des Menschen im Alternsprozess. Altern, vor allem Hochaltrigkeit, ist mit signifikanten Verlusten der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit verbunden, die wiederum dazu führen, dass Adaptationsanforderungen zunehmend weniger wirkungsvoll begegnet werden kann. Eine typische Adaptationsanforderung ist die Aufrechterhaltung selbstständigen Wohnens in den gegebenen räumlich-dinglichen Rahmenbedingungen, die den verbliebenen Leistungsmöglichkeiten möglicherweise nicht angemessen sind und subjektiv zu Gefühlen der Überforderung, Unsicherheit und Wohnzukunftsängsten sowie objektiv zu Vernachlässigung, Verletzungen und Selbstständigkeitsverlust führen können. Auf der anderen Seite besitzen in ihrer Infrastruktur geeignete bzw. entsprechend optimierte Umwelten das Potenzial, die Lebensqualität alternder Menschen substanziell zu unterstützen, vor allem dann, wenn bedeutsame umweltbezogene Einbußen und Veränderungen auf der Personebene eingetreten sind.

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Beispiel

Images Typische Beispiele wären eine massive Gehbeeinträchtigung, die durch den Einbau einer barrierefreien Dusche in ihren Wohnfolgen abgemildert werden kann, oder eine demenzielle Erkrankung, die nur noch in einer institutionalisierten Wohnform in weitgehender Sicherheit und Versorgtheit »gelebt« bzw. »ausgelebt« werden kann. Zudem können »Tracking-Systeme«, wie GPS-basierte Orientierungssysteme für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen, effiziente Hilfe leisten und damit die sichere Nutzung außerhäuslicher Umwelten unterstützen.Images

Ökologische Perspektiven in der Alternsforschung haben auch Gewichtiges zu Altersbildern beizutragen, denn sie bevorzugen ein kontextuell angelegtes Entwicklungsmodell: Wohlbefinden, Autonomie und Identität sind danach stets auch in räumlich-dinglich-technische (natürlich auch in soziale) Kontexte eingebettet und können letztlich nur verstanden werden, wenn wir auch diese Kontexte explizit mit berücksichtigen. In vielen allgemeinen Modellen der menschlichen Entwicklung, die in der Alterns- und Lebenslaufforschung genutzt werden, ist dieser Aspekt eher implizit und indirekt behandelt. Wir möchten in diesem Buch hingegen die Umweltgebundenheit menschlicher Entwicklung und von Altern explizit und relativ umfassend thematisieren. Dazu werden wir uns sowohl an auf Umwelten bezogene Theorien (wie dem Umweltanforderungs-Kompetenz-Modell; Lawton & Nahemow, 1973) als auch an allgemein gehaltenen Modellen, wie dem Ansatz der selektiven Optimierung mit Kompensation (Baltes & Baltes, 1990), orientieren.

Ökologische Gerontologie besitzt insofern vielfache Implikationen im Hinblick auf den heute viel diskutierten Aspekt der Lebensqualität im Alter, sei es im Sinne von Beiträgen zu einem grundlegenden Verständnis von Lebensqualität, sei es im Sinne der Optimierung der Lebensqualität älterer Menschen. So ist es sicherlich kein Zufall, wenn es in einer vielzitierten Definition von Lebensqualität heißt:

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Definition

Images »Quality of life is the multidimensional evaluation, by both intrapersonal and social-normative criteria, of the person-environment system of an individual in time past, current, and anticipated« (Lawton, 1991, S. 6; Hervorhebung durch uns).Images

Gemäß dieser Definition können wir die räumlich-dingliche und technische Umwelt als einen wesentlichen Bereich eines multidimensionalen Verständnisses bzw. einer entsprechenden Bewertung der Lebenssituation einer (alternden) Person betrachten, wobei sowohl »subjektive« individuelle Maßstäbe der Person wie »objektive« sozial-normative Kriterien einfließen. Wie wir später in diesem Buch sehen werden, gewinnt diese Differenzierung gerade bei einer Würdigung des alternden Person-Umwelt-Systems, beispielweise im Bereich des Wohnens alter Menschen, eine große Bedeutung. Denn es kann zu bedeutsamen Diskrepanzen zwischen den objektiven Gegebenheiten und den subjektiven Bewertungen kommen, die uns viel über eine häufig gegebene grundlegende Ambivalenz älterer Menschen in Bezug auf ihre Umwelten sagen (z. B.: »Soll ich umziehen? Meine Wohnung ist doch schön. Hier kriegt mich keiner raus! Aber wie lange werde ich noch die Treppen gehen können? Wenn ich stürze, dann muss ich ins Heim!«). Was in solchen Fällen tun? Es wäre wohl nicht angebracht, bei entsprechenden Beratungen ausschließlich die subjektive Bewertung der Betroffenen heranzuziehen, denn das vielfach zu findende »Wohnzufriedenheitsparadoxon « (hohe Zufriedenheit trotz vieler Umweltbarrieren und sonstiger ungünstiger Umweltmerkmale in und/oder außerhalb der Wohnung) würde fälschlicherweise sehr häufig zu einer »Nichtbedarfs-Entscheidung« führen. Sozial-normative Kriterien, etwa im Sinne von Baunormen (vgl. dazu Oswald, Marx & Wahl, 2006), können an dieser Stelle sehr hilfreich für Planungsentscheidungen und Interventionsangebote in Bezug auf Umwelten sein. Es wäre aber auch nicht gut, ausschließlich objektive Kriterien für eine weitreichende Wohnentscheidung heranzuziehen.

Neu und auf den ersten Blick vielleicht etwas ungewöhnlich an unserem Buch ist nun ferner, dass wir den traditionell in der Ökologie des Alterns genutzten räumlich-technischen Umweltbegriff systematisch erweitern möchten. Wir leben zunehmend in mediatisierten Welten, die zunehmend alle Lebensbereiche erfassen und immer stärker auch ältere Menschen erreichen bzw. von diesen »assimiliert« werden müssen, wenn nicht bedeutsame Nachteile im Alltagsleben in Kauf genommen werden möchten. Es lässt sich sogar argumentieren, dass dieser Umweltaspekt in seiner Bedeutung immer stärker anwächst und gleichzeitig in dynamischer Veränderung begriffen ist. Mit anderen Worten: Unsere Umwelt – auch jene von älteren Menschen – ist immer stärker eine digital-mediatisierte und stellt uns in immer kürzeren Zeitabständen vor neue Herausforderungen. Das Konzept der Mediatisierung (Krotz, 2007) scheint uns besonders angemessen zu sein, um diese Prozesse in unserem Buch aufzunehmen und auf Aspekte des kontextuellen Alterns anzuwenden. Die in vielen Entwicklungsmodellen enthaltene Grundannahme von Gewinnen und Verlusten in jeglicher Entwicklungsphase, auch im späteren Lebensalter, kann, so unsere allgemeine Überlegung, heute nur verstanden werden, wenn wir auch die verschiedensten Umweltfacetten einschließlich der starken Mediatisierungstendenzen in unserer Gesellschaft umfassend einbeziehen.

Hilfreich an der Lawton’schen Definition finden wir zudem die biografischen Bezüge und die in ihr enthaltene Zukunftsperspektive. Entwicklungspsychologisch gesehen sind auch Umwelten des Alterns stets in biografische Gegebenheiten eingebunden, ja diese bestimmen zu einem gewichtigen Teil etwa Wohnpräferenzen, die Art der Bezüge zu außerhäuslichen Umwelten (z. B. die Bedeutung von Natur), unsere Mobilitätsbiografie oder die Lust (oder den Frust) am Umgang mit technischen und medialen Neuerungen. Hoch bedeutsam ist zudem die Auseinandersetzung mit der eigenen »Umwelt-Zukunft«. Fragen, die sich hier ältere Menschen stellen, lauten etwa: In welcher Umwelt will ich mein Alter – aber vielleicht auch: meine mögliche Demenzerkrankung – verbringen? Was kann ich bereits heute tun, um solche offensichtlich sehr existenziellen Entscheidungen so gut wie nur möglich treffen zu können? Was muss ich alles wissen, um derartige Entscheidungen möglichst ausgewogen und kompetent treffen zu können? Auch ist es leider immer noch so, dass derartige Entscheidungen deutlich schlechter informiert getroffen werden als beispielsweise der Kauf eines Autos. Hier liegen also auch in Bezug auf Umwelten des Alterns neue Bildungsanforderungen unserer alternden Gesellschaft. Die Bearbeitung der Entwicklungsaufgabe des guten Wohnens im Alter, die der amerikanische Gerontologe Havighurst bereits 1948 beschrieben hat (Havighurst, 1948), ist insofern auch heute noch eine auszugestaltende und keineswegs eine »Entwicklungsroutine« spät im Leben.

Der Versuch, die wissenschaftliche Behandlung unterschiedlicher Umwelten des Alterns in einem Band zuzuführen, ist keineswegs neu, und u. W. zum ersten Mal in einem Handbuchkapitel von Lawton (1977) detailreich vorgenommen worden. Zwei der Autoren dieses Buches haben einen solchen Ansatz zusammen mit anderen zum ersten Mal im Jahre 1999 (Wahl, Mollenkopf & Oswald, 1999) und dann noch einmal 2003 (Schaie, Wahl, Mollenkopf & Oswald, 2003) und 2006 (Wahl, Brenner, Mollenkopf, Rothenbacher & Rott, 2006) umgesetzt. Und nun ein neuer Anlauf – warum denn das? Die Antwort liegt darin, dass wir mit diesem Buch:

•  vor allem Studierende der Gerontologie erreichen möchten in der Hoffnung, auf diesem Wege die Thematik der Umwelten des Alterns zukünftig noch stärker in Lehre, Forschung und Praxis zu verankern;

•  zudem möchten wir die Akteure in den unterschiedlichsten Bereichen, die mit Umwelten des Älterwerdens befasst sind, ansprechen, etwa kommunale Seniorenarbeit, Stadt- und Verkehrsplanung, Wohnberatung und Bildungseinrichtungen.

Das Buch besitzt den folgenden Aufbau: Zunächst werden theoretische Zugänge zu Umwelten des Alterns dargestellt. Hierbei spielt das bis heute in der sozialen und behavioralen Alternsforschung intensiv rezipierte und diskutierte Umweltanforderungs-Kompetenz-Modell bzw. die Ökologische Theorie des Alterns von Lawton und Mitarbeitern eine zentrale Rolle (Lawton & Nahemow, 1973; Wahl, Iwarsson & Oswald, 2012). Auch werden wir dabei den integrativen Ansatz von Oswald und Wahl nutzen, in dem Prozesse der Person-Umwelt-Wirksamkeit (Agency; Beispiel: Wie können Smarthome-Elemente die Selbstständigkeit aktiv befördern?) Prozessen der Person-Umwelt-Bedeutung und -verbundenheit (Belonging; Beispiel: Kann man ein Robotertier »lieb haben«?) gegenübergestellt werden. Hinzu kommen Elemente des Technik-Akzeptanz-Modells, das wir im Sinne eines allgemeiner angelegten Umwelt-Akzeptanz-Modells erweitern werden. In den sich anschließenden Kapiteln zu den Themenbereichen Wohnen, außerhäusliche Mobilität, Technik und Medien werden vor diesem integrativen Hintergrund jeweils relevante Detail-Konzepte und Befunde erläutert sowie mögliche Zukunftstrends im Sinne eines visionären Blicks umrissen. In einem ausführlichen Ausblick wird der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Person-Umwelt-Sichtweisen bzw. Person-Umwelt-Themenfelder zusammenzuführen. Ferner werden zukünftige Anforderungen an die Alternsforschung, aber auch an ältere Menschen selbst und die vielfältigen Akteure zu diskutieren sein.

2          Grundlegende theoretische Sichtweisen mit Bedeutung für die Rolle räumlich-technisch-medialer Umwelten für gutes Altern

 

 

 

Im folgenden Kapitel möchten wir aufzeigen, welche Relevanz räumlich-technisch-mediale Umwelten für ein gutes Altern haben können. Ganz bewusst wählen wir zu Beginn ein relativ ausführliches Szenario, das dazu einlädt, einen kurzen Moment in die ganz eigene Welt der älteren Dame Frau Schulz einzutauchen, um aufzuzeigen, dass nicht nur die verschiedenen Umwelten miteinander zusammenhängen, sondern dass auch wir selbst, auf ganz individuelle Art und Weise, mit diesen Umwelten verwoben sind. Anschließend verlassen wir Frau Schulz’ Umwelten, um drei ausgewählte Theorien zu Person-Umwelt-Beziehungen vorzustellen und abschließend einen kritischen Blick auf räumlich-technisch-mediale Umwelten zu werfen. Nun aber erst mal zu Frau Schulz.

Von einem Fallbeispiel (Szenario Frau Schulz) zu grundlegenden theoretischen Sichtweisen

Der neue Wecker von Frau Schulz schaltet sich um 6:30 Uhr mit einem Gong an. Langsam dimmt die Leselampe das künstliche Licht auf. Das tut den Augen gut und der Seele auch, denkt Frau Schulz; kein blödes elektronisches »Gepiepse« mehr. Aber was ist eigentlich, wenn einmal der Strom ausfällt? Funktioniert der Wecker dann mit der eingebauten Batterie? Sie schiebt den Gedanken beiseite und steht auf – schließlich hat sie heute große Pläne.

     Vormittags wird sie auf dem Wochenmarkt unterwegs sein, nachmittags ist Doppelkopfrunde mit drei Freundinnen aus der Nachbarschaft. Heute ist sie selbst die Gastgeberin und es wird zwei verschiedene Kuchen geben. Das ist schon ein Organisationsaufwand mit ihren 80 Jahren, macht aber auch Spaß. Eigentlich dachte sie, dass sie dieses Wort in ihrem Leben nicht mehr verwenden würde, nachdem ihr Mann vor vier Jahren gestorben ist. Es war abzusehen, aber doch ein Schlag. Dann die Frage, ob sie in der Wohnung bleiben sollte und könnte. Finanziell war es zum Glück machbar. Aber die ganzen Sachen immer um sich haben, ihrem Mann auf Schritt und Tritt begegnen? Schließlich hat sie sich dafür entschieden, es war ja die gemeinsame Wohnung für so lange Zeit, da hat man doch eine Bindung entwickelt, kennt jede Ecke, jeden Schritt auch im Haus. Und die Nachbarn, die Gegend, das ist einem doch vertraut, das wollte sie nicht aufgeben. Einige der alten Nachbarn sind freilich nicht mehr da und mit den neuen hat Frau Schulz nur wenig Kontakt. Aber ansonsten, das Haus wird schon in Schuss gehalten, auch mit dem Fahrstuhl hat sie Glück, jetzt wo es nicht mehr so gut geht, wenn sie mit den vollen Taschen vom Einkaufen heimkommt bis rauf in den dritten Stock. Da hat man früher natürlich nicht dran gedacht. Ihre Tochter hat ihr ein Rollwägelchen mitgebracht, das sie benutzt, wenn sie Einkäufe zu transportieren hat. Manchmal ist es Frau Schulz ein wenig peinlich damit gesehen zu werden; schließlich ist sie für ihr Alter noch fit und außerdem geht es ansonsten noch ohne Stock – darauf ist sie stolz.

     Ihre Enkelin wollte sie von einem Elektro-Fahrrad überzeugen, aber das ist nichts für sie. Ja, wenn sie früher mehr Fahrrad gefahren wäre, dann vielleicht; aber das geht ihr dann doch zu weit mit der neuen Technik. Alles in allem gibt es schon tolle Möglichkeiten heute. Auch das Handy wollte sie erst nicht. Es ist aber schon praktisch und gibt auch Sicherheit im Falle eines Falles. Mittlerweile hat sie es jedenfalls fast immer dabei. Wenn sie aber zum Beispiel ins Theater geht, lässt sie es lieber zuhause, da sie sich einfach nicht merken kann, wie man den Klingelton abstellt und sie nicht möchte, dass das Ding während der Aufführung klingelt. Zuhause hat sie ja ihr drahtloses Telefon mit den einprogrammierten Nummern. Manchmal vergisst sie es auf die Ladestation zu legen, sodass am nächsten Tag der Akku leer ist; das ärgert sie dann. Aber ein Notfallknopf kommt ihr erst mal nicht ins Haus; wer weiß, wer da kommt, wenn man den Notruf betätigt? Und außerdem braucht sie ihn noch nicht. Froh ist sie aber über ihren Fernseher, mit dem sie so viele Programme empfangen kann, dass sie immer etwas Passendes für sich findet. Genauso ist es mit dem Radio.

     Wenn sie nachher zum Markt geht wird, sie hin zu Fuß gehen, aber zurück dann doch mit dem Bus fahren, auch wenn es ganz schön teuer ist. Das ist leichter mit dem schweren Gepäck, jedenfalls wenn man erst mal sitzt. Bis dahin ist es jedes Mal ein Abenteuer. Schafft sie es bis zum Sitzplatz, bevor der Bus losfährt? Vielleicht ist wieder die nette Fahrerin da, die extra wartet, bis Frau Schulz sitzt; warum das die anderen Fahrer nicht auch können?

     Manchmal findet Frau Schulz es anstrengend, dass viele Mitfahrer laut Musik hören oder telefonieren; das macht sie manchmal ganz unruhig mit den vielen verschiedenen Geräuschen. Aber als letzte Woche ein Bus ausfiel und ein junger Mann für sie in seinem Handy nachgesehen hat, wann der nächste fährt, war sie fasziniert, wie flink junge Leute mit dieser neuen Technik umgehen. Praktisch findet sie auch die digitalen Anzeigetafeln, die es mancherorts gibt, die einem genau sagen, wie lange man noch warten muss.

     Zuhause stürzt sie sich in die Vorbereitungen für den Besuch. Sie hat ja schon viele Neuerungen im Haushalt miterlebt in ihrem Leben und kennt noch das Waschen ohne Maschine und das Kochen mit Kohle. Aber ihr neuer Herd ist richtig schlau. Zwar hat es eine Weile gebraucht, bis sie alles verstanden hat mit Vorwahl und Abschaltung usw., aber jetzt möchte sie ihn nicht mehr missen. Nun wartet sie darauf, dass der zweite Kuchen fertig wird und gönnt sich eine Pause mit einer Tasse Kaffee. Ihre Küche ist zwar klein und eng, aber Frau Schulz sitzt gern hier. Weil es warm ist, weil sie von der Bank aus rausgucken kann auf die Straße, weil sie alles griffbereit hat, was sie braucht, weil hier immer schon ihr ganz persönliches Reich war, ja und auch weil das früher immer der Ort war, an dem viel los war, mit den Kindern, mit dem Mann, mit den Nachbarn aus dem Haus. Heute sitzt sie allein hier. Manchmal ist ihr dann eng ums Herz und sie wird wehmütig. Das gehört wohl auch dazu. Aber eigentlich möchte sie auf die Erinnerungen nicht verzichten, es ist doch eben ihr Leben mit allen schönen und traurigen Dingen darin.

     Frau Schulz sieht aus dem Fenster. Es wird Frühling, die Sonne steht schon wieder höher jetzt. Der Kioskbesitzer gegenüber stellt schon seine Tische raus, vielleicht zu optimistisch. Wie viele Frühlinge wird sie hier wohl noch wohnen? Eins ist klar, in ein Heim möchte sie auf gar keinen Fall, das hat sie zu Genüge mitbekommen bei ihrem Mann. Aber was tun, wenn es einmal nicht mehr geht zuhause? Es gibt jetzt auch in ihrem Stadtteil »Betreutes Wohnen«. Das klingt nicht so schlecht, aber eigentlich weiß Frau Schulz gar nicht genau, was sich dahinter verbirgt, und sie will es auch gar nicht wissen. Aber sie weiß auch, dass sie sich damit beschäftigen sollte. Jedenfalls solange sie es noch selbst tun kann und auch damit sie niemandem damit zur Last fällt. Wenn sie wenigstens hier im Stadtteil bleiben könnte und nicht woandershin müsste, das wäre ja auch schon ganz gut. Ihre Enkelin hat ihr vorgeschlagen, sich einen Computer mit Internetanschluss anzuschaffen, weil man damit so viel tun könne. Aber braucht sie das denn? Die Enkelin, die bald für ein Praktikum ins Ausland geht, hat ihr erklärt, dass man »online« telefonieren und sich dabei gegenseitig sehen könne. Das wäre natürlich toll. Aber ob sie das hinbekommen würde? Man könne auch über das Internet einkaufen und viele Informationen nachsehen. Beim Einkaufen hätte Frau Schulz zu viele Bedenken und außerdem geht sie ja gerne auf den Markt, weil sie da bekannte Leute trifft. Und zudem kostet so ein Computer ja auch eine Menge Geld und das Internet soll ja auch nicht sicher sein. Ganz zu schweigen, wenn was nicht funktioniert oder kaputtgeht. Wer hilft mir dann weiter? Genauso wie diese elektronischen Bücher. Da hat Frau Schulz lieber ein herkömmliches Buch, bei dem man noch richtig die Seiten umblättern kann. Auch wenn man mit so einem elektronischen Buch sicherlich die Schrift vergrößern könnte.

     Die alte Eieruhr, die Frau Schulz von ihrer Mutter geerbt hat, läutet. Der zweite Kuchen ist fertig. Ach, wenn doch alles so bleiben könnte, wie es jetzt ist – wenigstens noch ein Weilchen.

Ein kleiner fiktiver Ausschnitt aus dem Handeln, Denken und Fühlen einer allein lebenden, privat wohnenden älteren Frau, der so oder ähnlich heute vorkommen könnte und drei Dinge aufzeigt:

•  Erstens, wie verwoben Menschen mit ihren räumlich-technisch-medialen Umwelten sind, unabhängig vom Alter: Wir alle nutzen täglich Dinge um uns herum, die der Alltagsgestaltung dienen. Wir bewältigen wiederkehrende Aufgaben, vom Aufstehen über die Selbstpflege bis hin zur Zubereitung von Mahlzeiten oder zum Einkaufen. Wir bewegen uns drinnen und draußen, wir bekommen Besuch, telefonieren und benutzen Haushaltsgeräte, wir sehen aus dem Fenster und wir lehnen uns in unserem Lieblingssessel zurück und schließen die Augen – immer sind wir dabei aber im Austausch mit der Umwelt.

•  Zweitens zeigt der Ausschnitt auch, wie sehr räumliche, technische und mediale Umwelten miteinander verwoben sind. Technische Geräte sind Alltagsgeräte, ihre Intelligenz schlummert häufig unter der sichtbaren Oberfläche. Wohnen heißt nicht nur, sich in Räumen aufzuhalten, sondern auch zu handeln, indem wir Geräte nutzen, drinnen den Herd oder den Wecker, draußen den Fahrstuhl oder den Bus. Medien – im Sinne technischer Geräte zur Kommunikation – begleiten uns nahezu den ganzen Tag; ob Fernsehen, Radio, Zeitung, Internet im Haus oder Mobiltelefon und Autoradio unterwegs.

•  Und drittens zeigt der Ausschnitt, dass wir uns nicht immer bewusst sind über Zusammenhänge von räumlich-technisch-medialer Umwelt und dem, was gutes Leben und gutes Altern ausmachen kann, also z. B. Wohlbefinden, Selbstständigkeit und Lebensqualität. Wann geht es uns gut im höheren Alter, was ist dafür verantwortlich, was ist hinderlich, wo liegen die Ursachen? Kann man wirklich sagen, es geht einer Person besser, seit sie eine neue Küchenausstattung hat, seit der Hausnotruf installiert wurde, seit das Handy draußen immer mitgeführt wird? Können Interventionen im Wohnbereich älterer Menschen helfen, das Wohlbefinden zu stärken, Selbstständigkeit zu erhalten oder gar Stürze zu verhindern oder einen Auszug aus der bisherigen Wohnung zu vermeiden? Und hat das Wohnerleben wirklich eine Bedeutung für die eigene Stimmung, kann das Gefühl der Zugehörigkeit zur Nachbarschaft helfen, anders auf die eigene Wohnzukunft zu blicken?

Und noch ein weiteres soll uns dieses Fallbeispiel für das ganze Buch geben – nämlich Hilfestellung bei der notwendigen theoretischen Orientierung, ohne die man sich schnell in den Alltäglichkeiten und Unübersichtlichkeiten von Person-Umwelt-Beziehungen verlieren kann. Dazu möchten wir die »theoretische Kompassnagel« in dreifacher Hinsicht ausrichten und diese theoretische Dreiperspektivität bei allen weiteren Themen, die in diesem Buch behandelt werden, nutzen, um (1) die unterschiedlichen Themen miteinander zu verknüpfen und aufeinander zu beziehen und (2) die Unterschiedlichkeit dessen, was heute Person-Umwelt-Beziehungen im Alter ausmacht, prägnant zu unterstreichen:

•  Das Modell des Person-Umwelt-Austauschs, das insbesondere zwei Prozesse im Bereich des umweltbezogenen Verhaltens (Agency) und im Bereich des umweltbezogenen Erlebens (Belonging) beschreibt und damit zwei Grundformen unserer Beziehung zur Umwelt (und deren Folgen) fokussiert, nämlich zielgerichtete Umweltveränderung und das Auskosten (manchmal auch Ertragen) kognitiv-emotionaler Umweltbezüge.

•  Die Theorie der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK), für die Umweltaspekte eine oftmals vernachlässigte Rolle im »Adaptationsorchester« spielen.

•  Das Konzept der Mediatisierung, das darauf abhebt, dass unsere Umwelten nicht konstant, sondern massiven Veränderungen unterworfen sind, wie etwa der Digitalisierung.

2.1        Erste Meta-Perspektive: Person-Umwelt-Austausch (P-U-Austausch)

Wir schlagen im Folgenden das Modell des Person-Umwelt-Austauschs (Agency & Belonging) als ein konzeptuelles Rahmenmodell der ökologischen Gerontologie vor (Images Abb. 2.1), das auf vielfältige Prozesse des Person-Umwelt-Austauschs und auf Folgen dieser Prozesse abhebt.

Images

Abb. 2.1: Rahmenmodell zum Person-Umwelt-Austausch im höheren Alter (nach Wahl et al., 2012)

Im Modell werden zwei Prozessklassen unterschieden: Einerseits geht es in Anlehnung an Überlegungen von Oswald und Wahl (2003, 2005), Wahl und Oswald (2010a, 2010b), Wahl und Lang (2004) sowie Wahl, Iwarsson und Oswald (2012) um erlebensbezogene Prozesse der Bewertung, Bedeutungszuschreibung und Bindung bzw. Verbundenheit mit dem jeweiligen Umweltausschnitt, was als Belonging bezeichnet wird. So fühlt sich beispielsweise Frau Schulz in ihrer Wohnung, in der sie seit Jahrzehnten lebt, sehr wohl, kennt jede Ecke und jeden Schritt und möchte in dieser so lange wie möglich wohnen bleiben. Auch vermitteln ihr die seit Jahrzehnten genutzten Fernseh- und Radioprogramme und die abonnierte Regionalzeitung ein Gefühl von Alltagsorientierung, Gewohnheit und gesellschaftlicher Teilhabe. Ansätze und Konzepte wie Umweltzufriedenheit, -identität und -verbundenheit lassen sich diesen Belonging-Prozessen ebenso zuordnen wie der erlebte Umweltstress. Frau Schulz scheint zum Beispiel mit ihrer Wohnungsausstattung genauso wie mit ihrer Nachbarschaft und ihrem Stadtteil zufrieden zu sein; sie fühlt sich diesen verbunden, hat Freude, dem Kiosk-Besitzer zuzuschauen und auf den Markt zu gehen. Dennoch klingen auch Bereiche von Umweltstress an; so deutet Frau Schulz an, dass sie die Wohnung möglicherweise verlassen muss, wenn sich weitere Funktionseinbußen bemerkbar machen sollten, oder sie schildert, dass ihr die Fahrkartenautomaten für Busfahrten Schwierigkeiten bereiten. Ebenso bleiben ihr all die neuartigen Medien wie Computer, Internet oder elektronisches Lesegerät fremd, auch wenn ihre alte Schulfreundin und deren Mann davon schwärmen, welche Vorzüge diese mit sich brächten. Neben den Belonging-Prozessen sind die sogenannten Prozesse des Agency angeführt, worunter Prozesse der verhaltensbezogenen Aneignung, Nutzung, Auseinandersetzung und Veränderung bzw. der nur teilweise möglichen Kompensation mit Umwelt im Alter verstanden werden. Im Beispiel von Frau Schulz handelt es sich beim Fahrstuhl beispielsweise um eine Technik, die die nachlassende Fähigkeit, Treppen zu steigen, kompensiert. Dass Frau Schulz sich die Umwelt aneignet und diese nutzt, wird bspw. daran deutlich, dass sich Frau Schulz mit dem neuen Herd und dem Mobiltelefon auseinandersetzt, dass sie Fernseher und Radio genauso nutzt wie die öffentlichen Verkehrsmittel. Dass das durch eine bestimmte Umwelt zur Verfügung gestellte Angebot jedoch auch Grenzen hat, verdeutlichen Frau Schulz’ Gedanken zum Umzug ins Betreute Wohnen. Ebenso nutzt sie den von den Kindern zu Weihnachten geschenkt bekommenen Videorekorder nicht selber, allein schon wegen der unverständlichen Fernbedienung. Zum Glück hat sie ihren Enkel immer zur Seite, wenn sie Probleme mit ihren technischen Geräten hat – wie zuletzt, als er ihr am Fernseher half, eine eigene Senderliste festzulegen. Mit der Wechselwirkung von Umweltangeboten und Kompetenzen der Personen beschäftigen sich Modelle der ökologischen Gerontologie, wie bspw. das Umweltanforderungs-Kompetenz-Modell (Lawton & Nahemow, 1973).

Schließlich wird im Rahmenmodell angenommen, dass Umweltprozesse zu bestimmten Folgen der Entwicklung im Alternsverlauf führen. Zu betonen sind hier vor allem zwei grundlegende Aspekte, die den beiden eben thematisierten Prozessgruppen innewohnen. Zum Ersten ist davon auszugehen, dass Belonging-Prozesse vor allem zur Aufrechterhaltung von Identität bzw. identitätsrelevanter Persönlichkeitsaspekte im höheren Lebensalter beitragen. Die Frage »Wer bin ich?« wird nicht zuletzt auch aus Antworten mit unmittelbarem Umweltbezug wie »Ich wohne jetzt im Heim« oder wie – im Falle von Frau Schulz – »Ich wohne noch in meinen eigenen vier Wänden«, »Fernsehen ist mein ›Fenster zur Welt‹« oder »Ich kann noch alleine auf den Markt gehen« beantwortet. Allerdings ist festzustellen, dass ein solches »ökologisches Selbst« (Neisser, 1988) in der Entwicklungspsychologie des höheren Lebensalters bislang eher wenig erforscht wurde (z. B. Fuhrer & Josephs, 1998; Fuhrer & Laser, 1997; Kruse & Wahl, 1999; Staudinger, Freund, Linden & Maas, 1996) bzw. aus Sicht der Ökologischen Psychologie Aspekte des Belonging in Bezug auf ältere Menschen eher selten thematisiert werden (Born, 2002; Habermas, 1999; Hormuth, 1990).

Zum Zweiten ist davon auszugehen, dass Agency-Prozesse des Person-Umwelt-Austauschs in entscheidender Weise die Autonomie im Alter beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist an Arbeiten zur Alltagskompetenz zu denken, in denen neben sozialen auch räumlich-dingliche sowie technische und mediale Umwelten