Bleibt in mir …
Kontemplativ leben im Alltag
2. Auflage
© 2014 Adamas Verlag GmbH, Köln
Paulistraße 22, D-50933 Köln
www.adamasverlag.de
Umschlaggestaltung: Ignaz Brosa
unter Verwendung des Bildes
›Christus und Johannes‹
Heiligenkreuztal, um 1310
eISBN 978 3 937626 93 2
Zur Einführung
I. Kapitel
Die Allgemeine Berufung zum kontemplativen Leben
1.Was heißt »kontemplatives Leben«?
2.Gott wohnt in uns
3.Wir leben im dreifaltigen Gott
4.Kontemplatives Leben ist möglich
II. Kapitel
Voraussetzungen für das Gebet
1.Entschiedenheit
2.Sehnsucht nach Heiligkeit
3.Innere Freiheit
4.Hingabe an Gott
III. Kapitel
Die Gebetszeit
1.Der Anfang der Gebetszeit – die Sammlung
2.Ausdrucksformen des Gebets
3.Mündliches Gebet (oratio)
4.Betrachtendes Gebet (meditatio)
5.Inneres Gebet (contemplatio)
Wesen des inneren Gebets
Wege zum inneren Gebet
Kontemplatives Gebet als Geschenk
Zwiesprache des Schweigens
Inneres Gebet in der Dynamik der Liebe
»Vor allem strebt nach der Liebe!«
IV. Kapitel
Schwierigkeiten und Läuterung im Gebet
1.Zerstreuungen
2.Versuchungen
3.Trockenheit
V. Kapitel
Kontemplativ leben im Alltag
1.»Stoßgebete«
2.Der Lobpreis
3.Das Herzensgebet
4.Gebete zum alltäglichen Tun
5.Aufmerksamkeit für Momente der Gnade
6.Kontemplativ in der Aktion
7.Herzensverbundenheit
VI. Kapitel
Wirkungen des kontemplativen Lebens
1.Vertiefung des sakramentalen Lebens
Die Beichte
Die Eucharistie
2.Effektives Handeln
3.Leben im Heiligen Geist
Liebe
Freude
Friede
Zum Abschluss
»Wer bittet, der empfängt« (Lk 9, 10)
Anmerkungen
»Betet ohne Unterlass!« (1 Thess 5, 17). Was für eine ungeheure Aufforderung! Auf der einen Seite scheint das, was Paulus hier den Christen in Thessaloniki schreibt, heute gänzlich weltfremd zu sein. Wie soll das gehen im modernen Leben, in dem wir von früh bis spät von zig Aufgaben gefordert sind? »Allezeit beten«, das können vielleicht einige Mönche praktizieren, die abgeschieden von der Welt leben – aber wir? Auf der anderen Seite schreibt Paulus nicht an ein Mönchskloster, sondern an Christen, die mitten in der Welt leben. Und vielleicht spüren auch wir: Gebet ist mehr, als nur hin und wieder einige Worte gen Himmel schicken. Das Leben des Gebetes besteht, wie der Katechismus schreibt, darin, »dass wir immer in Gegenwart des dreimal heiligen Gottes und in Gemeinschaft mit ihm sind« (KKK 2565). Das ist letztlich unsere Berufung als Christen: die Liebe Gottes zu empfangen und aus ihr zu leben, nicht nur ab und zu, sondern in jedem Moment unseres Lebens. Nichts anderes ist das »Gebet ohne Unterlass« bzw. das »kontemplative Leben«: Jeden Augenblick unseres Lebens in der Gegenwart Gottes zu leben und uns nie von seiner Liebe zu trennen. Die Frage ist nur: Wie ist das möglich? Oft genug machen wir die Erfahrung, dass uns der Alltag mit all seinen Anforderungen ganz in Beschlag nimmt und wir es nicht schaffen, in der Gemeinschaft mit Gott zu bleiben – obwohl wir es eigentlich wollen und uns darum bemühen. Das »Gebet ohne Unterlass« – ein unerreichbares Ziel?
Jesus selbst lehrte seine Jüngern, sie sollten »allezeit beten« (Lk 18, 1). Wir wissen, dass er nichts von uns fordern kann, was von vornherein unmöglich ist. Vom Wort Jesu gilt, was das Alte Testament von der Thora sagt: »Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir« (Dtn 30,11). Auch der Katechismus bekräftigt: »Beten ist immer möglich.«1
Wie es gelingen kann, »kontemplativ zu leben«, d.h. aus unserem Leben immer mehr ein »Gebet ohne Unterlass« (vgl. 1 Thess 5, 17) werden zu lassen, darum soll es in diesem Büchlein gehen. In meinen Ausführungen stütze ich mich u.a. auf den Katechismus der Katholischen Kirche, dessen vierter Teil ausschließlich dem Thema des Gebets gewidmet ist, und auf die Wegweisungen, die uns die großen Lehrer des Gebets gegeben haben.
Das Wort »kontemplativ« hat verschiedene Bedeutungen. »Contemplari« heißt, wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt: anschauen, betrachten. Im geistlichen Sinn ist damit ein inneres Betrachten gemeint: auf einzelne Glaubensgeheimnisse oder einfach auf Gott selbst schauen. Kontemplativ leben bedeutet also der Wortbedeutung nach zunächst ein Leben, in dem wir Gott nicht aus dem Blick verlieren, sondern – wie es der Psalmbeter ausdrückt – ihn »beständig vor Augen« haben (vgl. Ps 16, 8).
Ausgehend von dieser Grundbedeutung wird der Begriff »kontemplativ« dann in unterschiedlicher Bedeutung verwendet: Manchmal spricht man von »kontemplativen Klöstern« und meint damit Orden, die sich in die Einsamkeit und Stille zurückziehen, um ganz für das Gebet zu leben. »Kontemplation« steht auch für eine bestimmte Form des Gebets, nämlich für das schweigende innere Gebet, das nach dem Katechismus den »Höhepunkt des Betens überhaupt« (KKK 2714) darstellt. In einem weiteren Sinn steht das kontemplative Leben für das Gebetsleben überhaupt: für ein Leben im ständigen Vereintsein mit Gott. In diesem Sinne soll es, wenn nicht näher spezifiziert, im Folgenden gebraucht werden.
Im kontemplativen Leben liegt ein Schlüssel für das christliche Leben. Wenn sich unser Glaube nur auf das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen oder das Einhalten von Moralgesetzen beschränkt, sind wir noch nicht zum Wesentlichen durchgedrungen. »Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch!« (Joh 15, 4). Jesus geht es um eine Lebenseinheit, ein Leben in immer tieferer Einheit der Liebe mit ihm und durch ihn mit dem dreifaltigen Gott. Zum kontemplativen Leben in diesem Sinn sind wir alle gerufen, ob wir in einem abgeschiedenen Kloster leben oder mitten in der Welt.
»Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein« (Joh 17, 21). Nach dem Vorbild der trinitarischen Liebe zwischen Vater und Sohn sollen auch wir einswerden mit Jesus, und durch ihn im Heiligen Geist eins mit dem Vater. Liebe in ihrer höchsten Vollendung, in der Trinität, führt zum wechselseitigen Im-anderen-Sein, d.h. dahin, in der Dynamik der Liebe ganz an den anderen hingegeben zu sein und ihn gleichzeitig ständig in mir zu empfangen. Zu solchem Einssein in der Liebe ruft uns Jesus!
Kontemplativ leben bedeutet, in jedem Moment unseres Lebens unser Herz auf ihn, Christus, auszurichten. Unser Herz beständig offen und empfangsbereit zu halten für ihn, für sein Licht und seine Liebe, für den Heiligen Geist, der ohne Unterlass von ihm ausströmt. Und zwar nicht nur in der Gebetszeit, sondern auch in all unserem Tun. Kontemplatives Leben besteht darin – wie es schon die Kirchenväter im biblischen Bild ausgedrückt haben –, den Geist Marthas mit dem der Maria zu verbinden: auch im äußerlichen Tun ganz beim Herrn zu bleiben und zu seinen Füßen zu ruhen (vgl. Lk 10, 38-42).
»Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen« (Joh 14, 23). Wir sind Wohnung der heiligsten Dreifaltigkeit! Seit der Taufe wohnt der dreifaltige Gott in uns. Die Heiligen berichten uns von der lebendigen Erfahrung dieser Gegenwart Gottes in uns. Augustinus schreibt: »Du warst in mir und ich außerhalb von mir und habe dich dort gesucht … Du warst mit mir, aber ich war nicht mit dir.«2 Im 16. Jahrhundert nimmt Teresa von Avila dieses Wort des heiligen Augustinus auf und fügt hinzu: »Da, wo Gott ist, ist der Himmel. Bedenkt also, was der heilige Augustinus sagt, der Gott überall suchte und ihn in seinem Inneren fand … Mir scheint, wenn ich begriffen hätte, wie ich es heute tue, dass in diesem winzigen Palast meiner Seele ein so großer König wohnt, dann hätte ich ihn nicht so oft alleine gelassen und mich von Zeit zu Zeit bei ihm aufgehalten.«3 Teresa spricht von der Seele als »innerem Königsschloss«: In unserem Innersten wohnt die heiligste Dreifaltigkeit, und der Weg des Gebets ist ein Weg immer tiefer in unsere Seele hinein bis dorthin, wo Gott wohnt und uns an seinem dreifaltigen Leben teilhaben lässt.4 »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5, 5). Durch den Heiligen Geist, der uns in der Taufe geschenkt wurde, wohnt Gott in uns. Er ist die Quelle des göttlichen Lebens. »Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zur sprudelnden Quelle, deren Wasser ewiges Leben schenkt« (Joh 4, 14). Kontemplativ leben ist die Kunst, ständig zu trinken aus dieser Quelle, die immer fließt. Der Heilige Geist »sprudelt« in uns, aber allzu oft suchen wir (vergeblich) draußen nach dem Wasser, das unseren Durst stillt. Ohne Verbindung zu dieser inneren Quelle vertrocknet unser Leben. Das kontemplative Leben ist das Leben aus dem Heiligen Geist, der in uns wohnt. Der Heilige Geist ist der Geist der Liebe des Vaters und des Sohnes. Er ist ständig Empfangen der Liebe und Sich-schenken in Liebe. Er führt uns hinein in die Lebens- und Liebesgemeinschaft des dreifaltigen Gottes und lässt uns in ihr bleiben.
»Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch!« (Joh 15, 4). Gott wohnt in uns, aber auch wir wohnen in Gott – nicht erst nach unserem Tod, sondern schon jetzt. In Jesus und durch ihn in der Liebe des dreifaltigen Gottes bleiben – das ist der Himmel. Freilich, erst im ewigen Leben wird dieses Einssein in der Liebe vollendet sein. Aber schon jetzt ist es wirklich. Es wurde grundgelegt in der Taufe. Im Gebet treten wir ein in diese geistliche Realität des Lebens im dreifaltigen Gott. »Die Gnade des Gottesreiches ist ›die Vereinigung der ganzen heiligsten Dreifaltigkeit mit dem ganzen Geist des Menschen‹ (Gregor von Nazianz, or. 16, 9). Das Leben des Gebetes besteht somit darin, dass wir immer in Gegenwart des dreimal heiligen Gottes und in Gemeinschaft mit ihm sind« (KKK 2565). Im kontemplativen Leben haben wir also bereits Anteil am himmlischen Leben! Gott hat uns »mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben« (Eph 2, 6). Der Vers steht in der Vergangenheitsform, das heißt, es ist schon geschehen!
Wenn wir diese Glaubenswahrheit ernstnehmen, entfernt uns das keineswegs von der Erde. Schon anfanghaft im Himmel zu leben ist kein Widerspruch dazu, ganz in der Welt zu sein, im Gegenteil. Das Leben im Herzen Gottes führt uns erst hinein in das Herz der Welt. Wenn uns die Liebe des Herrn erfüllt, werden wir mitlieben mit ihm. »So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn hingegeben hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben« (Joh 3, 16). Je mehr wir mit dem Herrn vereint sind in der Liebe, um so mehr werden wir an seiner Sehnsucht Anteil nehmen, »dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen« (1 Tim 2, 4). »Aus der Anbetung entsteht das Mitleiden und die Sehnsucht zu evangelisieren.«5 Ohne das kontemplative Leben laufen wir nur allzu leicht Gefahr, uns in unsere eigene kleine egoistische Welt zurückzuziehen. Ein Leben »in Gemeinschaft mit Christus im Himmel« (Eph 1, 3) dagegen führt uns über unser kleinliches Ego hinaus zu denen, die unsere Liebe und das Wort der Verkündigung brauchen.
»Betet ohne Unterlass!« (1 Thess 5, 17). Wir sind versucht, spontan zu denken: »Das ist unmöglich.« Vielleicht haben wir es auch eine Zeit lang versucht. Aber das alltägliche Leben mit seinen Anforderungen und Ablenkungen lässt uns immer wieder abschweifen von der inneren Sammlung auf Gottes Gegenwart. Wir haben den Eindruck, dass wir zu einem solchen immerwährenden Gebet nicht fähig sind. Und deshalb geben wir auf.