Handbuch der Kinderstimmbildung

Andreas Mohr

Handbuch der Kinderstimmbildung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Bestellnummer SDP 58

ISBN 978-3-7957-8606-9

© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 8704

© 1997 und 2013 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

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Inhalt

Vorwort

Teil I: Methodik der Kinderstimmbildung

1.Physiologie der Kinderstimme

1.1Überblick über die Physiologie der Singstimme

1.2Unterschiede der Physiologie der Kinderstimme zur Erwachsenenstimme

1.3Klanglichkeit der Kinderstimme

1.4Umfang der Kinderstimme

1.5Mutation

2.Fähigkeiten der Kinderstimme

2.1Veranlagung

2.2Defizite

2.3Stimmfehler

3.Lehrformen

3.1Gruppenunterricht

3.2Einzelunterricht

3.3Bildhaftes Unterrichten

4.Lehrinhalte

4.1Inhalte des Anfängerunterrichts

4.2Interpretatorisches

5.Werkzeuge der Stimmbildung

5.1Vokale

5.2Konsonanten

5.3Musikalisches Material

6.Systematik stimmbildnerischer Übungen

6.1Atemlehre

6.2Randschwingungsfördernde Übungen

6.3Artikulationslockernde Übungen

6.4Übungen für den Vokalausgleich

6.5Übungen für das Legato

6.6Übungen für die Höhe

6.7Übungen für die Tiefe

7.Systematik des chorischen Einsingens

7.1Begründungen für die Notwendigkeit des Einsingens

7.2Bestandteile des Einsingens

7.3Spezielle Formen des Einsingens

Teil II: Übungen zur Kinderstimmbildung

8.Körperhaltung

8.1Technische Übungen

8.2Verpackte Übungen

8.3Übungen mit dem Gymnastikball

8.4Übungslieder

9.Atmung

9.1Technische Übungen

9.2Verpackte Übungen

9.3Übungslieder

10.Resonanzweckung im Kopf, Vokalisation und Vokalausgleich

10.1Technische Übungen

10.2Verpackte Übungen

10.3Übungslieder

11.Lockerung der Artikulation und Vordersitz

11.1Technische Übungen

11.2Verpackte Übungen

11.3Übungslieder

12.Lockerung der tiefen Lage

12.1Technische Übungen

12.2Verpackte Übungen

12.3Übungslieder

13.Höhentraining

13.1Technische Übungen

13.2Verpackte Übungen

13.3Übungslieder

14.Förderung der Randschwingung und des Legatos

14.1Technische Übungen

14.2Verpackte Übungen

14.3Übungslieder

15.Staccato und Koloratur

15.1Technische Übungen

15.2Verpackte Übungen

15.3Übungslieder

16.Dynamik

16.1Technische Übungen

16.2Verpackte Übungen

16.3Übungslieder

17.Einsatzmöglichkeiten des Kanons

17.1Der Kanon als kombinierte Stimmbildungsübung

17.2Der Kanon als suggestives Klangmittel

17.3Der Kanon als Verpackung für stimmtechnische Detailübung

Literatur

Verzeichnis der Lieder

Sachregister

Vorwort

Dieses Buch wendet sich an alle, die mit Kindern singen. Sie stehen in einer großen Verantwortung, denn kaum ein Organsystem im menschlichen Körper ist so bereitwillig der Beeinflussung geöffnet wie die menschliche Stimme. Dies gilt in besonderem Maße für die Kinderstimme, da Kinder ja bedenkenlos alles imitieren, was ihnen vorgemacht wird.

Der methodische Teil des vorliegenden Buches richtet sich in erster Linie an Stimmbildner*, Sänger und Chorleiter sowie Studierende, aber auch an Schulmusiker, Kirchenmusiker und Lehrer für Elementare Musikpädagogik (musikalische Früherziehung und Grundausbildung).

Der Übungsteil zeigt Möglichkeiten auf, wie die methodischen Überlegungen in praktische Stimmbildungsarbeit mit Kindern umgesetzt werden können. Dem Stimmbildner werden Beispiele vorgestellt, die er kritisch hinterfragen und seinem Repertoire hinzufügen oder als Anregungen zu eigener Erfindung verwenden kann. Dem nebenberuflichen Chorleiter, dem Erzieher und allen, die nicht über die entsprechende Ausbildung verfügen, ist die Übungssammlung eine Hilfe für das richtige Umgehen mit der Kinderstimme.

Kein Buch kann die praktische Unterweisung ersetzen. So sei an dieser Stelle mit besonderem Nachdruck auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit zur beruflichen Fortbildung und außerberuflichen Weiterbildung hingewiesen. Kurse, Workshops und Vorträge werden von verschiedenen Trägern veranstaltet. Diese Angebote zu nutzen sollte selbstverständlich sein für alle, die Verantwortung für die Kinderstimme übernommen haben.

In dieses Buch sind Ergebnisse aus vielen Jahren stimmbildnerischer Tätigkeit bei Kinder- und Jugendchören eingeflossen, aber auch Anregungen aus einer Fülle von Gesprächen und Diskussionen mit Kollegen und Studenten, die ich namentlich hier nicht alle nennen kann. Ihnen gebührt mein aufrichtiger Dank. Besonders danken aber möchte ich meinem Kollegen Christoph Schwartz, der durch seine fachliche Beratung bei den Überlegungen zur Notation von Stimmbildungsübungen und seine freundliche Anteilnahme und Bereitschaft zum klärenden Gespräch erheblich zum Gelingen beigetragen hat. Danken möchte ich auch meiner ehemaligen Studentin Elisabeth Weber, die einige ihrer Stimmbildungslieder zu diesem Buch beigesteuert hat. Nicht zuletzt gebührt mein Dank meiner Frau Gertrude Wohlrab, nicht nur für ihre fachliche Hilfe bei Texten, Übungen und Liedern, sondern vor allem für ihren freundlichen Zuspruch und die stets gewährte Anerkennung.

In der vorliegenden Neuauflage habe ich die Gelegenheit genutzt, einige die Physiologie der Stimme betreffende Textstellen im 1. Teil, die in der Diskussion mit Medizinern und Physiologen zu Mißverständnissen Anlaß gaben, sprachlich präziser zu fassen. Dabei bin ich besonders Frau Professor Dr. Annerose Keilmann von der Universität Mainz zu Dank verpflichtet.

Osnabrück, im Februar 2003
Andreas Mohr

*   Begriffe wie »Stimmbildner«, »Sänger«, »Chorleiter« etc. sind im gesamten Buch geschlechtsneutral verwendet.

Teil I: Methodik der Kinderstimmbildung

1.Physiologie der Kinderstimme

Die Kinderstimme weist grundsätzlich dieselben anatomischen und physiologischen Merkmale auf wie die Erwachsenenstimme. Im ersten Teil dieses Kapitels möchte ich insbesondere die für das Verständnis der Eigenarten der Kinderstimme notwendigen stimmphysiologischen Zusammenhänge in aller Knappheit darstellen, um für die folgenden Kapitel eine einheitliche Terminologie gewährleistet zu wissen. Wer über die allgemeine Anatomie und Physiologie der Singstimme weiterführende Informationen erhalten möchte, sei auf die im Literaturverzeichnis genannten Abhandlungen verwiesen.

1.1Überblick über die Physiologie der Singstimme

Die Singstimme – das Gesanginstrument – besteht aus einer Vielzahl von anatomisch-physiologischen Einzelkomponenten, die zu einem höchst komplizierten Funktionsablauf verbunden sind; dieser ist durch eine Fülle von Wechselwirkungen gekennzeichnet. Zur besseren Darstellbarkeit soll diese Einheit hier in drei anatomisch-physiologische Aufbausysteme zerlegt werden: das Atemsystem, das Tonerzeugungssystem und das Tonverstärkungssystem.

1.1.1Das Atemsystem

Die Lunge1 stellt einen Behälter für die Atemluft dar, umschlossen vom Brustkorb und mit Hilfe der Atemwege an die Außenluft angeschlossen. Verschiedene Muskulaturen können das Volumen des Brustkorbs vergrößern und verringern. Da das Lungengewebe den Brustkorbbewegungen beständig folgt, nimmt so auch die Luftmenge in den Lungen zu oder ab. Völliges Ausatmen ist physiologisch unmöglich; ca. ein Drittel der eingeatmeten Luft bleibt immer in den Lungen, um ein Zusammenkleben der Lungenbläschen (Alveolen) zu verhindern.

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Abb. aus: Frederick Husler/Yvonne Rodd-Marling, Singen, Mainz21978, S. 56, 61

Einatmung

Die Zwerchfellmuskulatur2 spannt sich an, verkürzt sich dadurch und senkt die im entspannten Zustand nach oben gewölbte Zwerchfellkuppel. Die Erweiterung des Lungenraumes erfolgt bei dieser Bewegung des Zwerchfells besonders in den unteren Regionen des Brustkorbs. Durch den wegen der Raumerweiterung in den Lungen entstandenen Unterdruck strömt Luft in die Lungen ein.

Die äußere Zwischenrippenmuskulatur spannt sich an und bewegt die Rippen voneinander weg. Gleichzeitig spannen sich die Brustmuskeln an und heben das Brustbein. Dadurch kommt es zu einer Brustkorberweiterung besonders im oberen Bereich. Das Lungengewebe wird gedehnt und so der Lungenhohlraum vergrößert. Wieder bedingt durch den oben erwähnten Unterdruck, kann Luft durch die Atemwege in die Lungen einströmen.

Die hier getrennt beschriebenen Vorgänge bilden eine physiologische Einheit, die den Gesamtvorgang der Einatmung ausmacht (Kostal-Abdominal-Atmung). Sie kann vielfältig gestört sein und bedarf für das Singen einer sorgfältigen Pflege.

Ausatmung

Die zum Zweck der Einatmung produzierte Kontraktion der Zwerchfellmuskulatur löst sich. Dadurch kommt es zu einer Rückführung der Zwerchfellkuppel nach oben, weil das gedehnte Lungengewebe seinem Drang »zusammenzuschnurren« nachgeben kann. Diese Kraft des Lungengewebes nennt man den »Retraktionszug« der Lunge. Es handelt sich hierbei nicht um eine Muskelanspannung, sondern lediglich um die Auswirkung der Gewebeelastizität. Aus dem kleiner werdenden Lungenhohlraum wird die Luft ausgepreßt. Die Auspreßbewegung kann durch die Bauchmuskulatur noch verstärkt werden, indem sie sich zusammenzieht, Magen und Eingeweide zurückdrängt und dadurch das Zwerchfell nach oben schiebt.

Nach dem Erschlaffen der beim Einatmungsvorgang gespannten äußeren Zwischenrippenmuskulatur kann durch die Eigenelastizität der Lunge im oberen Bereich des Brustkorbs eine Volumenverringerung erreicht werden. Auch die Schwerkraft, die den aufgerichteten Brustkorb wieder zusammenfallen läßt, übt einen Druck auf die Lungen aus. Beim Anspannen der inneren Zwischenrippenmuskulatur werden die Rippen aneinandergeführt. Dies bewirkt ebenfalls eine Verkleinerung des Lungenhohlraums, so daß der Atem ausströmen kann.

Natürlich stellen die einzeln beschriebenen Bewegungsvorgänge bei der Ausatmung ebenfalls eine physiologische Einheit dar. Dabei ist festzustellen, daß in der Ruheatmung, besonders im Liegen, die muskuläre Arbeit im Sinne des Energieeinsatzes bei der Einatmung ungleich größer ist als bei der Ausatmung, die weitgehend passiv (entspannend) verläuft. Um Ausatmungsbewegungen beim Singen sinnvoll einzusetzen, ist es häufig nötig, diese Vorgänge zu aktivieren und zu sensibilisieren. Die wichtigste zu erlernende Fähigkeit ist dabei die Bereitschaft, Einatmungsmuskulaturen während des Singens gespannt zu halten, um übermäßiges Luftausströmen zu vermeiden.

1.1.2Das Tonerzeugungssystem

Die Tonerzeugung der menschlichen Stimme findet im Kehlkopf statt. Hier befinden sich die zwei Stimmfalten, die beim Tonerzeugungsvorgang in Schwingung versetzt werden.

Der Kehlkopf

Als Kehlkopf bezeichnet man die beiden obersten, speziell geformten Knorpelringe der Luftröhre. In Verbindung mit Muskeln und weiteren Knorpeln, Sehnen und Knochen besitzt der Kehlkopf die Funktion einer Weiche zwischen Luft- und Speiseröhre, die beim Schlucken betätigt wird.

Schild- und Ringknorpel

Der obere Kehlkopfknorpel heißt Schildknorpel. Er ist nach oben vorne wie ein Schild gewölbt und zu einem Dreieck ausgeformt (Adamsapfel). Unter dem Schildknorpel befindet sich der Ringknorpel. Beide Knorpel sind durch eine Art Scharnier miteinander verbunden, so daß der Schildknorpel sich gegen den Ringknorpel kippen läßt.

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Abb. aus: Husler/Rodd-Marling, a.a.O., S. 33

Kehldeckel und Zungenbein

Am oberen Rand des Schildknorpels ist das Zungenbein angewachsen; hier entspringt der Zungenmuskel. Ebenfalls am Schildknorpel ist der Kehldeckel angebracht. Er senkt sich beim Schluckvorgang und verschließt die Luftröhre.

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Abb. aus: Husler/Rodd-Marling, a.a.O., S. 50

Einhängemuskulatur

Der Kehlkopf ist mit zahlreichen Muskeln im Hals eingehängt. Kehlsenkende und kehlhebende sowie den Kehlkopf nach hinten elastisch fixierende Kräfte halten sich dabei die Waage. Durch Senken wird der Kehlkopf geweitet (Gähnmuskulatur), durch Heben verengt.

Schleimhaut

Alle Knochen, Knorpel, Sehnen und Muskeln im Halsbereich sind mit Schleimhäuten überzogen, die ständig feucht gehalten werden. Störungen in der Befeuchtung der Schleimhäute nimmt man häufig als Stimmbeeinträchtigungen wahr (Heiserkeit, Trockenheit im Hals etc.).

Die Stimmfalten

Im Kehlkopf ragen zwei kräftige Muskelsysteme jeweils rechts und links vom Rand her wulstig bis in die Mitte. Es sind die Stimmfalten. Vorne sind sie innen am Schildknorpel angewachsen, hinten mit Hilfe der beiden Stellknorpel, die auf dem Ringknorpel sitzen, befestigt.

Stimmfaltenmuskulatur (Stimmlippen)

Die Stimmfalten bestehen aus jeweils zwei Muskelpaaren, die voneinander unabhängig und gemeinsam aktiviert werden und so den Muskelwulst eine massigere oder schlankere Form annehmen lassen können. Diese Muskelpaare nennt man Stimmlippen.

Stellknorpel

Die Stellknorpel können die Stimmfalten zueinander hin- und voneinander wegbewegen. Beim Wegbewegen entsteht eine waagerechte dreieckige Öffnung, beim Hinbewegen werden die Stimmfalten so einander angenähert, daß sie in der Mitte aneinanderliegen. Es entsteht die Stimmritze.

Stimmfaltenränder (Stimmbänder)

An der Stimmritze sind die Stimmfalten zu einer sehnigen Kante ausgeformt, den Stimmbändern. Diese sehnigen Ränder sind frei verschiebbar an den Muskelkörpern befestigt und können unabhängig von diesen in Bewegung geraten.

Der Schwingungsvorgang (aerodynamisch-muskuläre Tonerzeugungstheorie)

Der Vorgang der Tonerzeugung scheint seit etwa 25 Jahren relativ sicher geklärt zu sein und stellt ein Zusammenspiel von Stimmfaltenspannungen und dem Ausatmungsdruck dar. Die aneinanderliegenden Stimmfalten werden auseinandergedrängt, wenn sie dem von unten anblasenden Ausatmungsstrom keinen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen. Dadurch verringert sich der Luftdruck unter den Stimmfalten (subglottischer Druck) sofort wieder soweit, daß die Stimmfalten kraft ihrer Eigenelastizität zusammenschlagen. Sodann kann beim Nachfließen der Atemluft der subglottische Druck erneut zunehmen, so daß der Stimmfaltenverschluß wiederum aufgesprengt wird. Dieses Wechselspiel von Aufsprengen und Zuschlagen der Stimmritze wiederholt sich beim gesungenen Ton streng periodisch mit der Schwingungszahl der eingestellten Tonhöhe. Es entstehen also periodische Luftverdichtungen und -verdünnungen im Kehlraum, die sich im gesamten Atemsystem fortsetzen (Longitudinalwellen).

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Abb. aus: Husler/Rodd-Marling, a.a.O., S. 34, 36

Schwingungsvarianten

Die an den Stimmfalten erzeugte Schwingung kann auf vielfältige Weise variiert werden, wobei sich Tonhöhe, Tonstärke und Klangfarbe unabhängig voneinander verändern lassen. Dies geschieht mit Hilfe der Muskulaturen und Bewegungsmechanismen des Kehlkopfs.

Tonhöhenveränderung

Wie bei einer schwingenden Saite ist die mit der Singstimme erzeugte Tonhöhe abhängig von der Länge und Dehnung der Stimmfalten. Weiterhin spielt auch die bewegte Masse eine Rolle.

Länge und Dehnung: Durch Kippen des Schildknorpels gegen den Ringknorpel kann die Länge der Stimmfalten und ihre Dehnung verändert werden. Längere Stimmfalten erzeugen tiefere Töne, kürzere Stimmfalten – bei gleichem Ausatmungsdruck und gleicher Dehnung – höhere Töne. Darüber hinaus ergibt geringe Dehnung tiefere, starke Dehnung höhere Töne. Mit dem Kehlkopfspiegel erstellte Fotos von schwingenden Stimmfalten zeigen häufig bei höheren Tönen längere Stimmfalten als bei tieferen Tönen. Dies scheint der physikalischen Erwartung zu widersprechen. Jedoch ist gerade daran deutlich zu erkennen, daß die Tonhöhe nicht nur von der Länge der Stimmfalten abhängt, sondern in besonderem Maße auch von ihrer Dehnung.

Schwingende Masse: Mit Hilfe der Stimmfaltenmuskulatur (Stimmlippen) kann die schwingende Masse verändert werden. Dies bewirkt neben der Tonqualitätsveränderung (siehe dort) auch eine Tonhöhenveränderung: Geringere Masse ergibt höhere Töne, größere Masse tiefere (jeweils wieder bei gleichem Ausatmungsdruck und gleicher Dehnung).

Tonqualitätsveränderung (Register)

Lautstärke und Klangfarbe eines Tones sind in erster Linie von der in den Stimmfalten eingestellten schwingenden Masse abhängig. Diese kann vielfältig variiert werden. Es entstehen so die verschiedenen Stimmregister.

Brustregister (Bruststimme, Vollstimme): entsteht, wenn die gesamte Masse der Stimmfalten in Schwingung versetzt wird.

Umfang: Der Umfang des Brustregisters umfaßt die tiefsten Lagen einer Singstimme und ist nach oben hin deutlich begrenzt. Die höchsten mit physiologisch richtig eingesetztem Brustregister erzeugbaren Töne liegen im unteren Drittel der eingestrichenen Oktave (ca. e1 – f1). Diese Grenze befindet sich für alle Stimmgattungen (Männer-, Frauen-, Kinderstimmen) und alle Stimmlagen (Sopran, Alt, Tenor, Baß) an ungefähr ähnlicher Stelle in der eingestrichenen Oktave. Kinder singen Brustregister oft bis in die zweigestrichene Oktave, dies allerdings bei gleichzeitiger Überdehnung und langfristiger Schädigung des Stimmfaltengewebes (siehe auch S. 43f.).

Klangfarbe: Der Klang des Brustregisters zeichnet sich durch Kraft, Fülle, große Lautstärke und dunkle Färbung aus (Forteregister).

Stimmbildnerische Besonderheit: Wird Brustregister mit zu hohem Ausatmungsdruck und/oder in zu hoher Lage (oberhalb ca. f1) gesungen, fällt die Schwingung der Randzonen der Stimmfalten (Stimmbänder) leicht aus. Der Klang der Stimme wird hart, brutal, gepreßt und kratzig. Bei längerem Gebrauch des Brustregisters in zu hoher Lage können die Stimmfalten Schaden erleiden.

Kopfregister (Kopfstimme, Randstimme, Randschwingung): entsteht, wenn die Stimmfaltenmuskulatur beim Tonerzeugungsvorgang kaum gespannt ist und fast nur die Ränder der Stimmfalten schwingen. Sie sind gedehnt, liegen lose aneinander und werden durch den sacht ausströmenden Atem in Schwingung versetzt.

Umfang: Kopfregister kann im gesamten Tonumfang einer Stimme gesungen werden.

Klangfarbe: Der Klang des Kopfregisters zeichnet sich durch Weichheit, Zartheit, geringe Lautstärke und helle Färbung aus. Das Kopfregister ist das Pianoregister.

Stimmbildnerische Besonderheit: Bei jeder Stimmfaltenschwingung muß die Randschwingung mitenthalten sein, um eine Schädigung der Stimmfalten zu vermeiden.

Mittelregister (Mittelstimme): entsteht, wenn die Stimmfaltenmuskulatur anteilig angespannt ist und daher Teile der Muskulaturmasse beim Tonerzeugungsvorgang in Schwingung versetzt werden. Je nach Anteil der Anspannung ist die schwingende Masse größer oder kleiner.

Umfang: Der Umfang des Mittelregisters ist nicht begrenzt. Nach oben wird jedoch der Anteil der schwingenden Masse immer geringer.

Klangfarbe: Der Klang des Mittelregisters ist schlank, hell, metallisch. Die Lautstärke reicht vom Piano bis zum Forte, je nach anteiliger Masseschwingung.

Falsettregister (Falsettstimme, Fistelstimme): kommt nur in der Männerstimme vor. Die physiologische Funktion ist noch ungeklärt. Möglicherweise entsteht das Register durch Verkürzung des schwingenden Teils der Stimmfalten, indem die Stimmritze etwa zur Hälfte ganz verschlossen bleibt und die Schwingung nur im hinteren Teil zustande kommt.

Umfang: Das Falsettregister schließt an die normale Männerstimme nach oben hin an und umfaßt ein bis zwei Oktaven.

Klangfarbe: Der Klang ist weich, luftig und oft etwas feminin.

Stimmbildnerische Besonderheit: Das Falsettregister ist nicht mit den anderen Registern der Männerstimme mischbar.

Pfeifregister (Pfeifstimme): kommt lediglich in der Kinder- und Frauenstimme vor. Die Stimmfalten sind stark gedehnt und führen nur sehr geringe Schwingungsbewegungen aus. Dabei schließen sie nicht ganz, so daß es in dem entstehenden Spalt zu Luftverwirbelungen kommt, ähnlich wie beim Lippenpfeifen. – Umfang: Das Pfeifregister schließt an die normale Frauenstimme nach oben hin an und reicht bis weit in die dreigestrichene Oktave.

Klangfarbe: Der Klang ist schlank bis dünn, dabei durchdringend, starr und oft scharf.

Stimmbildnerische Besonderheit: Das Pfeifregister ist nicht mit den anderen Registern der Frauen- bzw. Kinderstimme mischbar.

1.1.3Das Tonverstärkungssystem

Die an den Stimmfalten erzeugte periodische Schwingung pflanzt sich in Form von Longitudinalwellen auf die gesamte Luft im Atemsystem fort. Bei der Erregung der Eigenschwingung eines Raumes im Atemwege-System entsteht Resonanz. Resonanzfähig sind sämtliche Hohlräume im Körper, die mit Luft gefüllt und an die Atmung angeschlossen sind. Es handelt sich im einzelnen um folgende Räume:

Brustraum (Lungenhohlraum, Bronchien, Luftröhre),

Kehlkopf und Morgagnische Ventrikel,

Schlundraum,

Rachenraum,

Mundhöhle,

Nasenraum und Nasenrachenraum,

Nasennebenhöhlen (Kieferhöhlen, Stirnhöhlen, Keilbeinhöhlen, Siebbeinzellen).

Darüber hinaus sind alle Knochen resonanzfähig, die mit der Schwingung in Berührung kommen.

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Resonanzräume im Kopf

Einteilung und Schwingungsverhalten der Resonanzräume

Die mitschwingenden Hohlräume lassen sich entsprechend ihrer Größe einteilen. Größere Resonanzräume klingen eher dunkel, kleinere eher hell, d. h. große Räume schwingen eher grundtönig, kleine eher obertönig.

Für die Stimmbildung ist es nützlich, die Resonanzräume noch weiter zu differenzieren. Die Resonanzräume sind in vier Etagen übereinander im Körper angeordnet. Dabei kommen den einzelnen Etagen jeweils typische klangformende Eigenschaften zu:

Brustresonanz ist Fundament und Basis der Stimme.

Mundhöhlenresonanz (Mundraum, Rachenraum und Schlundraum) gibt der Stimme Weichheit, Rundung und Fülle.

Nasen- und Nasenrachenraumresonanz sorgen für Helligkeit und Glanz.

Nasennebenhöhlenresonanz verleiht der Stimme Tragfähigkeit und metallischen Klang.

Hilfreich für die sängerische Vorstellung ist die Annahme von »Anschlagstellen« des Tons im Kopf und suggestive Arbeit mit Reflexions- bzw. Absorptionsverhalten von Resonanzräumen. Wenn auch physikalisch ein solches Verhalten nicht immer nachweisbar ist, können subjektive Vorstellungen doch mit physiologischen Eigenschaften der Resonanzräume in Einklang gebracht werden.

Hartwandige Resonanzräume geben der Stimme Helligkeit und Glanz. Solche Resonanzräume sind im vorderen Kopfbereich anzutreffen (Nasennebenhöhlen, Nasenraum, vorderer Mundraum).

Weichwandige Resonanzräume geben der Stimme Weichheit, Dunkelheit, Rundung und Fülle. Solche Resonanzräume finden sich im rückwärtigen Kopfbereich und im Rumpf (hinterer Mundraum, Rachenraum, Schlundraum, Brustraum).

Mundraum als Artikulationsraum

Der Mundraum unterscheidet sich von allen anderen Resonanzräumen durch seine Verformbarkeit. Mit Hilfe von Unterkiefer, Zunge, Lippen und Gaumen läßt sich Größe und Gestalt des Mundraums vielfältig verändern und seine Mitschwingfähigkeit beeinflussen. Je nach Stellung dieser Artikulationsinstrumente3 entstehen so verschiedene Resonanzklänge oder Geräusche: Vokale und Konsonanten.

Neuere Erkenntnisse der Physik

In neueren stimmwissenschaftlichen Arbeiten geht man zuweilen nicht mehr wie früher davon aus, daß der an den Stimmfalten entstehende Klang relativ unbedeutend und mit wenigen Teiltönen versehen sei und erst im Durchlaufen des Ansatzrohres durch Resonanz mit Obertönen versorgt würde. Im Gegenteil: Der an den Stimmfalten erzeugte Klang sei sehr obertonreich und erführe durch die Resonanzräume eine partielle Bedämpfung. Die mit Schleimhäuten ausgekleideten Räume des Luftwege-Systems seien viel zu weichwandig, um klangverstärkend wirken zu können; sie wirkten klangdämpfend und dies je nach Größe und Beschaffenheit in jeweils verschiedenen Teiltonbereichen4.

Dies mag auf den ersten Blick revolutionär wirken in Hinblick auf Jahrhunderte der Gesangserziehung mit den berühmten Assoziationen und Bildern (»in die Maske singen«, »Schädelklang«, »Kuppelklang« etc.). Aber letztlich bleibt doch alles, wie es ist. Die für das Singen so offensichtlich hilfreichen Richtungsvorstellungen und Anschlagstellen in Brust und Kopf (»appoggiarsi in petto«, »appoggiarsi in testa«) führen nach wie vor zu einem spezifischen Mitschwing- bzw. Absorptionsverhalten von Räumen im Luftwege-System, das die gewünschte Klangfarbe des zu produzierenden Tones liefert. Um das mitleidige Lächeln der Physiker und »modernen« Stimmwissenschaftler nicht allzu deutlich zu provozieren, kann statt des bisher verwendeten Begriffs »Resonanz« nun von »Vibration« gesprochen werden; das Wort »Resonanz« bleibt dem tatsächlichen physikalischen Phänomen vorbehalten: der Erregung der Eigenschwingung eines Körpers bzw. Raumes.

1.2Unterschiede der Physiologie der Kinderstimme zur Erwachsenenstimme

Obwohl es – wie oben bereits erwähnt – generell keine Unterschiede zwischen der Physiologie der Kinderstimme und der der Erwachsenenstimme gibt, haben Wachstumsphänomene im kindlichen Körper Auswirkungen auf die Stimme. Dabei handelt es sich im besonderen um zwei Phänomene: das Größenverhältnis Kopf – Rumpf und die Veränderungen des kindlichen Körpers vor der Pubertät.

Das Größenverhältnis von Kopf und Rumpf ist beim Kind starken Veränderungen unterworfen. Findet man beim Neugeborenen fast das Verhältnis von 1:1, so wächst im Verlauf der kindlichen Entwicklung der Rumpf (und die Extremitäten) erheblich stärker als der Kopf. Beim ausgewachsenen Menschen beträgt schließlich das Größenverhältnis zwischen Kopf und Rumpf etwa 1:5 bis 1:7.

Bedingt durch das starke Längenwachstum von Kindern sind auch die Stimmorgane ständigen Wachstumsveränderungen unterworfen. Das Körperwachstum vollzieht sich zwar nicht vollkommen gleichmäßig über die gesamte Zeit bis zur Pubertät, aber weitgehend kontinuierlich, d. h., alle für die Stimme notwendigen Organe und Muskulaturen wachsen relativ synchron. Daher beobachten wir vor der Pubertät nur sehr allmähliche Veränderungen der Stimme.

Wir unterscheiden vor dem Beginn der Pubertät drei bis vier Wachstumsphasen:

Säugling und Kleinkind (erstes bis ca. drittes Lebensjahr)

Kindergartenkind (ca. drittes bis sechstes Lebensjahr)

Grundschulkind (ca. sechstes bis zehntes Lebensjahr)

Schulkind (ca. zehntes Lebensjahr bis Pubertätsbeginn)

1.3Klanglichkeit der Kinderstimme

Größe und Größenverhältnisse des Körpers haben Einfluß auf die Klangfarbe und Registerstruktur einer Stimme. Wir kennen diese Zusammenhänge aus den Beobachtungen über Konstitutionstypen5 und Temperamente6 sowie aus oft auch unreflektiert verwendeten Gleichsetzungen zwischen Statur und Stimmlage bzw. Stimmfach. Diese Zusammenhänge sind manchmal konstruiert und zufällig; jedoch steht außer Zweifel, daß Größe und Verteilung von Resonanzräumen im Körper sowie Gestalt und Größe der Stimmfalten – jeweils unabhängig voneinander, aber auch vereint – entscheidenden Anteil an der individuellen Unverwechselbarkeit einer Stimme haben. Vielfach wird in der stimmbildnerischen Literatur hierfür der Begriff »Timbre« verwendet.

Die schwingungsbeeinflussenden Kopfräume sind beim Kind dominant, die Räume des übrigen Körpers (vor allem der Brustraum) sind dementsprechend weniger klangprägend. Dies macht sich akustisch in der deutlich stärkeren Helligkeit der Kinderstimme bemerkbar. Die Stimmen von Kindern klingen »körperloser«, »schwebender«, »leichter« als die von Erwachsenen.

Die Registerstruktur der Kinderstimme entspricht der der weiblichen Erwachsenenstimme, zeichnet sich jedoch durch eine größere Schlankheit aus. Bedingt durch die vor der Mutation noch kürzeren und schlankeren Stimmfalten und den kleineren Kehlkopf, wirken alle Register wie »nach oben verschoben«. Im Verein mit dem größeren Anteil der Kopfresonanzen klingt also das kindliche Brustregister häufig viel leichter als das Mittelregister einer Sopranistin. Mittel- und Kopfregister der Kinderstimme wirken oft wie reine Kopftöne einer Frau. Dies macht die funktionelle Beurteilung von Kinderstimmen nicht einfacher. Allzuoft handelt es sich bei kraftvoll singenden Kindern in der oberen Hälfte der eingestrichenen Oktave um den ungehinderten Einsatz des Brustregisters, also um die ungemischte Muskelschwingung der Stimmlippen ohne Mitwirkung der Stimmfaltenränder. Wenn Kinder häufig so singen, kann es in dieser Lage bereits zu Schädigungen kommen. Oft ist bei solchen Tönen eine Rauhheit oder Brutalisierung der Stimme überhaupt nicht wahrzunehmen, was dazu führt, daß von Chorleitern dieser Klang der Kinderstimme für besonders »frisch«, »lebendig«, »ungekünstelt« gehalten und geradezu angestrebt wird.

1.4Umfang der Kinderstimme

Der Tonumfang der Kinderstimme sowie weitere Angaben über die Leistung der Stimme in den Jahren vor der Pubertät ist schon seit Jahrzehnten Gegenstand von Untersuchungen. Man sollte deshalb meinen, wir könnten auf ein gut dokumentiertes Material zurückgreifen, wenn es um die Darstellung der Entwicklung des Tonumfangs in der Kinderstimme geht.

Leider erweist sich das vorhandene Material bei näherer Betrachtung nur als sehr bedingt brauchbar – jedenfalls für die Beurteilung physiologisch möglicher und für die Stimmentwicklung der Kinder gesunder Tonumfänge. Allzuhäufig werden Kinder durch falsche Beeinflussung zu unphysiologischen Stimmumfängen angehalten. 1909 veröffentlichte H. Gutzmann7 ein Schema, nach dem die Kinderstimme zum Zeitpunkt der Geburt den Umfang von einer Prim (!) um a1 aufweist und sodann Jahr für Jahr um einen Halbton nach oben und unten anwächst. Dieses Schema wurde mehr oder minder kritiklos von der Fachliteratur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernommen und führte zu bisweilen katastrophalen Mißverständnissen bei der Beurteilung und Behandlung von Kinderstimmen. Obwohl M. Nadoleczny schon 1926 eine zutreffende Beurteilung der Stimmleistung von Säuglingen vorlegte8, findet sich erst bei K. Hartlieb9 die Dokumentation einer Untersuchung an 1300 Karlsruher Volksschülern, in deren Verlauf deutlich andere Ergebnisse zutage traten. Nach Hartlieb beträgt der durchschnittliche Tonumfang – unabhängig vom Alter – zwei Oktaven mit einer unteren Grenze von g (kleines g), die schon sehr früh erreicht wird. P. Nitsche bestätigt in seiner Schrift Die Pflege der Kinder- und Jugendstimme die Hartliebschen Untersuchungen und führt weiter aus:

Innerhalb des konstanten Umfangs von etwa 2 Oktaven (klein g bis g2) gibt es offenbar einen bevorzugten und klanglich besonders entwickelten Ausschnitt – eine »gute Lage«, wie man beim Instrument sagen würde, der sich mit fortschreitender Entwicklung zur Mutation hin verschiebt. Bei den 7- bis 10-jährigen liegt er etwa zwischen f1 und f2.10

Wenn auch Nitsche mit seinen Beobachtungen sicherlich schon auf dem Wege ist, einen physiologischen Stimmumfang der Kinderstimme zu beschreiben, so zeigen seine Messungen in erster Linie nur die Art und Weise, wie mit den Kindern gesungen wurde. Dies wird deutlich in seiner völligen Nichtbeachtung der Töne oberhalb von g2.

P.-M. Fischer bezieht sich auf die erwähnten Untersuchungen Nadolecznys an Säuglingen und versucht mit Hilfe einer physikalischen Konstruktion dem physiologischen Tonumfang auf die Spur zu kommen:

Es ist anzunehmen, daß die Tonhöhe des ersten Schreis in ihrer Verteilung den statistischen Gesetzen genügen muß. Bei einem Höchstwert der Häufigkeitsverteilung für phon. Null um fis/g (180/190 Hz), erfolgt der reflektorische Einsatz der Stimme des Neugeborenen etwa eine Terz über dem Schaltpunkt zwischen Tief- und Mitteloktave, also ca. eine Sext über der indifferenten Sprechlage. Dies entspricht durchaus der Norm, da ja die dynamische Steigerung der Stimme im Allgemeinen mit einem Anstieg der Tonhöhe gekoppelt ist. Der erste Schrei weist also eine mittlere Spannung des Stimmorgans auf, die nach oben erhöht und nach unten vermindert werden kann. Die im ersten Lebensjahr angegebenen hohen Töne (a2 und c4 bzw. e4) liegen über dem zweiten und dritten Oktavschaltepunkt und haben damit die mechanisch-physiologisch einwandfreie Funktion der Stimme bewiesen. Daraus geht überzeugend hervor, daß die »Höhe« für die Erwachsenen eigentlich kein Problem sein dürfte, weil der Erwachsene sie ja als Kind schon erhalten hat.11

Der Ansatz P.-M. Fischers ist neu. Empirisch gewonnene Ergebnisse werden kombiniert mit physikalischen Eigenschaften, die dem Schwingungsorganismus im Kehlkopf zugeordnet werden. Den Beweis, daß diese physikalischen Zuordnungen tatsächlich unumstößlich sind, bleibt Fischer allerdings schuldig, wenn auch vieles dafür zu sprechen scheint. Terminologie und Entsprechungen zum überkommenen Vokabular der Stimmwissenschaft scheinen mir in Fischers Abhandlung noch überarbeitungsbedürftig. Jedoch ist es sicher lohnend, auf diesem Wege weiterzugehen, um exakt meßbare Vorgänge bei der Tonproduktion stärker zur Grundlage der Beurteilung von stimmtechnischen und stimmbildnerischen Prozessen machen zu können.

Vorstehend mitgeteilte Beobachtungen und Überlegungen zeigen eindrucksvoll die Schwierigkeiten bei der Beschreibung kindlicher Stimmumfänge. Dies liegt nicht etwa an der Unfähigkeit der genannten Autoren, sondern ist in einem nicht nur bei der Stimme, sondern auch sonst vielfach im kindlichen Organismus anzutreffenden Phänomen begründet: der besonderen Beeinflußbarkeit von Organen und Muskulaturen im Körper während der Kindheit. Wie ein Muskel eingesetzt wird, so wird er seine Arbeit verrichten. Daß es dabei einerseits zu Atrophie durch mangelndes, andererseits zu Verspannung durch falsches Benutzen kommen kann, liegt auf der Hand.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß vom Geburtsschrei an der gesamte Stimmumfang, wie ihn die Physiologie vorgibt, vorhanden ist und erübt werden kann. Natürlich werden die Extremlagen nicht sofort voll durchtrainiert vorliegen, jedoch sind auch im 1. Lebensjahr schon Töne in der viergestrichenen Oktave möglich. Mit dem kindlichen Bestreben, Frequenzen über einen bestimmten Zeitraum in der Stimme konstant zu halten (also gesungene Töne zu produzieren), bekommt das Stimmtraining für die hohe Lage eine neue Dimension. Nun geht es nicht mehr nur darum, der Stimme hohe Muskelspannungen punktuell zuzumuten und danach sofort wieder abzuspannen, sondern definierte Muskelspannungen über längere Zeit zu stabilisieren. Dies führt bei Kindern zuerst wieder zu einer Einschränkung des latent vorhandenen Tonumfangs in der Höhe. Allerdings muß diese Einschränkung nicht von Dauer sein, wenn die Singübung fortlaufend sinnvoll weitergeht.

Auch das Singen tiefer Töne kann zu Schwierigkeiten führen, wenn diese nämlich allzu sorglos mit ungesteuerter Kraft produziert werden. Dann kommt es zu einer starken Verdickung der Stimmfaltenmuskulatur (Stimmlippen), was bei häufigem Gebrauch Verkrampfungserscheinungen nach sich zieht. Dadurch ist das notwendige »Abschlanken«12 der Stimmlippen bei höheren Tönen nicht mehr ohne Schwierigkeiten möglich. P.-M. Fischer beschreibt die Folgen solcher Singübung eindrucksvoll13, ohne allerdings auf die Probleme beim Aushalten definierter Tonhöhen näher einzugehen und die Gründe dafür zu nennen.

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