Mit dem vorliegenden Text möchte ich der an der schulischen Erziehungshilfe interessierten Leserschaft eine Lektüre anbieten, die in dieser Form bisher auf dem – auch internationalen – Literaturmarkt kaum vorhanden ist. Ich möchte die Frage beantworten: Welche pädagogisch-therapeutischen Interventionen, die im schulischen Bereich einsetzbar sind, haben sich für die schulische Praxis bewährt und wie lassen sich die bewährten Interventionen in der Praxis auch umsetzen?
Allerdings befinden wir uns bei der Thematisierung pädagogisch-therapeutischer Verfahren in einem äußerst schwierigen Spannungsfeld, das durch viele Kontroversen gekennzeichnet ist. In Abhebung von Beratung und Psychotherapie begegnen wir z.B. im schulischen Bereich einem bisher ungelösten Dilemma, das schulische Bildung und Erziehung ganz allgemein und die schulische Erziehungshilfe im Besonderen betrifft: Einerseits soll dem zentralen Bildungsauftrag entsprochen werden, andererseits der deutlich zutage tretenden Erziehungsnot der Schülerschaft mithilfe von pädagogisch-therapeutischen Interventionen begegnet werden. Deutlich wird das angesprochene Dilemma bei so zentralen Fragen wie der Auswahl einzusetzender Methoden, der entsprechenden Kompetenz von Pädagogen oder der ökonomischen Ressourcenzuteilung. Gerechtfertigterweise wird fachlich zudem der Anspruch erhoben, nur gut evaluierte Interventionen einzubeziehen. Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen sieht sich also genötigt, einen Spagat zwischen den an sie herangetragenen Anforderungen zu vollziehen, der konzeptionell eigentlich zum Scheitern verurteilt ist.
Die entsprechenden Dilemmata lassen sich weiterhin wie folgt kennzeichnen: Eine schulische Institution bietet nicht die vergleichsweise luxuriösen Bedingungen einer klinisch-psychologischen Ambulanz, in der auf dem Hintergrund aktueller diagnostischer Daten therapeutische Interventionen zugeordnet werden können. Die schulische Erziehungshilfe bekommt es dagegen mit einer Schülerklientel zu tun, die weder nach Bildungsstand, noch nach klinischer Symptomatik besonders ausgelesen ist. Die Lehrkraft sieht sich so unterschiedlichen Störungsbildern ausgesetzt wie Delinquenz, Phobien, Magersucht, Bindungsproblemen. Fragen der Indikation und Gegenindikation von therapeutischen Maßnahmen stellen sich deshalb mit besonderer Brisanz.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Frage nach der Zuständigkeit. Zu Beginn der noch jungen Geschichte der schulischen Verhaltensgestörtenpädagogik ist man der Logik der Arbeitsteilung gefolgt und propagierte eine personelle Trennung der pädagogischen und therapeutischen Aufgabenfelder. Man übersah dabei, dass beim „Facharzt-Überweisungsprinzip“ das Kernproblem von Kindern mit Verhaltensstörungen, die Bindungsproblematik, nicht lösbar ist. Zunehmend setzte sich die Anschauung durch, dass therapeutische Ansätze in unterschiedlichen Formen Eingang in sonderpädagogische Bemühungen finden sollten. Damit wurden diese dem Aufgabenbereich der Lehrkräfte zugeordnet. Immanent geht damit die Anforderung ein, die notwendigen Kompetenzen zu erwerben, um diese Verfahren auch konzeptgerecht durchführen zu können. Das macht wiederum i. d. R. Zusatzqualifikationen erforderlich, die nur unter erheblichem eigenem zeitlichem und finanziellem Aufwand vom Einzelnen zu erlangen sind. Ganze Ausbildungsindustrien sind inzwischen tätig geworden, um die offenbar gewordene Marktlücke zu schließen und Interessentinnen und Interessenten zu teilweise fragwürdigen Abschlusszertifikaten zu verhelfen.
Wir finden aber auf anderer Ebene ein weiteres Problem, das in der wissenschaftlich nicht immer abgesicherten Qualität der Verfahren begründet liegt. Angesichts der zum Himmel schreienden psychischen Not vieler Kinder und Jugendlicher, die von Seiten der Bildungspolitik nur allzu oft „schön“ geredet wird, würde man sich als Pädagoge natürlich wünschen, dass sich auf fachlich sicherem Terrain klare, wissenschaftlich abgesicherte Veränderungshorizonte ausmachen lassen. Leider gleicht das Methoden-Terrain gegenwärtig aber eher noch einem sumpfigen Gelände, in dem man auf unsicherem theoretischem Untergrund zu versinken und mangels klarer Orientierungen die Richtung zu verlieren droht. Angesichts der noch wenig gesicherten Faktenlage hinsichtlich schulischer Therapie-Interventionen könnte man von Seiten der Fachwissenschaft dazu neigen, erst einmal die Ergebnisse der Grundlagenforschung abzuwarten, um dann auf der Basis gesicherter Erkenntnisse pädagogische Konsequenzen im Sinne von Interventionsstrategien abzuleiten. Bis es so weit ist, so ließe sich dann weiter argumentieren, wird das Interventionsfeld den Praktikern überlassen, die „aus der Praxis für die Praxis“ tätig sind, die sich nicht gezwungen sehen, theoretische Reflexionen zum eigenen Tun anzustellen. Solche Tendenzen würden dem Fach jedoch angesichts der inzwischen gegebenen Forderung nach Qualitätskontrollen wenig dienlich, sogar abträglich sein. Eine „Scheuklappenpraxis“ wird mittelfristig in eine Sackgasse geraten, spätestens dann, wenn Schulbehörde, Eltern, Öffentlichkeit oder Gericht fundierte Begründungen abfordern.
Eine weitere Kontroverse ergibt sich aus der immer wieder neu aufflammenden und nie zum Abschluss kommenden Diskussion zur professionellen Rolle des Förderpädagogen für Erziehungshilfe: Ihm werden vermehrt beraterische und damit weniger unterrichtliche Aufgaben zugewiesen. Damit wird die entsprechende Aufgabenzuschreibung zugleich komplexer und unklarer. Unter den Professionen, die sich schulischerseits die Förderung von Problemschülern auf die Fahnen geschrieben haben, kommt es zu unüberbrückbaren Paradoxien, wie diese bereits bei der Einrichtung des Beratungslehrerwesens sichtbar wurden. Willmann (2008, 39) hat das Paradoxon auf die Person des Beratungslehrers bezogen, wenn er die Doppelrolle als „widersprüchliche Einheit von Gleichheit und Besonderheit des Beratungslehrers“ kennzeichnet; dabei führten widersprüchliche Auftragskonstellationen durch verschiedene Auftraggeber sowie Probleme mit Schulleitungen zu Paradoxien mit der eigenen Lehrer- und Beratungsrolle. Entsprechendes ist auf die Rolle der Förderlehrkraft zu übertragen. Aber nicht nur die Personenrolle steht im Zwielicht, auch das Aufgabenfeld, die schulische Beratung, steht auf keinem soliden wissenschaftlichen Fundament. Willmann hat an anderer Stelle den Diskussionsstand prägnant auf den Punkt gebracht, indem er die derzeit diskutierten Beratungskonzepte für die Erziehungshilfe gesichtet und zu der ernüchternden Feststellung gefunden hat, dass der Gegenstandsbereich der schulischen Beratung bisher keine „theoretische Durchdringung“ erfahren habe (ebd., 174).
So muss im Beratungskontext die Frage ungelöst bleiben, wer denn nun pädagogisch-therapeutische Aufgaben erledigen soll: der dafür nicht ausgebildete Regelpädagoge oder der mit beraterischen Aufgaben überforderte Förderpädagoge. Wer also soll die Erziehungsaufgaben erledigen, auf die sich ein multiprofessionelles Beratungsgremium geeinigt hat?
Ein vorläufiges Resümee zum Stellenwert der Erziehungshilfemethoden führt zu der ernüchternden Feststellung, dass einerseits das Spannungsfeld keine Lösungen bereit hält, andererseits pädagogisch-therapeutische Maßnahmen als Ergänzungen für die schulische Erziehungshilfearbeit dringend geboten erscheinen. Denn wenn die psychische Belastung von Erziehungshilfeschülern nicht berücksichtigt wird, kann auch der schulische Bildungsauftrag kaum erfüllt werden. Umgangssprachlich ausgedrückt bleibt entweder der Lehrplan oder der Schüler „auf der Strecke“. Deswegen bleibt als einzige Möglichkeit, den Unterricht mit therapeutischen Inhalten und Zielen zu untersetzen und zu ergänzen.
Pädagogisch-therapeutische Verfahren sind allerdings nur unter mühevollen Arrangements in den Alltag der schulischen Erziehungshilfe einzubringen. Die Frage, welchen Stellenwert diese Verfahren in der konkreten schulischen Situation einnehmen sollten, kann nach allem noch nicht theoretisch entschieden werden und wird konstellationsbezogen zu klären sein, sodass sich gegenwärtig noch keine endgültigen Antworten geben lassen.
Auf dem Hintergrund all dieser Überlegungen stellt dieses Buch in vielfacher Hinsicht ein Wagnis dar. Im Zentrum wird die Vorstellung von Interventionen und Verfahren stehen, die von Lehrkräften umgesetzt werden können. Dabei kann es zu Problemen und Missverständnissen kommen. Ein Missverständnis könnte sein, dass die Interventionsvorschläge als „Rezepte“ missverstanden werden, die ohne Berücksichtigung der pädagogischen Rahmenbedingungen umgesetzt werden sollen. Wie Fingerle (2008, 209) treffend am Beispiel der Resilienz ausführt, lässt sich ein erwünschter Zustand durch eine undifferenzierte Förderung nicht einfach „herstellen“. Eine „schematische, undifferenzierte ‚Verabreichung’ von Trainingskonzepten“ wird der Forderung nach einer flexibel gestalteten Lehrer-Schüler-Beziehung als Veränderungsbasis nicht gerecht“ (ebd., 214). Die Umsetzung der hier vorgestellten Veränderungskonzepte hat also Voraussetzungen, insbesondere an die Qualität der personalen Beziehungen. Diese Forderung geht immanent in die Ausführungen in diesem Buch ein, auch wenn sie nicht explizit ausformuliert ist.
Auf diesem Hintergrund kann dieser Text nicht als endgültige Antwort auf die so drängenden Fragen der schulischen Verhaltensgestörtenpädagogik zu verstehen sein, sondern als eine Zwischenbilanz. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es abgerundete, gültige Antworten auf diese Fragen, denn die Fachwissenschaft steht – trotz ihrer vielversprechenden jüngeren Geschichte – noch am Anfang, überprüftes und bewährtes Veränderungswissen bereitzuhalten.
Pädagogisch-therapeutische Methoden können nicht nur bei schwer gestörten Kindern umgesetzt werden. Sie können auch sekundärpräventiv bei jenen Kindern Einsatz finden, die nur leichte Risikosignale aussenden oder aber einer Hochrisikogruppe angehören.
Pädagogisch-therapeutische Verfahren werden häufig in der Gruppe durchgeführt. Damit kommt ihr Einsatz dem natürlichen Setting einer Schule nahe. Kinder sind es zudem gewohnt, sich in Gruppen aufzuhalten. Ihre Freizeit besteht aus spontanen Gruppenaktivitäten, sodass an diese, ihnen wohlbekannte Sozialform angeknüpft werden kann. Pädagogisch-therapeutische Verfahren haben störungsabhängig unterschiedliche Ziele: Sie können sowohl zur Anregung von Aktivitäten, Verhaltensweisen und Gedanken eingesetzt werden als auch zur Deaktivierung und Entspannung. Entspannungsverfahren sind immer dann angezeigt, wenn eine zu starke Erregung, Ängstlichkeit, Überaktivität vorliegt oder wenn es schwierig ist, ein Kind überhaupt zu einer Aktivität zu motivieren.
Es stehen verbale, aber auch aktionale Formen pädagogisch-therapeutischer Hilfe zur Verfügung. Jene Verfahren werden auf größere Akzeptanz stoßen, die sich mehr im aktionalen Raum bewegen und den sprachlichen Ausdruck nicht zur Voraussetzung haben wie Entspannungs- oder Spieltherapie. Solche Verfahren bieten in der Tat einige Vorteile, wenn mit ihnen an erster Stelle non-verbal kommuniziert wird, also auf einer Kommunikationsebene, die vielen jüngeren Kindern und Kindern mit Verhaltensstörungen entgegenkommt, deren kognitive und sprachliche Kompetenzen noch nicht weit genug entwickelt sind, um sich auf die verbale Ebene z.B. in Form von Konfliktgesprächen einzulassen. Mit ihnen sind auch extrem verschüchterte, ängstliche, in sich zurückgezogene, aber auch Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, z. B. auch jene mit autistischen Zügen, erreichbar. Ein weiterer Vorteil dieser Verfahren besteht darin, dass mit ihrer Hilfe ein symbolischer Ausdruck ermöglicht wird, der jeder verbalen Erklärung vorausgeht. Wenn auf dieser aktionalen Ebene in der therapeutischen Arbeit begonnen wird, dann wird dadurch auch der verbale Ausdruck angeregt, der sich i. d. R. im späteren Verlauf spontan entwickelt. Weiterhin gehen Kinder außerdem in aller Regel gern mit kreativen Medien um. Sie suchen spontan im Alltag Möglichkeiten auf, zu malen, zu träumen, sich zu bewegen oder zu spielen. Diese natürliche Art des Ausdrucks verhilft Kindern auch dazu, Körperbeherrschung sowie kognitiv-emotionale Entwicklungen voranzubringen, da mit der Ausführung ihrer spontanen Äußerungen zugleich die Handlungskompetenz in den aktivierten Bereichen erhöht wird.
Die Konzepte bewegen sich auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen mit unterschiedlichen Anspruchsniveaus. Jeder Ansatz ist für sich stehend gut legitimiert, jedoch im Vergleich teilweise theoretisch unverträglich. So sind die Menschenbilder von einerseits Verhaltenstherapien und andererseits Tiefenpsychologien diametral entgegengesetzt. Was mancher in der Praxis Stehende sich wünschen würde, ist leider nicht zu leisten: die große Synthese herzustellen, die sämtliche Ansätze in einen bündigen Zusammenhang bringt. So sehr diese Synthese zu wünschen wäre, aus sach- und wissenschaftsmethodischen Gründen ist sie nicht möglich. Um eine Analogie zu bemühen: Ein Koch würde auch nicht sämtliche schmackhafte Zutaten in einer Mahlzeit unterbringen, denn er hat die ganze Mahlzeit im Geschmack, und nicht nur einzelne Ingredienzien. Letztlich hat bei ihm der Gast zu entscheiden, welche Speise er auswählen und zu sich nehmen möchte – und vor dieser Entscheidung steht die Leserschaft dieses Buches ebenfalls.
Vorausgesetzt werden bei der Leserschaft einige Grundkenntnisse der Pädagogik bei sozialen Abweichungen. Trotzdem sollen in einem einleitenden Kapitel wichtige Grundlagen knapp dargestellt werden; es geht hier um Inhalte zu schulisch relevanten Verhaltensstörungen und ihrem Umfeld, wobei Definitionsfragen und theoretische Ausrichtungen dieses Faches angesprochen werden. Dieses Einleitungskapitel dient zugleich als eine Vororientierung, auf der später angesprochene Interventionskonzepte aufbauen.
Den Hauptteil dieses Buches werden dann die bewährten Methoden der schulischen Erziehungshilfe ausmachen, was nicht unbedingt mit der Häufigkeit ihrer Umsetzung gleichzusetzen ist; dazu gehören die „klassische“ Form der Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation, die kognitive Verhaltenstherapie als kognitives Modellieren und kognitive Umstrukturierung, die Rational-emotive Therapie nach Albert Ellis, Resilienztrainings, Realitätstherapie, gesprächstherapeutische Interventionen im Rahmen der sog. Lehrer-Schüler-Konferenz, spieltherapeutische Interventionen, die Life-Space-Crisis-Intervention als Krisenintervention und Entspannungsverfahren. Damit die Person der Lehrkraft bei der Umsetzung pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen nicht aus dem Blick gerät, wird dieser Band mit Ausführungen zum Umgang mit Stress von Lehrpersonen in der schulischen Erziehungshilfe abgeschlossen.
Jede Methode wird in einem sich gleich bleibenden Schema bearbeitet. Zunächst wird das allgemeine Konzept vorgestellt, hinter dem i. d. R. eine Therapietheorie steht. Es folgen Hinweise zu den daraus ableitbaren Interventionen. Für praktisch tätige Leser(innen) werden die sich anschließenden schulischen Anwendungen von besonderer Relevanz sein, die teilweise sehr konkret vorgestellt werden. Bei einzelnen Methoden werden zu den schulischen Interventionen zusätzlich Praxismaterialien wie Curricula geboten, die an anderer Stelle (in der Zeitschrift Heilpädagogische Forschung, 2010) erscheinen. Empirische Fundierungen und ein kritisches Resümee runden die Überlegungen zu den Methoden ab. Jedes Methodenkapitel besteht also aus den folgenden Teilen:
Mit dem letzten Kapitel möchte ich dazu anregen, sich prophylaktisch der eigenen psychischen Gesundheit zuzuwenden. Die Erziehungshilfeaufgaben stellen an die eigene Person so große Anforderungen, dass es kurzfristig zu Überforderungen und langfristig zu einem Burnout-Syndrom kommen kann. Wir müssen uns vor Augen halten, dass uns diese Schülerklientel fachlich, v. a. aber auch persönlich Erhebliches abverlangt. Sie erhalten deshalb zum Schluss Anregungen für eine Lebensgestaltung, die Ihre Bedürfnisse und die der Kinder zur Deckung bringen sollen.
Was soll mit diesem Buch erreicht werden, welche Ziele habe ich mir als Autor gesteckt? Mit dem vorliegenden Buch möchte ich derzeit vorfindbare praktische Problemlösungen für die so stark belastete Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen vorstellen, auch wenn das Fundament des theoretischen Gebäudes teilweise noch wenig solide ist. Ich werde jedoch versuchen, die fachwissenschaftliche Basis dadurch zu sichern, dass für jede der vorgestellten Interventionen – soweit vorhanden – empirische Fundierungen geliefert werden, nachdem in jedem Unterkapitel zuerst das Konzept, dann die entsprechenden Techniken und Methoden sowie schulische Umsetzungen aufgeführt sind.
Nach der Lektüre dieses Buches sollten Sie dazu in der Lage sein, aus dem Inhaltsangebot einige Methoden bzw. Interventionen reflektiert auswählen zu können. Inwieweit dann eine kontrollierte Umsetzung geleistet werden kann, hängt von zusätzlichen Bedingungen ab, wie der Vorbildung der Lehrkraft und der Bereitstellung von sächlichen und personellen Ressourcen sowie Trainings- und Supervisionsmöglichkeiten. Diese Bedingungen kann naturgemäß eine Buchveröffentlichung nicht bereitstellen. Ich verspreche mir jedoch von Ihrem Studium dieses Werkes, dass sich für Sie klarere Konturen für eine verbesserte pädagogische Praxis abzeichnen, dass Sie dazu in der Lage sind, die Wachstumspotenziale der Ihnen anvertrauten Schülerklientel klarer zu sehen und vielleicht entwickeln zu helfen, wo bisher nur Folgen von Verstörung, Vernachlässigung und Gewalt sichtbar waren. Denn möglicherweise sind gerade Sie es, die einem Kind zu einer radikalen Richtungsänderung seines Lebens verhelfen können. Ein amerikanischer Kollege hat dies einmal in dieser Weise zum Ausdruck gebracht:
Lehrer haben normalerweise keine Ahnung davon, dass sie das Leben eines Kindes radikal verändert haben, selbst dann nicht, wenn es sich um eine dramatische Änderung gehandelt hatte. Aber für Kinder, die daran gewöhnt sind, sich selbst als zu dumm oder als zu wertlos wahrzunehmen, als dass es sich lohnen würde, mit ihnen überhaupt zu sprechen, oder zu glauben, dass sie Missbrauch und Schläge verdienen, die ihnen angetan werden, kann ein guter Lehrer eine für sie erstaunliche Erkenntnis vermitteln: Eine solche Lehrkraft kann einem Kind zumindest die Chance für das Gefühl geben ... sie denkt wohl, dass ich irgendwie doch etwas wert bin. Vielleicht stimmt’s ja auch ... Gute Lehrer dirigieren den „Lauf des Flusses“ für Kinder in eine andere Richtung und weisen auf diese Weise über Jahre hinweg geradezu unwissentlich Hunderte von jungen Menschenleben auf andere als die eigentlich vorgezeichneten Wege. (Kidder 1989, 10, Übers. H.G.).
Sich als Pädagogin bzw. Pädagoge mit bewährten Methoden der schulischen Erziehungshilfe zu befassen, kann die Chance erhöhen, Lebensperspektiven für jene zu eröffnen, die fast schon aufgegeben worden sind oder sich selbst aufgegeben haben. In diesem Sinne möchte ich Ihnen und den belasteten Schülerinnen und Schülern Mut machen: Trotz aller Widersprüche und Unzulänglichkeiten hält die Fachwissenschaft auch für ausweglos erscheinende pädagogische Situationen Interventionen parat, die weiterhelfen können. Wer diese Methoden aufgreift, wird Änderungen in das Leben von Schülerinnen und Schülern der Erziehungshilfe einbringen.
Fingerle, M. (2008): Risiko- und Schutzfaktoren innerhalb der Schule. In: Borchert, J., Hartke, B. & Jogschies, P. (Hrsg.): Frühe Förderung entwicklungsauffälliger Kinder und Jugendlicher. Stuttgart, 206 – 217.
Kidder, T. (1989): Among school children. Boston.
Willmann, M. (2008): Sonderpädagogische Beratung und Kooperation als Konsultation: Theoretische Modelle und professionelle Konzepte der indirekten Unterstützung zur schulischen Integration von Schülern mit Verhaltensproblemen in Deutschland und den USA. Hamburg.
In der Einleitung waren Probleme erörtert worden, die im Zusammenhang mit der Anwendung pädagogisch-therapeutischer Methoden in der schulischen Erziehungshilfe stehen. In diesem Kapitel soll nun geklärt werden, um welche Zielgruppenprobleme es geht, an wen sich also die später dargestellten Methoden richten. Wir haben danach zu fragen:
An erster Stelle ist in diesem Kapitel die Frage zu klären, was unter einer Verhaltens- bzw. einer emotionalen Störung zu verstehen ist. Dazu ist zuvor die Begrifflichkeit – Verhaltens- bzw. emotionale Störung – zu klären, die für diesen Text maßgeblich sein soll. Es gibt nämlich die unterschiedlichsten Bezeichnungen, die in der Fachwelt verwendet werden, wie z.B.:
Keiner dieser Begriffe kann für sich in Anspruch nehmen, den Gegenstand optimal zu bezeichnen. In diesem Band wird für die Bezeichnung „Verhaltens- und emotionale Störung“ auch die Kurzform „Verhaltensstörung“ verwendet, weil damit dem internationalen Sprachgebrauch gefolgt und Sprachökonomie berücksichtigt wird. Die Bezeichnung deckt zudem logisch-inhaltlich ein weites Spektrum an Störungen ab, die entweder auf ungenügendes soziales und personales Lernen zurückgehen oder inhärente Psychopathologien mit eher psychiatrischer Natur betreffen.
Wenn damit eine Entscheidung für die Begrifflichkeit gefallen ist, stellt sich als Nächstes die Frage nach der Begriffsbestimmung, eine Frage, die in der Fachliteratur viele Antworten findet. Warum „Verhaltens- bzw. emotionale Störung“ so unterschiedlich definiert werden kann, liegt an der wenig objektivierbaren Natur dieses Gegenstandes: In jeden Definitionsversuch gehen nämlich unterschiedliche Erziehungsphilosophien, Menschenbilder, wissenschaftliche Paradigmen und letztlich auch Subjektivismen ein. Je nach Arbeitsfeld der Fachleute muss die Antwort also unterschiedlich ausfallen. So wird ein Psychoanalytiker bei einer Verhaltensstörung an eine inadäquate Ich-Entwicklung denken, ein Verhaltenstherapeut verfehltes Lernen für ausschlaggebend und ein Psychiater abnormale Persönlichkeitsentwicklungen für entscheidend halten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es eine alles umfassende Definition für „Verhaltens- bzw. emotionale Störung“ nicht geben kann.
International haben sich zwei Definitionen durchgesetzt, für die der pragmatische Zugriff und die weitgehende Operationalisierbarkeit der verwendeten Begriffe sprechen.
Ein länger zurückliegender Definitionsversuch stammt von Bower (1981). Es handelt sich hier um eine Merkmalsdefinition, nach der man dann von einer Verhaltensstörung spricht, wenn
Diese Definition kann für sich in Anspruch nehmen, die wichtigsten, empirisch ermittelten Merkmale einer Verhaltensstörung widerzuspiegeln. Von Nachteil ist allerdings, dass die Symptome additiv nebeneinandergesetzt erscheinen und unverbunden sind; man weiß also nicht, wie viele der genannten Merkmale in welcher Ausprägung zusammenkommen müssen, damit das Definitionskriterium einer Verhaltensstörung erfüllt ist. So entscheidende Kriterien wie das Entwicklungsalter, Nachbarschaft und soziales Milieu oder die Normenproblematik werden ebenfalls nicht thematisiert.
Eine andere Definition, die diese Probleme zu überwinden sucht, geht auf eine US-amerikanische Vorlage des Council for Children with Behavioral Disorders zurück und ist z.B. für das Bundesland Brandenburg maßgeblich geworden (Goetze 2001, 17):
Der Begriff der emotionalen Störung oder Verhaltensauffälligkeit bezeichnet eine soziale Behinderung, die durch abweichende Verhaltens- oder sozial-emotionale Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen gekennzeichnet ist. Die Normabweichungen in entwicklungsbezogener und gesellschaftlicher (kultureller, ethnischer) Hinsicht lassen die weitere Bildung und Erziehung des Schülers bzw. der Schülerin als gefährdet erscheinen. Symptomatisch sind im Allgemeinen sozial-emotionale und schulleistungsbezogene Störungen.
Eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit tritt über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) in mehreren (mindestens zwei) Lebensbereichen auf, wovon einer die Schule ist, und ist also mehr als eine zeitlich begrenzte Reaktion auf besondere Stressereignisse; eine emotionale Störung bzw. Verhaltensauffälligkeit ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie mit den Möglichkeiten der allgemeinen Schule nicht ausreichend abgebaut werden kann. Eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit kann in der Regel durch ein abgestuftes Fördersystem so weit abgebaut werden, dass Betroffene möglichst unter Regelbedingungen unterrichtet und zu einem qualifizierten Schulabschluss geführt werden.
Wie man dieser Definition entnehmen kann, geht es einerseits um Abweichungen von gesellschaftlichen Normen, andererseits um länger andauernde personale Symptome, die nicht auf identifizierbare Stressereignisse zurückgeführt werden können; schließlich soll eine Verhaltensstörung in zwei unterschiedlichen Settings auftreten, wovon eines die Schule ist. Es ist auch festgelegt, dass die Regelschule mit den ihr eigenen Ressourcen augenscheinlich das pädagogische Problem zu lösen nicht in der Lage ist – man denke nur an Kinder mit extrem ausgeprägten psychiatrisch zu behandelnden Symptomen, die oft nicht einmal zeitweise integrativ beschult werden können. Als weiteres Kriterium tritt hinzu, dass Verhaltensstörungen auch in Verbindung mit anderen Behinderungen oder Störungen auftreten können. Eingeschlossen sind ausdrücklich psychiatrische Auffälligkeiten wie affektive Störungen.
Diese Definition kann für sich in Anspruch nehmen, die wesentlichen Aspekte abzudecken. Entscheidend ist die letzte Aussage, dass sämtliche sonderpädagogischen Bemühungen darauf auszurichten sind, einen qualifizierten Schulabschluss zu ermöglichen; denn zu leicht kann dieser zentrale Aspekt aus dem Blickwinkel geraten, wenn die Anwendung pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen, wie sie im Hauptteil dieses Buches dargestellt werden, allein der psychosozialen Rehabilitation dienen, ohne dass der junge Mensch auch für seine berufliche Zukunft fit gemacht wird.
Nachdem eine längere Begriffsbestimmung für eine Verhaltens- bzw. emotionale Störung diskutiert worden ist, sollen nun knapp einige theoretische Perspektiven erörtert werden, denen die im Hauptteil dieses Buches diskutierten Methoden zugrunde liegen.
In der Fachliteratur wird ein breites, auch zahlenmäßig umfängliches Spektrum an theoretischen Konzepten diskutiert. Um die Leserschaft dieses Bandes knapp zu orientieren und nicht mit einer Überfülle an Informationen zu konfrontieren, werden die drei bedeutsamsten theoretischen Perspektiven nach Newcomer (2003) vorgestellt, die dann auch zum Verständnis der Interventionen notwendig sind:
Unter dem Etikett der Pathologie werden Verhaltensstörungen als Erkrankung verstanden, die sich nach außen hin als Verhaltenssymptome äußern. Verhaltensweisen tragen dann gewissermaßen Signalcharakter und geben zu erkennen, dass innerhalb des Organismus nach außen nicht sichtbare Störungen vorhanden sind. Wenn die Verhaltensstörung als Krankheit begriffen wird, dann wird die betroffene Person nicht für ihre Störung und damit für ihr Verhalten verantwortlich zu machen sein, sie wird von Antrieben gesteuert, die außerhalb der Reichweite ihrer Kontrolle liegen, die entweder – physiologisch – durch neuronale Bedingungen oder – psychoanalytisch – durch ihr Triebschicksal verursacht sind. Es muss also ungünstige Bedingungen gegeben haben, die im weiteren Verlauf zu pathologischen Erscheinungen geführt oder sie zumindest ausgelöst haben.
Eine Verhaltensstörung wird also als Symptom gesehen, hinter dem sich Ursachen verbergen, die von außen nicht ohne Weiteres erkennbar und behandelbar sind. Ein Kind zeigt aggressives Verhalten, die Ursachen könnten hirnphysiologisch (früher als „minimale zerebrale Dysfunktion“ bezeichnet) bedingt sein; den Aggressionen könnten auch wahnhafte Kognitionen zugrunde liegen („Anweisung von höheren Mächten“). Die Aggression könnte aber auch auf eine narzisstische Störung zurückgehen, die inhärent auf eine abweichende psycho-sexuelle Entwicklung zurückgehen könnte.
Solche kausalen Bedingungen können nicht direkt beobachtet, sondern nur indirekt mittels psychiatrischer, tiefenpsychologischer oder psychoneurologischer Diagnostik erschlossen werden.
Einen extremen Standpunkt innerhalb dieser pathologischen Perspektive nimmt die biologisch-medizinische Orientierung ein. Hier geht es um Verhaltensstörungen als Pathologie der Person, die i. d.R. organisch bedingt sind. Davon abzuheben sind psychologische Theorien, die dieser Perspektive zugeordnet werden können, bei denen also eine Verhaltensstörung als psychologische Pathologie angesehen wird, wozu z.B. psychoanalytische Auffassungen zu zählen sind.
Will man diesem Krankheitsmodell entsprechend eine Behandlung verorten, wird diese in speziellen, dafür ausgewiesenen Institutionen wie Krankenhäusern, Psychiatrien oder Kliniken oder auch Klinikschulen stattfinden. Ziel wird es ein, die Psychopathologie einer Person mit klinischen Mitteln zu behandeln.
Geschichtlich betrachtet hat die Behandlung von Patienten in Institutionen einen wichtigen Fortschritt gebracht: Betroffene wurden im 19. Jahrhundert nicht mehr sich selbst, der Familie oder einem Bettlerstatus überlassen, sondern – mit den damals gegebenen Möglichkeiten – einer fachlichen Betreuung zugeführt. In der weiteren historischen Entwicklung schlug das Pendel dann allerdings um und solche Anstalten nahmen äußerst problematische Züge an: Der die Betroffenen isolierende Status führte zu weiterer gesellschaftlicher Aussonderung; die „Häuser“ entwickelten sich zu totalen Institutionen, in denen Betroffene ohne Mitbestimmungsrechte zu Rezipienten und zu Opfern einer über sie bestimmenden Behandlungsmacht wurden.
Lange war die Auffassung vorherrschend, Verhaltensstörungen als individuelle Pathologie in medizinischer Sicht zu begreifen, was jedoch massive Kritik auslöste. Die ausschließlich medizinische Sichtweise stand noch vor Kurzem, im ausgehenden 20. Jahrhundert, fachlich in Misskredit, als einem wissenschaftlichen Trend folgend ausschließlich sozialwissenschaftliche Modelle präferiert und Störungen an der soziokulturellen Umwelt festgemacht wurden. Dabei ist übersehen worden: Der Sichtweise von Verhaltensstörungen als individueller Pathologie kommt ein nicht zu vernachlässigender Geltungsanspruch zu, denn dieser Ansatz hat zu entscheidenden fachlichen Impulsen und Fortschritten insbesondere im psychiatrischen Denken geführt. Auf dieser Grundlage sind zum Zweck der fachlichen Kommunikation Klassifikationssysteme entwickelt worden, mit deren Hilfe sich eine Störung eindeutig in einem System lokalisieren und mit einem Zahlencode belegen lässt. Damit wird eine interdisziplinäre Kommunikation über die unterschiedlichen, mit Verhaltensstörungen befassten Berufsgruppen möglich. Die am häufigsten verwendeten Systeme sind die ICD-10 der WHO (DIMDI 2006) und die DSM-IV der amerikanischen psychiatrischen Berufsvereinigung APA (American Psychiatric Association 1996).
Derzeit findet auf dem Hintergrund der Fortschritte der Hirnforschung eine Renaissance der medizinischen Auffassung statt, indem z.B. pathologische Hirnstrukturen von gestörten Kindern untersucht und aufgedeckt und möglicherweise in Zukunft auch durch entsprechende Interventionen behandelt werden. Allerdings wird verschiedentlich auf die Gefahren aufmerksam gemacht, dieses durchaus vielversprechende Forschungsgebiet zu einem neuen Menschenbild hochzustilisieren und die menschliche Entscheidungsfähigkeit und Verantwortlichkeit infrage zu stellen (vgl. Speck 2007).
Für den Kontext dieser Schrift wird die Auffassung einer individuellen Psychopathologie als Manifestation einer unbewusst stattfindenden Steuerung bei jenen Interventionsansätzen maßgeblich sein, die auf eine tiefenpsychologisch-therapeutische Behandlung hinauslaufen, wie etwa Kunsttherapien, aber auch die Life-Space-Crisis-Intervention (s. dazu Kap. 9 in diesem Band). Der ausschließlich medizinische Zugang zur Behandlung von Verhaltensstörungen mithilfe von Medikation ist für die Pädagogik nur insofern von Interesse, als die Kooperation zwischen Fachmedizinern und Förderpädagogen gefragt ist.
Unter einer sozio-kulturellen Perspektive werden Faktoren aufgeführt, die den Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Verhaltensstörungen einerseits und Milieuvariablen aus Nachbarschaft, Familie, Schule, Massenmedien oder Peergruppe andererseits betreffen.
Soziologische Erkenntnisse über das Funktionieren gesellschaftlicher Systeme haben im letzten Jahrhundert zu entscheidenden Denkanstößen in der Pädagogik geführt. Unter einer soziologischen Perspektive geht es um das Spannungsfeld zwischen Verhaltensnormen und Normabweichungen. Entsprechend werden Verhaltensstörungen als Tatbestände der sozialen Abweichung gesehen, wenn sich ein Schüler gewohnheitsmäßig nicht an soziale Regeln, Normen und Konventionen hält und deshalb mit sozialen Sanktionen belegt wird. Die Bestimmung von sozialen Regeln und Normen fällt nicht einfach, sie können explizit als Gesetze oder auch implizit als Konventionen oder Erwartungen definiert sein. Von jedem Mitglied der Gesamtgesellschaft, aber auch einer „Minigesellschaft“, einer Subkultur – wie der Schule – wird erwartet, dass es sein Verhalten auf ein vorgegebenes Normengefüge ausrichtet. Negative Konsequenzen erfährt, wer sich nicht an die offiziellen oder inoffiziellen „Spielregeln“ hält. Die Handlung des Einzelnen steht dann immer auch im Licht einer „öffentlichen Realität“, sie wird von Anderen wahrgenommen, bewertet und sanktioniert, und zwar in Richtung auf Konformität oder Abweichung. Verhält sich jemand dauerhaft oder extrem normabweichend, wird ihm das Etikett „auffällig“, „gestört“ etc. zugewiesen. Die sog. Etikettierungstheorie hat Einsichten darüber hervorgebracht, dass die einmal vergebenen Etiketten als soziale Stigmata extreme Konsequenzen für die Betroffenen nach sich ziehen können. Dem so Etikettierten verbleiben geringere Verhaltensspielräume, er hat nur wenige Möglichkeiten, sich gegen das ihm auferlegte Etikett zu wehren.
Im Gegensatz zur zuvor skizzierten medizinischen Sichtweise wird bei der soziokulturellen Perspektive ein fließender Übergang zwischen Anpassung und Abweichung, zwischen Normalität und Abnormalität postuliert. Normabweichungen sind also auf einem Kontinuum abbildbar, d.h. es kann ein Mehr oder ein Weniger an Abweichung geben. Es gibt kein objektiviertes Kriterium, an welcher Stelle des Kontinuums dieser Einschnitt zu erfolgen hat. Ausgewählte soziale Instanzen – wie Lehrkräfte, Richter, Polizisten, Sozialarbeiter – bestimmen mithilfe eines nach Konventionen vereinbarten „Cut-Off-Scores“, von welchem Punkt ab ein Verhalten als gestört etikettiert wird und ob bzw. wie das entsprechende Verhalten sanktioniert wird. Die Toleranz abweichendem Verhalten gegenüber hängt damit von den Instanzen ab, die es sanktionieren. Es gibt erhebliche Interpretationsspielräume, ob und wie jemand negativ etikettiert und sanktioniert wird. Auf den Schulbereich bezogen werden Störungen durch Einzelschüler unterschiedlich toleriert und sanktioniert, d.h. dass Lehrkräfte und Mitschüler ihre Einschätzung davon abhängig machen, welcher Schüler stört. In die Urteilsbildung gehen weiterhin Alter und Geschlecht, v.a. aber der gesellschaftliche Status der Eltern ein. Kinder aus ökonomisch unterprivilegierten, politisch unmaßgeblichen Elternhäusern bekommen, die Härte des Gesetzes vergleichsweise deutlicher zu spüren als Mittelschichtkinder. Ein sozialer Klassengegensatz wird auch insofern deutlich, als die Sanktionierenden selbst mächtige, einflussreiche und ökonomisch potente Mitglieder der Gesellschaft sind, die Sanktionierten dagegen ökonomisch abhängig und sozial weniger einflussreich.
Dabei stellen soziale Normen keine verlässliche Zeitgröße dar, sie können sich mit der Zeit auch ändern. So hätte man es früher weiblichen Personen negativ nachgetragen, in der Öffentlichkeit zu rauchen. Minderjährige Pärchen unbeaufsichtigt in der elterlichen Wohnung zu dulden, konnte in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts zur Anzeige der Eltern wegen „Kuppelei“ und Zulassung von „Unzucht“ führen. Lehrerinnen war es noch in den Siebzigerjahren nicht gestattet, auch in der kalten Jahreszeit zum Unterricht in langen Hosen zu erscheinen. Viele solcher Beispiele ließen sich aufführen, die belegen, dass ein früher deutlich sanktioniertes abweichendes Verhalten heute eher auf Toleranz, Verständnis oder auch auf Gleichgültigkeit stößt.
Zusammenfassend wird unter dieser Perspektive Verhaltensstörung als ein soziales Etikett angesehen, das an bestimmte Mitglieder der Gesellschaft vergeben wird, wenn diese abweichende Verhaltensweisen zeigen. Verhaltensstörung wird damit primär zu einer sozialen Abweichungskategorie.
Wenn wir die sozio-kulturelle Perspektive auf die Schule übertragen, können wir feststellen: Auch in der Schule gibt es explizite und implizite Verhaltensnormen, entsprechend werden abweichende Verhaltensweisen sanktioniert und als Verhaltens- bzw. emotionale Störung etikettiert, wenn sie häufig, konsistent-dauerhaft und intensiv wirkend („eindrucksvoll“) auftreten. Im amerikanischen Sprachgebrauch unterscheidet man zudem zwischen Verhaltensstörungen des Typus „high frequency – low impact“ sowie „low frequency – high impact“, womit gemeint ist: Manche Schülerstörungen treten häufig und dauerhaft auf, haben auf die soziale Umgebung jedoch keine unmittelbar gravierenden Auswirkungen (z.B. das Dazwischenreden im Unterricht); andere Verhaltensweisen sind selten, dafür jedoch extrem gravierend in ihren sozialen Folgen (z.B. schwere Körperverletzungen), d.h. eine einzige abweichende Verhaltensweise reicht aus, um mit dem Etikett „gestört“ belegt zu werden.
Die Perspektive von Verhaltensstörungen als sozio-kultureller Abweichung führt zu anderen Klassifikationssystemen als den oben aufgeführten ICD bzw. DSM. Die Aussage, ob ein Schüler extrem von der Norm abweicht, wird nicht durch ein Expertenurteil – wie im medizinisch-pathologischen Bereich –, sondern auf statistischem Weg gewonnen, bei welchem – wie oben angedeutet – der Gedanke eines Kontinuums bzw. eines „Mehr-oder-Weniger“ zentral wird. Die entsprechende Logik unterstellt, dass jeder Mensch zeitweise abweichende Verhaltensweisen wie z.B. Delinquenz zeigen könnte. Ob eine solche Verhaltensabweichung eine Verhaltensstörung ist, hängt von ihrem Ausmaß ab. Die entsprechende Entscheidung beruht auf einem – rein statistischen – Vergleich mit einer Vergleichsbevölkerung (wie z.B. gleichaltrigen Grundschülern) – und nicht auf einem Expertenurteil. Dabei wird ein Cut-Off-Score von 95 % bzw. 99 % angelegt wird, der besagt, dass – mit der Normpopulation verglichen – nur 5 % bzw. 1 % der Bevölkerung hinsichtlich des gemessenen Merkmals noch abweichender (z.B. „delinquenter“) sind als der getestete Proband. Die Störungsdimensionen werden ebenfalls empirisch gewonnen, d. h. aufgrund von komplexeren statistischen Analysen findet man zu Dimensionen oder Faktoren, die sich auf den Einzelfall auch anwenden lassen. Die Störungsdimensionen lassen sich hierarchisch in Breitband- und Schmalbandfaktoren ordnen. Im Endeffekt repräsentieren diese empirisch gewonnenen Verhaltensmerkmale stabile Faktoren abweichenden Verhaltens. Die beiden (übergeordneten) Breitbandfaktoren sind:
Neben diesen Breitbandfaktoren auf höherer Ebene gibt es auf nächst tieferer Ebene Schmalbandfaktoren, zu denen
zählen.
Hinter jedem dieser Schmalbandfaktoren stehen beobachtbare Symptome bzw. Verhaltensweisen, wie z.B. „zappelt auf dem Stuhl“ oder „unterbricht Andere beim Reden“, die beobachtet und eingeschätzt werden.
Die Aufdeckung dieser Schmal- und Breitbandfaktoren hat zur Entwicklung von Fragebögen geführt, die für diagnostische Zwecke eingesetzt werden; dabei schätzen Bezugspersonen oder die Probanden selbst das Auftreten von Verhaltensweisen bzw. Symptomen ein. Weit verbreitete Instrumente sind die Child Behavior Checklist (CBCL; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998), die Eltern an die Hand gegeben wird oder die Teacher Report Form für Lehrkräfte (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1993). Die zugrunde liegende Logik besteht also darin, dass allgemeine, empirisch ermittelte Faktoren beim Einzelfall in Form von Verhaltenssymptomen von Eltern bzw. Lehrern eingeschätzt und die Einschätzungen mit denen einer Normstichprobe verglichen werden. Die Aussage, ob ein Schüler extrem von der Norm abweicht, wird dann nicht durch ein Expertenurteil – wie im medizinisch-pathologischen Bereich –, sondern auf statistischem Weg gewonnen.
Der sozio-kulturellen Perspektive sind Interventionen zuzuordnen, die konzeptgemäß weniger an der Persönlichkeit des Einzelschülers, eher am sozialen Kontext ansetzen. Hervorragendes Beispiel dafür ist die Verhaltenstherapie bzw. Verhaltensmodifikation. Eingegriffen wird im konkreten Feld mit dem Ziel, störende, aus dem Rahmen fallende Verhaltensgewohnheiten, die vom Individuum selbst oder von der sozialen Umgebung als nicht normgerecht eingestuft werden, zugunsten produktiver Verhaltensweisen abzubauen. Der Kritik an den negativen Etikettierungsfolgen Rechnung tragend wird vermieden, Kinder mit negativen Eigenschaftsbegriffen zu belegen, Auffälligkeiten werden als abweichende Verhaltensweisen beschrieben. Wie sich im Kapitel zur Verhaltensmodifikation zeigen wird, kann man die Vorstellung eines Abweichungskontinuums auch auf der Interventionsebene wiederfinden: Verhaltensmodifikatorische Interventionen lassen sich in „normalen“ Unterrichtskontexten ebenso platzieren wie im speziellen Förderunterricht.
Die Kritik am auf Tierversuchen aufbauenden Paradigma der klassischen Verhaltensmodifikation Skinner’scher Prägung hat zur kognitiven Erweiterung des ursprünglichen behavioristischen Paradigmas als „kognitive Verhaltenstherapie“ geführt. Beide Richtungen, die der klassischen und die der Kognitiven Verhaltensmodifikation, werden in den folgenden Ausführungen einen größeren Stellenwert einnehmen, weil sie – der sozio-kulturellen Perspektive zugeordnet – Änderungen an dem Ort anstreben, an dem die Störungen auftreten. Den beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass es nicht so sehr um das klare Identifizieren und Diagnostizieren psychopathologischer Zustände geht, vielmehr darum, unproduktive Verhaltensweisen und gedankliche Prozesse so zu verändern, dass die Verhaltensmöglichkeiten des Schülers ausgeschöpft und weiterentwickelt werden.
Insgesamt lässt sich festhalten: Da die Schule eine Sozialisationsinstanz darstellt, ist der sozio-kulturellen Perspektive ein zentraler Stellenwert hinsichtlich der einzusetzenden Interventionen, die in dieser Schrift behandelt werden, zuzuweisen.
Interventionen, die dieser sozio-kulturellen Perspektive zuzuordnen sind, sind also Verhaltensmodifikation (s. dazu Kap. 3), Kognitive Verhaltensmodifikation (s. Kap. 4), Rational-emotive Therapie (s. Kap. 5), Attributionstrainings (s. Kap. 6) und die Realitätstherapie (s. Kap. 7).
Wenn eine Verhaltens- bzw. emotionale Störung als Ergebnis der Entfremdung der Person von sich selbst begriffen wird, wendet man sich gewissermaßen der psychologischen Innenperspektive zu und begibt sich in das Gedankenfeld der Humanistischen Psychologie, die den phänomenologischen Denkansätzen zuzuordnen ist. Dabei steht die Einzelperson im Mittelpunkt des Interesses und wird in der Weise untersucht, wie sie mit ihren Selbstwahrnehmungen und subjektiv eingefärbten Erfahrungen ihren Alltag erlebt. Es handelt sich um einen ganzheitlichen Ansatz in dem Sinn, dass man sich nicht auf Einzelaspekte bzw. Einzelkomponenten des Seelenlebens, wie Denkvorgänge oder Verhaltensweisen, bezieht, sondern auf das phänomenale Ganze der Person. In der Humanistischen Psychologie wird nicht nach Defiziten und Unzulänglichkeiten gefragt, sondern danach, wie die seelische Gesundheit angesichts unzuträglicher äußerer Bedingungen hergestellt, erhalten bzw. gestärkt werden kann.
In Abhebung zu den zuvor aufgeführten Perspektiven lässt sich nach Gardiner (1980, 80ff.) der humanistische Ansatz so kennzeichnen:
Das Bedürfniskonzept spielt im humanistischen Ansatz eine zentrale Rolle. Die Perspektive von Abraham Maslow (1977), einem prominenten Vertreter der Humanistischen Psychologie, ist auf die Selbstaktualisierung als das höchste menschliche Bedürfnis in einer Reihe von Bedürfnissen gerichtet. Bedürfnisse sind in einer Hierarchie organisiert, die von Defizitbedürfnissen zu Wachstumsbedürfnissen führen. Deshalb sollte sich die Psychologie seiner Ansicht nach auch mit der normalen, gesunden Persönlichkeit auseinandersetzen und ihre Grundlagen nicht aus der Psychopathologie des Menschen beziehen.
Zu den grundlegenden, den Defizitbedürfnissen zählt Maslow (1977, 74f.) physiologische, Sicherheits-, Zugehörigkeits- bzw. Liebes-, Achtungsbedürfnisse; daran schließen sich erst die Wachstumsbedürfnisse wie das Bedürfnis nach Wissen und Verstehen und auch ästhetische Bedürfnisse an, die stets auf das Bedürfnis individueller Selbstverwirklichung ausgerichtet sind. Bei Maslow ist ein hohes Ausmaß an Bedürfnisbefriedigung gleichzusetzen mit emotionaler Gesundheit. Die unteren biologischen und sozialen Bedürfnisse sind in einer westlichen Gesellschaft relativ leicht zu befriedigen, sodass eigentlich viel Energie zur Befriedigung der weniger leicht zu sättigenden Wachstumsbedürfnisse zur Verfügung stünde. Bedürfnisanreize in den westlichen Konsumgesellschaften sind jedoch auf die Erfüllung von Defizitbedürfnissen ausgerichtet. Die Gesellschaft scheint darauf konditioniert zu sein, wie in einem Zirkel Defizitbedürfnisse immer wieder neu anzusprechen. Hier handelt es sich im Sinne Maslows um eine Pervertierung der ursprünglich sinnvollen Basisbefriedigungen. Es liegt auf der Hand, dass solche pervertierten Lebensbedingungen nicht zum individuellen Lebensglück, dagegen eher zur Entwicklung von psychosozialen Störungen führen können. Auf die Schule übertragen ergibt sich eine fundamentale Kritik durch die Tatsache, dass die auf Benotung und Verstärkung beruhende extrinsische Motivierung das Wachstumsbedürfnis nach Wissen und Verstehen bei Kindern zum Verschwinden bringen kann.