Arto Paasilinna (* 20. April 1942 in Kittilä) ist einer der populärsten Schriftsteller Finnlands. Er wird häufig als »Meister des skurrilen Humors« bezeichnet und wurde für seine Bücher mit zahlreichen nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. So bekam er z. B. den Air Inter Prize in Bordeaux 1998 und den Premio Letterario Giuseppe Acerbi im Jahre 1994.
Er lebt heute im südfinnischen Espoo-Westend nahe Helsinki.
Paasilinna pflegt bereits seit vielen Jahren eine regelmäßige Veröffentlichungspolitik, nach der pro Jahr ein Buch erscheint, meist im finnischen Herbst. Sein Verleger: »Der jährliche Paasilinna ist ein Element des finnischen Herbstes, so wie die fallenden Birkenblätter.« Mehr als ein Dutzend Romane erschienen in deutscher Übersetzung, einige auch als Hörbücher. Sein bisher erfolgreichstes Buch ist DAS JAHR DES HASEN. Es wurde ins Französische, Estnische, Japanische, Niederländische, Englische, Deutsche, Tschechische, Albanische, Isländische, Schwedische, Italienische, Spanische, Hebräische, Ungarische, Dänische, Kroatische, Griechische, Lettische, Litauische, Norwegische, Polnische, Slowenische, Russische und Galizische übersetzt.
Heißes Blut,
kalte Nerven
Roman
Übersetzung aus dem Finnischen von Regine Pirschel
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der finnischen Originalausgabe:
»Kylmät hermot, kuuma veri«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Arto Paasilinna
Published by arrangement with WSOY, Helsinki
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: FAVORITBÜRO, München
Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com/pio3/gigello
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-0612-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In »Heißes Blut, kalte Nerven« verfolgen wir das Leben des wackeren Antti Kokkoluoto, Sohn eines Kaufmanns. Geboren im Jahre 1918, nur einen Monat nach der Gründung des selbstständigen Staates Finnland, beginnt seine Lebensreise durch die Wechselfälle der finnischen Geschichte. Da diese dem deutschen Leser nicht immer so gut vertraut sein mögen, hier ein paar kurze Anmerkungen:
Als Antti Kokkoluoto, der Held dieses Buches, das Licht der Welt erblickte, war der selbstständige Staat Finnland ebenfalls sehr jung und gerade erst aus der Wiege gehoben worden. Gerade mal einen Monat war es her, dass Finnland am 6. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Bis dahin hatte es als autonomes Großfürstentum zu Russland gehört, von dem es sich nach der Oktoberrevolution losgesagt hatte.
Und dennoch hatten die bolschewistischen Ideen in Finnland längst Einzug gehalten, die Kluft zwischen Rechten und Linken in der Bevölkerung wuchs. Ende Januar 1918 erhoben sich der radikale Flügel der Linken und die Roten Garden. Es kam zum Bürgerkrieg, der bereits Mitte Mai 1918 mit einem Sieg der Regierungstruppen unter General Mannerheim beendet wurde. Der Staat stabilisierte sich, Gesetze wurden erlassen – unter anderem das viel geschmähte Prohibitionsgesetz, das von 1919 bis 1932 in Kraft war und dem Schmuggel Tür und Tor öffnete. Die sogenannte »Lapua-Bewegung«, die sich den italienischen Faschismus zum Vorbild nahm, erwirkte 1930 das sogenannte »Kommunistengesetz«. Ein Putschversuch der »Lapua-Bewegung« wurde jedoch dann von Regierungstruppen niedergeschlagen.
Unstimmigkeiten bei Gebietsforderungen führten dazu, dass die Sowjetunion den bestehenden bilateralen Nichtangriffspakt mit Finnland aufkündigte und das Land im November 1939 angriff. Dieser »Winterkrieg« endete schließlich nach drei blutigen Monaten im März 1940.
Finnland suchte in der Folge Sicherheit an der Seite des faschistischen Deutschlands und geriet dadurch erneut in den Strudel des Krieges. Russische Bombenangriffe auf finnische Städte führten zum »Fortsetzungskrieg«, der erst 1944 mit einem Waffenstillstand endete. Finnland verlor dabei Gebiete an die Sowjetunion, z.B. das Petsamo-Gebiet am nördlichen Polarmeer. Tausende Flüchtlinge siedelten nach Finnland über.
Bemerkenswert war die Rolle der Frauenhilfstruppe »Lotta-Svärd« während des Krieges. Die »Lottas« agierten auch an der vordersten Linie und sorgten für Verpflegung und Krankenbetreuung.
Im Pariser Frieden 1947 wurde Finnland zu Reparationszahlungen an die Sowjetunion verpflichtet, die hauptsächlich mit Produkten der Metallindustrie abgegolten wurden.
Der finnische Staatspräsident Paasikivi, 1946 ins Amt gewählt, bemühte sich um den Ausbau vertrauensvoller Beziehungen zur Sowjetunion. 1948 wurde zwischen beiden Ländern ein Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand abgeschlossen.
Der spätere Staatspräsident Kekkonen erlangte durch seine aktive Neutralitätspolitik weltweite Anerkennung. Seit 1995 ist Finnland Mitglied der EU.
Regine Pirschel
Es geht hoch her, wenn eine Hexe auf dem stürmischen Meer in Trance fällt. Die Möwen werfen sich gegen die Wellen, und die Seeschwalben weinen.
Die Fischerin, Geburtshelferin und Wahrsagerin Linnea Lindeman ruderte an einem windigen Herbsttag des Jahres 1917 durch den Bottnischen Meerbusen, um nach ihren Reusen zu sehen. Sie besaß ein dreißig Fuß langes Robbenboot und drei Reusen. Ihr Fangplatz befand sich sechs Meilen nördlich des Hafens Ykspihlaja. Linnea war früh am Morgen hinausgefahren, und im Laufe des Tages hatte der Wind an Stärke zugelegt. Aber Linnea hatte keine Angst vor schwerer See, sie mochte die kräftigen Herbststürme. Auf der Heimfahrt zog sie die Ruder ein und ließ sich vom Rückenwind auf den Schaumkronen zum heimischen Anlegesteg treiben.
Linnea Lindemans sehniger Körper begann zu beben. Sie schloss die Augen und nahm Kontakt zu den fremden Gefilden jenseits des realen Lebens auf. Ihr Geist schweifte über das seltsame Meer der übersinnlichen Welt wie das Licht eines Leuchtturms und empfing aus den unendlichen Höhen des Himmels eine deutliche Botschaft. Die Nachricht schoss aus den Sturmwolken herab wie ein zweiköpfiger Seeadler, ein Aar, und sie enthielt zwei präzise Daten. Linnea würde am achten Tag im Januar einem Knaben auf die Welt helfen, und dieser würde erst im Sommer 1990 sterben. Denn wenn eine Hexe schläft, bleibt ihr Gehirn wach.
Linnea Lindeman wohnte im Dorf Ykspihlaja, dem Außenhafen von Kokkola. Ihr Haus befand sich in guter Lage, fast am Meeresufer. Hinter ein paar herrschaftlichen Villen war die Hafenbucht Potti zu sehen, wo auch Linneas Boot lag. Nach Norden hin gab es ein paar Wohnviertel, ein neu erbautes Gewerkschaftshaus und dahinter einen kleinen Süßwassersee. Linnea war um die fünfzig und bereits verwitwet. Normalerweise saß ihre Freundin Hanna mit im Boot, und sie ruderten gemeinsam.
Hanna wohnte in der Stadt Kokkola und war mit dem Kaufmann Tuomas Kokkoluoto verheiratet. Vor ihrer Heirat, und auch noch einige Jahre danach, hatte sie als Lehrerin in Ykspihlaja gearbeitet, aber als dann ihre Kinder geboren wurden, hatte sie sich entschieden, zu Hause zu bleiben. Gerade jetzt war sie erneut schwanger und rechnete mit der Geburt noch vor Weihnachten, spätestens aber im Januar. Die Eheleute hatten bereits fünf Kinder, zwei Söhne und drei Töchter. Und von einer Frau, die im siebenten Monat schwanger war, konnte man nicht erwarten, dass sie ein schweres Robbenboot ruderte.
Unten im Boot zappelten Unmengen großer Fische, fast hundert Kilo hatte Linnea aus den drei Reusen geholt. Sie plante, einen Teil ihrer Beute als Wintervorrat einzusalzen. Den Rest konnte sie in Kokkola auf dem Markt verkaufen, oder Hanna würde das tun, denn mit Fischen konnte sie durchaus noch handeln, auch wenn sie in zwei Monaten ihr Kind bekommen würde.
Linnea lenkte ihr Boot zügig in Richtung Potti. Hannas nächstes Kind würde ein Junge sein, so viel wusste die Wahrsagerin jetzt, denn eben über jenes Baby hatte sie vorhin Informationen eingeholt. Ein gesundes Kerlchen, aus dem ein guter Fischer, zumindest aber ein tüchtiger Kaufmann werden würde. Linnea begann auszurechnen, in welchem Alter Hannas Sohn sterben würde. Jedenfalls würde er älter als siebzig werden. Sie musste unbedingt sofort an den Telefonapparat eilen und Hanna von all diesen guten Voraussagen erzählen. Linnea hatte sich das Geburtsdatum genau eingeprägt. Anfang Januar sollte es geschehen, genau am achten Tag des Monats. Auch den Todestag hatte sie deutlich gesehen, und auch dass es ein heißer Sommertag sein würde, an dem ein stattlicher alter Herr als jovialer Gastgeber an einer langen, vornehmen Festtafel präsidierte.
Linnea Lindeman ließ ihren Kahn in die Hafenbucht treiben, machte ihn am Steg fest und packte ihren Fang in Spankörbe. Sie holte den Handwagen aus ihrem Haus und schaffte die Fische in den Keller. Als die Arbeit erledigt war, wusch sie sich die Hände und eilte zur schmucken Villa der Hurskainens, ihrer Nachbarn, wo sie umgehend eingelassen wurde, nachdem sie an die Küchentür geklopft hatte. In der Küche stellte sie eine Metze frischen Fisch auf den Spültisch und bat Hurskainens Magd Sonja, bei Kaufmann Tuomas Kokkoluoto und seiner Frau Hanna anzurufen – sie habe ein dringendes Anliegen. Die Magd verschwand im Salon und kam mit der Mitteilung zurück, dass sich beim Kaufmann momentan niemand melde. Vielleicht sollte man es in einer Stunde erneut versuchen. Während der Wartezeit könnten sie Kaffee trinken, zumal der Hausherr nicht anwesend war. Hurskainen, Oberingenieur im Sägewerk von Ykspihlaja, war nach Vaasa gereist, wo sich große Dinge taten.
Die Zeiten waren unruhig. Auch im Außenhafen von Kokkola waren im Verlaufe des Herbstes mehrmals Streiks aufgeflammt. Gerade waren die Arbeiter dabei, eine Abteilung roter Kämpfer zum Schutz von Hafen und Stadt zu bilden. In Helsinki und Tampere existierten bereits solche Garden. Und es ging das Gerücht, dass Tausende Jäger von ihrer Ausbildung aus Deutschland heimkehrten. Sie wurden per Schiff in Vaasa erwartet und sollten den im Land verstreuten russischen Truppen den Garaus machen. Wie es hieß, sollte anschließend eine eigene Weiße Armee im gerade erst unabhängig gewordenen Finnland gebildet werden. Auf allen Seiten rüstete man sich für den Krieg, und überall schien er gewollt.
Sonja nahm die Fische aus, anschließend servierte sie auf dem Küchentisch Kaffee und sogar Gebäck. Linnea kannte das Mädchen näher, hatte ihr ein gutes Leben vorausgesagt, wenngleich Sonjas Schicksal in Wahrheit nicht sehr rosig ausfallen würde. Das behielt Linnea allerdings lieber für sich. Nach einer Stunde rief die Magd erneut in der Stadt an. Noch immer keine Antwort. Womöglich war die Leitung gestört, auch die Leute vom Fernmeldedienst hatten in letzter Zeit gestreikt.
Obwohl die beiden Frauen in der großen Villa allein waren, senkte Sonja die Stimme. Könnte Linnea wohl einmal mit dem Blick der Wahrsagerin schauen, welchen Mann das Schicksal für sie bereithielt? An interessierten Kandidaten fehlte es nicht, aber wie sollte ein unerfahrenes Mädchen wissen, wen sie wählen, mit wem sie ihr Leben teilen sollte.
Linnea überlegte sich ihre Worte genau. In einer so wichtigen Angelegenheit galt es klug zu handeln. Sie schloss die Augen und begann von Sonjas künftigem Ehemann zu erzählen. Groß, dunkelhaarig, aus Kemi stammend, ein Seemann, der mit Holzwaren bis nach Deutschland und England unterwegs war. Noch jung, knapp über zwanzig.
»Hinkt ein wenig, ist aber sonst wacker und von gutem Charakter.«
»Ist er ein Saufbold?«, fragte das Mädchen gespannt.
»Trinkt nicht und spielt keine Karten, ist aber auch nicht religiös.«
Sonja wollte den Namen ihres unbekannten Bräutigams wissen, aber Linnea sagte, dass sie solch genaue Details nicht weissagen konnte, wenn es die Partnerwahl betraf. Wie der Mann hieß, würde sich zu gegebener Zeit herausstellen. In diesen Dingen sollte man nichts übereilen.
»Er trägt Stiefelhosen und gute Stiefel, dazu eine grüne Jacke. Ein tüchtiger Arbeiter und treuer Ehemann, wenn er dich erst mal gefunden hat. Ihr bekommt sechs Kinder, und Witwe wirst du erst, wenn du in meinem Alter bist.«
Linnea konnte es nicht lassen, der kleinen Närrin immer neue interessante Eigenschaften ihres Bräutigams aufzutischen. Sie erwähnte, dass er eine prächtige Nase hatte, unter der er einen dichten Schnauzbart trug. Im Sommer lief er gern wie ein feiner Herr mit einem Strohhut herum. Er besaß ein Akkordeon, auch wenn er es nicht sehr gut spielte.
Glücklich lief Sonja ein weiteres Mal in den Salon, um die Telefonkurbel zu drehen. Diesmal meldete sich der Kaufmann. Tuomas Kokkoluoto war ein mittelgroßer, adretter Mann mit einem energischen Auftreten – ruhige Stimme, aufmerksamer Blick. Er trug einen grauen Anzug und eine Fliege in der gleichen Farbe, dazu blank geputzte Stiefel.
Sonja bat ihn, seine Gattin an den Apparat zu rufen, Linnea Lindeman aus Ykspihlaja habe ein furchtbar wichtiges Anliegen. Tuomas stieg in die Privatwohnung hinauf, die sich im Obergeschoss des Kaufmannshauses befand, um seine Frau zu holen. Er betrachtete die Szenerie, die sich ihm bot, Hanna spielte in der Küche mit den Kindern Blindekuh, alle krochen auf den Knien herum und lachten sich fast tot.
»Schluss jetzt, du hast einen Anruf von diesem Hexenweib«, knurrte er mit gespielter Gereiztheit, aber alle wussten, dass er in Wirklichkeit keineswegs wütend war. Er half seiner Frau vom Fußboden hoch und drückte sie bei der Gelegenheit an sich. Hanna war trotz ihrer Schwangerschaft erstaunlich schön. Die Grübchen auf den Wangen und die weißen Zähne verliehen ihrem Gesicht einen besonderen Reiz. Ihre Stimme war warm und klang irgendwie klug. Und klug war Hanna tatsächlich, und lustig war sie auch.
Linnea meldete sich aufgeregt:
»Hier ist Linnea, ich habe gute Nachrichten! Als ich von den Reusen zurückfuhr träumte ich, dass dein Baby am achten Januar geboren wird, und es ist ein Junge!«
Linnea wolle sich jedoch über so wichtige Dinge nicht gern am Telefon auslassen, wenn also Tuomas keine Einwände habe, würde sie mit dem Morgenzug in die Stadt kommen, um Fische für den Verkauf zu bringen und Hanna bei der Gelegenheit mehr von ihrem Baby zu erzählen.
Am nächsten Morgen keuchte um acht Uhr ein Zug aus Richtung Hafen in den Bahnhof von Ykspihlaja, der nur einen einzigen Personenwagen und fünf Güterwagen mit sich führte. Linnea stand mit ihrem Fischkorb rechtzeitig auf dem Perron. Es war ein klarer Herbstmorgen, der Sturm vom Vortag hatte sich gelegt, die Sonne ging gerade auf und vom Meer her wehte ein kühler, salziger Wind. Die Lok fauchte Dampf auf den Bahnsteig, der irgendwie aufregend roch, er war warm und feucht und kündete von ruhiger Kraft.
Der Schaffner erklärte Linnea, wie jedes Mal, dass man im Personenwagen keine stinkenden Fische mit sich führen durfte, sie mussten im Güterwagen transportiert werden. Linnea steckte ihm einen drei Kilo schweren Hecht zu, den sie filetiert und säuberlich in einer Schale aus Birkenrinde verpackt hatte. Er nickte zufrieden und geleitete die Wahrsagerin zu einer Sitzbank, trug sogar ihren Fischkorb und stellte ihn im Eingangsbereich des Waggons ab. So hatten sie es bisher stets gehalten, und eine Fahrkarte brauchte Linnea auch nicht vorzuweisen.
Von Ykspihlaja bis zum Bahnhof Kokkola waren es nur sieben Kilometer. Linnea schloss die Augen und versuchte über Frauenangelegenheiten nachzudenken, über Hanna und den Knaben, den sie bald gebären würde, und über die Partnerwahl von Hurskainens Magd. Sie konnte jedoch keine geistige Verbindung herstellen, und bald pfiff die Lok zum Zeichen, dass der Zielbahnhof erreicht war.
Hurskainens Magd Sonja heiratete im drauffolgenden Sommer tatsächlich einen jungen Seemann aus Kemi. Er hinkte leicht, hatte die von Linnea beschriebenen Gesichtszüge einschließlich des Oberlippenbartes, er versuchte sich auf dem Akkordeon, ja er besaß sogar einen Strohhut. Aber charakterlich taugte er nichts, bei der Arbeit war er träge, zu Hause unglaublich eifersüchtig und brutal, und seine junge Ehefrau verprügelte er im Suff. Die Familie lebte in Armut, die Kinder kränkelten, das Heim war in jeder Hinsicht elend. Zum Glück fiel der Mann schon in der zweiten Woche des Winterkrieges bei den Abwehrkämpfen von Suomussalmi.
Der Gemischtwarenladen der Kokkoluotos war klein und gemütlich, der Verkaufstresen höchstens drei Meter lang. Durch das sechsteilige Fenster blickte man auf den Marktplatz der Stadt und zwei einmündende Straßen. Neben der Eingangstür stand eine Bank, unter dem Fenster eine zweite, mehr Mobiliar war nicht vorhanden. In den Regalen hinter dem Kaufmann standen ordentlich aufgereiht Zuckerdosen, Tüten mit Mehl, Graupen und weiteren Lebensmitteln, auf der anderen Seite lagerten Pferdegeschirr, Lederstiefel, eine Auswahl an Werkzeug sowie eine Kiste mit Nägeln. Auf dem Tresen lag ein Stapel graues Einwickelpapier, daneben standen eine Waage mit einer Reihe unterschiedlicher Gewichte sowie eine zweite, extra große Waage mit Laufgewicht und Lasthaken.
Hinter dem Laden gab es einen größeren Raum, der als Lager und Kontor diente, und im Obergeschoss des Hauses befanden sich zwei Wohnräume, aus denen die Stimmen spielender Kinder und das Trappeln kleiner Füße zu hören waren. Im Hinterhof des Gebäudes lagen ein Nebenlager des Ladens sowie ein Stall, in dem der Kaufmann sein Pferd und ein paar Schafe hielt. Kutsche und Schlitten standen im Lager zusammen mit ein paar Fässern zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln, zum Beispiel gesalzenem Fleisch und Lachs, und einigen Mehlsäcken, die zum Schutz vor Ratten an die Deckenbalken gehängt worden waren.
Der Laden war bereits geöffnet, als Linnea ihn mit ihrem Fischkorb ansteuerte. Trotz der frühen Stunde hatte sich dort bereits ein Dutzend streikender Hafenarbeiter aus Ykspihlaja eingefunden. Sie saßen in Kokkoluotos Laden, in dem man gut die Zeit totschlagen und all die Probleme bereden konnte, die momentan die Nation bewegten. Natürlich gab es auch daheim in Ykspihlaja Läden, einer befand sich sogar unmittelbar am Meeresufer und ein zweiter im Hafen. Aber in den Zeiten des Streiks wollten die Männer wenigstens ab und zu in die Stadt fahren, um Neuigkeiten zu erfahren oder einfach ein bisschen herumzustreunen.
Die Männer sprachen begeistert von der neuen feuerroten Ära und der Machtübernahme der unterdrückten Arbeiter, die nur noch eine Frage der Zeit und der Kraft war.
Hanna und Linnea amüsierten sich über die kriegerischen Pläne. Hanna äußerte denn auch halblaut, dass die Männer besser daran täten, sich auf dem nächsten Schiff als Decksleute zu verdingen und in ruhigere Länder auszuwandern – etwa ins ferne Afrika oder nach Amerika, wo man keine Kriege mehr fürchten musste. Dorthin, wo man über Tausende von Jahren hinweg fortwährend Kriege geführt hatte, die inzwischen wegen des enormen Kräfteverschleißes abgeebbt waren.
Die Männer merkten, dass Hanna sie für naive und ungebildete Tölpel hielt, mochten ihr aber, in Anwesenheit des Hausherren und der Wahrsagerin, nicht zürnen. Außerdem war Hanna verwirrend schön.
Der Kaufmann erkundigte sich bei den Männern, ob sie gekommen waren, um etwas zu kaufen oder ob sie nur im warmen Laden herumsitzen und die eigentlichen Kunden vom Kaufen abhalten wollten. Sie gestanden, dass sie kein Geld hatten, aber wenn möglich würden sie gern ein paar Brote und gesalzenen Fisch mitnehmen und die Ware bezahlen, sobald der Streik beendet wäre.
Kokkoluoto wickelte ihnen drei Brotlaibe ein und packte ein Kilo gesalzene Maränen fest in Papier. Mit dieser Beute verließen die Männer den Laden. Draußen vor der Tür schnitten sie sich mit ihren Dolchen Brotscheiben ab und aßen mit den Fingern Maränen dazu. Sie waren sehr hungrig. An dem dämmerigen Herbstmorgen und in ihren grauen Jacken wirkten sie wie eine Schar Seeadler über dem Aas. Sie waren beseelt von dem Glauben, dass bald eine Zeit anbrechen würde, da sie nicht mehr ums Essen betteln müssten.
Schnell waren das Brot und die Fische verzehrt. Die Männer leckten ihre Dolche ab, steckten sie in die Scheide und machten sich auf den Heimweg.
Nach einer Weile klopfte es an der Tür. Herein trat, misstrauisch um sich blickend, Oskari Pihlaja, Oberlehrer und ein Bekannter Hannas aus ihrer Zeit im Schuldienst.
»Sind sie weg?«
Der grauhaarige Lehrer wusste natürlich ganz genau, dass die Männer in den kalten Herbstmorgen hinausgegangen waren. Er hatte beobachtet, dass sie wie streunende Hunde auf der Straße gegessen und sich dabei erdreistet hatten, laut über den Kaufmann zu lachen, der so dumm war, kostenlos Nahrungsmittel zu verteilen, so berichtete er jetzt.
Hanna sagte ihm, dass die Männer versprochen hatten, die Ware zu bezahlen und dass sie sehr hungrig gewesen waren.
Der Lehrer fand, dass das Pack daheim bleiben oder zur Arbeit gehen, sich aber jedenfalls nicht in der Stadt herumtreiben sollte. Die ganze Nation litt derzeit Mangel, da war es nicht richtig, die Schiffe unnötig im Hafen liegen zu lassen. Er musterte mit vielsagendem Blick den dicken Bauch seiner ehemaligen Kollegin, der von einer nahenden Geburt kündete. Man müsse an die kommenden Generationen denken, meinte der Lehrer. Man erlebe gerade nationale Schicksalszeiten. Noch vor wenigen Jahren waren die Finnen gedemütigte Untertanen Russlands gewesen, und jetzt waren die schlimmsten Roten dabei, all das Gute zu zerstören, das man unter großen Opfern erreicht hatte. Gegen den Zaren hatte man sich jedenfalls nicht mit passivem Widerstand begnügen können, da war schon Gewalt nötig gewesen.
Der Lehrer erging sich jetzt in Erinnerungen an eine Feier der ostbottnischen Studenten im Porthania-Saal der Helsinkier Universität, die vor einigen Jahren stattgefunden hatte. Er hatte selbst als Vertreter Kokkolas teilgenommen, und die Festrede Kaarlo Kallialas hatte ihn tief beeindruckt. Magister Kalliala hatte ehrende Worte für die Heldentaten der älteren Generationen gefunden und dabei die Hand um ein altes Schwert gelegt, das dem ostbottnischen Studenten während des Großen Unfriedens als Waffe gegen den Erbfeind gedient hatte.
»Ungeachtet zahlreicher Fürsprecher war der unblutige Widerstand zum Scheitern verurteilt«, sagte Oskari Pihlaja.
Hanna und Linnea meinten, dass der Herr Lehrer ja in einer sehr poetischen Stimmung sei. Doch diese Bemerkung löschte das Feuer in der Seele des Mannes nicht, sondern er fuhr vielmehr fort:
»Die heutige Jugend betrachte ich als eine Generation, die unverdorben ist und sich leidenschaftlich der Sache des Vaterlandes verschrieben hat. Ihr werdet es noch erleben: Die gesunde finnische Jugend wird mit geladenen Waffen vortreten, als Jäger, die im kultivierten Deutschland gelernt haben und das Gelernte an das ganze Volk weitergeben. Dann ist endlich die Zeit gekommen, dieses rote Pack in die Schranken zu weisen, das immer noch die ehrenvolle Zukunft des hehren Finnland gefährdet.«
»Amen«, beschloss Hanna den Wortschwall des Lehrers.
»Ja, genau! Amen und noch tausendmal Amen!«
Der Laden füllte sich mit Kunden. Hanna und Linnea nahmen den Fischkorb und gingen auf den Markt. Jetzt hatte Linnea Gelegenheit, von ihrem hellsichtigen Traum zu erzählen. Sie beschrieb den kleinen Jungen, seine Bewegungen, die Patschhändchen und die blauen Augen. Dann erzählte sie, dass sie denselben Jungen als Erwachsenen gesehen hatte, oder eigentlich schon als alten Mann, und zwar auf einem prächtigen Fest. Sie hatte sich sein Todesjahr und die Jahreszeit gemerkt. Hanna errechnete, dass ihr Kind älter als siebzig werden würde, sofern auf Linneas seltsame Prophezeiung Verlass wäre.
»Zweifelst du daran? Ich habe bisher noch nie Scheinvisionen gehabt, und dieser Traum war ganz besonders deutlich, auch die Daten – wie direkt vom Kalender abgelesen.«
Hanna beteuerte, dass sie auf die Klarheit von Linneas Vision vertraue, schließlich wäre es ja nur gut, wenn das Kind gesund zur Welt kommen und lange leben würde.
Auf dem Markt angelangt, breiteten die beiden Frauen ihre Fische in der Bude eines alten Bekannten, des Fischhändlers Hans Tallbacka, aus. Linnea hatte selbst auch eine Verkaufserlaubnis, und sie besaß einen großen Klapptisch, aber sie mochte das Ungetüm nicht extra aus dem Lager der Markthalle holen, wo sie doch nur einen einzigen Korb mit Ware hatte. Bis zum Mittag waren die Fische verkauft, und die Frauen verließen den Markt. Hanna ging nach Hause und Linnea zum Bahnhof, um auf den Nachmittagszug zu warten. Beiden bescherte der Gedanke, dass der Junge, dessen Geburt bevorstand, gesund sein und lange leben würde, ein gutes Gefühl, und zwar ganz ungeachtet der Tatsache, dass das ganze Land in einem Strudel blutiger Kämpfe zu versinken drohte.
Am Morgen des ersten Dienstags nach Neujahr herrschte strenger Frost, und der Wind blies aus Nordwest. Auf dem Marktplatz von Kokkola versammelten sich Männer des Schutzkorps in grauen Uniformen und mit weißen Armbinden. Sie teilten sich in Dreiergruppen auf und begannen damit, die Stadt Viertel für Viertel und Haus für Haus zu durchkämmen. Sie suchten nach Waffen und revolutionärer Literatur. Die erste Gruppe nahm sich das Kaufmannshaus der Kokkoluotos vor, bald nachdem der Laden geöffnet hatte. Angeführt wurde sie von Lehrer Oskari Pihlaja. Doch dieses Mal klopfte er nicht erst an die Tür, und er verzichtete auch auf Höflichkeitsfloskeln, verlangte vielmehr Zutritt zu sämtlichen Räumen des Hauses wie auch zum Stall- und zum Lagergebäude im Hinterhof.
»Unerlaubte Waffen werden konfisziert, und falls Sie Widerstand leisten, werden Sie gnadenlos zur Verantwortung gezogen.«
Hanna sah ihren einstigen Kollegen scharf an.
»Quatsch! Verzieh dich, mach dass du fortkommst aus diesem Haus.«
Doch die hochschwangere schöne Frau fand kein Gehör, die Männer begannen mit einer gründlichen Hausdurchsuchung, fanden allerdings nichts weiter als das Fleischerbeil. Oder doch, an der Wand des Lagerraumes hing ein Robbengewehr mit langem Lauf. Kaufmann Tuomas Kokkoluoto nahm das Gewehr herunter und erklärte, dass er es nicht hergeben werde. Im Spätwinter werde es sicher wieder eine gute Robbenzeit geben. Und als Familienvater könne er es sich nicht leisten, das teure Gewehr abzugeben, wozu er auch gar nicht verpflichtet sei.
Es handelte sich um ein schweres Gewehr vom Typ Lebel modèle, ursprünglich österreichischer Bauart. Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es im Besitz der französischen Armee gewesen, und weil es auf der langen Distanz außerordentlich präzise war, eignete es sich gut zur Robbenjagd. Tuomas’ Vater hatte es seinerzeit auf einer Auktion erworben. Mit dem Gewehr waren angeblich im Krieg gegen die Türkei tausend Mann getötet worden, auch wenn das wohl kaum stimmen konnte, da es immer noch fast wie neu war. Tuomas angelte sich von einem Wandbord mehrere Acht-Millimeter-Patronen und lud das Magazin der Lebel, dann spannte er das Gewehr und forderte die Kontrolleure auf, sein Haus zu verlassen. Sie erbleichten und eilten hinaus. Der Kaufmann folgte ihnen bis vor die Tür und feuerte einen Schuss ab. Das dumpfe Dröhnen machte den uniformierten Schutzkorpsmitgliedern Beine, und auch die anderen Gruppen entschieden, dass die Hausdurchsuchungen für dieses Mal erfolgreich abgeschlossen wären. Aber sie würden im Bedarfsfall darauf zurückkommen, schworen sie beim Aufbruch.
Gegen Abend, als sich bereits die Dunkelheit über die Stadt gesenkt hatte, sagte Hanna zu ihrem Mann, dass sie nun das Gefühl habe, das Kind werde kommen. Das Pferd müsse angespannt werden, damit sie nach Ykspihlaja in die Obhut von Linnea Lindeman käme. Schon bald könnte das Fruchtwasser austreten. Ihr Mann rief bei den Hurskainens an und bat Sonja, der Hebamme eine entsprechende Nachricht zu überbringen.
Obwohl die Kokkoluotos bereits das sechste Kind bekamen, war Tuomas dennoch nervös. Sofort eilte er in den Stall, wo alles bereitstand. Das Zaumzeug schnell um den Hals des Gauls gelegt, und rasch hinaus mit dem Schlitten, der dick mit Heu und vielen Decken gepolstert war. Rasch das Pferd namens Schnaps angespannt, und dann die Gattin geholt. Auch ein großer Spankorb wurde eingepackt, in dem Hanna beizeiten alles Notwendige bereitgelegt hatte, wie etwa Handtücher und Windeln für das Kind. Tuomas lenkte das Gefährt auf die Straße und straffte die Zügel. Das Schlittenglöckchen begann zu klingeln, als Schnaps lostrabte.
»Soll ich ihn antreiben?«, fragte Tuomas.
»Immer mit der Ruhe, so eilig ist es noch nicht«, beruhigte ihn seine Frau.
Im städtischen Krankenhaus von Kokkola hätte es Ärzte und eine Hebamme gegeben, aber Hanna hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, bei der vertrauten und verlässlichen Geburtshelferin zu entbinden. Sie wollte ihr Kind nicht in einem zugigen und öden städtischen Krankenzimmer unter den groben Händen der dortigen Hebamme zur Welt bringen. Sie war nicht mäklig, aber die Geburtshelferin Linnea Lindeman war kompetenter und hatte bessere Instrumente als das städtische Klinikum.
»Fischerin und Hexe«, knurrte ihr Mann.
»Ein kluger Mensch und gut in Form, obwohl sie schon über fünfzig und Witwe ist«, erwiderte Hanna.
Die Landstraße nach Ykspihlaja war vom Schnee freigepflügt, aber nicht gestreut worden, beste Bedingungen für den Schlitten also. Der Wallach Schnaps trabte leicht und locker dahin, ihm war anzumerken, dass ihm die Strecke gefiel. Die Eheleute im Schlitten plauderten mit leiser und ruhiger Stimme. Es bestand keine Eile, so hatte es Hanna ja gesagt.