Anselm Grün

Das kleine Buch
vom guten Leben

Herausgegeben von Anton Lichtenauer

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Impressum

Titel der Originalausgabe: Das kleine Buch vom guten Leben

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005, 2014

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung:

R·M·E München/Roland Eschlbeck, Liana Tuchel

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80435-9

ISBN (Buch): 978-3-451-07044-0

Inhalt

Einleitung

Achtsam sein

Alleinsein

Alter

Anstand

Arbeit

Askese

Aufrichtigkeit

Barmherzigkeit

Bescheidenheit

Dankbarkeit

Demut

Diskretion

Ehrfurcht

Erziehen

Freundlichkeit

Freundschaft

Friedfertigkeit

Gastfreundschaft

Genießen

Gerecht sein

Gesundheit

Glücksstreben

Großzügigkeit

Heimat

Hilfsbereitschaft

Hoffnung

Höflichkeit

Kämpfen

Langsamkeit

Lesen

Liebe

Loben

Loslassen

Maß

Mitleiden

Muße

Mut

Nachbarschaft

Nachhaltigkeit

Nachsicht

Ordnung

Pflichtbewusstsein

Rat

Reichtum

Respekt

Ruhe

Sanftmut

Schweigen

Selbstbeherrschung

Sterben/Tod

Trösten

Verantwortung

Vergeben

Wahrhaftig sein

Wirkung

Zeit

Zivilcourage

Zufriedenheit

Einleitung

Einleitung

Wir leben in einer Zeit der Beliebigkeit: „Anything goes“, alles ist erlaubt. Gut ist, was mir gut tut. Aber was tut mir wirklich gut? Und was ist gut – für mich und für andere? Was ist es wert, dass ich mein Leben danach ausrichte? Welche Haltungen braucht es dazu? Schon immer haben sich die großen Denker über das gute Leben Gedanken gemacht. Ihnen war klar: Wer nur nach dem Prinzip des eigenen Vorteils lebt oder ohne Rücksicht auf andere der eigenen Selbstverwirklichung nachjagt, der findet nicht das wahre Glück. Ob unser Leben gelingt, hängt davon ab, dass wir den richtigen Werten folgen. Sie orientieren unseren Weg, machen das Leben wertvoll und gut. Das englische Wort für Werte, „value“, kommt von „valere“, was „gesund sein, stark sein“ bedeutet. Werte sind Quellen, aus denen wir schöpfen können, damit unser Leben erblüht und gelingt. Werte geben unserem Lebensbaum die Widerstandskraft eines Ginkgo. Dieser Baum gilt in Asien als heiliger Baum und als Symbol der Lebenskraft und der Hoffnung. Von ihm sagt man, dass er den Feuerstürmen ebenso trotzt wie dem Smog und dem Streusalz in den Städten. Wer verwurzelt ist in der Weisheit der Werte, der widersteht den negativen Einflüssen, denen er täglich ausgesetzt ist. Dem wird selbst die negative Strahlung einer emotional verschmutzten Umwelt nichts anhaben.

Dieses kleine Buch hat keine systematische Absicht. Ich möchte die verschiedenen Werte nur kurz darstellen. Dabei beziehe ich mich immer wieder auf Einsichten und Aussagen alter „Meister des Lebens“. Denn zu allen Zeiten und über Kulturgrenzen hinweg haben Menschen darüber nachgedacht, wie zu leben wäre. Ich selber schöpfe in meiner eigenen Suche aus der Weisheit einer langen Tradition, der Tradition des christlichen Mönchtums. Aber mich fasziniert es auch immer wieder, zu sehen, wie sich alle Religionen – jenseits aller dogmatischen Unterschiede – in den wesentlichen Fragen immer wieder einig sind, wenn es um das rechte Leben geht. Spirituelle Autoren aus anderen Kulturkreisen und aus ganz unterschiedlichen geschichtlichen Hintergründen formulieren unsere eigenen Erfahrungen in einer anderen Sprache. Einer Sprache, die aber in unseren Alltag hinein zu übersetzen ist. Das zeigt uns – im Zeitalter der Globalisierung –, welch großen Schatz die Menschheit bereits hat. Er ist etwas Beständiges in den hektischen Veränderungen unserer Welt. Und es ist gut, auf diesen Schatz zurückzugreifen. Wenn ich mich auf den folgenden Seiten immer wieder auf diese Einsichten beziehe, geht es also um ein Miteinander der Weisheit, die uns verbindet. Es ist ein Schatz, der uns überliefert wurde, damit wir ihn immer wieder neu für die jeweilige Zeit entdecken und ans Licht bringen.

Wenn ich das „rechte Leben“ aus verschiedenen Blickwinkeln betrachte, soll auch etwas ganz Konkretes sichtbar werden: Ein christlich inspiriertes Leben und eine dem Vorbild Jesu verdankte Haltung kann im täglichen Leben wie auch in außerordentlichen Situationen wirksam werden und ausstrahlen. In den Blick kommen wird nämlich eine praktische Alltagsspiritualität. Eine solche Alltagsspiritualität liefert weder genaue Handlungsanleitungen, noch will sie eine Ethik entwerfen. Aber sie kann Hinweise geben, wie wir heute ein Leben führen können, das nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen und der ganzen Schöpfung gut tut.

Für den griechischen Philosophen Platon ist das Gute ein Wesensmerkmal des Seins: Alles Sein ist wahr und gut und schön. Für Aristoteles, den großen Systematiker Griechenlands, ist das Gute „das Ziel, zu dem alles strebt“. Die Tradition der deutschen Philosophie hat das Gute mehr mit dem guten Willen in Zusammenhang gebracht. Beide Sichtweisen ergänzen sich: Das Gute muss nämlich nicht nur erkannt und wahrgenommen, es muss auch getan werden. Oder, in Erich Kästners berühmtem Wort: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Die beiden Seiten des Guten kommen in dem feingliedrigen und in der Mitte gespaltenen Blatt des Ginkgobaumes zum Ausdruck. Schon Goethe hat in seinem berühmten Gedicht über den Ginkgo die Kraft der Integration, dieses „Eins und doppelt“ gepriesen. Wer gut leben möchte, berücksichtigt immer beide Pole, die er in seinem Innern vorfindet: Leib und Seele, Licht und Dunkel, Kraft und Schwäche. Wer wie der Ginkgo die Zwei ins eins bringt, der ist wahrhaft weise, dem gelingt das Leben.

In der deutschen Sprache hat sich ein eigenes Verständnis des Guten entwickelt. „Gut“ hängt mit dem Wort „Gatter“ zusammen. Gut ist ursprünglich das, was in ein Baugefüge oder in eine menschliche Gemeinschaft passt. Das Gute ist das fest Zusammengefügte. Es passt in das Gewebe unseres Lebens. Aber umgekehrt ist es auch das, was unser Leben zusammenhält, damit es gelingt. In diesem Buch sollen Werte beschrieben werden, die das Leben so zusammenhalten, dass es dem Guten entspricht, das schon durch die Schöpfung in unser menschliches Sein gelegt ist. Die Genesis berichtet vom Abschluss der Schöpfung: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ (Gen 1, 31) Damit das gute Leben, das uns geschenkt ist, gelingt, braucht es die Werte, die Gott in unsere Natur hineingelegt hat. Sie machen unser Leben wertvoll. Sie machen es gut.

Achtsam sein

Gutes Leben beginnt so

Das gute Leben beginnt mit Achtsamkeit. Wer nicht auf sich achtet, verliert sich selbst. Wer nicht achtsam jeden Augenblick lebt, lebt an sich und an der Wirklichkeit vorbei. Es braucht Achtsamkeit, um sein Leben bewusst zu leben. Erst wenn ich aufmerksam werde, entdecke ich den Reichtum des Lebens.

Jeder neue Tag kann dies lehren: Wenn ich achtsam aufstehe, spüre ich, dass Aufstehen etwas mit Auferstehung zu tun hat. Ich stehe aus dem Grab meiner Angst auf, aus dem Grab meiner inneren Dunkelheit. Ich stehe auf, ich stehe zu mir, ich stehe diesen Tag durch. Achtsamkeit besiegt Angst und Erstarrung. Im Kleinen und Einfachen strahlt das Eigentliche durch.

Es beginnt schon am Morgen: Sich achtsam zu waschen bedeutet nicht nur alle Bereiche des Körpers zu reinigen. Wenn ich achtsam wahrnehme, was Waschen ist, dann reinige ich mich auch von allen Trübungen der Projektionen, die andere auf mich werfen, von den Trübungen meiner eigenen Selbstbilder. Ich wasche das Unklare ab, damit das klare und ursprüngliche Bild, das Gott sich von mir gemacht hat, zum Vorschein kommt, damit ich durchlässig werde für die Schönheit, die in mir erstrahlen soll.

Und wenn ich achtsam meinen Weg gehe, erlebe ich, was gehen auch heißen kann: Auswandern aus Abhängigkeiten, weitergehen auf meinem Weg der inneren Wandlung und zugehen auf das Ziel meines Lebens.

Alle Tätigkeiten, die ich achtsam verrichte, werden sich mir in ihrem wahren Sinn erschließen. Und ich werde die Menschen und die Dinge um mich herum anders und tiefer wahrnehmen. Ich werde sie achten. Und schließlich werde ich mit wachen Augen das Eigentliche in allen Dingen sehen.

Geschichten zum Aufwachen

Achtsamkeit ist erhöhte Aufmerksamkeit. Ein Mensch, der sich treiben lässt, der nicht bei sich ist, der in der Menge aufgeht, verliert diese Fähigkeit. Einsamkeit fördert die Achtsamkeit.

Simone Weil hat dies so begründet: Wer sich ganz bewusst allein der Einsamkeit stellt, wer sich nicht ablenken lässt, der befreit sich zusehends von den äußeren Einflüssen, er kommt zu sich und wird frei. Der Weg dahin, so die französische Philosophin, besteht darin, ganz im Augenblick sein: „Der Wert der Einsamkeit liegt in der Ermöglichung einer höheren Aufmerksamkeit.“

Ich merke auf. Ich wache auf. Ich horche auf: Was Simone Weil für die moderne Massengesellschaft formuliert, ist die Erkenntnis einer langen und großen Tradition. Schon der hl. Benedikt fordert von den Mönchen, sie sollten „mit aufgeschrecktem Ohr“ auf Gottes Wort hören.

Aufwachen zur Wirklichkeit, nichts anderes ist Mystik – so der indische Jesuit Anthony de Mello. Das gilt nicht nur für die großen Gestalten der Religionsgeschichte. Im alltäglichen Leben Achtsamkeit einzuüben, darum geht es. Auch für uns. Auch heute. Kindern, so sagt de Mello, erzählt man Geschichten zum Einschlafen. Erwachsene brauchen Geschichten zum Aufwachen. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit im Alltag sind Zeichen dieser inneren Wachheit, mit der ich die Dinge um mich herum auf neue Weise wahrnehme, ja mit der ich ihr Wesen erahne.

Wie oft sind wir abgelenkt. Nur wenn uns nichts Äußeres stört, öffnen sich unsere Sinne – und nur dann spüren wir das Geheimnis allen Seins.

Alleinsein

Alleinsein genießen

„Wer nie allein ist, kennt die Freude des Alleinseins nicht.“ Der Sufi-Weise Hazrat Inayat Khan sagt das. In Gesprächen höre ich oft etwas anderes. Da klagen viele: „Ich fühle mich so allein. Niemand kommt zum Besuch. Ich habe keinen, mit dem ich mich austauschen könnte.“ Alleinsein wird zu einer Quelle des Leids.

Es gibt allerdings auch die andere Sicht. Wenn ich mein Alleinsein bewusst wahrnehme, kann ich es auch genießen. Es liegt nur an der Sichtweise. Ich kann bedauern, dass jetzt niemand für mich da ist. Ich kann mich aber auch freuen, dass ich jetzt ohne Störung von außen bin, dass jetzt niemand etwas von mir will, keiner an mir zerrt und niemand Ansprüche an mich anmeldet. Wenn ich meine Situation so sehen kann, fühle ich mich frei. Ich kann aufatmen. Ich kann die Stille genießen und den Frieden, der aus der Stille kommt und mich umgibt. Das deutsche Wort „allein“ kann man – so schlägt es der Psychologe Peter Schellenbaum vor – auch als „all-eins“ verstehen. Schellenbaum meint, es sei doch herrlich, in diesem Sinn allein, mit allem eins zu sein. Im Alleinsein erahne ich etwas von der Ursehnsucht des Menschen, aus der Vielheit in die Einheit zu gelangen, eins zu sein mit sich und mit Gott, eins zu sein mit den Menschen und mit der Welt. Wer so eins ist mit allem, der nimmt die Wirklichkeit wahr, wie sie ist. Er kommt ihrem Geheimnis auf die Spur. Er erkennt, was die Wirklichkeit im Tiefsten zusammenhält.

Von allem getrennt –
mit allem verbunden

Einsamkeit hat zwei Gesichter. Wir können unter ihr leiden. Und wir können sie auch als eine Kraft erfahren, die uns stärkt. Wir können sie dann positiv erleben: als einen inneren Raum, der uns zu uns selber kommen lässt. Allein fühlen kann man sich auch unter vielen Menschen. Gerade heute beklagen sich viele, dass sie sich mitten in den belebten Städten allein und isoliert fühlen. Doch in der spirituellen Tradition hat Alleinsein einen hohen Stellenwert. Es gehört wesentlich zum Menschsein.

Paul Tillich, der evangelische Theologe und Philosoph, meint sogar, Religion sei das, was jeder mit seiner Einsamkeit anfange. Die Mönche im 4. Jahrhundert hatten sich aus der Welt zurückgezogen, um in der Wüste mit Gott allein zu sein. Doch in der Einsamkeit der Wüste fühlten sie sich nicht allein gelassen oder gar verlassen. Sie spürten vielmehr eine neue Verbundenheit mit allem, was ist. Sie fühlten sich eins mit dem Grund allen Seins, „all-eins“.

Für mich als Mönch ist diese Erfahrung des Alleinseins entscheidend. Mönch ist ja im buchstäblichen Sinn der, der alleine lebt. Das Wort „Mönch“ kommt eigentlich von „monazein“, sich zurückziehen. Doch der frühe Theologe monastischen Lebens, Dionysos Areopagita, deutet es auch von „monas“, von der Einheit her. Mönch ist demnach der, der eins ist mit sich selbst und mit Gott, der die innere Zerrissenheit überwunden hat.

So hat es auch der griechische Mönch Evagrius Ponticus im vierten Jahrhundert verstanden, wenn er schreibt: „Ein Mönch ist ein Mensch, der sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt. Ein Mönch weiß sich eins mit allen Menschen, denn immerzu findet er sich in jedem Menschen.“ Das Alleinsein wird zur Quelle der Freude, wenn ich diese innere Verbundenheit mit allem und allen wahrnehme und mich auf dem Grund meiner Seele eins weiß mit Gott.

Man muss nicht in einem Kloster oder in einer Einsiedelei leben, um – von Zeit zu Zeit – den „Mönch in sich“ zu entdecken und das Alleinsein als Quelle zu erfahren, die das eigene Leben stärkt.

Nah am Grund des Seins

„In den großen Städten kann der Mensch zwar mit Leichtigkeit so allein sein, wie kaum irgendwo sonst. Aber er kann dort nie einsam sein. Denn die Einsamkeit hat die ureigene Macht, dass sie uns nicht vereinzelt, sondern das ganze Dasein loswirft in die weite Nähe des Wesens aller Dinge.“ Der Philosoph Martin Heidegger, der dies schreibt, hat den Wert der Einsamkeit hoch geschätzt. Man kann sogar sagen, dass er in seiner Erfahrung des Denkens eine ähnliche Erfahrung gemacht hat wie die frühen Mönche.

Heidegger unterscheidet zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Dass ein Mensch allein ist, ist zunächst einmal nichts besonderes. Zu einem Wert wird diese Tatsache erst in der Einsamkeit. Einsamkeit führt uns in die Nähe des Wesens aller Dinge. Der Einsame ist nahe am Grund allen Seins, er ist in Berührung mit dem Wesentlichen. Die deutsche Endsilbe „-sam“ steckt auch in „Sammeln“. Sie hat ursprünglich die Bedeutung: „mit etwas übereinstimmend, von gleicher Beschaffenheit“. Der Einsame stimmt überein mit seinem Alleinsein. Er ist gerne allein. Das Alleinsein ist für ihn der Weg, eins zu werden mit sich selbst, einverstanden zu sein mit seinem Wesen und mit dem Wesen aller Dinge. Es hat also spirituelle Qualität. Einssein ist das Ziel aller Mystik. Jeder von uns darf manchmal die Erfahrung des Einsseins machen. In solchen Augenblicken fühle ich mich eins mit mir, einverstanden mit meiner Lebensgeschichte, eins mit der Schöpfung, eins mit Gott und eins mit allen Menschen. Zeit und Ewigkeit fallen in solchen Momenten in eins.

Doch es ist immer nur ein Augenblick, in dem die Einsamkeit uns zur Erfahrung des Einsseins führt. Oft genug zeigt sie uns ihr anderes Gesicht. Dann schmerzt sie uns. Dann sehnen wir uns nach Menschen, mit denen wir uns austauschen. Und es taucht in uns der Satz aus der Genesis auf: „Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein.“ (Gen 2, 18)

Ein Weg zum Du

„Der Weg zum wahren Du im andern Menschen führt durch die innere Einsamkeit.“ Der Existenzphilosoph Ferdinand Ebner hat sich von der doppelten Bewegung, die in der Einsamkeit liegt, anregen lassen. Er sieht in der Einsamkeit eine Bedingung für wirkliche Gemeinschaft: Wer immer in der Nähe von Menschen sein muss, der stößt oft nicht zum wahren Du vor. Oft braucht er die Menschen nur, um seine Einsamkeit zu verdecken. Doch wirkliche Begegnung ist dann nicht möglich. Man klebt vielmehr am anderen. Nur wer in der Einsamkeit ganz bei sich sein kann, ist fähig, das Du der anderen zu entdecken und zu würdigen. Er vereinnahmt den anderen nicht, sondern bleibt staunend vor seinem Geheimnis stehen. Er achtet den anderen. So erst spürt er, was das heißt: „Du“.

Ebner ist mit dem anderen großen Denker des Dialogischen, mit Martin Buber, überzeugt, dass wir unser wahres Ich erst am Du finden. Aber um das Geheimnis des Du zu erahnen, ist es notwendig, die innere Einsamkeit auszuhalten und in der Einsamkeit zuerst einmal das Geheimnis des Ich-Seins zu entdecken. Wir meinen, wir wüssten, wer wir sind. Doch wer sind wir wirklich? Wo ist der Punkt, an dem man „Ich“ sagen kann? Das Wunder der Begegnung findet nur statt, wo wir um das Geheimnis des Ich und Du wissen. Dafür aber brauchen wir die Erfahrung der Einsamkeit.

In guter Gesellschaft

„In der Einsamkeit, wo jeder auf sich selber zurückgeworfen ist, da zeigt sich, was er an sich selber hat.“ Schopenhauer formuliert hier etwas Richtiges: Wer allein ist, ist mit sich selber konfrontiert. Er muss mit sich selber auskommen. Er kann die Freiheit genießen, so zu sein, wie er ist. Oder sich als Gefangener seiner eigenen Begrenztheit erleben. Jean-Paul Sartre sieht die Beziehung von Einsamkeit und Alleinsein ähnlich: „Wer einsam ist, wenn er allein ist, befindet sich in schlechter Gesellschaft.“ Wer sich einsam fühlt, wenn er mit sich allein ist, der kann es nicht gut mit sich selbst aushalten. Alleine kann ich es nur dann gut aushalten, wenn ich gut mit mir umgehe. Solange ich mich selbst entwerte, wird das Alleinsein zur Qual. Denn mit einem Menschen, den man verurteilt und abwertet, lässt es sich nicht gut zusammen sein. Nur wenn ich mich selbst akzeptiere, erfahre ich die Freiheit der Einsamkeit.

Alter

Man muss früh anfangen