GEORG M. HAFNER
ESTHER SCHAPIRA

ISRAEL

ist an allem

SCHULD

Warum der Judenstaat so gehasst wird

BASTEI ENTERTAINMENT

»Ob es regnet, ob es hagelt, ob es schneit oder ob es blitzt,
ob es dämmert, ob es donnert, ob du frierst oder ob du schwitzt,
ob es schön ist, ob’s bewölkt ist, ob es taut oder ob es gießt,
ob es nieselt, ob es rieselt, ob du hustest oder ob du niest:
An allem sind die Juden schuld …«

Friedrich Hollaender, aus der Revue: Spuk in der Villa Stern (1931)

Vorwort von Esther Schapira

Wenn es um Israel geht, bin ich befangen. Mir ist das Schicksal des jüdischen Staates nicht egal. Wie auch? Jener Teil meiner Familie, der überlebt hat, lebt dort, und dessen Kinder. Ich sorge mich um sie und sie sich um mich. »Komm nach Israel. Dort wirst du sicherer sein«, hat mir der Sohn meiner Cousine während des Gazakrieges im August 2014 gemailt. Das klingt nur für Außenstehende absurd. Während deutsche Israeltouristen rasch ihre Buchungen stornierten und froh waren über ihre Reiserücktrittsversicherung, die es ihnen ersparte, aus nächster Nähe zu erleben, was es heißt, wenn die Hamas ihre »selbst gebastelten Raketen« abfeuert, stieg die Zahl der Juden in Europa, die überlegten, nach Israel auszuwandern. Hatten sie Angst? Fühlten sie sich in Paris oder Berlin nicht mehr sicher? Fürchteten sie um ihr Leben? Natürlich nicht. Aber sie hielten die Kälte nicht mehr aus und die Kaltschnäuzigkeit, mit der den Juden die Leviten gelesen wurden.

Im Sommer 2014 empörte sich Deutschland über die Ungerechtigkeit des verregneten Sommers, die Mautpläne des Verkehrsministers und den Gazakrieg. In einem Land, in dem über die Helmpflicht für Radfahrer diskutiert wird, wurde die Angst der Israelis vor dem andauernden Raketenbeschuss und den Terrortunneln aus Gaza als überzogen abgetan. Menschen, die weder über militärisches Wissen noch über existenzielle Erfahrungen verfügten, in denen ein solches Wissen nötig war, wussten ganz genau, dass alles, was Israel tat, falsch und unverhältnismäßig war. Eine Idee, wie der Staat seine Bürger schützen sollte, hatten sie nicht und brauchten sie auch nicht. Und vorsorglich sprachen sie sich selbst von jedem Verdacht frei, ihre »Israelkritik« könne von unbewussten antisemitischen Gefühlen geleitet sein. Natürlich waren sie keine Antisemiten. Natürlich? Warum glauben die Kinder und Enkel der Mörder und Mitläufer, »unbefangen« über Israel und über Juden reden zu können? Wieso trifft der Vorwurf der »Befangenheit« in der Debatte nur die Nachkommen der Opfer?

Echte, bekennende Antisemiten habe ich in meinem Leben nur wenige getroffen. Und doch weiß ich, dass es sie gibt. Die Umfragen bestätigen es Jahr für Jahr. Und ich weiß es, fühle es, wenn ich auf einen treffe. Oder fantasiere ich es nur? Ist es mein Problem, zumal hier in diesem Deutschland, dessen Geschichte mir immer präsent ist, dessen Sprache meine ist und die mir doch oft im Hals stecken bleibt, weil die Worte für mich zu oft einen anderen Sinn haben? Als Kinder haben wir »Teekesselchen« gespielt, ein unschuldiges, harmloses Spiel über den doppelten Sinn vieler Wörter. Eine Bank ist eine Gartenbank und eine Geldbank, ein Hering ist ein Fisch oder ein Zeltnagel. Meine Teekesselchen heißen bis heute Rampe, Selektion, Gas. Ich zucke zusammen, wenn andere sich freuen und mal wieder richtig »Gas geben«, und ich mag mich auch nicht an der »Rampe« verabreden, auch wenn die Essensausgabe der Kantine ein guter Treffpunkt ist. Natürlich weiß ich, dass viele Menschen »Gas geben«, weil sie rasen wollen und ihnen alles zu langsam geht. Und trotzdem fällt mir bei Gas unweigerlich auch Auschwitz ein.

Mit alldem bin ich aufgewachsen. Es gehört zu meinem Leben in Deutschland, und es wäre ein verlogenes Pathos zu behaupten, ich litte darunter. Es gibt genügend Menschen um mich herum, die meine Teekessel kennen und mit denen ich über sie lachen kann. Panikmache und reflexhafte Abwehr, bedeutungsschweres »wehret den Anfängen« und »der Schoß ist fruchtbar noch« sind mir ein Graus. Was also ist das Problem?

Israel ist das Problem. Mein Problem. Sobald es nämlich um Israel geht, lauere ich auf Zwischentöne, auf halbe Wahrheiten und ganze Diffamierungen. Ich werde selten enttäuscht. Wenn es um Israel geht, ist der Spaß schnell vorbei. Dann nimmt ein bis dahin müde dahinplätscherndes Tischgespräch schnell emotional Fahrt auf. Bin ich überempfindlich? Vielleicht. Aber ich kenne die Warnsignale und versuche rasch, die Weichen anders zu stellen. Selbst bei Freunden. Zu groß ist die Sorge, dass bei zu viel Wein und Wahrheit die Freundschaft unter die Räder kommen könnte.

Die Deutschen und ihr Judentick – das ist die eine Seite. Die Juden und ihr Deutschentick – das ist die andere Seite. Ich kenne beide Seiten. Denn ich bin beides. Tochter einer protestantischen deutschen Mutter und eines jüdischen Vaters aus der Bukowina, der nach dem Krieg heimat- und staatenlos war. Und ich? Zu jüdisch für die Deutschen, zu deutsch für die Juden. Erst mit zwölf Jahren wurde ich offiziell Deutsche. Mit meinem deutschen Pass kann ich in jedes Land dieser Welt reisen. Mit meinem Namen eher nicht. Die Liste der Länder, in die Juden besser nicht reisen, ist lang. Länder, die nach 1001 Nacht klingen und deren Märchen ich als Kind liebte. Aladin und Ali Baba aber sind verschwunden, und sie ließen mehr als vierzig Räuber zurück. Sie entführten Flugzeuge und überfielen die israelische Olympiamannschaft. Mein Vater hatte bestenfalls liebevolle Nachsicht mit meiner pubertären erwachenden linken Leidenschaft für die Nachfahren meiner Märchenhelden. Die toten Sportler in München und die Entführung eines Flugzeugs nach Entebbe unter Beteiligung deutscher Linker setzten seiner Toleranz Grenzen. Als Wilfried Böse jüdische Passagiere selektierte, um den palästinensischen Freiheitskampf zu unterstützen, war ich 15 Jahre alt und Palästinensertücher waren in Mode. Es war mir peinlich, meiner Freundin zu erklären, dass sie ihr schönes schwarz-weißes Tuch ausziehen müsse, wenn sie mich besuchte. Verstanden hat sie es nicht, aber das Tuch blieb draußen. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich es genau begründet habe. Wahrscheinlich habe ich es als eine autoritäre Anordnung meines Vaters bezeichnet. Das kannte sie von zu Hause, und ich hatte erst mal Zeit gewonnen. Noch musste ich nicht selbst Stellung beziehen.

Als 15 Jahre später im Golfkrieg Scud-Raketen aus dem Irak in Tel Aviv einschlugen, war mein Vater schon tot. Palästinensertücher waren noch immer in Mode, und ich wusste politisch nicht mehr, wohin. Viele in meinem Umfeld waren inzwischen bei den Grünen engagiert. Vielleicht hätte auch ich mich dort wohlfühlen können. Ich mochte Sonnenblumen und war empfänglich für kitschige Indianerweisheiten, und gegen Atomkraft war ich sowieso. Das Problem aber war – Israel. Mein Problem. Wieder mal. Fassungslos stand ich auf dem Opernplatz in Frankfurt, um während einer großen Anti-Kriegsdemonstration meine Solidarität mit Israel auszudrücken. Immerhin war an diesem Tag Frankfurts Partnerstadt Tel Aviv angegriffen worden. Das aber kümmerte offenkundig nur wenige. Im Gegenteil. Schon damals attackierten uns wütende Friedensfreunde. »Kein Blut für Öl«, riefen sie und sorgten sich um mögliche Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima in Europa durch die brennenden Ölfelder. Für mich aber war das politische Klima durch die Gefühlskälte so vieler Friedensbewegter, Linker und Grüner, die gegen die Lieferung von Patriot-Abwehrraketen an Israel protestierten, vergiftet. Allen voran der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele. Die kalte Selbstgerechtigkeit, mit der dieser Pazifist die Menschen, um die ich mich täglich sorgte, schutzlos lassen wollte, hat sich mir tief ins politische Gedächtnis eingebrannt. Was mich damals entsetzte, erkenne ich im Rückblick als Beginn einer zunehmenden politischen Heimatlosigkeit. So einig ich mir mit vielen meiner Generation bei anderen großen Zukunftsthemen war, so groß waren die Unterschiede, wenn es um Juden und Israel ging.

Gemeinsam gingen wir gegen Atomkraft und Nachrüstung auf die Straße. Wir saßen zusammen im Hüttendorf gegen den Bau der Startbahn 18 West am Frankfurter Flughafen. Wir bildeten Lichterketten beim Aufstand der Anständigen gegen rechte Gewalt gegen Ausländer. Und natürlich waren alle gegen den Antisemitismus der Rechten. Ich hätte mich gern behaglich eingerichtet im kuscheligen Kollektiv der Weltverbesserer. Der Preis meiner Mitgliedschaft aber war die Ausblendung meiner Gefühle für Israel. Vielfach stimmte ich der inhaltlichen Bewertung israelischer Politik dabei durchaus zu. Auch ich war und bin für die Errichtung eines Staates Palästina – aber eben nicht um den Preis der Vernichtung Israels. Ich verstehe die seit Jahrtausenden von Generation zu Generation überlieferte Angst vor dem nächsten Pogrom, vor der Wehrlosigkeit, davor, wieder zum Opfer zu werden. Ich verstehe sie, weil ich sie fühle. Wenn ich aber versuche, darüber zu reden, begreiflich zu machen, dass es sich nicht einfach als politische Ausflucht abtun lässt, wenn ein Volk, das schon einmal knapp der Vernichtung entronnen ist, die Morddrohung in der Charta der Hamas ernst nimmt und »Auslöschung Israels« nicht bereitwillig mit »friedlicher Nachbarschaft« übersetzt, schlägt mir bestenfalls Unverständnis und Gleichgültigkeit, meist aber Abwehr und Feindschaft entgegen.

»Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?«, fragte die Dichterin Nelly Sachs verzweifelt. Mich macht die Schwärze des Hasses oft sprachlos. Die Solidarität mit Israel ist in Deutschland Staatsräson, doch bei kaum einem anderen Thema ist die Kluft zwischen offizieller Politik und Volksmeinung größer – und zwar unabhängig von Parteien, Generationen und Religion. Wenig beruhigend ist dabei, dass Deutschland im schlechtesten Sinne mitten in Europa liegt. »Für mich ist ganz Europa ein einziger jüdischer Friedhof. Es ist ein schöner Friedhof. Blumen blühen und Vögel singen. Aber es ist ein Friedhof, und auf einem Friedhof kann man nicht leben«, sagte mir ein guter Freund, der Auschwitz überlebt hat und heute in Israel wohnt. Sitz der Friedhofsverwaltung ist Deutschland.

Die meisten meiner Freunde leben hier, und sie leben gern hier. Auch die jüdischen. Sie alle reisen gern. Sie alle sind sensibel für judenfeindliche Untertöne. Sie alle teilen meine Sorge um Israel. Glaube ich. Hoffe ich. Doch erst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, wird mir bewusst, dass es einen bemerkenswerten Unterschied gibt. Alle meine jüdischen Freunde kennen Israel aus eigenem Erleben, und viele haben sich auf die schwierige Reise nach Auschwitz begeben. Meine nicht jüdischen Freunde dagegen fahren quer durch Europa und in die halbe Welt, aber kaum einer war in Israel oder in Auschwitz. Die Frage, warum das so ist, stelle ich ihnen nicht. Ich will sie und mich nicht in Verlegenheit bringen. Ich frage aber auch deshalb nicht, weil ich die Antwort kenne. Es ist der Unterschied zwischen »fühlen« und »mitfühlen«, zwischen getroffen und betroffen.

Das vielleicht wichtigste Buch für meine politische Bewusstwerdung war Jean Amérys Jenseits von Schuld und Sühne. Der wortmächtige Schriftsteller schrieb sich seine Verzweiflung und seine Einsamkeit als Überlebender von der Seele und zerbrach am Ende doch daran. Zwanzig Jahre nach Kriegsende schrieb er über sein »Ressentiment« und formulierte damit jene Wut, die mein Vater und seine Freunde verspürten, aber nie aussprachen, und die deshalb umso lauter in mir nachhallte. »Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, dass immerhin manche von uns überlebten.« Die Bitterkeit dieser Sätze, die ich mit Anfang zwanzig gelesen habe, habe ich nie vergessen. Zu oft wurde ich im Laufe der Jahre daran erinnert. Und je mehr Zeit vergeht, umso unangemessener erscheint das Ressentiment. Täter und Opfer haben unterschiedliche Zeitrechnungen. Je älter ich wurde, desto bewusster wurde mir, dass es nur ein historischer Wimpernschlag ist, seit die Gaskammern geschlossen und die Massengräber zugeschüttet wurden.

Als Kind trug ich häufig meine Kette mit dem Davidstern, ein Geschenk meines Vaters. Ich trug sie als Schmuck und ohne groß darüber nachzudenken. Heute ist sie Ausdruck einer politischen Haltung, weil sie so gesehen wird. »Ich traue mich nicht mehr, meinen Davidstern zu tragen«, sagte mir vor Kurzem eine ältere Dame. »Ich habe Angst.« Es gibt Momente, in denen auch ich kurz zögere, meine Kette zu tragen, denn es ist gefährlicher geworden, sie auf dem Friedhof Europa offen zu zeigen. Es gibt zunehmend Berichte von Menschen, die attackiert wurden, weil sie eine Kippa oder einen Davidstern getragen haben.

Im Herbst 2014 ist Deutschland Fußballweltmeister geworden, und Israel hat gerade einen Krieg hinter sich. Wieder einmal. Es ist der vierte Titelgewinn für Deutschland und der achte Krieg für Israel. Der Jubel war kaum verklungen, da schwollen die Sprechchöre an. Sie richteten sich gegen Israel und gegen Juden. »Tod Israel« und »Jude, Jude, feiges Schwein«. Da war sie wieder, die »schwarze Antwort des Hasses«. Demonstrationen vor Synagogen und jüdischen Gemeindezentren. Das löste bei vielen Deutschen Entsetzen und Mitgefühl aus. Aber keine Angst. Sie fühlten sich nicht gemeint. Sie begriffen nicht, dass Antisemitismus, auch wenn er sich als »Israelkritik« tarnt, die demokratische Substanz des Staates und damit am Ende auch sie selbst gefährdet. Juden nämlich haben seit 1948 die Wahl. Sie können nach Israel emigrieren. »Wir kämpfen gegen eine teuflische terroristische Organisation, und wir werden diese Schlacht gewinnen, denn dies ist das einzige Land, das wir haben«, hatte der Sohn meiner Cousine mir noch geschrieben. Ich verstehe ihn.

»Das sowohl politische wie jüdische Nazi-Opfer, das ich war und bin, kann nicht schweigen, wenn unter dem Banner des Antizionismus der alte miserable Antisemitismus sich wieder hervorwagt. Die Unmöglichkeit, Jude zu sein, wird zum Zwang, es zu sein: und zwar zu einem vehement protestierenden«, schrieb Jean Améry, als ich 16 Jahre alt war. Ein Jahr vor seinem Freitod. Unter dem »Banner des Antizionismus« sammeln sich heute weltweit mehr Antisemiten als damals. Er kann nicht mehr protestieren. Wir schon.

Ich bin befangen. Ich weiß es. Und Sie?

Vorwort von Georg M. Hafner

»Jegliche Form von Antisemitismus hat in unserer WG ebenso nichts verloren wie Rassismen und Antifeminismus«, schreiben Studenten der Frankfurter Universität 2014 auf der Wohngemeinschaftsplattform www.wg.de, auf der sie einen neuen Mitbewohner suchen. Verblüffend. Meine Wohngemeinschaftserfahrungen sind vierzig Jahre her. Damals war es für uns völlig undenkbar, dass Menschen, die in eine WG ziehen, also links waren, antisemitisch sein könnten. Wer in eine WG zog, wollte ein anderes Leben, wollte frei sein. Antisemitismus war die Geschichte der Eltern. Vermieter fürchteten Wohngemeinschaften wie der Teufel das Weihwasser, was besonders für das katholische München ein schöner Vergleich ist, der Stadt, in der ich als junger Student 1970 strandete. Wir wollten die teuren Mieten in München untereinander aufteilen, in einer schönen Altbauwohnung leben, in Schwabing möglichst, und waren weit davon entfernt, eine Kommune zu gründen. Das erledigten Fritz Teufel und Co. in Berlin. Vielleicht waren wir mit dem Feminismus noch nicht in der Weise vertraut wie die Jüngeren heute, aber spätestens als eine bekennende Feministin bei uns einzog, war klar, dass wir nicht mehr im Stehen pinkeln durften und Abwasch und Putzen gemeinsam erledigt wurden. Wir waren gegen das Establishment, dessen korrekte Schreibweise uns mehr Mühe bereitete als dessen Definition: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.« Das war übrigens genau die Vorstellung, die unsere Eltern vom Leben in einer Wohngemeinschaft hatten. Aber Eltern waren, gleichgültig, was sie tatsächlich im Krieg getan hatten, ohnehin von Haus aus Nazis und hatten somit jede Autorität verspielt. Wir fackelten da nicht lange, und ich fragte auch nicht nach, nicht einmal dann, als mein Vater sich in sein Arbeitszimmer verzog, es wochenlang nur zum Essen verließ und am Ende ein mehrbändiges Fotoalbum fertiggestellt hatte mit allen Fotos, die er während des Russlandfeldzuges gemacht hatte. Heimlich, wie er sagte. Es waren keine Heldenfotos, im Gegenteil. Es waren Momentaufnahmen eines Albtraums. Mittendrin mein Vater, der nie einen Menschen erschossen hat, wie er immer wieder beteuerte, als Funker aber über alle Verbrechen informiert gewesen sein muss. Bis heute sind mir drei Bilder unauslöschlich in Erinnerung. Ein Mann und seine Frau, die ihr totes Kind über einen Acker tragen; Männer, an einem Galgen aufgeknüpft; und eine Menschenschlange in einem Dorf in den Westkarpaten. Männer mit Hüten, Koffern und einem gelben Stern auf dem Mantel. »Judenabtransport« hat mein Vater mit seiner schönen Schrift daruntergeschrieben, »19. 4. 1944, Munkacz (heute: Mukatschewo)«. Es war keine Fotosammlung, die mein Vater stolz herumgereicht hat, sie war eigentlich nur für ihn selbst bestimmt. Es war seine Art, mit dem Horror des Krieges fertigzuwerden, die eigene Geschichte mit allen Gräueln zwischen zwei Buchdeckeln abgeheftet, zu öffnen nur bei Bedarf. Den aber verspürte ich lange Jahre nicht, und als ich endlich mehr wissen wollte, war er alt und dement, und aus dem »Judenabtransport« waren in seiner verklärten Erinnerung Menschen geworden, »die nach Lebensmitteln angestanden haben«.

Juden spielten in meinem studentischen Leben und auch danach keine Rolle. Ich kannte keine Juden, jedenfalls nicht bewusst. Das änderte sich erst, als ich, knapp fünfzig Jahre alt, für eine Filmdokumentation über Mengele-Zwillinge zum ersten Mal nach Israel fuhr. Bis dahin wusste ich wenig über dieses Land, wie hektisch es ist, wie lebhaft, wie winzig. Und auch über seine Bewohner wusste ich nicht viel, außer dass unter ihnen viele Juden waren aus der ganzen Welt, darunter viele, die Hitler und den KZs entkommen waren. Ein historisches Wissen, aber keines, das fühlt. Das änderte sich dramatisch. Ich saß in einem Vorort von Tel Aviv plötzlich einer Frau mit Auschwitznummer auf dem Unterarm gegenüber. Solche Nummern kannte ich aus dem Kino und aus Dokumentarfilmen, aber plötzlich war die Nummer mit einem Gesicht und einem Namen verbunden. Miri Schönberger. Sie war mit ihrer Zwillingsschwester Sarah als 13-Jährige nach Auschwitz deportiert worden und in die Hölle von Mengele geraten. Den Tod ihrer Eltern beschreibt sie in unserem Dokumentarfilm »Als das Lachen verbrannte« (1995): »Ich sehe ihre letzten Momente vor mir, wie meine Eltern die Wände hochklettern, man hatte ihnen gesagt, sie gehen ins Badehaus, aber dann kam statt Wasser Gas.« Sie sprach mit Esther Jiddisch, mir verweigerte sie jedes Gespräch, jeden Blickkontakt, ich war ein Deutscher und nicht da. Ich war nach dem Krieg geboren, aber ich war das Kind eines Täters. Es gab kein Entrinnen, ich war plötzlich mitschuldig für das, was meine Eltern angerichtet hatten.

In meiner Geburtsstadt Heidelberg lebten vor 1933 über eintausend Juden. Vierzig von ihnen waren noch am Leben, als ich 1947 auf die Welt kam. Aber was hatte ich damit zu tun? Meine Generation, ausgestattet mit der »Gnade der späten Geburt«, war fein raus aus der Sache. Meine Mutter hatte den Krieg in Berlin überlebt, aber auch wenig darüber erzählt. Nicht einmal, dass ihr Vater kurz vor Kriegsende eine Jüdin im Haus versteckt hat. Niemand in der Familie hat diese kleine Heldentat je erwähnt, vielleicht weil das Verhalten meines Großvaters eher eigenwillig war und nicht von allen in der Familie gebilligt wurde. Erst als wir an einem Film und an einem Buch über Alois Brunner saßen, einem der größten Naziverbrecher, der bis zu seinem Tod 2009 fröhlich in Syrien untergeschlüpft war, stieß ich eher zufällig auf meinen mutigen Großvater. Meine Großmutter hielt bis zu ihrem Tod Kontakt mit der damals Versteckten, Clary Post, die nach dem Krieg nach England gegangen war. Soweit ich weiß, ist sie nie nach Deutschland zurückgekehrt. Die, die es wissen konnten, schwiegen sich beharrlich aus.

Meine Welt war aufgeteilt in gut und böse, und es war immer besser, bei den Guten zu sein. Die Bösen waren jetzt die Amerikaner, vor allem die, die in Vietnam kämpften, obwohl sie dort nichts verloren hatten. Dass sie es waren, die unser Land einst befreit hatten, nahm das verehrte Publikum erst vierzig Jahre später und eher widerwillig zur Kenntnis, als Richard von Weizsäcker daran erinnerte. Natürlich war ich gegen den Krieg in Vietnam, also gegen die Amerikaner. Wir waren gegen den Schah-Besuch und seine Schläger. Wir waren gegen Bild und die Bullen, die Benno Ohnesorg auf dem Gewissen hatten. Mit dem in seinem Blut liegenden Studenten endete das große Happening meiner Studienzeit. Der 2. Juni 1967 war eine Zäsur für uns alle. Es war ein Freitag, und am Montag drauf war Krieg, aber weit weg im Nahen Osten. Er ließ uns erst einmal kalt. Ein Scharmützel in der Ferne und sechs Tage nur. Sie endeten mit einem fulminanten Sieg Israels. »Blitzkrieg«, jubelte der Spiegel. Unsere Eltern nickten anerkennend. Blitzkrieg, damit kannten sie sich aus. Der neue Wüstenfuchs trug eine Augenklappe und war Jude: Moshe Dayan. Und Bild siegte mit. Wir waren gegen Springer und damit wie von selbst plötzlich auch gegen Israel. Aus »Ho, Ho, Ho Chi Minh« wurde »Shalom – Napalm«. Vietnam war gestern, Palästina heute. Die Opfer der Barbarei unserer Eltern wurden für uns über Nacht zu Tätern und Israel zum Schurkenstaat. Wie Juden in unserem Land dabei dachten und fühlten, war mir herzlich egal. Mir war der Mekong näher als der Jordan.

Meine Wohngemeinschaft lag mitten in Schwabing. Dass im damals noch wenig angesagten Stadtteil Haidhausen eine ganz andere Wohngemeinschaft ihre Zelte aufgeschlagen hatte, habe ich erst vierzig Jahre später während der Arbeit an meinem Dokumentarfilm »München 1970 – Als der Terror zu uns kam« erfahren. Es war die WG meiner Spaßikone Fritz Teufel. Seine Kommune 1 in Berlin war gerade abgewickelt worden. Nun plante Teufel von München aus und am Vorabend des Olympiaanschlags seine anfangs originellen, später weniger lustigen Aktionen. Zusammen mit Irmgard Möller übrigens, der späteren RAF-Terroristin, mit der er seit 1970 liiert war. Ihr schreibt er im selben Jahr aus Stadelheim, wo er gerade eine kurze Haftstrafe verbüßte: »Ich träume wirr, höre jeden Freitag die Hitparade (z.Zt. führen immer noch Simon und Garfunkel, das Zionistenduo mit dem israelischen Luftwaffenhit El Condor pasa).« Ich mochte die beiden Rockmusiker gerne und habe nie darüber nachgedacht, ob sie Juden sind. Und schon gar nicht wäre mir das Wort »Zionisten« in den Sinn gekommen. Vermutlich wusste auch Fritz Teufel nicht, ob die amerikanischen Juden Paul Simon und Art Garfunkel Theodor Herzls Idee von einem Judenstaat unterstützen. Das war ihm vermutlich auch völlig egal. Sie wurden nicht als Amerikaner, sondern weil sie Juden waren für die Politik Israels in Sippenhaft genommen. Schon damals. Mir wiederum war als Fan der beiden Musiker deren Religion nicht wichtig, die Musik war entscheidend, nicht ihr Gott. Und warum sollten sich gerade Linke für religiöse oder ethnische Zugehörigkeiten überhaupt interessieren? Oder jemanden deswegen sogar ausgrenzen? Aber da war ich viel zu naiv, wie ich heute weiß. Viel zu lange habe ich der Illusion nachgehangen, dass insbesondere Linke und Pazifisten keine Antisemiten sein können, von Natur aus sozusagen. »Kein Blut für Öl«, dafür ging ich Jahre später auf die Straße, aber Solidarität mit Israel? Warum?

Erst im Laufe meiner entschiedenen Beschäftigung mit dem Holocaust, mit dem jüdischen Staat Israel, mit Überlebenden der Shoa und mit meiner eigenen, persönlichen Geschichte habe ich herausgefunden, dass die Formel links sauber und rechts übel nicht stimmt und nie gestimmt hat. Spätestens durch die Ergebnisse der Recherche für meinen Dokumentarfilm wurde meine gemütliche linke Welt nachhaltig erschüttert. Dass Linke die Logistiker für palästinensischen Terror in Deutschland waren, dass sie vermutlich 1970 Feuer in einem jüdischen Altersheim in München legten, bei dem sieben Holocaustüberlebende erstickten, war nicht nur für mich ein heilsamer Schock. Überraschend viele Zuschauer teilten diesen Schock, fragten jetzt erstmals selbst nach und kramten die eigene Verirrung hervor. Aber es gab auch andere Reaktionen. Ein Film der »jüdischen Lobby«, meinte unbeirrt beispielsweise ein altes Mitglied der Kommune 1 und wehrte die überfällige Selbstkritik mit dem Verweis darauf ab, dass »wir« doch am Anfang für Israel gewesen seien. Stimmt, anfänglich schon. Aber seit 1967 ist dieser Anfang Geschichte – seit Israel den Sechstagekrieg gewonnen hat und seit palästinensische Gebiete nicht von Jordanien und Ägypten, sondern von Israel besetzt sind. Seither sind Linke empört und haben ihre Sympathien neu verteilt. Dabei sind viele bis heute stehen geblieben. Sie sind jetzt etabliert, sie haben sich eingerichtet, aber bleiben felsenfest ihrer Überzeugung treu: Israel ist an allem schuld. Nur sagen wollen sie es so nicht. Wer aber genau hinhört, versteht es trotzdem.

Einleitung

Antisemit ist ein garstiges Wort. Niemand will so genannt werden. Selbst die jungen Menschen, die im Sommer 2014 in Berlin bei einer Demonstration »Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein« geschrien haben, werden die Annahme, sie seien Antisemiten, zurückweisen. Sie sind gegen Israel und für die Palästinenser. Aber was hat das mit Antisemitismus zu tun?, fragen sie empört. Klar, das zweisilbige Wort »Jude« ruft sich leichter als der Dreisilber »Israeli«, aber der Slogan ist nicht dem Versmaß geschuldet, sondern zeigt, dass die so gern behauptete säuberliche Trennung zwischen bösen Israelis und guten Juden in vielen Fällen nur eine politische Schutzbehauptung ist. Der moderne Antisemit schlüpft in das Gewand des Antizionisten und stellt sich dumm. Im Sommer 2014 hatte er alle Hände voll zu tun. Der »Schurkenstaat Israel« hatte sich zur Wehr gesetzt gegen jene, die ihn bekämpfen. Er hatte auf Raketenterror mit Raketen geantwortet. Anfänglich gab es durchaus noch verhaltenes mediales und politisches Verständnis dafür, dass Israel es nach über einem Jahrzehnt permanenten Beschusses nicht länger hinnehmen konnte, dass seine Zivilbevölkerung im Süden sich in dauerhaftem »Bunkersprint« befand. Nicht mehr als zwanzig Sekunden bleiben etwa den Bewohnern von Sderot, um nach einem Bombenalarm den nächsten Schutzraum aufzusuchen. Nicht schön, nicht akzeptabel, hieß es zunächst in Deutschland. Die deutsche Staatsräson, zu der die Sicherheit Israels seit dem Versprechen der Kanzlerin im israelischen Parlament ausdrücklich gehört, wurde auf eine harte Probe gestellt. Das Verständnis war schnell aufgebraucht. Politiker mahnten Israel, die Verhältnismäßigkeit zu wahren, und Demonstranten skandierten Hassparolen. Auf kaum einer Demo wurde auf den Slogan »Kindermörder Israel« verzichtet, auf anderen wurden israelische Fahnen verbrannt. Dafür war jede aus einem sicheren Versteck inmitten palästinensischer Wohngebiete auf die israelische Zivilbevölkerung abgefeuerte Rakete für die Hamas ein Volltreffer, sogar in doppelter Hinsicht: weil sie beim Feind einschlug und weil Israel zurückschoss und dabei auch Frauen und Kinder tötete. Weltweit wurde Israel dafür an den Pranger gestellt und aufgefordert, sofort den Beschuss einzustellen. Dass die Hamas erstens vorsätzlich die Zivilbevölkerung ins Visier nahm und zweitens unterdessen Waffenstillstandsangebote ausschlug, ging im »Israel ist an allem schuld«-Getöse unter. Einmal mehr wurde klar, gleichgültig, wie sich die Palästinenser verhalten, die Sympathieschlacht gewinnen sie immer. Ob Hinrichtungen auf Verdacht, Schwulenverfolgung, Ehrenmorde, ob Korruption oder eben die mörderische Praxis menschlicher Schutzschilde, was auch immer die Palästinenser tun: Israel ist an allem schuld.

Aber woran entzündet sich diese Wut auf ein Land, das nicht viel größer als das Bundesland Hessen ist? Was bringt im Sommer 2014 so viele Menschen auf die Straßen? 11000 Menschen allein in Wien? Tausende in allen großen Städten Deutschlands? Zwischen dem 9. Juli und dem 9. August 2014, innerhalb von nur vier Wochen, zählt der Journalist Lucius Teidelbaum 120 Demonstrationen und Kundgebungen in Deutschland, 17 davon allein in Berlin. Die geifernde Kritik an Israel hat viele Farben und Schattierungen: rechte, muslimische und linke. Bei keinem anderen Thema ergibt sich eine solche Schnittmenge. An acht der erfassten Kundgebungen waren Neonazis beteiligt, eine Demonstration in Eppingen bei Heilbronn richteten sie sogar selbst aus. Aber was ist es, das die Menschen so umtreibt? Ist es am Ende die Konfrontation mit der Erinnerung an dunkle Zeiten, der wir so gerne entkommen möchten?

»Antisemitism is hating jews more than necessary«, lautet die humorvolle Definition, die Juden in Manhattan gern zitieren. So gehasst zu werden ist nicht schön, aber auch nicht weiter gefährlich. Diesen »unbefangenen« Antisemitismus hat es vor Auschwitz auch in Deutschland gegeben. Vorbei. Jetzt riecht es hier immer gleich unangenehm nach Gas. Das stinkt jenen, die gern frei sagen möchten, was sie fühlen, und es ängstigt jene, die auf keinen Fall die deutsche Schuld relativieren wollen. Die, die Juden mögen wollen und erschrocken feststellen, dass sie es nicht immer tun. Entsetzt fragen sie sich, ob ihre negativen Gefühle, wenn es um den jüdischen Staat geht, schon etwas mit Antisemitismus zu tun haben könnten. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn ob etwas judenfeindlich ist oder nicht, lässt sich nicht nur danach beurteilen, was jemand tut oder sagt. Entscheidend ist das Warum. Auch eine berechtigte Kritik an Israel kann antisemitisch sein, und eine unberechtigte kann durchaus frei von Antisemitismus sein.

Was so kompliziert klingt, wird sofort verständlich, wenn wir statt von Judenfeindschaft von Frauenfeindlichkeit sprechen. Ist jeder Mann, der blöde Blondinenwitze erzählt, ein Frauenfeind? Keineswegs. Vielleicht handelt es sich einfach um jemanden, der über alle und jeden geschmacklose Witze erzählt, vielleicht sogar über sich selbst, eine besondere Form des Humors eben. Umgekehrt gibt es durchaus Männer, die sich zwar immer humorlos korrekt gegenüber Frauen verhalten, sie aber sehr wohl innerlich abwerten und etwa als Vorgesetzte bei der Karriereplanung übergehen, weil sie ihnen nichts zutrauen. Entscheidend also ist die innere Haltung, nicht was, sondern warum etwas gesagt oder eben nicht gesagt wird. Wir alle leben in Milieus, in denen es unausgesprochene Regeln des sozial Erwünschten gibt. In der aufgeklärten Mittelschicht gehört es sich einfach nicht mehr, frauenfeindlich, schwulenfeindlich, ausländerfeindlich oder antisemitisch zu sein. Wer dennoch negative Gefühle gegen Frauen, Schwule, Ausländer oder Juden hat, wähnt sich als Außenseiter und schweigt. Je heftiger das Gefühl aber ist, umso größer wird der Drang, es doch zu artikulieren. So heftig, dass es schließlich mit einem Freispruch in eigener Sache eingeleitet wird: »Man muss doch mal sagen dürfen …« Darf man, die Frage ist nur, warum will man, warum muss man?

Dient die Kritik an Israel vielleicht der Abwehr eigener Schuldgefühle? Wenn die eigene psychische Entlastung die treibende emotionale Kraft ist, wird jeder Fehler Israels vergrößert wahrgenommen, denn je mehr auf das Schuldkonto des Judenstaates gebucht werden kann, umso mehr kann vom eigenen Schuldkonto abgehoben werden. Ist also sekundärer Antisemitismus, das als unerträglich empfundene Schuldgefühl, das Juden den Nachfahren der Täter durch ihre bloße Existenz bereiten, das Motiv für eine grotesk einseitig verzerrte Sichtweise auf den Nahostkonflikt? Oder ist es tatsächlich ehrenwertes politisches Engagement für die Palästinenser, für ein Volk, das in vielen Ländern diskriminiert wird und noch immer keinen Staat hat? Geht es also darum, sich für die Palästinenser einzusetzen oder gegen Israel Partei zu ergreifen? Wie eng hängen Antisemitismus und Israelkritik zusammen? Damit setzt sich dieses Buch auseinander.

Vehement wird das Recht auf ungehinderte öffentliche Kritik am jüdischen Staat eingefordert. So vehement, dass selbst die Nachfrage, wie fair, wie berechtigt, wie faktisch richtig der jeweilige Kritikpunkt ist, bereits als Angriff auf das grundsätzliche Recht der Meinungsfreiheit diffamiert wird. Und auch der Hinweis, dass dieses Recht nicht eingefordert werden muss, weil es selbstverständlich ist und kräftig genutzt wird, wie schon der Blick in deutsche Zeitungen zeigt, wird als zionistische Schutzbehauptung abgetan. Zu verlockend ist offensichtlich die Pose des Rebellen gegen die jüdische Lobby, die ihn mundtot machen wolle. Wer sich mit der »Israel-Lobby« anlegt, kann sich eines breiten Applauses sicher sein. Der Kampf gegen den Papiertiger ist zu schön, um ihn aufzugeben. Billiger und ungefährlicher lässt sich nicht siegen.

Antisemitismus ist keine ansteckende Krankheit, vor der man sich schützen kann. Aber antisemitische Vorurteile werden unbewusst tradiert, weitergereicht von Generation zu Generation. Schon der Begriff Antisemitismus selbst vernebelt dabei das Entscheidende: Es ist der Hass auf Juden, nicht auf Semiten, zu denen ja auch die arabischen Völker zählen. Spätestens wenn man das Kind beim Namen nennt, wird der Patient besonders störrisch und verweigert die Diagnose. Wissenschaftler in Israel, den USA und Europa haben lange um eine Definition von Antisemitismus gerungen, auf die sich europäische und internationale Einrichtungen einigen können. Diese sogenannte »Arbeitsdefinition« hat mittlerweile Eingang in Schulungsprogramme von Polizeibehörden gefunden, wurde im US-Außenministerium übernommen und wird auch in anderen interparlamentarischen Kommissionen in Großbritannien und Kanada akzeptiert. Sie ist knapp und unmissverständlich einfach: »Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.« Hilfreich für die Diagnose ist auch der große »3-D-Test«, die Feststellung, ob Israel dämonisiert oder delegitimiert wird oder es doppelte Maßstäbe gibt für Israel und den Rest der Welt.

Wir haben Experten besucht, die sich historisch, psychologisch und politisch mit dem Phänomen der Judenfeindschaft in Deutschland befasst haben. Sie werden helfen bei der Antwort auf die sehr persönliche Frage: Wie antisemitisch bin ich eigentlich selbst? Die Antwort mag manchen Leser erschrecken, am Ende aber vielleicht sogar befreien, denn die Diagnose ist die Voraussetzung für eine Therapie.

Dieses Buch ist keine Anleitung zur politisch korrekten Israelbeschimpfung. Es werden keine Rezepte gegen das eigene versteckte oder offen antisemitische Denken ausgestellt. Doch es werden Mittel an die Hand gegeben, um diesem Denken auf die Schliche zu kommen, um versteckte Judenfeindschaft zu erkennen und ihr entschiedener begegnen zu können. Bei anderen – aber auch bei sich selbst. »Natürlich bin ich kein Antisemit, aber …« wird keine Entschuldigung mehr sein für judenfeindlichen Schwachsinn. Nach der Lektüre wird den Leserinnen und Lesern klar sein, warum höchste Vorsicht geboten ist, wenn eine Suada gegen Israel mit »natürlich« eingeleitet wird. »Natürlich« ist in Deutschland nämlich nichts, wenn es um die gestörte Beziehung zwischen jüdischen und nicht jüdischen Deutschen siebzig Jahre nach dem deutschen Judenmord geht. Wenn überhaupt, dann sind das Unbehagen, die Verlegenheit, die Angst, die Abwehr, die Wut und die Feindschaft natürliche Elemente dieser Beziehung. Auch der Appell, dass »irgendwann doch einmal Schluss sein müsse« mit der »Vergangenheitsbewältigung«, ist ein frommer Wunsch, den nur jemand hegen kann, der noch nicht angefangen hat, zu verstehen. Die Lektüre dieses Buches kann vielleicht ein solcher Anfang sein.

Es ist kein Regelwerk für die gesellschaftlich unfallfreie Begegnung mit Juden, aber es ist ein Selbsthilfebuch, eine Unterstützung bei der schwierigen Suche nach Selbsterkenntnis. Die Frage wird nicht mehr lauten, wie lange ich Israel und seine Politik kritisieren darf, ohne ein Antisemit zu sein, sondern was antisemitische Israelkritik von legitimer unterscheidet. Es wird sich zeigen, dass diese Diagnose gar nicht so schwer ist.

Siebzig Jahre nach dem Ende einer Volksgemeinschaft, die das Jüdische in diesem Land fast ausgelöscht hätte, und fünfzig Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Staat der Opfer, die traumatisiert verstummt waren, und dem Staat der Täter, von denen damals die meisten wieder frisch in Ämtern und Würden saßen, will das Buch dazu beitragen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie tief die Wurzeln des Antisemitismus noch immer reichen, wie sehr das Jüdische in diesem Land das Fremde geworden ist.

Dieses Buch ist eine Streitschrift und keine wissenschaftliche Abhandlung, weil Fakten, Zahlen und Analysen nur die eine Seite sind, die andere aber ist die Seite der Gefühle, der Zwischentöne, die nur hört, wer hören kann und will. Der amerikanische Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat einmal gesagt: »Wir Juden haben keine Antennen für Antisemitismus, wir sind die Antennen.« Deshalb haben wir Menschen in Deutschland besucht, die sich nicht aussuchen können, ob sie das Thema interessiert oder nicht, weil sie Judenfeindlichkeit an Leib und Seele erfahren. Menschen unterschiedlicher Generationen, unterschiedlicher Herkunft und oft völlig gegensätzlicher politischer Überzeugung, die aber dadurch verbunden sind, dass sie als Juden oder Israelis in Deutschland leben und deshalb seismografisch auf Israelfeindschaft reagieren. Ihre Erzählungen ergänzen unsere eigenen Beobachtungen und fügen sich am Ende zu einem vielschichtigen Bild deutscher Normalität. Eine Streitschrift ist nicht ausgewogen und will es auch nicht sein. Das ein oder andere Beispiel, auf das wir Ihr Augenmerk lenken wollen, mag Ihnen bekannt vorkommen. Sie haben es vielleicht als bedauerlichen Einzelfall abgetan. Andere »Einzelfälle« dagegen sind nur hartnäckig Interessierten bekannt. Gemeinsam zeichnen sie ein aufschlussreiches Bild und machen klar, wie stattlich die Liste ist, die wir problemlos hätten verlängern können, denn an Beispielen mangelt es nicht. Der Einzelfall hat System.

Im besten Fall werden diese Beobachtungen in der Mitte der Gesellschaft dazu anregen, über sich selbst nachzudenken und genauer zuzuhören, was um einen herum so gedacht, gesagt und wie vorschnell geurteilt wird. Vielleicht hilft das Buch ja dabei, eigene Antennen auszubilden, damit es wieder möglich ist, unbefangen jüdische Witze erzählen zu können, weil Sie nicht mehr über, sondern mit Juden lachen können. Und wenn Sie beim nächsten fröhlichen Grillfest mal wieder auf jemanden stoßen, der »natürlich kein Antisemit ist«, dann fragen Sie ihn doch einfach, wann er Geburtstag hat, um ihm dieses Buch zu schenken. Vielleicht hilft es ja.