Der Titel dieses Buches mit Predigten und Meditationen »Transparente Erfahrung« bedarf einer Erläuterung. Predigt und Erfahrung gelten in unserer theologischen Tradition oft als Gegensätze. Gepredigt wird über Bibelworte, von denen man hofft, dass sie im Hörer zum Wort Gottes werden, religiöse Erfahrungen werden von Menschen gemacht, die Leben und Welt in besonderer Weise verarbeiten. Worttheologie, die »von oben«, und Erfahrungstheologie, die »von unten« einsetzt, scheinen unvereinbar zu sein. Aber die Predigt ist so wenig Gottes Wort wie das Wort der Bibel, beides ist Menschenwort. Nur aufgrund einer veränderten Einstellung können wir hoffen, in ihnen mehr als Menschenworte zu hören. Ebenso gilt von der Erfahrungstheologie: Sie sucht in menschlichen Erfahrungen Spuren Gottes. Es sind oft ganz normale Erfahrungen. Wir würden die Spuren Gottes übersehen, wenn wir nicht in uns ein Suchprogramm hätten, sie zu deuten und zu entdecken. Wort- und Erfahrungstheologie weisen insofern auf uns selbst zurück. Liegt also in uns der Schlüssel für die Theologie? Sicher ist: Ohne Einbeziehung unserer selbst gäbe es keine Theologie. Daher gibt es noch einen dritten Ansatz in der Theologie: eine Reflexionstheologie, die nach Bedingungen der Möglichkeit in uns fragt, Gott zu erfahren, und die man auch »Transzendentaltheologie« nennen kann (wobei unter »transzendental« nicht das verstanden wird, was jenseits unserer Erfahrung liegt und »transzendent« ist, sondern was aller Erfahrung als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde liegt). Wir müssen den Weg »von oben« und »von unten« durch einen dritten Weg »von innen« und »nach innen« ergänzen. Denn nur eine innere Verwandlung macht unsere Erfahrungen transparent für Gott, nur eine veränderte Einstellung macht Menschenworte transparent für das »Wort« schlechthin. Ein sicherer Schlüssel ist dieser Weg »von innen« und »nach innen« aber nicht. Viele Menschen finden in sich kein Programm vor, das nach Gott fragt. Sie fragen nicht nach ihm und vermissen nichts. Viele leben zufrieden in dieser Welt, ohne nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Wenn im Leben ein inneres Such- und Interpretationsprogramm mit der Frage nach Gott aktiviert wird, dann geschieht das oft erst durch einschneidende Erfahrungen oder wird durch das »Wort« von außen geweckt. Die Weisheit vieler Religionen, dass der Mensch eine innere Verwandlung erleben muss, um Kontakt mit Gott zu bekommen, ist berechtigt. Dass wir geboren werden, um wiedergeboren zu werden, ist deshalb nicht nur eine pietistische Weisheit, sondern eine allgemeine christliche Einsicht. Sie ist in allen Religionen lebendig.
Auf jeden Fall ist klar: Wir stoßen im theologischen Denken immer wieder auf die drei skizzierten Wege zu Gott. Entweder wird Gott aus Gott selbst erkannt. Dann sprechen wir von Offenbarung als Selbsterschließung Gottes durch sein Wort. Dabei wird das Wort der Bibel oder der Predigt zum Medium für einen Kontakt mit Gott. Die religiöse Tradition benutzt dafür das Bild vom »Wort Gottes«. Auch das ist ein Bild. In einem sehr anthropomorphen Bild wird Gott als sprechender Gott vorgestellt.
Der zweite Weg ist: Gott wird durch Interpretation der Welt erkannt. Hier wird die Welt als ganze oder in Teilen zum Medium religiöser Erfahrung. Die religiöse Tradition kennt dafür die Metapher von der »Lesbarkeit der Welt«. Im »Buch der Natur« wird die Handschrift des Schöpfers entziffert. Auch das ist ein anthropomorphes Bild von Gott. Es sagt: Gott habe die Welt wie ein Künstler geschaffen und ihr dabei seine Handschrift aufgeprägt.
Der dritte Weg ist: Der Zugang zu Gott wird im Ich des Menschen gesucht, in den subjektiven Bedingungen, durch die sich ihm die Wirklichkeit Gottes öffnet. Hier wird der Mensch selbst zum Medium. Auch dafür hat die religiöse Tradition ein beeindruckendes Bild: Der Mensch ist »Ebenbild Gottes«. Als Ebenbild Gottes muss er verborgene Spuren Gottes aufweisen, nach dem er geschaffen wurde.
Wichtig ist: Alle drei Arten von Theologie sind auf KRITIK angewiesen: Alle drei sind in ihrer Struktur dafür anfällig, Medium und Sache zu verwechseln. Offenbarungstheologie steht in Gefahr, Macht auszuüben, wenn Menschenworte mit Unbedingtheit vertreten werden. Dann wird das Menschenwort mit dem Wort Gottes verwechselt.
Erfahrungstheologie steht in Gefahr, ein Stück Welt als Gott zu verklären, wenn sie Gottes Spuren in ihr entdeckt. Die Welt wird mit Gott verwechselt. Etwas Endliches wird überhöht.
Reflexionstheologie steht in Gefahr, Voraussetzungen für den Kontakt mit Gott für diesen Kontakt zu halten. Dann werden die Tiefen des Ichs mit Gott verwechselt.
Die notwendige Kritik an allen theologischen Ansätzen ist prophetisch und philosophisch: Propheten kritisierten die Verwechslung von Gott mit dem, was nicht Gott ist. Philosophen kritisieren unzulängliche Vorstellungen von Gott, sofern sie sich heute überhaupt mit »Gott« beschäftigen. Die hier vorgelegten Predigten und Meditationen wollen alle drei Ansätze vereinen: Erfahrungs-, Wort- und Reflexionstheologie. Sie bejahen ihre theologische Polyphonie. Sie beanspruchen nicht, sie in einem übergreifenden System widerspruchsfrei zum Ausgleich zu bringen. Alle drei Ansätze sind notwendig. Alle müssen mit der kritischen Frage konfrontiert werden, ob in ihnen nicht Gott mit etwas verwechselt wird, was nicht Gott ist. Diese Kritik ist in der Bibel begründet und im religionsphilosophischen Nachdenken über unser Scheitern, Gott zu denken. Die WORTTHEOLOGIE (oder Offenbarungstheologie) sagt: Gepredigt wird ein Wort, das aus keiner Erfahrung abgeleitet werden kann. Wir sollen in der Predigt ein Echo des Wortes hören, das alles geschaffen hat und natürlich auch die Bedingungen unserer Erfahrung und unseres Denkens und Hörens. Wenn wir Gott in seinem Wort verstehen, so nur deshalb, weil er die Möglichkeiten seines Verstehens selbst geschaffen hat und ständig neu schafft. Zugrunde liegt das Axiom: Gott wird nur durch Gott erkannt – so wie ein Mensch nur erkannt wird, wenn er sich von selbst zu erkennen gibt und sein Inneres zeigt. Das ist in sich einleuchtend: Wie könnte Gott anders erfahren werden als dadurch, dass er sich selbst erschließt? Offenbarung ist Selbsterschließung Gottes. Wenn Gott alles geschaffen hat, dann hat er auch die Bedingungen geschaffen, unter denen er erkannt wird. Dann muss jede Erkenntnis Gottes zu der Einsicht gelangen, dass sie letztlich durch Gott selbst bewirkt ist. Oder es handelt sich nicht um eine Erkenntnis des Gottes, der alles geschaffen hat. Jede Gotteserkenntnis wird notwendigerweise retrospektiv Offenbarungstheologie.
Doch immer bleibt bei einer Offenbarungstheologie ein Problem, wenn sie unter Menschen praktiziert wird: Es klingt sehr demütig, wenn der Prediger beteuert, dass Gott selbst die Bedingungen für das Verstehen seines Wortes schafft, so dass das Gelingen der Verkündigung ganz bei Gott liegt – und nicht beim Prediger und seiner Kunst. Aber das sagt uns nicht Gott. Das geht uns in dieser Situation nicht retrospektiv auf, wenn wir in Kontakt mit Gott gekommen sind. Das sagen Menschen, die in der Regel Theologie studiert und sich dafür qualifiziert haben, eine Leitungsrolle in der Kirche zu übernehmen, die wie jede Institution ein Herrschaftssystem ist, auch wenn die Kirche das gerne leugnet. Wenn man Offenbarungstheologie in die »wahre Sprache« menschlicher Absichten und der institutionellen »Vernunft« übersetzt, lautet sie in Kurzfassung: Auch wenn du nicht verstehst, was ich sage, musst du es akzeptieren. Gott spricht zu dir. Solch eine Kommunikation ist so autoritär, dass sie sich schon deshalb hinter viel Demut vor Gott verbergen muss, um erträglich zu sein. Bei manchen Offenbarungstheologen verbirgt sich hinter solcher Demut ein diktatorischer Wille, das Leben ihrer Mitmenschen zu kontrollieren. Dass sich in den Gläubigen etwas ereignet, was sich ihrer Kontrolle entzieht, ist für sie ein Horror. Daher polemisieren sie oft maßlos gegen jede Erfahrungstheologie. Sie führe ins Neuheidentum, liefere den Glauben an die Moden der Zeit aus, sei »religiöser Klimbim«. Mit dem Pathos einer Fundamentalkritik an allem religiösen Erleben übertönt diese Offenbarungstheologie, dass sie sich nicht die Frage stellt: Ist sie vielleicht nur Ausdruck klerikalen Kontrollzwangs? Was nicht von der Kanzel her geformt und gebilligt wird, gilt als illegitim. Vergessen wird, dass der Geist weht, wo er will. Geleugnet wird, dass Gott sich zeigen kann, wem er will, wo er will und wann er will. Verdrängt wird der Grundsatz: Nichts Endliches kann Unendliches fassen. Finitum non capax infiniti. Das ist eigentlich ein Grundsatz strenger Offenbarungstheologie und zeigt, dass man sie auch ganz anders konzipieren könnte – nicht als Ideologie kirchlicher Verwaltung oder charismatischer Autoritätsansprüche einzelner Theologen. Sie kann auch eine Theologie einer fundamentalen Erschütterung sein, die den Menschen in ein Vakuum führt, in dem er Gott begegnet. Die Offenbarungstheologie hat jedenfalls in einem Recht: Würden wir Gott selbst begegnen, wie Hiob es am Ende seiner Dialoge tut, würden wir uns in die Schranken unserer Einsicht fügen. Denn dann hätten wir diese Schranken schon hinter uns gelassen: Wer Kontakt mit Gott hat, ist am Ziel. Gott aber kann uns überall begegnen. Er verbirgt sich in Erfahrungen, wo immer er will. Er zeigt sich auch in der Erfahrung, die selbst von den strengsten Offenbarungstheologen nicht geleugnet wird: in der Erfahrung des Wortes Gottes – die Erfahrung des Bibelwortes, das als Medium transparent wird für das Wort Gottes.
Hat also die ERFAHRUNGSTHEOLOGIE Recht? Alles, was für uns Realität ist, kann uns nur dadurch zugänglich werden, dass es uns von außen berührt. Das gilt für die Erfahrung der Welt ebenso wie für die Erfahrung des »Wortes«. Gerade der radikale Konstruktivismus, der alle Erkenntnis der Welt als unser Konstrukt deutet, kommt zu dieser Erkenntnis: Wenn durch alle unsere subjektiven und sozialen Konstruktionen hindurch Erkenntnis von Gegenständen möglich ist, so müssen diese Gegenstände in irgendeiner Weise unser Bewusstsein informiert haben – sie müssen sich selbst zugänglich gemacht haben. Jede gültige Erkenntnis basiert auf einer »Offenbarung«, einer Selbsterschießung des Gegenstandes. Erst recht gilt das für Gott. Das alles ist unbestreitbar – aber ebenso unbestreitbar ist, dass wir alles, was von außen auf uns einströmt und uns dadurch zugänglich wird, durch unsere Deutung formen, ändern und konstruieren, damit es für uns zur Erfahrung werden kann. Erst dann haben wir die Chance, in ihr etwas zu entdecken, das mehr als Erfahrung ist. Wir müssen uns deshalb auf alle Erfahrungen in ihrer Mannigfaltigkeit einlassen – und ihre Verarbeitung so lange variieren, bis unser Alltagsbewusstsein unterbrochen und für etwas Anderes transparent wird. Wir wissen oft nicht: Ist es nur eine ungewöhnliche Deutung dessen, was wir sinnlich wahrgenommen haben – oder gibt es in, mit und unter diesen Erfahrungen eine Erfahrung, die durch keine Sinne vermittelt wurde?
Die Sakramente sind ein Paradigma für diese Art von Erfahrung. Sie sind sinnlich sichtbare Gegenstände und Ereignisse. Zusammen mit ihnen vollzieht sich parallel zum äußeren Geschehen etwas, wofür sie Zeichen sind – so sieht es die reformierte Sakramentstheologie. Die lutherische Sakramentstheologie sagt: In, mit und unter dem sinnlich Wahrnehmbaren sei die Gottheit nicht nur zeichenhaft, sondern real präsent. Am weitesten geht die katholische Theologie: Verborgen vollziehe sich im Sakrament eine Wandlung, die niemand sehen könne. Wo Gott ist, verändere sich etwas, auch wenn wir es nicht wahrnehmen. Hier stellt sich die Frage: Kann man diese sakramentale Theologie verallgemeinern zu einer Theorie der theologischen Wahrnehmung der Welt überhaupt? Müssen wir nicht die ganze sinnliche Welt so sehen und deuten? Kann sie überall zu einem sakramentalen Zeichen werden, das auf Gott weist? Und werden wir Gott nicht erst dann in der Wirklichkeit finden, wenn wir die Wirklichkeit als Veränderung erfassen – und uns von dieser Veränderung ergreifen lassen und uns selbst verändern?
Aber auch hier stoßen wir auf das Dilemma, das wir schon für die Offenbarungstheologie beschrieben haben. Es klingt gut, wenn man sagt: Gott ist in, mit und unter aller sinnlichen Erfahrungen zugänglich. Aber alle Kirchen versuchen, solche sinnliche religiöse Erfahrung exklusiv an die Sakramente zu binden, die sie kontrollieren können. Sakramente sind auch Ausdruck kirchlichen Machtwillens. Das wird besonders im Katholizismus deutlich, gilt aber abgeschwächt auch für andere Kirchen.
Die erste Machtfrage ist: Wer darf die Sakramente verwalten? Die katholische Kirche sagt: keine Frauen, aber auch keine männlichen Pastoren, die nicht durch apostolische Sukzession geadelt sind.
Die zweite Machtfrage ist: Wer darf zu den Sakramenten zugelassen werden? Die katholische Kirche sagt: keine Exkommunizierten, keine Geschiedenen, keine Mitglieder anderer Konfessionen – nicht einmal dann, wenn sie mit einem katholischen Christen verheiratet sind.
Die dritte Machtfrage ist: Wer darf über diese Zulassung entscheiden? Nur die Priester, sagt die katholische Kirche.
Manche Sakramentstheologie ist nicht weniger Ausdruck eines klerikalen Kontrollzwangs als manche Offenbarungstheologie. Sie ist sogar noch kontrollierender. Denn vom Hören des Wortes kann niemand ausgeschlossen werden, wohl aber von den Sakramenten. Trotzdem ist die Sakramentstheologie in einem Punkt berechtigt: Sakramente sind Modelle sinnlicher Erfahrung, die für Gott transparent wird. Nicht nur in den Sakramenten, sondern in der ganzen Wirklichkeit gibt es Orte, die transparent für Gott werden können. Sobald man die Sakramentstheologie zu einer Theologie der sakramentalen Erfahrung der Wirklichkeit auch außerhalb des Gottesdienstes ausweitet, entzieht sie sich klerikaler Kontrollsucht. Und das ist konsequent: Man kann Gott nicht vorschreiben, wo er in der Welt transparent werden will. Endliches kann Unendliches nicht fassen. Finitum non capax infiniti. Der Geist weht, wo er will. Er kann nicht exklusiv an einige Sakramente gebunden werden. Vielmehr öffnet er in allen Erfahrungen die Augen für etwas, das über jede Erfahrung hinausweist. Er kann alle Erfahrungen transparent machen. Dabei hält die katholische Sakramentenlehre etwas fest, was man nie vergessen sollte: Es muss sich etwas in der Welt und im Menschen verändern, damit im Sichtbaren Gott begegnet. Mit dem Verweis auf eine innere Veränderung werden wir auf den dritten Weg verwiesen: auf den Weg »nach innen«.
Man kann fragen: Wäre es in der modernen Zeit nicht angemessen, Theologie vor allem als REFLEXIONSTHEOLOGIE zu konzipieren? Religion ist eine anthropologische Möglichkeit, die uns die Wirklichkeit in anderer Weise erleben lässt als in alltäglicher Einstellung. In uns müssen also die Bedingungen dafür liegen, dass wir in religiöser Weise auf sie reagieren. Zum Weg der Worttheologie »von oben«, zur Erfahrungstheologie »von unten« tritt deshalb die Reflexionstheologie als ein dritter Weg »nach innen« und »von innen her«.
In der Tat erlebte das Christentum in der Neuzeit einen dreifachen Transformationsprozess, der jeweils zu einer kritischen Sichtung der Tradition führte, aus der sich der moderne Mensch nur aneignen kann, was er aufgrund von Evidenzerlebnissen innerlich und subjektiv bejahen kann:
Durch eine ethische Transformation wurde all das positiv angeeignet, was Norm für unsere Lebensführung und unser Zusammenleben ist: Nächstenliebe, die auch den umfasst, der schwach, defizitär und feindselig ist, dazu die Gleichrangigkeit aller Menschen durch Ebenbildlichkeit Gottes und Statusverzicht.
Durch eine ästhetische Transformation wurden die Erzählungen der Bibel zu Dichtungen, die voll von Bildern sind, die man nicht wörtlich nehmen muss, sondern von denen man sich subjektiv leiten lassen kann, etwas in der Wirklichkeit zu entdecken. Die Erzählung von der Schöpfung programmiert unsere Augen z. B. dafür, in allen Dingen wahrzunehmen, dass sie auch nicht und anders sein könnten.
Durch eine religiöse Transformation wurde das religiöse Subjekt zur Grundlage der Religion – auch um die Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Ethik zu sichern. Der Mensch wird als homo religiosus vom Ganzen der Wirklichkeit so verwandelt, dass er sein Leben als Antwort auf diese Wirklichkeit führt.
Alle drei Transformationen haben die Reflexion auf das handelnde, deutende und erlebende Ich verstärkt. Alle drei führen zu einem Weg »nach innen« und sind Grundlage einer Theologie »von innen her«. Aber auch solch eine Reflexionstheologie kann Ausdruck eines subtilen Machtwillens sein. Sie sucht nach einem religiösen Apriori im Menschen – und kommt in Schwierigkeiten, wo Menschen sich als »religiös unmusikalisch« definieren. Wenn moderne Theologie daran festhält, dass solche religiös unmusikalischen Menschen in sich eine Anlage unterdrücken, eine Möglichkeit verkümmern lassen, läuft sie Gefahr, Menschen zu bevormunden. Richtig ist, dass in manchem Erleben Gott anonym gegenwärtig ist. Er wird erfahren, aber nicht benannt. In manchen gedeuteten Erfahrungen ist Gott pseudonym gegenwärtig. Er wird erfahren, aber falsch benannt. Aber wer einfach dekretiert, dass Religion notwendig zum Menschsein gehört und Gott verborgen in jedem seine Spuren hinterlassen hat, spricht denen, die nicht religiös sein wollen, das volle Menschsein ab. Das aber ist aus ethischen Gründen unmöglich und widerspricht auch unserer Erfahrung. Noch einmal sei wiederholt: Es gibt Menschen, die zufrieden in dieser Welt leben, ohne nach dem Sinn dieser Welt und ihres Lebens zu suchen, und sie vermissen nichts. Es ist schwer, ihnen eine verborgene Frage nach Gott zu unterstellen und ihnen vorzuschreiben, wie ihre tiefsten Sehnsüchte eigentlich sein sollten. Man sollte freilich zugeben, dass die Unterstellung einer latenten Religiosität nur eine sehr milde Form von Bevormundung ist. Wir unterstellen auch bei anderen Menschen manchmal ein verschüttetes moralisches Gewissen. Das ist Ausdruck der Achtung vor ihnen. Täten wir es nicht, würden wir sie erst recht entmündigen.
Wichtiger ist: Durch die oben skizzierten Transformationsprozesse geriet die Religion in eine unlösbar scheinende Aporie. Reflexionstheologie konzentriert sich auf das Ich des Menschen, das Erleben und Denken des Subjekts. Religiöser Glaube zielt aber gerade nicht auf Ichzentrierung, sondern auf eine Dezentrierung des Ich: Das Subjekt wird durch einen Kontakt mit dem Zentrum der Wirklichkeit so erneuert, dass es sich für diese Realität öffnet. Mag sich die Reflexion über den Glauben dem Ich zuwenden, so wirkt im Glauben die entgegengesetzte Dynamik, sich von diesem Ich und seiner Egozentrizität zu befreien. Der Mensch macht Erfahrungen mit sich, aber sein Ich ist dabei nur das Medium, das auf ein Anderes verweist. Gerade das ist die religiöse Umkehr im Leben. Das Leben wird zur Antwort auf einen Ruf. Wenn das Axiom gilt: Endliches kann Unendliches nicht fassen: finitum non capax infiniti, dann gilt das erst recht gegenüber dem menschlichen Ich. Das Ich kann Gott nicht fassen. Er ist größer. Moderne Spiritualität steht in der Gefahr, das Ich mit Gott zu verwechseln.
Das kann man dadurch ausgleichen, dass jede Reflexionstheologie mit Wort-und Erfahrungstheologie verbunden wird. Alles, was im Ich geschieht, ist von außen veranlasst – durch das Wort der Verkündigung oder durch Erfahrungen der Welt. Aber das darf nicht bedeuten, dass man den Weg nach innen abbricht. Man muss ihn konsequent bis zum Ende gehen, d.h. bis zur Befreiung von Egozentrizität. Dann kann man auch die moderne Spiritualität positiv aufgreifen und ihre Ego-Orientierung überwinden. Dann begibt man sich auf den Weg der MYSTIK. In ihr werden alle Bedingungen der Möglichkeit religiöser (und anderer) Erfahrung erschüttert, und der Mensch wird frei von seinem Ich. Dieses Ich muss durch ein Sterben hindurch, um neu zu werden. Erst so wird es offen für Gott und geht auf in ihm. Das ist nicht die schnelle Mystik moderner Spiritualität. Das ist eine durch die Bilder des Christusgeschehens geprägte Mystik, die Tod und Leben umfasst. Viele halten solch eine Mystik zwar nur für eine marginale Strömung im Christentum. Aber sie ist im Zentrum christlichen Glaubens verankert: im Glauben an den Heiligen Geist – in der Überzeugung von Gottes Gegenwart im menschlichen Leben durch den Geist. Auch hier gilt der Grundsatz prophetischer Kritik: Endliches ist nicht fähig, Unendliches aufzunehmen. Unendliches kann aber im Endlichen anwesend sein, ohne in ihm aufzugehen. Die innere Gefährdung der Mystik liegt nicht darin, dass sie das Ich in Gott aufgehen lässt, sondern Gott im Ich. Dann schlägt Mystik in Atheismus um. Prophetische Kritik ist hier besonders nötig. In der Mystik wird Gott allzu schnell mit dem verwechselt, was nicht Gott ist. Die grundsätzliche Ablehnung von Mystik in der Offenbarungstheologie war verfehlt. Legitim aber ist die Kritik an ihr: Endliches kann Unendliches nicht fassen. Finitum non capax infiniti.
Predigten und Meditationen brauchen die Spannungen zwischen Offenbarungs-, Erfahrungs- und Reflexionstheologie nicht aufzulösen. Sie sind keine systematische Theologie. Wir leben auch sonst mit vielen Widersprüchen in unseren Gedanken. Wir können nur so Einseitigkeiten vermeiden, die dem Leben nicht gerecht werden. Überall im Leben praktizieren wir, wenn es darauf ankommt, pluralistische Erkenntniswege: Wenn wir auf verschiedenem Wege und sogar unabhängig voneinander zum selben Ziel kommen, sind wir der Wahrheit näher gekommen. In der Theologie hilft nur eine polyphone Hermeneutik der vielen Wege: Das Wort der Predigt soll uns die Augen dafür öffnen, dass Erfahrungen transparent sind für Gott. Erfahrungen verändern uns so, dass wir bereit werden, im Wort der Predigt die Anrede Gottes zu hören. Innere Veränderungen können zu mystischen Erfahrungen führen.
Der christliche Glaube hat diese Pluralität der Zugangswege in einem großartigen Bild zum Ausdruck gebracht: im Bild von der Trinität. Gott zeigt sich in verschiedener Weise: als Schöpfer in der Natur, als Sohn in einem Menschen und als Geist in den Menschen. Die Schöpfung ist das Feld menschlicher Erfahrung. Der Sohn ist das »Wort« der Offenbarung. Der Geist führt auf den Weg der Mystik nach innen.
Wenn ich für diese Sammlung von Predigten und Meditationen den Titel »Transparente Erfahrung« gewählt habe, so soll damit nicht die Erfahrungstheologie gegen die anderen Ansätze in der Theologie ausgespielt werden. Sie hätte es zwar verdient. Denn sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten in der protestantischen Theologie vernachlässigt und diskreditiert. Wo sie lebendig ist, zeigte sie sich oft nur in historisierenden Studien über vergangene Erfahrungstheologie. Der Titel »Transparente Erfahrung« setzt vielmehr voraus, dass kein Ansatz in der Theologie ohne Erfahrung ist: Die Worttheologie baut auf der Erfahrung des Wortes auf, die Erfahrungstheologie auf Erfahrungen der Welt, die Reflexionstheologie auf Erfahrung mit uns selbst. Entscheidend ist, dass jede Erfahrung dabei zum Medium für etwas wird, was über sie hinausweist und dadurch »transparent« wird. Das bedeutet aber: In allen drei Formen religiöser Erfahrung ist eine Spur Gottes in unserem Bewusstsein präsent, sonst könnten wir nicht von religiöser Erfahrung reden – immer aber entzieht sich der Ursprung dieser Spuren unserem Bewusstsein und bleibt »abwesend«. Daher hat man die innere Struktur religiöser Erfahrung als »abwesende Präsenz« und »präsente Abwesenheit« bezeichnet (W. Leidhold, Gottes Gegenwart. Zur Logik religiöser Erfahrung, Darmstadt 2008). Wer nur die präsenten Erfahrungen sieht, verendlicht Gott, wer den abwesenden Ursprung leugnet, verleugnet ihn. Erst wer sich beidem öffnet, begegnet Gott. Religiöser Glaube entsteht, wo präsente Evidenzerlebnisse auf einen abwesenden Ursprung zurückgeführt werden, von dem wir nur in Bildern und Gleichnissen reden können. Dieser Ursprung ist in jedem Fall mehr als die Welt. Dieses »Mehr« kann begrifflich sehr verschieden erfasst werden: als Ganzes gegenüber den Teilen, als Zentrum gegenüber dem Ganzen, als Grund gegenüber dem Begründeten, als Sein gegenüber dem Seienden, als Sein gegenüber dem Schein, als Ding an sich gegenüber seiner Erscheinung, als Umgreifendes gegenüber dem Begriffenen, als Sinn gegenüber den Fakten, als Wert gegenüber dem Wirklichen. Es gehört eine gewisse Demut dazu, es mit einem uralten Wort »Gott« zu bezeichnen. Auch hier gilt: Finitum non capax infiniti. Wer nur das Endliche sieht, überhöht es; wer das darin erscheinende und sich entziehende Unendliche leugnet, unterschätzt es.
Die folgenden Predigten und Meditationen gehen alle drei Wege der Theologie. Sie vertreten ein polyphones Verstehen von Bibel, Erfahrung der Wirklichkeit und Selbstreflexion. Aber das geschieht immer mit einem kritischen Vorbehalt. Uns muss bewusst bleiben, dass alle Wege der Theologie in die Irre führen können.
Diese Predigten und Meditationen beginnen mit einer Meditation über die Erfahrung der Natur und fragen: Wann wird ihre Ordnung, die wir in der Natur in verschiedenen Formen erleben, transparent für Gott? Besonders die Meditationen zu verschiedenen Themen gehen diesen Weg von unten nach oben. Das entspricht ihrer Gattung. Sie machen aufmerksam auf das, was wir schon immer wussten oder ahnten. In der Mitte des Buches stehen drei Meditationen zur ästhetischen Erfahrung: zu Religion und Dichtung, Musik und Kunst. Ästhetische Erfahrung ist der religiösen verwandt. Sie hat zwei Merkmale. Sie ist erstens ein Erscheinungsgeschehen. Im sinnlich Wahrnehmbaren erscheint etwas, das mehr ist als das, was wir unmittelbar sehen und hören. In einem kleinen Ausschnitt aus der Natur (einem Baum vor einer Landschaft) wird die überwältigende Schönheit der Natur überhaupt sichtbar. Ästhetische Erfahrung ist immer transparente Erfahrung. Sie hat zweitens das Merkmal, dass sie Zweck in sich selbst zu sein scheint. Der Apfel, den wir in einem Stillleben sehen, soll uns nicht Appetit machen, ihn oder andere Äpfel zu essen, sondern hat seinen Sinn in sich. Daher kann ästhetische Erfahrung transparent werden für das, was allein Selbstzweck ist: für Gott. Auf die drei zentralen Meditationen folgen drei Predigten, die den dreifachen Zugang zu Gott darstellen: den Glauben an Gott, Christus und den Heiligen Geist. Der Glaube an den Heiligen Geist verbindet das Zentrum christlichen Glaubens mit der Mystik. Mystische Erfahrungen waren der Offenbarungstheologie zwar immer ein Gräuel – trotz intensiver mystischer Bilder bei M. Luther, P. Gerhardt und G. Tersteegen, in denen die katholische Mystik im Protestantismus nachwirkt. Die letzte Predigt und die letzte Meditation sind dieser mystischen Erfahrung im Protestantismus gewidmet.
In der Mehrzahl handelt es sich um Predigten, die von einem Bibeltext ausgehen und ihn so auslegen, dass er transparente Erfahrungen ermöglicht. Das zeigt sich im Umgang mit der Welt – in der Aufgabe, sie zu erben, zu sehen und zu ändern. Das zeigt sich in den Spuren Gottes in dieser Welt – in Geschichte, Kosmos und in menschlicher Weisheit. Das zeigt sich in Grenzüberschreitungen, wie sie immer wieder in der Bibel dargestellt werden – auch dort wo sie poetische Dichtung sind wie die Himmelfahrt Jesu und Marias.
Überall ist Kritik notwendig. Das gilt für Wort-, Erfahrungs- und Reflexionstheologie. Das gilt genauso für den Weg von oben und von unten wie für den Weg »nach innen«. Alles lässt sich als Instrument klerikalen Machtwillens missbrauchen. Kritik von Macht ist Ideologiekritik. Die Predigten sind voll von Kritik. Sie spiegeln darin unsere geistige Situation, in der die Religion einem hermeneutischen Konflikt zwischen einer bewahrenden und einer destruktiven Religionsinterpretation ausgesetzt ist. Deswegen stehen am Anfang die drei Grundwerte, mit denen die französische Revolution eine neue Zeit beginnen ließ: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Deswegen fragen Predigten nach der Sünde und den Verirrungen der Menschen – nach den Verirrungen des Paulus, der in seiner Jugend vorübergehend ein fundamentalistischer Fanatiker war, aber auch nach den Verirrungen von Theologen in der NS-Zeit, die den Antisemitismus wissenschaftlich begründen wollten. Deswegen behandeln einige Predigten einen neuen Umgang mit Sünde und Sündern. Eine zentrale biblische Botschaft ist die Überwindung des Sündenbockkomplexes. Das Bild vom Sühnetod Jesu, das für viele ein Ärgernis ist, deckt unsere Neigung auf, andere als Sündenbock in die Wüste zu schicken. Protestantischer Moralismus ist dafür anfällig. Die Predigten zeigen immer wieder, dass man mit diesem Moralismus nicht weiter kommt – ganz gewiss nicht, indem man einige Gruppen populistisch zu großen Sündern abstempelt. Die christliche Antwort besteht in Haltungen, die jenseits der Moral liegen: in Glaube, Liebe und Hoffnung.