Gabriele Gfrerer, geboren 1961, hat dank ihrer vier älteren Brüder früh gelernt, sich durchzusetzen. Nach dem Lehramtsstudium und einigen Jahren Unterricht an einer Wiener Grundschule machte sie sich als Grafikerin selbstständig. Eines Nachts überfiel sie die Idee zu einer fantastischen Abenteuergeschichte. Seitdem ist sie mit dem Schreibvirus infiziert und hält fest, was ihr in den Sinn kommt – am liebsten Krimi-Plots.
»Warum lassen sie uns nicht einfach in Ruhe?« Marijana ist verzweifelt. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in Wien, seit vielen Jahren. Ihre Eltern stammen aus Bosnien. Als Marijana im Deutschunterricht ein Referat zum Thema »Ausländerfeindlichkeit« hält, sticht sie in ein Wespennest. Auf ihrem Handy gehen beklemmende SMS-Botschaften ein, ihr Vater wird zusammengeschlagen, ihr Bruder gekidnappt. Wer will sie mundtot machen? Und wem kann sie noch trauen?
Der Junge lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe und schaute auf die Straße hinunter.
Es hatte den ganzen Tag geregnet. In den Fahrbahnrillen und Bodenunebenheiten standen Pfützen, in denen sich die Reklamebeleuchtung der Geschäfte spiegelte. An der gegenüberliegenden Häuserfront flackerte nervös ein Licht. Eine der Neonröhren hinter dem Schriftzug »Balkantreff« hatte einen Defekt. In unregelmäßigen Abständen blinzelte das »...treff« wie ein zuckendes Augenlid. Der Junge reckte den Hals. Die Fensterscheiben des Lokals waren von innen beschlagen. Zwischen dichtem Zigarettenrauch und schummrigem Licht ließ sich die Anzahl der Besucher nur erahnen. Das Stimmengewirr, das bis zu ihm ins Zimmer drang, zeugte aber davon, dass das Lokal gut besucht war.
Er hörte sie, bevor er sie sehen konnte.
Wie die Schläge des Trommelbuben an der Spitze der anrückenden Armee knallten ihre Tritte auf den Asphalt. Sie kamen zu dritt. Eine alte Frau beeilte sich, auf die andere Straßenseite hinüberzuwechseln. Mit aller Kraft zerrte sie an einer Leine, doch ihr Dackel stemmte sich kläffend dagegen. Als er von einer Stahlkappe am Bauch getroffen wurde, hing die Leine so plötzlich durch, dass die Alte rückwärtsstolperte. Sein spitzes Jaulen tat weh. Der Hund rappelte sich hoch, humpelte, den Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt, zur Alten, die fassungslos den schwarz gekleideten Gestalten nachstarrte.
Wie sie sah auch der Junge am Fenster die Burschen zielstrebig auf den Balkantreff zuhalten. Als sie den Lichtkegel der Straßenlaterne durchschritten, schrumpften ihre Schatten zu verwachsenen Gnomen, bevor sie sich wieder bedrohlich streckten. Der Mittlere, ein bulliger Typ mit tätowierten Oberarmen, die wie Baumstämme aus seinem Leder-Gilet ragten, fuhr sich mit einer Hand über den kahl rasierten Schädel. Er sagte etwas zu seinem Nebenmann, der daraufhin gegen die Eingangstür trat. Das Glas schepperte, als die Tür mit einem Knall an die Innenwand prallte.
Augenblicklich verstummte das gesellige Lärmen.
Der Junge öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Mit angehaltenem Atem versuchte er etwas von den Vorgängen im Lokal mitzubekommen. Nach dem ersten Moment der Stille erkannte er den markanten Bass des Wirts, ohne Worte zu verstehen. Glas splitterte. Kurz darauf flog ein Stuhl durch die offene Eingangstür auf den Gehsteig. Zur einzelnen Stimme des Wirts gesellten sich weitere. Zornige Laute mischten sich unter dumpfe Schlaggeräusche.
Mit raschen Bewegungen tippte der Junge einen Notruf in sein Handy. Es dauerte einen Moment, dann gab er die Adresse durch. Noch bevor die Polizei eintraf, sah er die Schläger wieder aus dem Lokal kommen. Überraschend hob der letzte den Kopf und sein Blick fiel auf ihn. Ein Funke des Erkennens flammte zwischen ihnen auf, bevor der Skin zu seinen Kameraden aufschloss. Wie unter Zwang folgte der Junge ihnen mit den Augen, als sie ohne Eile die Straße überquerten. Ihre Tritte zerteilten die Nacht in exakt gleich lange Abschnitte. Bei der U-Bahn-Station hielten sie an. Die plötzliche Stille wirkte, als wäre eine Uhr stehen geblieben.
Der stumme Beobachter stand immer noch am Fenster, als das Blaulicht der anrückenden Polizeiwagen über die Hauswände glitt und sich in den Wasserpfützen vervielfältigte. Erst als er seinen Vater unverletzt aus dem Lokal kommen sah, löste er sich vom Fensterrahmen und trat ins Dunkel des Zimmers zurück.
Marijana lag bäuchlings auf ihrem Bett. Vor sich hatte sie einen uralten Laptop aufgeklappt liegen, den sie über eBay ersteigert hatte, und neben sich eine angefangene Tafel Milchschokolade mit ganzen Nüssen. Es knackte leise, und kleine Schokosplitter spritzten zur Seite, als sie eine neue Rippe abbrach. Während sie sich das Stück in den Mund schob, flogen ihre Augen über die Internetseite, auf der sie gerade für ihr Referat recherchierte.
Die Auswirkungen des Balkankriegs auf die Zuwanderungspolitik in Österreich.
Herr Nemetz hatte sie mit seinen durchdringenden hellblauen Augen fixiert. »Das hört sich an wie dein Thema, Fräulein Catic.« Er presste die Worte zwischen einem schmallippigen Lächeln hervor, als würde er ausspucken, sodass Marijana automatisch den Kopf einzog.
Sie seufzte resigniert und kopierte ein paar Fakten aus einem Gesetzestext, den sie gerade gefunden hatte.
Warum immer ich?
Unwillig drehte sie den Kopf, als es leise klopfte. Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich aber sofort, als Ivos Gesicht im Türspalt auftauchte.
»Darf ich zu dir ins Bett?«
Bereitwillig rutschte Marijana ein Stück zur Wand und klopfte mit der flachen Hand einladend auf den frei geräumten Platz.
»Hast du schon wieder schlecht geträumt?«
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie spät es bereits war, so sehr war sie in ihre Arbeit vertieft gewesen. Als sie aber Ivos kopfpolsterzerknittertes Gesicht sah, wurde ihr klar, dass er schon geschlafen haben musste. Auf dem Display des Radioweckers leuchtete ihr rot 0:37 entgegen.
Ivo schlüpfte neben ihr unter die Decke und bettete den Kopf in seine Armbeuge. Marijana lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Seine Haut fühlte sich heiß an. Prüfend legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Nein. Zum Glück kein Fieber.
»Hast du noch etwas davon übrig?« Ivo hielt ihr auf der flachen Hand ein paar braune Krümel unter die Nase, die er von ihrem Leintuch geklaubt hatte. »Sicher! Aber nur, wenn du Mama nicht petzt, dass ich im Bett Schoko esse.«
Die Geschwister grinsten einander an, und Ivo griff nach dem Stück, das Marijana ihm hinstreckte.
Eine Weile lagen sie wieder stumm nebeneinander. Weil Ivo nichts mehr sagte, sondern lediglich Kaugeräusche von sich gab, wendete Marijana ihre Aufmerksamkeit erneut dem Projekt zu. Aber mit ihren Gedanken war sie nicht mehr bei der Sache. Ein Teil von ihr horchte darauf, dass ihr Bruder von seinem Traum erzählen würde.
Als er schließlich zu sprechen anfing, kamen seine Worte zögernd. Bei der ersten Erwähnung der Schlangen versteifte sich Marijanas Rücken. Das Zittern aus Ivos Stimme floss über ihre Hand, die auf seinem Arm lag, in ihren Körper. Sie spürte, wie eine Welle aus Angst und Ekel die Schoko vom Magen in die Kehle hochdrückte.
Gewaltsam riss sie sich von dem Bild los, das die Fantasie ihr vorspiegelte. Sie lag zu Hause in ihrem Bett! Es gab hier keine Schlangen, die an ihr hochkrochen und sie langsam erstickten! Marijana setzte sich mit einem Ruck auf. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es aus einem Zwinger ausbrechen. Sie presste ihre Handballen gegen Stirn und Augenhöhlen, bis bunte Kreise durch das Schwarz tanzten. Ivos leise Stimme mischte sich mit den Bildern in ihrem Kopf.
»Ich war mit meiner Klasse im Haus des Meeres. Als wir vor dem Terrarium standen, hörte ich ein Knirschen, wie wenn Glas einen Riss bekommt. Doch niemand außer mir schien etwas zu bemerken. Der Sprung in der Scheibe wurde größer. Ich sah sie kommen. Ich wollte rufen, die anderen warnen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Langsam schoben sich die glänzenden Leiber durch die Öffnung. Einer nach dem anderen wurde von den Schlangen eingewickelt, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Mich ignorierten sie, als wäre ich unsichtbar. Kennst du das? Wenn man im Traum wegrennen will und die Beine sind auf einmal tonnenschwer? Und du steckst fest wie in einer zähen klebrigen Masse? Genau so war das! Ich wollte schreien, wollte raus, aber ich war wie gelähmt. Ich musste mitansehen, wie alle meine Freunde zwischen den schuppigen Windungen erdrückt wurden. Dann glitten die Schlangen in ihre Käfige zurück. Und anstelle meiner Freunde krümmten und ringelten sich unzählige neue Schlangenleiber auf dem Boden.«
Marijana streichelte über seinen Rücken. Ihre Hand war feucht. Ihr Kopf dröhnte. Wie konnte das sein?
»Hab ich dir davon erzählt, dass wir tatsächlich vor einigen Tagen mit der Schule das Haus des Meeres besucht haben? Ich habe es nicht geschafft, auch nur einen Schritt hineinzugehen. Ich konnte nicht! Allein die Vorstellung, wie sich die Schlangenleiber langsam durch das Laub schieben ... Wäähhh! Ich hab echt keine Luft gekriegt!«
Ivo riss die Augen auf. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Nein. Hast du nicht! Voll arg! Und alle haben sich das Maul zerrissen, was?« Er drückte Marijanas Hand.
Sie schaute Ivo ernst ins Gesicht. »Ich hab echt Angst, dass du deshalb diese schlimmen Albträume hast, weil ich dich mit meiner Schlangen-Hysterie verrückt mache. Ich habe alles über Schlangen gelesen, was ich im Internet finden konnte. In Österreich gibt’s eine einzige giftige – und die findet in einer Großstadt wie Wien mit Sicherheit nicht den passenden Lebensraum vor. Lass dich von meiner Panik nicht anstecken.« Sie strubbelte Ivo durchs Haar und versuchte ein Lächeln.
»Magst du noch was?« Sie fischte nach dem letzten Rest der Schokotafel und brach ihn in zwei Hälften. »Damit geht es uns bestimmt gleich besser.« Aufmunternd nickte sie Ivo zu, bevor sie ihren Teil im Mund verschwinden ließ.
Sie wollte gerade das Programm beenden und den Computer herunterfahren, als ihr Blick von einem Schlagwort aus der Stichwortliste gefangen genommen wurde: »Reinhaltung der weißen Rasse«.
Mit einer Mischung aus Abscheu und Neugierde klickte sie den Link an. Eine Gruppe, die sich Kinder Wotans nannte, rief zu einer Infoveranstaltung auf:
»Unser Wien ist von diesem Ausländerabschaum in Geiselhaft genommen! In manchen Bezirken hört man auf der Straße kein deutsches Wort mehr! Unsere Kinder müssen in Schulen gehen, in denen sie zwischen Alis, Bimbos und Tschuschen sitzen und ihre Muttersprache verlernen! Wer von diesen Zuständen die Nase voll hat, soll zu unserem Vortrag kommen! Wien wird wieder den Wienern gehören!«
Marijana atmete hörbar ein. »Das muss ich Alma zeigen, die wird ausflippen.« Das Knirschen ihrer Zähne klang bedrohlich. Als Ivo sich zum Laptop beugte, um zu sehen, was Marijana in solche Aufruhr versetzte, hätte sie ihn beinahe weggestoßen. Noch einmal zog sie die Luft durch die Nase hoch und presste die Knie gegen ihre Brust.
»Seit 14 Jahren lebe ich schon hier! Am Telefon würde niemand erkennen, dass ich nicht in Österreich geboren wurde.«
Jetzt zitterte ihre Stimme, obwohl sie sich dagegen wehrte.
»Ich spreche besser Deutsch als diese gehirnfreien Glatzköpfe, die meinen, sie wären was Besseres, nur weil sie zufällig in Wien auf die Welt gekommen sind.« Ihre Wangen glühten.
Ivo griff nach einer ihrer schwarzen Haarsträhnen und drehte sie um den Finger. Er schüttelte den Kopf. »Das sind einfach Idioten«, sagte er leise, als spräche er mit sich selbst. »Und ich wette, die meisten sind selbst nicht blond.« Er schnaubte durch die Nase. »Das ist wahrscheinlich der Grund für ihre praktische Einheitsfrisur.«
Er lachte so plötzlich, dass Marijana überrascht den Kopf hob und ihn mit gerunzelter Stirn anschaute.
»Ich bin eigentlich der perfekte Arier! Schau mich an! Blond, groß, blaue Augen.« Er stützte sich auf seine Unterarme und drehte Marijana erst die rechte und dann die linke Gesichtshälfte zu – das Kinn mit Nachdruck in die Luft gereckt. Mitten in der Bewegung zog er die Stirn in Falten. »Woher habe ich das überhaupt? Mama und Papa schauen beide so aus wie du. Da muss es wohl einen Germanen in unserer Ahnenreihe geben.« Er grinste schelmisch und zwinkerte Marijana zu. »Es ist also doch noch nicht alles verloren!«, kicherte er und puffte gegen ihren Oberarm. »Wir haben noch eine Chance auf Anerkennung!«
Gegen ihren Willen ließ sich Marijana von seiner unbekümmerten Fröhlichkeit anstecken. Sie warf einen letzten Blick auf den Artikel und drückte entschlossen auf den Ausschaltknopf.
»Wie ich Alma kenne, wird sie bestimmt wieder ihre Kumpels zusammentrommeln, um eine Demo gegen den Fremdenhass in Wien auf die Beine zu stellen. Mit mir kann sie jedenfalls fest rechnen!«
Marijana löschte das Licht und drückte Ivo einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut, kleiner Bruder!« Er schnaufte amüsiert, und Marijana musste lachen. »Na sicher, Bruderherz! Auch wenn du mich um einen Kopf überragst – was bei meiner Größe wirklich nicht schwer ist –, bleibst du doch immer mein kleiner Bruder. Und überhaupt bist du erst 13 und solltest längst schlafen!« Sie stopfte ihm die Decke fest um seinen Körper, bis ihn kein Luftzug mehr erreichen konnte.
»In drei Monaten bin ich schon 14«, murmelte Ivo, aber die Worte verloren sich in einem ausgedehnten Gähnen.
Marijana lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge neben sich, die gleich darauf einsetzten. Was Ivo vorhin gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf.
»Ich muss die Mama fragen«, dachte sie und seufzte. »Wenn sie mir ausnahmsweise einmal eine Antwort gibt.« Sie rückte noch ein Stückchen zu Ivo, bis seine Körperwärme durch ihre Decke drang. So konnte sie im Halbschlaf noch spüren, dass er in Sicherheit war.
Ivo blinzelte in den schmalen Strahl der Morgensonne, der zwischen den dicht aneinandergebauten Wohnhäusern einen Weg in den Raum gefunden hatte.
»Hast du schon wieder schlecht geträumt?« Sophia stand in der Tür zu Marijanas Zimmer und hielt die Arme in die Seiten gestemmt. Ivo hievte sich zum Sitzen hoch und warf seiner Mutter ein zerknittertes Lächeln zu. »Nicht so schlimm«, beeilte er sich zu beteuern, bevor Sophia wieder über Marijanas Schlangen-Panik schimpfen konnte. Mit bloßen Füßen tappte er zu ihr und beugte sich für einen Guten-Morgen-Kuss hinunter. Ihre Augen glänzten schokoladig, als er sein Gesicht wieder hob. Dabei fiel ihm das gestrige Gespräch ein.
»Mama, warum habe ich eigentlich blaue Augen und helle Haare? Niemand sonst in unserer Familie schaut aus wie ich ...«
Sophia schüttelte unwillig den Kopf. »Die Natur macht, was sie will – und ich will jetzt, dass du dich beeilst«, fügte sie in einem Ton hinzu, der jede weitere Diskussion unterband.
Ivo seufzte. Schnell schlüpfte er in seine Jeans und stopfte das Shirt nachlässig in den Hosenbund. Dann trottete er in die Küche und griff nach dem Sandwich, das Sophia bereits für ihn hergerichtet hatte. Er ließ sich auf den Holzstuhl plumpsen, machte einen großen Bissen und blies gleichzeitig in die dampfende Kakaotasse. Zwischen seinen Lippen sprühten weiße Brösel hervor und verteilten sich auf Tisch und Boden. Entschuldigend hob er Hände und Schultern und warf Sophia einen Blick zu, in den er alle Unschuld der Welt legte. Er wusste: Niemand konnte diesem Blick widerstehen, Sophia am allerwenigsten. Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und versuchte einen strengen Blick, aber im nächsten Moment musste sie schon lachen.
»Du Kindskopf«, seufzte sie und wuschelte ihm durch den zerrauften Haarschopf. Ivo schüttelte den Kopf, um die Strähnen aus den Augen zu kriegen. Aus den Augenwinkeln sah er Marijana, die gerade aus dem Bad kam.
Er hätte sie nicht ansehen müssen, um zu wissen, wie sie in der Tür stand. Die Arme um den Oberkörper geschlungen und die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen. Nur einen Moment verharrte sie so, bevor sich ihre Gesichtsmuskeln wieder entspannten und sie zielstrebig auf den Tisch zuging. Sie drehte sich halb zu Sophia, griff aber dann nach ihrem Kaffee und legte die Finger um die Tasse.
»Mama, darf ich dich etwas fragen?«, sagte sie in die braune Brühe hinein. Sie nahm einen Schluck, zuckte zusammen, weil der Kaffee noch zu heiß war, und stellte die Tasse wieder zurück.
»Kannst du mir Genaueres darüber erzählen, was damals während des Krieges in Bosnien passiert ist? Warum mussten wir flüchten? Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.«
Sophia drehte den Wasserhahn auf und begann, das Wasser ins Becken einzulassen. Laut klappernd hantierte sie mit dem Geschirr und schüttelte den Kopf. »Wozu willst du das wissen? Die Vergangenheit soll man in Ruhe lassen! Was bringt das, vom Krieg zu reden? Alles, was dabei rauskommt, sind Albträume.« Ganz kurz nur drehte sie den Kopf in Ivos Richtung.
»Ich brauche das für mein Referat! Kannst du mir nicht wenigstens einmal bei etwas helfen?« Auf Marijanas Wangen erschienen rote Flecken.
»Was ist denn hier los?« Der Vater steckte den Kopf zur Küchentür herein. Er war schon in seiner Arbeitsmontur, in der Hand die Tasche mit seinem vorgekochten Mittagessen.
Marijana schnaubte zornig durch die Nase. »Frag Mama!« Dann sprang sie auf, schnappte ihren Schulrucksack und rauschte an ihrem Vater vorbei, der ihr verdutzt nachschaute.
»Als müssten wir uns für unsere Herkunft schämen!«, rief sie in Sophias Richtung, bevor sie die Eingangstür zuknallte.
Ivo erhob sich mit einem leisen Seufzer. Er hasste Streit. Dabei gab es nur Verlierer. Er umarmte seine Mutter, die immer noch wortlos mit dem Geschirr kämpfte, berührte seinen Vater im Vorbeigehen am Arm und lief Marijana hinterher.
Obwohl sie kräftig ausschritt, hatte Ivo sie auf halber Strecke eingeholt. Er hängte sich bei ihr ein und brachte sie dazu, das Tempo ein wenig zu drosseln.
»Mari, warte! Sei nicht böse auf Mama«, fügte er leise hinzu.
Marijana schüttelte den Kopf. »Bin ich nicht. Ich bin nur jedes Mal wieder enttäuscht, wenn sie so ... abweisend zu mir ist.« Sie hielt kurz an, um Ivo anzusehen, als sich ihre Miene verfinsterte. Mit gesenktem Kopf verfiel sie erneut in einen schnellen Laufschritt.
Ivo keuchte neben ihr her. »Was ist?«
Marijana deutete mit dem Daumen auf die andere Straßenseite. »Da drüben. Siehst du die zwei Skins? Frank und sein Speichellecker Erik. Das sind ganz üble Typen. Wo die hintreten, wächst kein Gras mehr. Geh schnell weiter. Ich muss ihnen nicht unbedingt in die Quere kommen.«
Ivo zuckte zusammen. Ja. Wenigstens einen von ihnen hatte er vor Kurzem erst gesehen. Wie Marijana zog er den Kopf zwischen die Schultern und trabte los, um das Schultor vor den Skins zu erreichen. Ivo schaute so sorgenvoll drein, dass Marijana ihm aufmunternd auf den Rücken klopfte. »Die kriegen mich nicht klein!«, lachte sie. Dabei spreizte sie den Zeige- und Mittelfinger zu einem »V«, und ihre Augen blitzten. »Ich hab ja Alma! Und außerdem gibt’s zum Glück an der Schule auch noch andere, die nicht so einen beschränkten Horizont haben.« Dann lief sie durch den Gang zu ihrer Klasse.
Die Schulglocke schrillte, und Ivo musste sich beeilen. Im Vorbeilaufen sah er einen Schatten auf die Glastür zusprinten. Das Hemd aus der Hose und einen offenen Rucksack halb um die Schulter geschlungen, stieß der Bursche mit der Schuhspitze das Tor auf, dass es schepperte. Seine schulterlangen roten Locken hingen ihm wirr über die Augen. Im Laufen band er die Strähnen, die er erwischte, mit einem Gummiring zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Hi Noah! Gerade noch geschafft, wie?« Ivo grinste. Noah ging mit Marijana in die gleiche Klasse. Ivo mochte ihn, weil er nicht die Nase rümpfte oder eine blöde Bemerkung fallen ließ, wenn Ivo manchmal in der Pause zu Marijana in die Klasse kam. Er war zwar keiner, der sich in Dinge einmischte, die ihn nicht unmittelbar betrafen, und Ivo hatte auch noch nie erlebt, dass Noah Marijana oder Alma zu Hilfe kam, wenn sie wieder mal von den Skins verspottet wurden. Aber immer, wenn Marijana mit Noah zusammenstand, brachte er sie zum Lachen. Allein dafür konnte er Noah gut leiden.
Alma war sofort Feuer und Flamme.
»Das geben wir uns! Ich muss das hören, was die Zecken für Weisheiten verzapfen!« Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und reckte das Kinn gegen die Internetseite, die Marijana für sie noch einmal aufgerufen hatte.
Alma hatte sich sofort bereit erklärt, Marijana bei ihrem Referat zu helfen. Dass Sophia ihnen einen selbst gebackenen Mohnstrudel ins Zimmer stellte, deutete Marijana als Versöhnungsangebot, das sie mit einem Lächeln annahm.
Ivo, der keine Gelegenheit ausließ, um an Kuchen zu kommen, ließ sich begeistert mit einem Stück auf Marijanas Bett fallen, während die Mädchen vor dem Computer hockten. Dabei überhörte er geflissentlich Marijanas Drohung, er müsse ihre Matratze neu beziehen, wenn sie Brösel finden würde.
»Ich sag nur eines: ›Schokokrümel‹«, nuschelte er und grinste dabei, soweit es ihm sein voller Mund erlaubte.
Als Alma ihr Vorhaben hinausposaunte, sich unter die Kinder Wotans mischen zu wollen, setzte Ivo sich mit einem Ruck auf.
»Ich komme mit!«, sagte er mit Überzeugung in der Stimme.
Marijana schüttelte entschieden den Kopf.
»Was denkst du, was ich mir von Mama anhören muss, wenn sie erfährt, dass ich dich zu einer Veranstaltung von Neonazis ...«
Aber Ivo ließ sie nicht zu Ende sprechen.
»Ich denke nicht, dass Mama davon überhaupt etwas erfahren wird. Oder kannst du dir vorstellen, dass sie dich lieber als mich hingehen ließe?« Er zwinkerte ihr mit einem verschwörerischen Grinsen zu. »Du hast doch gar nicht vor, ihr davon zu erzählen, stimmt’s?«
Marijana musste ihm recht geben. Insgeheim teilte sie die zu erwartenden Bedenken ihrer Mutter. Zwei Mädchen, noch dazu eindeutig als Migrantinnen zu erkennen, waren mit Sicherheit nicht das Publikum, das mit dieser Anzeige angesprochen werden sollte. Aber für ihr Referat wäre so ein Augenzeugenbericht der Knüller! Sie stellte sich vor, wie Nemetz den Mund nicht zubekäme, wenn sie handfeste Beweise für die Existenz neonazistischer Gruppierungen in Wien auf den Tisch legen würde.
»Wetten, dass auch unsere beiden Skins Erik und Frank dabei sein werden?«
Marijana biss sich auf die Lippen. Ja, für die zwei war diese Veranstaltung wie zugeschnitten. Die Idee, dort in Begleitung eines männlichen Wesens zu erscheinen, gefiel ihr immer besser, auch wenn sie sich klarmachte, dass Ivo mit seinen dreizehn Jahren noch nicht wirklich zur Gattung »Mann« zu zählen war. Doch wer sein wahres Alter nicht kannte, schätzte ihn durchwegs älter ein.
»O.K., dann komm meinetwegen halt mit.« Sie seufzte nachdrücklich, um wenigstens den Anschein zu wahren, er hätte sie überreden müssen. Ivos Augenzwinkern beraubte sie gleich darauf jeglicher Illusion, ihr Bruder hätte sie nicht durchschaut.
»Kannst froh sein, einen starken Mann in der Familie zu haben.« Er schob den Ärmel des Pullis hoch und zeigte seinen angespannten Bizeps. »Das ist kein Fliegenschiss, hä?«
Alma pfiff bewundernd auf zwei Fingern, und Marijana fragte sich zum wiederholten Male, ob er nicht vielleicht doch schon viel älter war, als jeder glaubte.
Zum angekündigten Termin fuhren sie mit der Straßenbahn an den Wiener Stadtrand, wo sich das Lokal befand, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte. Der Wagen war beinahe leer, als sie in das erste Abteil stiegen. Während Marijana sich in den Sitz drückte und schweigend an ihrer Unterlippe kaute, stellte sich Alma breitbeinig in den Durchgang und musterte die wenigen Fahrgäste. Sie wirkte selbstsicher, doch an der Geschwindigkeit, mit der sie ziellos Worte aus ihrem Mund herauskatapultierte, erkannte Marijana, dass auch sie angespannt war. Ivo hatte es sich auf dem gegenüberliegenden Fensterplatz bequem gemacht und streckte lässig die Beine von sich. Seine Augen waren halb geschlossen, als würde er dösen.
Nach und nach füllte sich der Wagon. Das Gedränge nahm zu, und Marijana bekam die Kante einer Aktentasche ins Gesicht. Weil ihr ein »Autsch!« entwich, drehte sich der Besitzer nach ihr um. Feindselig starrte sie der ältere Mann an.
»Können auch nicht mehr aufstehen, die jungen Leut, wenn Ältere einen Sitzplatz brauchen. Die haben halt alle keine ordentliche Erziehung mehr genossen. Kein Wunder. Sind ja alle nicht von hier.«
Eine Frau, die daneben stand, nickte zustimmend. »Tschuschengesindel«, sagte sie gerade laut genug, damit die Umstehenden sie hören konnten.
Marijana rutschte immer weiter zur Wand. Sie wollte aufstehen, aber der Koffer hinderte sie daran. Hektisch suchte sie nach Alma, doch die stand eingekeilt zwischen einem schwitzenden Glatzkopf mit Hornbrille und einem Kinderwagen, in dem ein Baby immer lauter brüllte. Marijana stemmte sich von ihrem Sitz hoch und drückte gegen den Aktenkoffer, der ihr immer noch den Ausweg versperrte.
»Na, na, was soll des werden?«, mokierte sich der Mann und bewegte seine Tasche nicht von der Stelle. Doch die ältere Dame, die schräg gegenüber saß, drehte ihre Knie zur Seite und gab Marijana damit einen Durchgang frei. Dabei schüttelte sie den Kopf und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Marijana schaffte ein dankbares Lächeln, bevor sie sich zu Alma durchzwängte.
Nach endlosen vier weiteren Stationen hatten sie ihr Ziel erreicht. Sobald die Straßenbahn in die Haltestelle einfuhr, riss Marijana an der Verriegelung und sprang durch den Spalt, bevor die Türen noch richtig offen waren. Alma folgte ihr dicht dahinter.
»Der Typ mit der Aktentasche war vielleicht ein Knallkopf!«, ächzte sie und griff sich an die Stirn. »Aber von solchen Leuten darf man sich nicht provozieren lassen.« Sie knurrte wie ein Wolf, dem man einen Maulkorb verpasst hat. Marijana ahnte, welche Antwort sie dem Mann vorhin am liebsten gegeben hätte.
»Das war aber bestimmt nur ein Vorgeschmack auf das, was wir in Kürze erleben werden«, stellte Ivo nüchtern fest, während er der Bahn nachschaute, die eben die Station wieder verließ. Dann lenkte er seine Schritte Richtung Aufgang. »Das letzte Stück gehen wir zu Fuß. Ich brauch jetzt frische Luft.«
Marijana hakte sich bei Alma unter, die Ivo zur Rolltreppe folgte.
Als sie schließlich beim Gasthaus ankamen, in das die Kinder Wotans geladen hatten, sahen sie sich einem kahl rasierten Mann gegenüber, der vor dem Eingang postiert war. Mit vor der Brust verschränkten Armen und gespreizten Beinen stand er da und erinnerte Marijana an Zerberus, den Höllenhund vor dem Tor zur Unterwelt. Als Ivo auf ihn zukam, machte er ihm den Weg sofort frei und öffnete die Tür. Lautes Stimmengewirr schlug ihnen entgegen. Doch bevor Alma hinter Ivo hineinschlüpfen konnte, hielt sie der Kahlköpfige unsanft an der Schulter zurück.
»Zutritt nur für die arische Rasse«, meinte er, als Alma sich unbeeindruckt vor ihn hinstellte. Marijana zog sie am Arm zurück.
»Lass es«, flüsterte sie ihr aufgeregt zu. Sie hatte Angst, dass sich ihre kämpferische Freundin mit diesem Kleiderschrank anlegen wollte. Sie schleppte Alma um die Hausecke zu einem Fenster. »Ivo ist ja drinnen. Der wird uns alles ganz genau erzählen.« Sie schirmte mit den Händen die Abendsonne ab, um etwas aus dem Inneren erkennen zu können. Obwohl bisher alles glattgegangen war und der Türsteher Ivo für einen von ihnen gehalten hatte, schnürte Marijana ein plötzlicher Zweifel die Kehle zu. Was, wenn Ivo sich durch irgendeine unbedachte Äußerung verriet? Wenn die Nazis da drinnen dahinterkamen, dass er eingeschleust worden war, um sie auszuspionieren?