Autorenvita

Ullrich

 

© Thienemann Verlag GmbH

 

Hortense Ullrich redet gern, lacht gern und schreibt gern. Und zwar über alles, was das Leben an Lustigem und Komischem zu bieten hat. Sie schreibt einfach auf, was bei ihr zu Hause tagtäglich passiert. Allerdings nie die volle Wahrheit, denn die würde ihr ohnehin niemand glauben. Ihre Töchter Allyssa und Leandra sind die Vorbilder für Jojo und ihre Schwester Flippi. Jojos überbesorgte, kochunfähige Mutter hat rein zufällig große Ähnlichkeit mit der Autorin. Nur Hortense Ullrichs Mann und die beiden Hunde kommen ungeschoren davon. Noch. Acht Jahre verbrachte Hortense Ullrich mit ihrem Mann und ihren Kindern in New York, inzwischen lebt sie in Bremen.

Buchinfo

 

Jojo liebt Felix und nur Felix. Denn er ist einfach perfekt für sie. Und sieht dazu überirdisch gut aus. Nur – sein eineiiger Zwillingsbruder Max ist irgendwie mehr als perfekt: Er sieht noch überirdischer aus und ist außerdem total cool. Seit er auf Jojos Schule geht, wird sie plötzlich sogar von den Mädels der In-Clique beachtet. Nur weil Max in der Pause mit ihr spricht! Aber was macht das schon? He, deswegen küsst man doch noch lange nicht den falschen Zwilling. Oder?

Titel

Sonntag, 7. September

 

»Hallo, Felix! Komm rein«, hörte ich meine Mutter sagen, nachdem sie die Hautür geöffnet hatte. Sie ist die Einzige, die bei uns freiwillig die Tür öffnet, wenn es klingelt. Meine kleine Schwester Flippi war nicht zu Hause, aber sie sucht normalerweise beim Klang der Klingel sowieso das Weite, weil man davon ausgehen kann, dass zu achtzig Prozent Leute vor der Tür stehen, die sich über sie beschweren. Und ich erwartete niemanden. Mit meinem Freund Felix wollte ich mich erst am späten Nachmittag in der Stadt treffen und meine beste Freundin Lucilla saß bereits neben mir in der Küche. Also musste ich auch nicht öffnen.

Lucilla futterte die Reste von unserem Mittagessen, das Gott sei Dank Oskar, der Mann meiner Mutter, und nicht sie selbst gekocht hatte, denn ihre Kochkünste lassen sehr zu wünschen übrig. Also das heißt, wenn sie kocht, wünscht man sich, dass man rechtzeitig von Außerirdischen entführt wird. Eine vage Erklärung wie: »Ich habe keinen Hunger«, lässt sie nicht zu. Besonders wenn einem der Magen dabei so laut knurrt, dass meine Mutter die Beteuerung, nicht hungrig zu sein, kaum versteht.

Während Lucilla mampfte, hielt sie mir wieder Vorträge über Romantik und wie perfekt ihre Beziehung mit Valentin sei und dass Felix und ich uns ein Beispiel an ihnen nehmen sollten.

Ich stoppte Lucilla mitten im Vortrag, als ich hörte, wen meine Mutter da begrüßte. »Felix?«, wunderte ich mich.

Lucilla strahlte. »Bestimmt will er dich überraschen. Wie romantisch!«

Ich grinste schief wegen Lucillas Romantikmacke. Aber mit Felix hatte ich wirklich einen tollen Freund gefunden. Was in meinem Fall nicht so einfach ist, denn die Jungs müssen, wenn sie mit mir zusammen sind, chaosfest ein. Und damit meine ich nicht nur umgekippte Colagläser, Eis, das auf Schuhen landet, oder diese wirklich trickreichen Ketchuptüten, die beim Öffnen das T-Shirt des Gegenübers verzieren. Sondern auch Beziehungschaos durch falsch interpretierte (leider meist von mir) Äußerungen und Situationen.

Ich sprang auf und lief in den Flur. »Hey, das ist ja eine Überraschung!«, rief ich fröhlich. Ich umarmte Felix. Küssen wollte ich ihn vor meiner Mutter nicht.

»Also, so eine Begrüßung hätte ich nicht erwartet.«

Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Solange meine Mutter danebensteht, kann ich dich leider nicht küssen. Das holen wir später nach.«

Felix wirkte ausgesprochen verblüfft. »Also, das ist echt nicht nötig«, meinte er. Dann grinste er. »Auf der anderen Seite, wenn du darauf bestehst …«

Ich grinste ebenfalls. »Ich bestehe darauf!« Mit diesen Worten zog ich ihn von der offenen Haustür in den Flur. »Komm doch rein.«

Meine Mutter ging wieder in die Küche.

»Also, ich hab nicht allzu viel Zeit, ich wollte eigentlich nur vorbeikommen und mich entschuldigen …«

»Schicke Frisur«, sagte Lucilla, die in den Flur gekommen war, und deutete auf Felix’ gegelte Haare.

»Danke.«

Ich betrachtete seine Frisur. Es war das erste Mal, dass er seine Haare gegelt hatte, und ich fand, es sah affig aus. »Sieht etwas gelackt aus«, meinte ich. »Wofür wolltest du dich entschuldigen?«

»Na ja, für den Auftritt auf Rafaels Party.«

»Vergiss es, dein Bruder hatte es verdient.«

Felix hatte seinem Bruder Max nämlich, weil der mir gegenüber frech war, kräftig eine gelangt. Eigentlich waren sie schon zu groß für Prügeleien, aber unter Brüdern ist man dafür vielleicht nie zu groß.

Felix sah mich plötzlich ganz misstrauisch an, dann grinste er breit. »Sag mal, kann es sein, dass du mich mit Felix verwechselst?«

Ich starrte ihn völlig entsetzt an. Er war nicht Felix – er war Max?! Wie peinlich ist das denn?! Seinen eigenen Freund nicht zu erkennen! Mein Irrtum war zwar irgendwie verständlich, Felix und Max waren identische Zwillingsbrüder, sie sahen absolut gleich aus. Aber trotzdem: Müsste ich so etwas nicht spüren?!

Er fing an zu lachen. Laut.

»Nein, natürlich nicht!«, rief ich. »Ich weiß genau, wer du bist.«

»Und du wolltest mich küssen, sobald deine Mutter weg ist?«

»Ähm, ja, so diese Küsschen-Küsschen-Nummer, wie das in euren Kreisen so üblich ist.« Damit meinte ich die Golfclub-Schickimicki-Kreise, denn Max und Felix gehören zu den Superreichen.

»Und das sollte deine Mutter nicht sehen?«

»Nein. Sie hasst dieses alberne Getue.«

»Okay«, sagte er wenig überzeugt.

Nun sah mich Lucilla auch noch so merkwürdig von der Seite an. Dann beugte sie sich ganz nah zu ihm und betrachtete ihn wie ein Insekt unter einem Mikroskop. »Unglaublich, wie ähnlich ihr beide euch seht!«

»Kommt bei eineiigen Zwillingen vor«, meinte Max.

Sie hielt ihm die Hand hin. »Hallo, ich bin Lucilla. Jojos beste Freundin.«

»Und sicher auch die hübscheste.« Max gab ihr die Hand und Lucilla schmolz dahin.

»Also«, wandte ich mich dann so sachlich wie möglich an Max, um das Gesülze und Dahingeschmelze zu beenden, »Entschuldigung angenommen, gibt’s sonst noch was?«

Max nickte. »Ich komme auf deine Schule. Und da dachte ich …«

»Hey, toll!«, rief Lucilla.

Mist, ausgerechnet auf unsere Schule! Sein Bruder Felix geht auf eine Privatschule, aus der Max vor einem Jahr rausgeflogen ist. Daraufhin wurde er von seinen Eltern in ein Internat gesteckt. Nachdem er sich auch dort so unbeliebt gemacht hatte, dass man sich wieder von ihm trennte, und auch das viele Geld, das sein Vater bot, wenn sie ihn behalten, nichts nutzte, war er nun wieder zu Hause und seine Eltern haben entschieden, ihn auf eine öffentliche Schule zu schicken. Aber warum auf meine?! Es gibt ja noch andere öffentliche Schulen hier.

»… Ist das okay?«, fragte Max.

Verflixt, ich hatte nicht zugehört. »Was?«

Er wiederholte: »Ich dachte, du könntest mir vielleicht ein paar Tipps geben.«

»O ja, und der erste Tipp wäre: Komm nicht einfach uneingeladen bei jemandem vorbei.«

»Danke. Sehr hilfreich. Und jetzt zu den Tipps für meinen ersten Schultag.«

»Bring keine Schultüte mit. Gilt in unserem Alter nicht mehr als cool.«

»Notiert. Und was muss man tun, um als cool zu gelten?«

»Häng nicht mit mir rum.«

Max lachte. »War das ein ernst gemeinter Ratschlag oder eine Drohung?«

»Das war ernst gemeint«, mischte sich Lucilla ein. Leider hatte sie recht. Wenn man Coolness beschreiben sollte, würde man damit anfangen, zu sagen: Benimm dich nicht wie Jojo.

»Das mit der Drohung hat mir besser gefallen«, teilte ich Lucilla mit.

»Na, aber wenn er mit dir rumhängt, wird er nie Freunde finden.«

»Also so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Du bist ja schließlich auch mit mir befreundet.«

»Das war, bevor ich wusste, dass du als uncool giltst. Und dann war’s zu spät, da waren wir schon Freundinnen.«

»Halte dich an Lucilla«, meinte ich zu Max.

»Ich denke, ich werde mich an euch beide halten.« Dann zwinkerte er Lucilla zu, deutete mit dem Kopf auf mich und sagte: »Vielleicht können wir ihr Image ja etwas aufpolieren?«

Lucilla winkte ab. »Das hab ich auch schon probiert. Hoffnungslos.«

»Spannend.«

»Du kommst ja eh nicht in unsere Klasse, du bist ja älter als wir.«

»Umso besser für dich, mit mir gesehen zu werden.«

Das fand ich jetzt etwas überheblich. »Lass mal, bin bisher auch ganz gut ohne dich zurechtgekommen.«

»Freut mich, dann kann es ja nur besser werden.«

Meine Mutter lief über den Flur. »Wieso steht ihr denn immer noch da herum? Und macht doch mal die Haustür zu.« Das übernahm sie selbst und es wird mich immer wundern, wieso sie stets Anordnungen gibt und sie dann sofort selbst erledigt. »Macht die Kühlschranktür bitte zu«, sagt sie, während sie sie gerade selbst schließt. Oder »Nimm dir bitte einen Teller«, wenn man versucht, möglichst krümmelfrei ein Knäckebrot auf dem blanken Küchentisch mit Butter zu bestreichen, und im selben Augenblick und höchstpersönlich stellt sie den Teller vor einen.

»Er muss gleich wieder gehen«, teilte ich mehr ihm als meiner Mutter mit.

»Wieso muss Felix gleich wieder gehen?«

»Weil er nicht Felix ist!«

»Jojo, was soll das denn heißen?«

»Das ist nicht Felix, das ist sein Zwillingsbruder Max.«

Meine Mutter unterzog Max einer sehr eingehenden Betrachtung, dann fragte sie ihn: »Stimmt das?«

Max lächelte freundlich und nickte. »Ja, es stimmt. Tut mir leid, dass ich für Verwirrung gesorgt habe.«

Nun lachte meine Mutter. »Das ist ja wirklich unglaublich! Ich hätte geschworen, du wärst Felix.«

»Ja, das passiert häufig.«

»Na, komm rein, setz dich«, sagte meine Mutter nun und schob ihn in die Küche.

»Das ist echt nicht nötig«, rief ich, während ich hinter den beiden herlief. »Sag meiner Mutter, dass du gerade wieder gehen wolltest!«

»Ich werde ab morgen auf Jojos Schule gehen«, sagte er stattdessen auf dem Weg in die Küche.

»Wie schön! Jojo wird sich um dich kümmern, um dir das Einleben zu erleichtern.«

»Ich auch«, rief Lucilla, die uns in die Küche gefolgt war.

»Willst du einen Tee?« Wer hat meine Mutter beauftragt, die Gastgeberin zu spielen und den Kerl hier zu betüddeln?

»Nein danke, ich möchte keine Umstände machen.«

O gut. Vielleicht würde er ja jetzt wieder verschwinden.

Meine Mutter drehte sich zu mir. »Jojo, erzähl Max doch ein wenig von den anderen Kindern auf der Schule und von euren Lehrern.«

»Die Lehrer sind wie alle Lehrer: von nett bis ätzend – alles vertreten. Dasselbe gilt für die Schüler.«

»Also, Jojo, das geht doch wohl auch etwas ausführlicher.«

»Nein, ich … hab leider nicht viel Zeit, ich muss gleich weg.«

Lucilla sah mich erstaunt an. »Wohin denn?«

»Na, du weißt schon, zu … in die Stadt … Ich brauche neue Schulhefte.«

»Es ist Sonntag.«

»Ähm, ich weiß. Ich wollte sie aber schon mal in den Schaufenstern ansehen und auswählen, welche ich dann morgen kaufe.«

Nun sahen mich alle drei sehr merkwürdig an.

»Was ist? Ich suche eben meine Schulhefte mit Bedacht aus. Ich bin gegen Spontaneinkäufe.«

Meine Mutter und Lucilla wandten ihre Aufmerksamkeit wieder Max zu. Der sah mich immer noch an und grinste.

Meine Mutter sagte zu Lucilla: »Dann erzähl du Max von eurer Schule.«

»Lucilla wollte mit mir kommen.« Ich warf Lucilla einen vielsagenden Blick zu.

Sie verstand wohl, was ich von ihr erwartete, aber sie war hin und her gerissen.

»Ich will eure Pläne nicht durcheinanderbringen«, meinte Max und lehnte sich bequem zurück.

»Unsinn, das tust du nicht«, sagte meine Mutter.

»Also eigentlich schon«, widersprach ich.

»Jojo! Es ist immer schwierig, auf eine neue Schule zu kommen, wenn man niemanden kennt.«

»Er kennt uns doch jetzt, das reicht für den ersten Schultag.«

Lucilla sah mich bittend an. »Jojo, vielleicht sollten wir doch …«, sie deutete mit dem Kopf auf Max, »... später gehen?«

»Also, ich kann leider nicht später gehen. Ich muss jetzt gehen …«

»Na gut. Ich komm nach«, meinte Lucilla.

»Wohin nach?«, fragte ich ungläubig.

»Na, zum Schaufenster der Papeterie. Da holst du doch immer deine Schulhefte.«

Ich warf Lucilla einen vernichtenden Blick zu und verließ die Küche.

Toll, und jetzt? Um glaubwürdig zu erscheinen, musste ich wohl oder übel das Haus verlassen! Ich tat es geräuschvoll. Geräuschvoll heißt in diesem Fall, ich knallte die Haustür hinter mir zu. Als ich dann draußen stand, ärgerte ich mich ziemlich. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wieso stehe ich hier rum? Ohne Schlüssel. Ich würde klingeln müssen, wenn ich wieder reinwollte. Wieso war ich nicht wütend in mein Zimmer abgedampft?! Gut, dann geh ich halt in die Stadt. Ich stapfte durch den Vorgarten Richtung Straße und stellte fest, dass ich puschelige Hausschuhe trug. Also kehrte ich wieder zurück zur Haustür. Nein, kommt nicht infrage, dass ich jetzt klingle. Ich lief also wieder zur Straße. Unschlüssig blieb ich stehen. Was sollte ich jetzt tun?

»Was ist? Weißt du nicht mehr, wo du wohnst, oder hat Mami dich endlich an die Luft gesetzt? Ich bitte sie ja schon seit Jahren darum, aber sie hat immer Mitleid mit dir, weil sie befürchtet, dass dich niemand aufnimmt und durchfüttert.« Flippi bog gerade auf den Weg zu unserem Vorgarten ein und hatte mein dämliches Hin-und-Hergelaufe bemerkt. Sie war zurück von ihrer Schneckentauschbörse. Mit dem Körbchen, über das sie ein Tuch gelegt hatte, sah sie aus wie Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter. Tja, sie sieht zwar aus wie Rotkäppchen, hat aber eher den Charakter des Wolfes, der die Großmutter verschlingt.

»Argh!«, machte ich nur.

»Sollte das ein Satz werden oder hast du eine schlimme Bronchitis?« Sie lief an mir vorbei auf die Haustür zu.

»Hey, warte mal«, rief ich und lächelte Flippi an. »Du kannst mir einen Gefallen tun.«

Sie lachte. »Klar, sobald Schweine fliegen können, mach ich das.«

»Moment, nicht so schnell. Es könnte dir Spaß bereiten. Du kannst tun, worin du richtig gut bist: Leute nerven und sie zur Weißglut treiben.«

Sie blieb interessiert stehen und drehte sich um. »Worum geht es?«

»In unserer Küche sitzt jemand, den du verjagen musst.«

»Hör zu, ich reg mich auch manchmal über Mami auf, aber verjagen – also das ist selbst mir zu drastisch.«

»Blödsinn, doch nicht Mam. Da sitzt Max, der Zwillingsbruder von Felix. Ich will, dass er verschwindet.«

Sie kam wieder ein paar Schritte auf mich zu. »Egal wie?«

»Ja.«

»Es könnte schmutzig und hässlich werden.«

»Gerne.«

»Im Ernst?«

»Voller Ernst. Schneckenehrenwort.«

Sie strahlte. »Betrachte es als erledigt.«

Sie marschierte aufs Haus zu. Dann blieb sie stehen und drehte sich noch mal zu mir um. »Das heißt aber nicht, dass ich es kostenlos mache.«

»Schon klar. Wie viel?«

»Zwei Euro.«

Sie hielt die Hand auf. Ich hob meine leeren Hände und deutete an mir rauf und runter. »Hab kein Geld dabei. Aber wenn du mich wieder ungesehen ins Haus schmuggelst, treffen wir uns in meinem Zimmer und dann gebe ich dir dein Geld.«

»Also dann wird es aber noch mal fünfzig Cent teurer.«

»Mir egal, werde den Typ los.«

Flippi grinste. »Na, der scheint dir ja echt am Herzen zu liegen.«

Ich seufzte bloß.

Flippi klingelte und ich ging schnell in Deckung. Meine Mutter öffnete, Flippi marschierte ins Haus und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Ich fluchte, aber kurz darauf ging sie wieder auf. Erleichtert sprang ich hin – und prallte mit Max zusammen. Verflixt!

»Hey«, lachte er, »schon zurück? Waren die Schaufenster verhängt? Oder beachtest du das Hausschuhverbot, das in der Stadt herrscht?« Er blickte grinsend auf meine puschelige Fußbekleidung.

»Das sind keine Hausschuhe. Das trägt man zurzeit.«

»Wo? Im Altersheim?«

»Nein, bei uns in der Schule. Solltest dir auch welche zulegen.«

»Und da meinen die Leute, du wärst nicht cool!« Er konnte sich kaum mehr halten vor Lachen.

Gott sei Dank kam Lucilla gerade zur Tür raus, das ersparte mir eine schlagfertige Antwort, die ich eh nicht parat hatte. »Gehst du auch?«, wunderte ich mich.

Lucilla nickte. »Ich führ Max ein bisschen in der Stadt rum.«

»Was?«

»Ich bin neu hier und kann jede Hilfe brauchen«, sagte Max. »Komm doch mit. Wir gucken nach Schaufenstern mit Schulheften und suchen welche für dich aus.«

»So was mach ich lieber alleine. Dabei brauche ich volle Konzentration!«

»Okay, dann ein anderes Mal«, meinte er, legte den Arm um Lucilla und wollte gehen.

Lucilla strahlte.

Ich sah sie bitterböse an und starrte intensiv auf Max’ Arm.

Da fiel ihr wohl Valentin ein. Sie wand sich aus seinem Arm. »Tut mir leid, das geht nicht, ich hab einen Freund.«

»Sorry, war nicht persönlich gemeint.«

Bitte? Wie denn sonst?, dachte ich. Aber ich schwieg.

Lucilla ging los, Max kam noch mal einen Schritt näher zu mir und sagte leise: »Mach dir keinen Stress wegen der Verwechslung. Du bist nicht die Erste, der das passiert ist.«

»Ich hab dich nicht verwechselt!«

»Wenn du willst, bleibt das unter uns. Ich will meinen Bruder nicht beunruhigen.«

Das allerdings wäre wirklich gut. Trotzdem ärgerte ich mich. Vor allem darüber, dass er irgendetwas an sich hatte, was mich nervös machte. Auf eine Art nervös, die ich normalerweise nur bin, wenn ich mich verknallt habe. Was ich natürlich nicht habe. Aber was kein Wunder ist, denn schließlich bin ich ja in Felix verliebt und Max sieht ganz genauso aus wie Felix. Der einzige Unterschied ist eben, dass Max, irgendwie … hm … cooler ist. Und das liegt nicht nur an seinen gegelten Haaren.

Wortlos schob ich ihn zur Seite und betrat das Haus. Dann lief ich hoch in mein Zimmer.

Kurz darauf erschien Flippi bei mir. »Okay, Zahlemann und Söhne.«

»Bitte?«

»Du schuldest mir zwei fünfzig.«

»Ach was, wofür? Du warst noch nicht mal eine Minute drin.«

»Länger brauch ich auch nicht, um Leute zu verjagen.«

»Du hast ihn nicht verjagt, Lucilla hat ihn in die Stadt geschleppt. Du hattest damit nichts zu tun.«

»Selbstverständlich! Sie sind ja wegen mir gegangen.«

»Was hast du denn getan?«, fragte ich misstrauisch.

Flippi grinste. »Ich bin in die Küche und rief Mami zu: ›Ich glaube, ich hab Windpocken.‹ Dann hab ich Max freundlich angelächelt, gesagt: ›O wie schön, Besuch. Hallo, ich heiße Filipine‹, und ihm die Hand hingehalten. Du hättest mal sehen sollen, wie panisch er aufgesprungen ist und meinte, er müsse jetzt gehen! Er wolle sich noch ein wenig mit der Stadt vertraut machen. Lucilla bot an, ihm dabei zu helfen.«

»Windpocken, coole Idee.«

Ich gab ihr zwei Euro.

»Zwei fünfzig.«

»Die fünfzig Cent waren für das Öffnen der Tür. Und Max hat die Tür geöffnet.«

»Weil ich ihn verscheucht habe.«

»Ich hatte aber gesagt, du sollst mich ins Haus schmuggeln, ich wollte nicht gesehen werden.«

»Ja, wenn du auch nicht wartest, bis die Luft rein ist, ist das nicht meine Schuld.«

Ich sah sie an und seufzte. Ich werde nie eine Diskussion mit Flippi gewinnen.

Sonntagabend, 7. September

 

In Flippis Zimmer war ein lautes Gezeter im Gange. Meine Mutter unternahm den vergeblichen Versuch, Flippi wegen ihrer vermeintlichen Krankheit strikte Bettruhe zu verordnen. Flippi schien sich vehement dagegen zu wehren und gab schließlich eine längere Erklärung ab.

Nach einer Weile hörte ich meine Mutter schimpfen: »Mit ansteckenden Krankheiten macht man keine Scherze!«

Ich grinste schadenfroh. Hach, Flippi kriegt endlich auch mal Ärger mit Mam!

Eine Minute später stand meine Mutter allerdings bei mir im Zimmer und funkelte mich wütend an. Ich zuckte zusammen. Ups, Flippi hatte doch wohl nicht etwa gesagt, dass ich sie beauftragt habe …

»Jojo! Wie konntest du nur!«, rief meine Mutter.

Flippi hatte.

»Mam, ich wusste mir nicht anders zu helfen, also hab ich Flippi gebeten …«

»Ich weiß, was du getan hast. Es ist wirklich nicht zu fassen, dass du deine kleine Schwester zu solchen Lügen anstiftest! Und ihr dafür auch noch Geld gibst!«

»Das mit dem Geld war ihre Idee. Glaub mir, ich hab darauf keinen gesteigerten Wert gelegt.«

»Windpocken!«

»Das war auch ihre Idee.«

»Ich weiß wirklich nicht, was du dir dabei gedacht hast.«

»Also eigentlich war es deine Schuld!«, rief ich in einem Anflug von Verzweiflung. »Wenn du Max nicht hereingebeten hättest und …«

»Meine Schuld? Er sah aus wie Felix. Und er war sehr höflich.«

»Isolde?«, hörte ich Oskar von unten rufen. Gott sei Dank! Oskar war zurück aus dem Theater. Oskar arbeitet dort, ebenso wie meine Mutter. Er als Bühnenbildner, sie als Kostümbildnerin. Zwei Leute aus Oskars Abteilung waren krank, deshalb musste Oskar jetzt einspringen und war leider selten zu Hause. Obwohl Oskar nicht unser leiblicher Vater ist, ist er der beste Vater, den man sich wünschen kann. Genau genommen ist er der einzige Normale in unserem Haushalt.

Meine Mutter ließ auf der Stelle von mir ab, sagte nur noch: »Und in Zukunft bist du netter zu Max«, und lief nach unten. Jetzt würde sich Oskar ihre Beschwerden anhören müssen. Armer Oskar. Aber ihm würde es gelingen, sie zu beruhigen.

Hoffentlich dauerte das nicht zu lange, denn ich hatte Hunger und wollte gerne in die Küche gehen, um mir was zu essen zu holen. Allerdings nicht, solange meine Mutter noch im Kampfmodus war. Zwei, drei Tassen Tee würde es wohl brauchen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Tee ist ihr Beruhigungsmittel. Sicher hatte Oskar bereits das Teewasser aufgesetzt. Er macht das routinemäßig, weil man bei meiner Mutter davon ausgehen kann, dass sie meist aufgebracht ist und beruhigt werden muss. Sie gibt Flippi und mir natürlich daran die Schuld. Wir haben sie zwar schon öfter darauf hingewiesen, dass ihr Leben wesentlich friedlicher verlaufen würde, wenn sie sich nicht ständig in unser Leben einmischen würde, aber sie meint, das sei ihre mütterliche Pflicht. Na, dann soll sie sich aber auch nicht über den hohen Teeverbrauch in unserem Haushalt beschweren.

Ich öffnete vorsichtig meine Zimmertür und lauschte. Der Tonfall meiner Mutter klang wieder etwas moderater. Ich würde es wagen können.

Es klingelte an der Haustür. Meine Mutter öffnete. »Max!«, rief sie überrascht.

Ich fluchte. Der Kerl hatte ja echt Nerven!

»Komm ruhig rein, Flippi hat keine Windpocken.«

»Aber ich!«, rief ich kämpferisch und stürmte die Treppe runter.

Als ich unten war und vor unserem Besuch stand, fiel ich ihm um den Hals und küsste ihn.

»Jojo!«, quiekte meine Mutter. »So hab ich das nicht gemeint, als ich sagte: ›Sei netter zu Max.‹«

»Das ist nicht Max, das ist Felix.« Ich schmiegte mich an ihn. Und war unendlich beruhigt, als ich feststellte, dass ich mich riesig freute, ihn zu sehen.

Felix grinste. »Was hast du denn angestellt, dass deine Mutter dich bitten muss, netter zu Max zu sein?«

»Max ist einfach hier aufgekreuzt!«, sagte ich und machte ein finsteres Gesicht.

»Ach was? Und hat er das Haus unverletzt wieder verlassen können?«

»Ja. Dafür hat meine Mutter gesorgt.«

Felix lachte und sagte zu meiner Mutter: »Dann danke ich Ihnen im Namen meiner Eltern. Immer wenn Max nach Hause kommt, halten sie nämlich Verbandszeug parat. Er hat da so eine Art …«

»Max ist sehr nett«, meinte meine Mutter.

»Felix ist viel netter!«, rief ich.

Felix nickte mir zu. »Der Meinung bin ich auch und laut Beziehungsratgeber bist du verpflichtet, das zu sagen. Kapitel drei, Abschnitt fünf.«

»Es gibt einen Beziehungsratgeber?«, erkundigte sich meine Mutter interessiert. Sie liebt Ratgeber jeglicher Art und unsere Erziehung beruht zu achtzig Prozent auf den Tipps solcher Bücher.

»Nein, gibt es nicht. Felix hat das eben nur so gesagt«, erläuterte ich ihr Felix’ Art von Humor. Dann sah ich ihn unsicher an: »Ist doch so, oder?«

Felix lachte. »Sag mal, muss ich jetzt wohl jedes Mal einen Zettel hochhalten, auf dem Scherz steht?«

Ich seufzte. »Wir waren einfach zu lange getrennt, ich bin total Felix-entwöhnt.«

Felix nickte und rechnete: »Es waren jetzt etwa neunzehn Stunden. Da muss ich wohl froh sein, dass du mich überhaupt wiedererkannt hast.«

Ich wurde rot, weil mir die Verwechslung mit Max einfiel.

»Nun komm doch rein. Magst du einen Tee?«, winkte meine Mutter Felix in die Küche.

»Wir gehen hoch in mein Zimmer«, teilte ich meiner Mutter mit und zog Felix am Ärmel.

»Den Tee brauche ich vielleicht etwas später, wenn ich eine gewisse Zeit mit Jojo verbracht habe«, tröstete er meine Mutter.

Den Witz verstand sie und sie grinste.