Willkommen in Australien!
Das dumpfe Dröhnen dringt wie durch dichten Nebel zu mir, steigert sich, wird klarer. Ein Lichtstrahl streicht über mein Gesicht. Ich öffne die Augen einen Spalt und blinzele in das erste Licht des Tages. Wie goldene Fäden schieben sich die Strahlen der Sonne über die Wolken. Ein Sonnenaufgang an sich ist schon ein großartiges Erlebnis, in 10000 Metern Höhe über der Timorsee, an der Schnittstelle von Asien zu Australien aber wird er zur leuchtenden Superpanoramashow mit glühenden Wolkenspitzen, unter denen sich die gute alte Erde noch im Grau der Nacht verbirgt.
Juliana neben mir ist schon wach: »Kaum zu fassen, dass unser Flug in letzter Minute doch noch zu Stande gekommen ist.« Sie drückt ihre Nase ans Fenster. »Sonst hätten wir diesen Anblick nicht erlebt.«
48 Stunden vorher war die Airline, bei der wir den Flug nach Melbourne gebucht hatten, Pleite gegangen. Ein Alptraum. Unsere Flüge hatten wir bereits bezahlt, und unsere Planung war auf das Datum fixiert. Ein hektischer Tag mit viel Lauferei durch die malaysische Hauptstadt Kuala Lumpur folgte. Schlange stehen an Schaltern. Verhandeln. Daumen drücken. Dann die erlösende Nachricht: Malaysian Airlines springt für die Gestrandeten ein. Für uns war Kuala Lumpur die letzte Etappe unseres Umwegs, der in der weinseligen, herrlich verrückten Nacht bei Johannesburg begonnen hatte.
Ein Umweg, der ein Jahr gedauert hatte, gut 60000 Kilometer lang war und ein großes Abenteuer wurde.Wir erlebten live den Sudan, die Wüsten Ägyptens, den Iran, Indien und den Himalaja. So näherten wir uns schließlich Australien. Den Bulli, der uns auf dem ersten Teil unserer Weltreise über 100000 Kilometer sowohl ein Stück Heimat wie auch Transportmittel gewesen war, hatten wir in Nepal zurückgelassen.
Wir würden uns nach einem neuen Fahrzeug umsehen müssen. Was für eines es sein würde, das war zu diesem Zeitpunkt völlig offen. Genauso wie die Route.
Ein kleiner Australien-Reiseführer – groß genug für die Hosentasche – war unser einziges Informationsmittel. Was mich nicht störte. Schließlich hatten wir Zeit, waren ungebunden. Kein Boss wartete, ein Rückflugticket nach Zuhause hatten wir nicht. Das gibt die Freiheit, spontan zu sein, neuen Ideen zu folgen und unbekannte Ziele anzusteuern. Eine einengende Planung für das Land hatten wir nicht. Es gab kein Streckensoll, das wir erfüllen mussten. Beste Voraussetzungen für Australien, ein Land der weiten Horizonte.
Die Maschine der Malaysian Airlines braucht noch eine Stunde bis zur Landung in Melbourne. Eine hübsche, freundliche Stewardess – mandeläugig, als sei sie eben einem Buch von Pearl S. Buck entstiegen – beugt sich zu uns: »Do you want breakfast?«
»Zwei Kaffee und Orangensaft«, bestelle ich.
Die beiden Australier in der Reihe vor uns ordern das elfte Bier an diesem Morgen.
Melbourne hat sich geputzt, als wir landen. Die Luft ist kühl und klar, der Himmel blau und wolkenlos wie an einem Vorfrühlingstag in Deutschland. Ein netter Zöllner stempelt den 26. August in unsere Pässe. »Willkommen in Australien!«, ruft er in akzentfreiem Deutsch hinter uns her. Ich gebe Juliana einen Kuss auf die Wange und meine zu ihr: »Eigentlich wollten wir schon vor einem Jahr hier sein.« Sie lacht. Dann bleibt sie bei unseren Rucksäcken, während ich nach der Touristeninformation suche. Leider hat die zur frühen Morgenstunde noch geschlossen. Stattdessen bietet uns eine fröhliche Dame (»Hallo, ich bin die Trudy«), bei der ich mich nach Busverbindungen erkundige, eine Mitfahrgelegenheit Richtung Innenstadt.Wir nehmen an. Und als Trudy uns in der City absetzt, drückt sie mir ihre Visitenkarte in die Hand: »Ihr müsst mich unbedingt besuchen.«
»Bestimmt kommen wir vorbei«, verspreche ich. Wir winken ihr zum Abschied.
Boy, was für eine Rasanz! Kaum im Land und schon die erste Einladung. Bisher kannten wir keine Menschenseele auf dem Kontinent. Nur der Zettel mit einer Kontaktadresse in Sydney steckte irgendwo in unserem Adressbüchlein.Wir hatten sie auf merkwürdige Weise bekommen. Ein Verwandter Julianas kennt jemanden, der hat einen Bekannten, und dessen Freund hat einen good old fellow in Australien. Ich wollte diese Adresse eigentlich gar nicht mitnehmen. »Wir kennen die Leute doch gar nicht«, wandte ich ein. Aber Juliana hat einen Sinn fürs Praktische, und mit den Worten: »Bis wir in Sydney sind, ist es noch einige Zeit hin.Wer weiß, wozu die Anschrift gut ist. Überlegen können wir es uns dann immer noch«, hat sie den Zettel kurzerhand eingesteckt.
Melbourne ist eine Millionenstadt, die Einwohnerzahl hat steigende Tendenz, in ihrem Großraum leben etwa 4 Millionen Menschen. Für ein Land mit insgesamt rund 22 Millionen Einwohnern ist das gewaltig.Was auch bezeichnend für die Einwohner- und Siedlungsstruktur Australiens ist. Rund 80 Prozent aller Australier leben in einem schmalen Wohngürtel, der sich wie ein Ring um die Peripherie des fünften Kontinents zieht.
Mein erster Eindruck an diesem Morgen ist Großbritannien am anderen Ende der Welt. Mehrere Ladys stöckeln vorüber, aufgeputzt wie zu einer Gartenparty. Ich beobachte Menschen, die sich in grüne Straßenbahnen mit dem Charme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwängen. Melbourne ist die Hauptstadt von Victoria, dem kleinsten australischen Bundesstaat auf dem Festland (nur der Inselstaat Tasmanien ist kleiner). Hier leben allerdings mehr als ein Viertel aller Aussies. Allein die Bezeichnung Victoria schlägt Brücken nach England, stand doch Queen Victoria bei der Namensgebung Pate.
Die Geschichte Melbournes ist jung. Sie begann, als 1835 ein John Batman, Sohn eines ehemaligen Sträflings, den Yarra River aufwärts segelte, um im Auftrag tasmanischer Interessenten den Ureinwohnern, den Aborigines, ein Riesengebiet im Tausch für einen Haufen billigen Plunder abzuschwatzen. In diesem Gebiet begann sich noch im selben Jahr Melbourne zu entwickeln, während Sydney bereits ein Menschenalter existierte. Melbournes Einwohnerzahl stieg ab 1850 in nur zehn Jahren von 30000 auf über eine halbe Million – damit wurde Melbourne zur größten Stadt in Australien. Von 1901 bis 1927 war Melbourne sogar Hauptstadt des Landes.
Trotz aller Seitenhiebe, die sonst zwischen den Bewohnern der beiden Metropolen ausgetauscht werden, kann Sydney Melbourne den Ruf nicht streitig machen, die kulinarische Hauptstadt Australiens zu sein. So trägt man es in Melbourne denn auch mit Fassung, dass die Lage am Yarra River zwar reizend, aber das auch schon alles ist.
Doch aus der traditionellen Rivalität beider Städte halte ich mich besser raus. Sie wird immer wieder mit flotten Slogans angeheizt und gipfelt in der Behauptung eingeschworener Sydney-Fans, die behaupten, das Schönste an einem Besuch von Melbourne sei die Heimfahrt nach Sydney. Dazu reicht mir Juliana eine Illustrierte mit Fotos von einem Pferderennen und meint: »Offenbar gibt es doch etwas, um das der Rest Australiens – und sogar Sydney – Melbourne beneidet: den Melbourne Cup!« Man hatte mir gesagt, das bedeutendste Pferderennen des Landes sei den Aussies so heilig, dass während der Veranstaltung die Straßen wie leer gefegt seien, weil die Nation geschlossen vorm Fernseher säße.
Gleich am ersten Tag quartieren wir uns in der Jugendherberge ein. Die Atmosphäre ist freundlich-familiär und international. Nur wenige Gäste sind dort. David und James aus England, drei junge Franzosen aus Paris, Mary und Richard aus Neuseeland. Tina, eine Amerikanerin, die vorübergehend die Youth-Hostel-Leiterin vertritt, hat sich gerade gemeinsam mit ihrem australischen Freund Peter einen uralten VW-Bulli gekauft. »Für knapp 1000 Dollar. Ein Superpreis!«, schwärmen die beiden.
Beim ersten flüchtigen Studium der Zeitungsannoncen war mir aufgefallen, dass Importwagen aus Europa teuer sind, auch die gebrauchten und erst recht, wenn sie einen Stern auf dem Kühler tragen. Preislich günstiger sind die japanischen Marken und das nationale Produkt, der Holden. Überhaupt sind die Preise in Australien für uns, die wir jahrelang das Tiefpreisniveau von Afrika und Asien kannten, gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie im Vergleich zu denen in Mitteleuropa noch moderat sind.
In den nächsten Tagen erkunden wir zu Fuß den Innenstadtbereich und machen uns Gedanken darüber, wie wir Australien individuell, möglichst abenteuerlich und doch billig bereisen können. Am dritten Tag unseres Aufenthaltes ändert sich das Wetter. Juliana notiert abends kurz und prägnant ins Tagebuch: »Sauwetter!« Kalter Wind fegt durch die Straßen. Seit langem haben wir erstmals Regenjacken angezogen. Zum schlechten Wetter kommt noch meine Ernüchterung nach dem heutigen Bummel über die Gebrauchtwagenmärkte.
Spontan kommt mir die Idee: »Was hältst du davon, wenn wir ein Motorrad kaufen?« Vielleicht hätte ich zurückhaltender sein sollen, bis der Himmel wieder aufklart.
»Monatelang bei Wind und Wetter nur auf dem Sozius?«, Juliana zieht die Nase kraus.
»Aber Australien gilt als Traumland für Biker. Und wenn wir erst mal in Alice Springs sind, gibt es garantiert Sonne bis zum Abwinken.«
Juliana murmelt etwas wie »unverbesserlicher Optimist« und wird konkret: »Ein halbes Jahr zu zweit eingepfercht zwischen Gepäckbergen auf nur einer Maschine? Wir werden uns auf die Nerven gehen.« Wir geben die Idee noch am selben Tag auf. Mit Wehmut meinerseits, muss ich zugeben. Ich bin ein leidenschaftlicher Biker, und eines meiner schönsten Erlebnisse war, als wir auf einer Harley über die Highways von Amerikas Westen rollten. Nur die Interstate, die bullige Electra Glide und wir beide.
»Australien hat andere Dimensionen«, meint Juliana. »Und denk an die Sand- und Schotterpisten.« Recht hat sie. All das wäre kein Problem, wenn man zwei Enduros hätte. Aber Juliana hat nun mal keinen Motorradführerschein.
So bummeln wir am Ufer des Yarra River entlang. Ein paar Männer kommen uns entgegen, die Kragen zum Schutz gegen den scheußlichen Dauerregen hochgeschlagen, unermüdliche Jogger und Radfahrer ziehen ungeachtet des nasskalten Wetters ihre Bahnen.
Seit ich vor Jahren einen Filmbericht über Neuseeland sah, keimte in mir der Wunsch auf, das Land der Kiwis mit dem Fahrrad zu erkunden. Als ich Juliana an diesem Abend davon vorschwärme, kommt spontan ihr Vorschlag: »Und warum radeln wir dann nicht auch durch Australien?« – Ja, warum eigentlich nicht?
Die Anschaffung von Tourenrädern wäre eine einmalige Investition für die gesamte Zeit, auch für Tasmanien, vielleicht sogar für Neuseeland. Und der Transport von Fahrrädern per Flugzeug dürfte auch problemlos sein.
Später, bei 35 Grad im Schatten, wenn mir die Zunge am Gaumen klebt, wenn ich im Staub des Outback sitze und Reifen flicke, wenn ungezählte Fliegen zu den letzten Tropfen Feuchtigkeit in Augen, Nase und Mund vordringen, wenn mein ausgeschwitztes Körpersalz und die sengenden Strahlen der Sommersonne im Wendekreis des Steinbocks in null Komma nichts faustgroße Löcher in mein T-Shirt brennen – ich gebe es zu, dann habe ich mich gefragt, welcher Teufel uns geritten haben mag, uns ausgerechnet auf dem trockensten, flachsten, giftigsten Kontinent auf den Fahrrädern abzustrampeln. Doch nichts davon an diesem Abend, da wurden Pläne geschmiedet.
»Wo kriegen wir Fahrräder her? Gibt es im Outback überhaupt Ersatzteile, und sei es nur für einen geplatzten Schlauch?« – Solche Fragen beschäftigten uns.Trotzdem – die Idee zur Radtour war geboren.
Als wir in die Little Bourke Street kommen, ist es dunkel. Kenner nennen diese Gegend in Melbourne China Town, denn dort gibt es gute asiatische Restaurants. Deswegen sind wir hier; schließlich gibt es was zu feiern.
Wer nun glaubt, die englische Küche auch in Australien zu finden, irrt. Seit Einwanderer aus aller Herren Länder in den letzten Jahrzehnten nach Melbourne gekommen sind, ist das kulinarische Angebot vielfältig. Mit gut 200000 griechischen Einwohnern gilt Melbourne hinter Athen und Thessaloniki als drittgrößte griechische Stadt der Welt. Carlton ist der Stadtteil der Italiener, und in der Lygon Street, auch als Little Italy bezeichnet, findet man zahlreiche italienische Spezialitätenrestaurants. Seit Australien teilweise für asiatische Einwanderer offen ist, beleben außerdem chinesische und indonesische Restaurants das Stadtbild. Seine Vielfalt an Spezialitätenrestaurants hat Melbourne das Attribut Gourmet-Hauptstadt Australiens eingebracht.
Am nächsten Morgen beginnen wir mit unseren Vorbereitungen. Da die Entscheidung gefallen ist, kann ich es kaum erwarten, dass wir unsere Radtour starten. Allerdings haben wir die Route noch nicht festgelegt. Nur sollte die jahreszeitlich bedingte Windrichtung stimmen. Am besten wäre es, wenn uns ein leichter Wind von hinten anschieben würde.
Ein Beamter des deutschen Konsulats erklärt sich bereit, unsere Rucksäcke und all die Dinge, die wir während der nächsten Zeit nicht benötigen, für die Dauer der Radtour zu verwahren. Noch am selben Tag überschlagen sich dort die Ereignisse: Frau Dr. Müller, die Vizekonsulin, hat gerade ihr Gespräch mit einer Journalistin der in Australien erscheinenden deutschsprachigen Zeitung »Neue Welt« beendet. Als die Reporterin von unserer Radidee hört, ist sie begeistert. »Das gibt ’ne tolle Story«, sagt sie immer wieder. »Hier ist die Telefonnummer von Walter Schäuble. Ruft ihn an, wie ich Walter kenne, macht der ein Interview mit euch.«
»Wer ist Mister Schäuble?«, frage ich.
»Er moderiert das deutsche Rundfunkprogramm von Radio Ethnic Australia, auch Radio 3 EA genannt«, erklärt sie.
Noch am selben Tag sitzen wir Walter Schäuble gegenüber. Schmunzelnd schiebt er mir seine Visitenkarte zu: »Extra für euch habe ich auf das a von Schäuble zwei Punkte gemacht. Die Aussies können mit den deutschen Umlautpünktchen nichts anfangen.« Walter lässt uns Kaffee bringen, und wir gehen in einen schalldichten Raum, hinter dessen Fenster ein Tontechniker sitzt. Ich gebe zu, dass ich in diesem Moment etwas aufgeregt bin. Für uns ist das eine Rundfunkpremiere, die zudem noch am anderen Ende der Welt stattfindet.
Das Interview dauert 20 Minuten; das Lampenfieber hat sich im Handumdrehen gelegt.Walter Schäuble interviewt uns an diesem Tag noch einmal, jetzt auf Englisch, fürs englischsprachige Programm.
»Wo wohnt ihr?«, fragt Walter später, während er uns als kleines Honorar einen Scheck ausfüllt.
»Im Youth Hostel«, antworte ich ihm.
»Pah …!« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich besorge euch eine bessere Unterkunft. Kommt morgen Nachmittag wieder vorbei. By the way, habt ihr eigentlich schon Fahrräder?«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. Einen Moment lang legt Walter sein schmales Gesicht in Falten und fährt nachdenklich mit dem Finger über die Nase.
»Ich lebe nun schon seit ein paar Jahrzehnten hier und habe eine Menge Bekannte. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht einen Sponsor für euren Trip finde.«
An das Wetter hier können wir uns nur schwer gewöhnen. Experten behaupten zwar, gemessen an der Zahl der Sonnentage stehe Melbourne Sydney kaum nach, nur das Beständigste am Wetter von Melbourne sei seine Unbeständigkeit. Ein Scheich aus dem heißen Saudi-Arabien hatte sich einst beim Hotelportier über das miserable Wetter beschwert.Woraufhin dieser konterte: »Sir, wenn Ihnen das Wetter nicht gefällt, warten Sie bitte eine Minute.«
»Melbourne«, bestätigt auch Walter Schäuble, »hat vier Jahreszeiten – und die an einem einzigen Tag.«
Als wir anderntags bei Radio 3 EA ankommen, begegnen wir dort einem Mittdreißiger. »Hallo, ich bin Nik von der deutschen Zeitung ›Die Woche‹ in Australien.« Der Mann mit dem leicht österreichischen Akzent streckt uns die Hand entgegen. Gestern habe er durch Walter Schäuble von uns gehört. »Da meine Zweitwohnung sowieso zurzeit frei ist, könnt ihr gern darin wohnen.«
Mit Walter Schäuble und Nik ziehen wir nach einem weiteren Interview in ein Pub, eine Kneipe an der Ecke, und spendieren eine Runde Bier. Klar, dass es dabei nicht bleibt. »Australien ist ein trockenes Land …«, meint Walter Schäuble und hebt das Glas.
Am nächsten Tag ziehen wir bei Nik ein. Eine kleine Wohnung ganz für uns allein, das hatten wir lange nicht. »Da steht Wein aus dem Barossa Valley im Kühlschrank. Und ein Kilo Steaks habe ich auch für euch reingelegt.« Ich bin perplex über diese selbstverständliche Gastfreundschaft. »Hier ist mein Hausschlüssel. Fühlt euch wohl.« Und schon ist Nik draußen.
Vielleicht muss man die Nase erst einmal in andere Länder gesteckt, die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten eines Neuanfangs am eigenen Leib erfahren haben, um Gastlichkeit und Hilfe mit solch einer Selbstverständlichkeit gewähren zu können.
Die nächsten beiden Tage stromern wir auf der Suche nach Fahrrädern durch Melbourne, gelegentlich mit der Straßenbahn, meist aber zu Fuß. So sparen wir eine Menge Geld. An manchen Tagen sind es mehr als 20 Kilometer, die wir ablaufen. Auf diese Weise lernen wir die Stadt in- und auswendig kennen. Sie bietet eine eigentümliche Mischung aus Alt und Neu. Hier ein alter Kirchturm, unmittelbar daneben riesige Hochhäuser.
Ein Weg führt uns nach Fitzroy Gardens. »Ihr müsst unbedingt Cooks Cottage einen Besuch abstatten«, hatte man uns empfohlen. Also gehen wir in das kleine Haus des großen Entdeckers von Australien, der natürlich nie hier gewohnt hat. Captain Cook war zwar nicht der Erste, der Australien sichtete, er kann aber mit Recht als der erste weiße Aussie gelten, denn er nahm den fünften Kontinent für die englische Krone in Besitz. In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Wohnhaus des Weltumseglers Stein für Stein in Yorkshire, England abgetragen, auf Schiffe verladen, knapp 30000 Kilometer über die Weltmeere verschifft und hier in Melbourne wieder aufgebaut.
Die Welt steht Kopf. Es ist Anfang September, aber Frühlingssträucher und -blumen blühen in voller Pracht. Schwer liegt ihr Duft in der Luft. Ein vor Jahrzehnten aus Österreich eingewandertes Ehepaar hatte uns im Rundfunk gehört und uns spontan eingeladen. In einem Eisenbahnabteil mit dekorativen Hängelampen und Metallschnörkeln an der Decke, das bereits vor einem halben Jahrhundert Passagiere durch Melbourne geschaukelt hat, rollen wir nach St. Alban, vorbei an Vorgärten mit blühenden Mandelbäumchen und Flieder. Am dortigen Bahnhof werden wir von den Küsters wie alte Freunde in Empfang genommen.
Die liebenswürdigen, einfachen Leute, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Österreich nach Australien gekommen sind, erzählen uns haarsträubende Geschichten von ihren ersten Begegnungen mit dem fünften Kontinent.Wir haben es uns in der kleinen über und über mit Erinnerungen aus der alten Heimat dekorierten guten Stube bequem gemacht. Schwarzweißfotos in ovalen und rechteckigen Eichenrahmen hängen an den Wänden auf einer farbigen Tapete, die den kleinen Raum noch kleiner wirken lässt. Eine Kronleuchterimitation – vermutlich made in China – baumelt von der Decke.
»Das Einwanderungsschiff, das uns hierher ans Ende der Welt brachte, war ein alter, fast abgewrackter italienischer Kasten«, sagt Hermann Küster, während er Sekt einschenkt. »Durch die Planken mancher Rettungsboote konntest du die Hände schieben.« Wir prosten uns zu.
Martha Küster hat ein schmales, feines Gesicht, in das ein wechselhaftes Leben Falten gezogen hat. »Nach unserer Ankunft kamen wir in ein Auffanglager. Es war eine schwere Zeit, weil man immer damit rechnen musste, dass der Mann in ein anderes Arbeitscamp geschickt werden könnte.Wir hatten Glück – uns ließ man zusammen. Schon nach sechs Monaten hatten wir so viel Geld beiseite gelegt, dass wir uns ein winziges, bescheidenes Häuschen kaufen konnten.«
Martha Küster lächelt. Ihre uralte Mutter nickt. Sie kam später nach, lebt nun schon seit Jahrzehnten in Australien, spricht aber kein Wort Englisch. Und immer wieder sagen die Küsters: »In Österreich hätten wir all das nicht erreicht!«
»Habt ihr nicht mal Interesse, über den großen Teich zurück in die alte Heimat zu gucken«, will Juliana wissen.
»O ja, das möchten wir schon, aber dafür reicht das Geld nicht. Erst muss noch eine Veranda ans Haus gebaut werden, dann ein Anbau für den jüngsten noch bei der Familie wohnenden Sohn, und dann …«
Das Abendessen ist einer der Höhepunkte unseres Melbourne-Aufenthalts: Schweinebraten mit Blumenkohl und Bratkartoffeln. Zum Nachtisch gibt es Kaffee und Buttercremetorte. Dafür hätte ich das exotischste Gericht in einem Fünfsternehotel stehen lassen.
Während der nächsten Tage konkretisieren sich unsere Reisepläne: Wir wollen an der Ostküste entlang nach Norden radeln. Von dort ins Landesinnere nach Alice Springs, dann durchs rote Herz über den Stuart Highway zurück nach Adelaide und anschließend mit dem Flugzeug nach Tasmanien. Die Aussagen der Airlines, den Transport der Räder betreffend, sind ermunternd. Wir haben beschlossen, uns stabile Sporttourenräder zuzulegen. Langsam werde ich ungeduldig, ich will endlich los.
Als wir am 10. September für eine weitere Rundfunkaufnahme zu Walter Schäuble kommen, gibt er die Überraschung preis: Er hat einen Sponsor. Nino, ein alter Italiener mit jungem Herzen, der in Carlton ein Sportgeschäft betreibt, will uns Topräder zur Verfügung stellen. Dafür müssen wir ein bisschen fürs Fernsehen radeln und ihm ein paar gute Fotos für Werbezwecke überlassen. Diese Nachricht ist uns eine Flasche Sekt wert.