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Autor und Verlag danken Wiktor Jerofejew für die Genehmigung zum Abdruck seiner Texte.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95559-1
© Piper Verlag GmbH, München 2008
Umschlagkonzept: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Umschlagabbildung: Harald Sund/Getty Images (Basilius-Kathedrale, Roter Platz)
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für meine Frau Marina,
eine waschechte Moskauerin
Wer lange mit Moskau verbunden ist, hat eine eigene Zeitrechnung aufgemacht. Diplomaten, Geschäftsleute und Reiseleiter teilen ihre Russlandjahre in die Zeit vor und nach Domodedowo, v. Dme und n. Dme. »Dme« werden Sie auf Ihrem Ticket sehen, wenn Sie mit Lufthansa oder Air Berlin nach Moskau fliegen. So lautet die Abkürzung für den modernen Flughafen im Südosten der Stadt. Air Berlin fliegt ihn seit 2005 an, die Lufthansa seit April 2007.
Allein die Kranichlinie bringt pro Jahr mehr als 600000 Menschen nach Moskau, die Hauptstadt des größten Flächenstaates der Erde. Wöchentlich landen rund siebzig Lufthansa-Flüge in der boomenden Metropole. Ich sehnte den Umzug der Fluglinie seit Monaten, wenn nicht seit Jahren herbei. Weg vom staatlichen Flughafen Scheremetjewo, hin zu Domodedowo. Als es endlich so weit war, leerte ich mit meiner Frau eine Flasche Champagner. Falls Sie das für übertrieben halten, liegt es allein daran, dass Sie Scheremetjewo niemals erleiden mussten, dessen internationaler Terminal Ende der Siebzigerjahre erbaut wurde. 2010 eröffnete dann das hochmoderne Terminal Scheremetjewo D, auch das war der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Der nach einem Grafen benannte Flughafen war über Jahrzehnte das exklusive Einfallstor für Flugreisende aus dem Westen, ein berüchtigtes noch dazu. Eröffnet im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1980, hat der Flughafen es nicht vermocht, mit der Zeit Schritt zu halten.
Von morgens bis abends drängelten sich dort die Ankommenden vor den Schaltern der Pass- und Visumkontrolle. Die Schlangen waren so lang wie die Menschenansammlungen vor den wenigen Geschäften, die zu Sowjetzeiten Kleider aus Rumänien, Schuhe aus der Tschechoslowakei oder Bananen aus Nicaragua verkauften. Besucher aus Westeuropa und Amerika gewannen den Eindruck, dass ihre Menschenwürde schon vor der Einreise nach Russland verletzt wurde. Das passte wunderbar insfinstere Bild von bettelnden Babuschkas, Großmütterchen, die in der Krise der Neunzigerjahre verarmt waren. Und später dann nach der Jahrtausendwende zu den prügelnden Polizisten; sie unterdrückten jede noch so kleine Demonstration, die gegen den zunehmend autoritären Kurs von Wladimir Putin, Präsident von Januar 2000 bis Mai 2008, protestierte. Russland ein Land der Finsternis, so wie Ronald Reagan die Sowjetunion als »Reich des Bösen« geschmäht hatte.
Am Flughafen Scheremetjewo überlegten Geschäftsleute spätestens beim Anblick der übellaunigen Beamten und überteuerten Raubritter-Taxis, ob sie wirklich in dieses Land investieren wollten. Der umtriebige Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow, der die Stadt 18 Jahre regierte, ehe Präsident Dmitrij Medwedew ihn im September 2010 entließ, hat den Flughafen deshalb einmal schlicht »unanständig« genannt. Walerij Okulow, bis 2009 Chef der staatlichen Fluglinie Aeroflot und Schwiegersohn des verstorbenen Präsidenten Boris Jelzin, bezeichnet den Airport, immerhin der Heimat-Flughafen seiner Luftfahrtgesellschaft, als »Schande für Russland«.
Wahrscheinlich bin ich mehr als hundertmal über Scheremetjewo nach Russland eingereist. Meist hatte ich ein Buch oder eine Zeitschrift dabei, um die tote Zeit während des Schlange stehens sinnvoll zu nutzen. Oder ich beobachtete die anderen Reisenden, die gerade aus Rom, New York oder Paris gelandet waren. Ich teilte sie in vier Gruppen ein:
Erstens: die unverbesserlichen Westmenschen. Sie werden an Russland verzweifeln und Moskau als Vorhölle in Erinnerung behalten, obwohl es wenige Metropolen gibt, in denen man sich so gut amüsieren kann und in denen so viel Überraschendes zu entdecken ist. Der unverbesserliche Westmensch schimpft, plustert sich auf und verlangt, einen übergeordneten Offizier der Grenzpolizisten zu sprechen, um sich zu beschweren. Am liebsten würde er sofort die Leitung des Flughafens übernehmen.
Ausländischen Geschäftsleuten, die in Moskau so agieren, wird kein Erfolg beschieden sein. Statt eine Anstrengung zu unternehmen, die Gesetze zu verstehen, nach denen die russische Gesellschaft funktioniert, versuchen sie, diese nach den eigenen Spielregeln zu ändern. Zu denen aber, die es nicht verstehen wollen, ist die Stadt am Moskaufluss brutal; sie beantwortet Arroganz mit Arroganz und bestraft Klugscheißer durch Nichtbeachtung oder schlimmer noch durch eine genussvoll geführte Gegenattacke.
Zweitens: die ewigen Pessimisten. Sie fühlen sich schon am Flughafen in all dem bestätigt, was sie schon immer über das Riesenreich im Osten und seine Menschen zu wissen meinten: dass Russen nicht in der Lage sind, eine Ansammlung von mehr als drei Leuten anständig zu organisieren, außer wenn es sich um eine Militärparade handelt. Dass Russland hoffnungslos rückständig ist, auch wenn es mit Jurij Gagarin den ersten Mann ins Weltall geschickt hat und seine Softwarespezialisten zu den besten der Welt zählen – ein »Obervolta mit Atomwaffen« eben, wie Helmut Schmidt die Sowjetunion charakterisierte, als er noch Kanzler war. Die ewigen Pessimisten gefallen sich in ihrer Herrenmenschen-Mentalität. Sie reisen nicht, um Neues zu entdecken. Sie reisen, um ihre negativen Vorurteile über andere Länder zu bestätigen. In Peking werden sie endlos über die schlechte Luft jammern, ohne sich an der einzigartigen Schönheit der Verbotenen Stadt zu freuen. In Paris klagen sie über die teuren Restaurants, statt sich an den Köstlichkeiten der französischen Küche zu laben, und selbst an Spaniens »Costa del Sol«, der Sonnenküste, ist ihnen das Wetter immer noch nicht sonnig genug. Sollten Sie zu dieser Kategorie von Miesmachern gehören, reisen Sie unbedingt nach Moskau. Sie werden genug finden, um Ihre Vorurteile zu bestätigen. Und Spaß werden Sie jede Menge haben – bei der Befriedigung Ihres Masochismus.
Drittens: die naiven Russlandfans. Sie freuen sich geradezu über die Schlange am Flughafen, in der sie sich die Beine in den Bauch stehen müssen. Sie sehen darin eine Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen und preisen die Desorganisation am Ende als Ausdruck einer anderen Kultur, eine Art Krönung eines Lebensstils, der Spontaneität höher schätzt als Planung. Am kommunistischen Moskau bejubelten sie die Unwichtigkeit des Geldes, verkündeten den Sieg des Geistigen über das Materielle und schwärmten von den endlosen, tief philosophischen Küchengesprächen. Auf politischer Ebene rechtfertigen sie jeden Schlag gegen eine freie Presse und jede Wirtschaftssanktion, die das wieder erstarkende Russland gegen Nachbarstaaten verhängt. Ihr hehres Motiv, Russland zu verstehen, diskreditieren sie, in dem sie sich russischer gebärden als die Russen selbst. Gerhard Schröder, der das richtige Ziel verfolgte, Russland durch engen Dialog und Verflechtung der großen Unternehmen enger an Europa zu binden, erlag der Versuchung, Russland schönzumalen, als er Wladimir Putin einen »lupenreinen Demokraten« nannte. Putin, ein geschickter und tatkräftiger Politiker, hat viel für sein Land erreicht und ist deshalb für die meisten Russen ein Held. Ein Demokrat allerdings ist er nicht.
Als naiver Russlandfan können Sie die Unbill des Alltags prima ertragen. Zu Sowjetzeiten ignorierten Sie das ständige Defizit an wichtigen Alltagswaren von anständigem Klopapier bis hin zu Zucker und Orangen. Nun bersten die Geschäfte vor Früchten und Luxuswaren, Sie können sich aber darin üben, an den ewigen Staus und der notorischen Behäbigkeit der Bürokraten noch etwas Gutes zu finden. Ihren neuen russischen Freunden allerdings fallen Sie damit eher früher als später gehörig auf die Nerven. Denn diese müssen täglich in den Zuständen leben, die Sie idealisieren.
Viertens: die neugierigen Lebenskünstler. Um es gleich vorwegzusagen: Dies ist die Gruppe, der Sie sich anschließen sollten – egal, ob Sie als Tourist für ein paar Tage nach Moskau reisen oder für einige Monate oder Jahre dort leben und arbeiten. Sollten Sie an der Passkontrolle am Flughafen in einer langen Schlange stehen, trösten Sie Ihre ungeduldige Gattin oder den nörgelnden Ehemann damit, dass so viel Warten bestimmt mit außergewöhnlichen Erlebnissen und Eindrücken belohnt wird. Freuen Sie sich auf diese Stadt, die niemals schläft, die eine der verrücktesten Restaurant- und Clubszenen der Welt hat, in deren Zentrum der schönste Platz des Kontinents liegt und deren Menschen von überwältigender Gastfreundschaft sind, wenn man einmal den ruppigen Panzer überwunden hat, mit dem sich die meisten Moskauer umgeben. Es gilt: harte Schale, weicher Kern. Als neugieriger Lebenskünstler haben Sie die schier endlose Schlange in Scheremetjewo genutzt, um in Windeseile in die russische Seele einzutauchen. Schon in der ersten Stunde nach der Landung begreifen Sie eine Grundwahrheit des russischen Lebens: Erlösung gibt es nur nach Leid. Das muss Ihnen nicht ungerecht erscheinen. Denn genauso gilt: Nach dem Leiden ist die Freude beinahe garantiert und in aller Regel tiefer und ausgelassener als in deutschsprachigen Ländern.
Machen Sie sich die Haltung des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig zu eigen, der von kleinen Alltagserlebnissen auf das große Ganze schloss. Zweig schrieb über Russland, die Zeit habe hier ein anderes Maß, der Raum habe hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken lerne man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lerne warten und sich selber verspäten, Zeit versäumen, ohne zu murren, und unbewusst komme man damit dem Geheimnis der russischen Geschichte und des russischen Wesens nahe.
»Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen, in der uns unfassbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land.«
Bringen Sie also ein wenig Geduld mit. Sie werden reich belohnt.
Seien Sie offen für eine Weltstadt im Wandel. Sie wird bevölkert von Menschen, die einen der größten Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts bewältigt haben, den Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus. Sie werden junge Menschen treffen, die mit 28 schon drei Berufe hatten und voller Optimismus in die Zukunft schauen. Stolze Frauen, die wissen, dass sie und nicht die Politiker das Land zusammengehalten haben, als alles zusammenzubrechen drohte. Idealistische Multimillionäre, die in atemberaubender Schnelligkeit zu Reichtum gekommen sind und dann ein subversives Museum für Avantgardekunst gründen. Mittelständische Unternehmer, die ihnen begeistert davon berichten, dass es »außer Moskau keine einzige Stadt in der Welt gibt, in der man um drei Uhr nachts in einem Spitzenrestaurant noch die ganze Speisekarte bestellen kann«. Erstklassige Musiker, deren Konzerten Sie im berühmten Konservatorium zu Preisen lauschen können, die in Deutschland gerade für ein Kinoticket reichen. Ehrgeizige Architekten, die Moskaus eklektisches Stadtbild durch neue, gewagte Konstruktionen bereichern. Die Botschafter der neuen Zeit messen sich allein an den dynamischsten Metropolen des 21. Jahrhunderts: an Schanghai, Dubai, Mumbai und New York. Und wie die New Yorker lebt die neue nachkommunistische Generation in Moskau im Bewusstsein: »If you can make it there, you’ll make it anywhere.«
Wie traurig kam da lange Jahre Scheremetjewo daher, der Inbegriff des sowjetischen Russlands: ineffektiv, rau und unfreundlich. Der Flughafen wirkte, als sei er gebaut worden, um Ausländer davon abzuhalten, das Weltreich im Osten jemals zu betreten. Tatsächlich hatte sich die Sowjetunion, die sich offiziell der Weltrevolution verschrieben hatte, also dem Versuch, andere Länder mit dem eigenen politischen System zu beglücken, schnell von der Welt abgekapselt. Der Import von Faxmaschinen oder Kopierern war von deren Erfindung bis in die Neunzigerjahre streng reglementiert. Wer in den Sechziger- und Siebzigerjahren als Ausländer in Moskau lebte, durfte die Stadtgrenze nicht verlassen, ohne darüber Meldung zu machen. Aber auch in der sowjetischen Hauptstadt selbst konnten sich Reisende keinesfalls frei bewegen. Ein Mitarbeiter des staatlichen Touristik-Monopolisten »Intourist« folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Der Eiserne Vorhang trennte die Menschen in West- und Osteuropa voneinander. Ende der Sechzigerjahre, also noch vor dem Beginn der Entspannungspolitik von Willy Brandt, reisten nur wenige Deutsche aus der Bundesrepublik nach Moskau, die Zahl stieg erst in den Siebzigern und Achtzigern langsam an. Im Jahr 2009 waren es 330000 deutsche Besucher. Damit stellt Deutschland die stärkste Gruppe ausländischer Touristen. Mehr als 20000 Deutsche leben ständig in der russischen Hauptstadt.
Unter dem Druck der Konkurrenz der beiden anderen großen Moskauer Flughäfen, des städtischen Flughafens Wnukowo, den German Wings anfliegt, und Domodedowo, beginnt sich auch Scheremetjewo zu wandeln. Es hat den Experten des Singapurer Changi Airport als Berater angeheuert, eines der besten Flughäfen der Welt. Es hat Hunderte Millionen Euros in neue Terminals investiert und die triste braune Decke in der Abflug- und Ankunftshalle des Terminals C gegen eine freundliche weiße ausgetauscht. Und dennoch, die alte Mentalität schwand nur langsam. Als ich vor der neuen Zeitrechnung, also vor Terminal D mit seinen Glas-, Stahl- und Aluminiumfassaden in Scheremetjewo die Augen schloss, sah ich stets die fahlen Gesichter der greisen Mitglieder des Politbüros vor mir. Den siechen Generalsekretär Leonid Breschnew und seinen todkranken Nachfolger Konstantin Tschernenko. Statt auf dem Leninmausoleum standen sie an meinem Abflug-Gate und winkten.
Das neue Russland können Sie am Terminal D von Scheremetjewo und am Flughafen Domodedowo besichtigen. Mit seinen Boutiquen, Zeitungsshops und Internet-Cafés unterscheidet er sich so wenig von Flughäfen in Hamburg oder Lyon, dass viele Reisende, die dort zum ersten Mal ankommen oder abfliegen, staunend feststellen: »Man glaubt gar nicht, dass das Russland ist.« Dies sagen nicht nur Ausländer, sondern auch die Russen selbst. Eine ältere Dame, die in Moskau regelmäßig ihre Tochter besucht und nun auf den Abflug ihres Flugzeugs nach Jakutsk wartete, sagte einmal zu mir: »Die Momente hier am Flughafen sind immer wie Urlaub für mich.« Sie trug einen Pelzmantel und hatte zwei große Taschen mit Geschenken für ihre Verwandten dabei. Fasziniert schaute sie auf die überdimensionalen Flachbildschirme in der Sport-Bar und auf die Auswahl im Eiscafé, die von Karotten- über Rote-Bete- bis Maracujaeis reichte. An der Wand hängen Leuchtreklamen, die eine Hälfte für Wodka, die andere für Wohnungen in einer der neuen Moskauer Luxusappartement-Siedlungen.
Die russische Hauptstadt boomt. Nirgendwo in Europa sind die Nächte länger, nirgendwo die Wolkenkratzer höher, und nirgendwo haben es vergleichbar viele Menschen in so kurzer Zeit zu Wohlstand gebracht. Einige wenige sind innerhalb eines Jahrzehnts in die Liga der Superreichen aufgestiegen. Auch die Mittelschicht wächst schnell, leistet sich Auslandsurlaube in Ägypten und der Türkei, renoviert die zu Sowjetzeiten zuletzt arg heruntergekommenen Wohnungen und spart oder leiht Geld für das nächstgrößere Auto.
Die Modernität sollte Sie allerdings nicht dazu verleiten, Reisen nach Russland mit Reisen innerhalb der Europäischen Union zu verwechseln. Informieren Sie sich deshalb vor Abflug über die geltenden Zollvorschriften, wenn Sie Güter einführen wollen, die über den gewöhnlichen Reisebedarf hinausgehen. Ein Pastor aus Amerika verbrachte Monate in einem russischen Gefängnis, weil der Zoll am Flughafen Scheremetjewo Patronen für ein Gewehr in seinem Gepäck entdeckt hatte. Eine Waffe führte er nicht bei sich, er hatte die Patronen einem Freund mitbringen wollen. Zur Gerichtsverhandlung wurde der Geistliche in Handschellen vorgeführt und saß anschließend wie ein Schwerkrimineller in einem Käfig – eine in Russland übliche Prozedur, die wir seit den Bildern von der Verhandlung gegen den Putingegner und ehemaligen Ölmagnaten Michail Chodorkowskij vor Augen haben. Kleiner Hinweis für gut Betuchte: Geld können Sie in unbegrenzter Menge einführen, müssen Bares allerdings deklarieren, wenn die Summe aller Währungen zusammengerechnet 10000 Dollar übersteigt. Verstoßen Sie gegen diese Bestimmungen, wird Ihr gesamtes Bargeld konfisziert.
Domodedowo war lange auch ein Lehrstück für die Überlegenheit von Privat- über Staatsunternehmen und ein Musterbeispiel dafür, warum der neue Kapitalismus bei den meisten Russen beliebter ist als der Sowjetkommunismus. Der Mann, der den Airport als Vorstandschef leitet, ist gerade über vierzig, und wenn er sein Reich besichtigt, würde er Ihnen bestimmt nicht auffallen, so unscheinbar kommt er daher. Dmitrij Kamenschtschik, ein kleiner braunhaariger Mann, trägt einen schlichten blauen Anzug und eine preisgünstige Uhr. Die 16000 Angestellten des Flughafens leitet er von einem spartanisch eingerichteten Büro aus. Kamenschtschik und eine Gruppe von Investoren haben Domodedewo 1998 übernommen, auf dem Höhepunkt der russischen Wirtschafts- und Finanzkrise, als niemand glaubte, mit dem maroden Flughafen jemals Profit machen zu können. Sie haben die Landebahnen modernisiert, die Umladezeit für Gepäckstücke auf 35 Minuten verkürzt und neue Terminals gebaut, deren Stahl, Aluminium und Glas in der Abendssonne glitzert. Innerhalb eines Jahrzehnts investierten sie knapp eine Milliarde Euro. Vor allen Dingen aber haben sie eine Revolution losgetreten: Statt mürrischer Mienen bestimmen nun freundliche Gesichter das Bild des Flughafens. Deshalb konnte »Eastline«, die Betreibergruppe des Flughafens, deren Aufsichtsratchef Kamenschtschik ist, den Marktanteil des Flughafen von zwanzig Prozent im Jahr 1998 auf heute mehr als fünfzig Prozent steigern. Bei der Zahl der Passagiere haben sie Scheremetjewo längst überholt und fertigten 2008 mehr als zwanzig Millionen Fluggäste ab. Bei gegenwärtig zwei Landebahnen können die Passagierzahlen auf bis zu fünfzig Millionen wachsen. British Airways, Lufthansa und mehr als zwanzig weitere ausländische Fluglinien sind bei erster Gelegenheit nach Domodedowo umgezogen. Mehrere Jahre in Folge wurde Domodedowo zum besten Flughafen Osteuropas gewählt. Dmitrij Kamenschtschik, der anfing, den Airport zu sanieren, als er gerade Ende zwanzig war, hat einen Traum: Er will aus der ehemaligen Bruchbude einen der besten Flughäfen der Welt machen – ein würdiges Tor zu einer Stadt der Superlative: dem Schmelztiegel von mehr als hundert Nationalitäten, in dem Europa und Asien einander berühren, der Wirtschaftslokomotive, die ein Bruttosozialprodukt hat, so hoch wie das von Thailand oder Südafrika, der Weltstadt, in der jeden Abend ein Dutzend hochklassiger Theater und Musikaufführungen zur Auswahl stehen, dem Mekka für all diejenigen, die sich für die Geschichte der Zaren und der Sowjetherrscher interessieren, der Metropole, die mindestens so viele Gesichter hat wie ein Apriltag Jahreszeiten.
Wenn Sie nicht gerade mehrere Jahre in Bangkok, Mexico City oder Peking gelebt haben, erwartet Sie ein Schock, sobald Sie mit dem Taxi den Flughafen in Richtung Innenstadt verlassen. Denn in keiner Stadt Europas sind die Staus schlimmer als in Moskau. Die Zahl der Autos hat sich seit 1990, dem Jahr vor dem Zerfall der Sowjetunion, von 900000 auf heute 3,6 Millionen vervierfacht. 1985, als Michail Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei und damit mächtigster Politiker des Landes wurde, gab es in der Stadt, die damals immerhin schon acht Millionen Einwohner zählte, gerade mal rund 450000 Privatautos, im Juli 2010 waren es 3,2 Millionen.
Die ökonomischen Kosten des Dauerstaus sind hoch. Angestellte und Arbeiter verlieren nicht nur Stunden Lebenszeit, sondern kommen deswegen auch meist schlecht gelaunt und aggressiv zur Arbeit. Zu den wenigen Staugewinnern zählen: Internet-Start-ups, die Informationen über die aktuelle Lage auf den Straßen auf das Handy schicken, Straßenverkäufer, die mit Rosen, CDs, Pornofilmen und Zeitungen von Auto zu Auto ziehen, und Mobilfunkunternehmen. Wer im Stau steht, telefoniert mehr. Ein Ende der Automanie ist nicht in Sicht. Täglich kommen 400 Blechkarossen dazu, und das liegt an Menschen wie Igor, dem Fahrer und Boten in meinem Büro.
Kaum hatte ich ihn eingestellt, kaufte er sich ein Auto – natürlich auf Pump. Igor war 27, verdiente im Monat umgerechnet 800 Euro, hatte so gut wie keine Ersparnisse und konnte sich keineswegs sicher sein, dass wir ihn nach der Probezeit übernehmen. Ein fahrbarer Untersatz aber musste trotzdem her: sofort und natürlich ein Neuwagen, und das, obwohl der Weg durch den Morgenstau ins Büro mit der Metro doppelt so schnell zu schaffen ist wie mit dem Auto. Igor kaufte sich einen Ford Focus für umgerechnet 10000 Euro und stottert nun Monat für Monat 200 Euro von seinem nicht gerade üppigen Lohn an die Bank ab. So halten es Zehntausende von Moskauern. Denn für die wachsende Mittelschicht in der russischen Hauptstadt ist das Auto ein Statussymbol so wie für die Deutschen in den Zeiten des Wirtschaftswunders der Fünfziger- und Sechzigerjahre.
Landen Sie am Flughafen Scheremetjewo im Nordwesten der Stadt, kann es passieren, dass der Weg ins Hotel länger dauert als der Flug von Berlin oder Hamburg nach Moskau. Hartnäckig hält sich die Geschichte von der Diplomatengattin, die entnervt ihr Auto auf einer Kreuzung stehen ließ, weil nichts mehr ging. Würde das Radio sämtliche Staus vermelden, bliebe keine Zeit mehr für Nachrichten oder Musik. Ich persönlich fahre in der Frühe vor dem Stau los und breche abends erst nach dem großen Stau nach Hause auf. So kommt es, dass ich morgens um acht schon am Schreibtisch sitze und abends oft erst nach neun Uhr wieder nach Hause fahre. Eine ideale Situation aus Sicht meiner Chefs, aber eine arge Belastung für meine Familie. Der Weg von meiner Wohnung in der Nähe des Lenin-Prospekts, der mit dreizehn Kilometern längsten Straße der Stadt, zum Büro dauert an einem menschenleeren Sonntagmorgen fünfzehn Minuten, in der Rushhour zwischen 18 und 20 Uhr an einem Wochentag werden daraus mitunter zwei Stunden. Immer dann beneide ich Jurij und Natascha, ein befreundetes Fotografen-Ehepaar. Die beiden leben antizyklisch. Das können sie, weil sie keine Kinder haben und beide Freiberufler sind. Sie machen die Nacht zum Tage, gehen nach Mitternacht bei Metro einkaufen, der deutschen Großhandelskette, die in Moskau bereits mit einem Dutzend Filialen Wurzeln geschlagen hat, und um zwei Uhr morgens im Mondschein am Moskaufluss spazieren. Um vier Uhr in der Frühe legen sie sich schlafen und stehen um die Mittagszeit auf. »Staus kennen wir nur aus den Erzählungen anderer«, freuen sie sich.
Auf Moskaus insgesamt 6000 Kilometer langem Straßennetz bewegen sich die Autos im Durchschnitt mit gerade 25 Stundenkilometern fort, innerhalb des Gartenringes, dem innersten Kern des Zentrums, gar nur mit sechzehn Kilometern. Die Zahl der täglichen Staus ist im vergangenen Jahr von 650 auf 850 angewachsen. Im Durchschnitt verbringt der Moskauer pro Monat zwei volle Tage im Stau, also 48 Stunden. Das macht im Jahr 24 Tage, mehr als drei Wochen verlorene Lebenszeit. Wer mit siebzig stirbt, hat so von der Wiege bis zur Bahre vier Jahre und 220 Tage verschwendet – die Zeiten für Schlafen nicht mitgerechnet.
Diese ernüchternde Statistik sollte Sie keinesfalls abschrecken. Im Stau und im Beobachten des Verkehrs liegt eine große Chance. Sie lernen dabei mehr über die Moskauer als durch das Lesen von Reiseführern. Schauen Sie nur genau hin!
Auf Ihrem Weg vom Flughafen entdecken Sie am Rand der drei- bis vierspurigen Ausfallstraßen gigantische, chromblitzende Autohäuser. Sie sind größer und protziger als ihre Geschwister in Köln oder Bayreuth – Boten des neuen Wohlstandes. Sogar in liebevoll restaurierten alten Bürgerhäusern aus der Zarenzeit haben Autohersteller im Zentrum der Stadt glitzernde Verkaufsräume eingerichtet, so als würden sie nicht Bentleys und Jaguars verkaufen, sondern Designerjeans oder Lederschuhe aus Italien.
Alsbald fällt Ihnen auf, dass sich das Bild auf der Straße auf den ersten Blick nicht so dramatisch von dem in Ihrer Heimat unterscheidet, wie Sie es vielleicht erwartet haben. Wagen ausländischer Produktion sind eindeutig in der Überzahl. Ford, das in einer Fabrik in der Nähe von Sankt Petersburg produziert, verkauft heute in einem Monat mehr Autos als 1998 in einem Jahr. Und auch die Ladas russischer Produktion sehen inzwischen wie moderne Autos aus. Im Stadtzentrum überrascht Sie die Zahl von Luxuslimousinen. In keiner anderen europäischen Stadt machen Mercedes und BMW so gute Geschäfte. Weil viele Moskauer neben ihrer Stadtwohnung noch ein Häuschen auf dem Land haben und die Straßen nicht die besten sind, gibt es weitaus mehr Jeeps als in Deutschland.
Vom Rücksitz Ihres Taxis sticht Ihnen dann die hohe Zahl der Verkehrspolizisten ins Auge. Obwohl Moskau nur zwei Millionen mehr Einwohner als New York hat, stellt die Stadt fast dreimal so viele Polizisten ein. New York hat 45000, Moskau 140000. Meist sehen Sie die Ordnungshüter, wie sie in ein lebhaftes Gespräch mit einem Autofahrer vertieft sind. Dabei sind die »Menty«, wie die Moskauer ihre Verkehrswächter nennen, ohne die Herkunft des Schimpfwortes zu kennen, keineswegs gesprächig, sondern einfach nur geldgierig. Der gestikulierende Polizist droht mit wüsten Strafen, bis hin zum Führerscheinentzug. Es ist der Auftakt der Verhandlungen über das Bestechungsgeld. Einen Moment später verschwinden die beiden Kontrahenten im Polizeiauto – nicht etwa um ein Protokoll aufzunehmen, sondern in der Regel lediglich, um sich über die exakte Höhe des Bakschischs zu einigen.
Wenn Sie dann an der nächsten Kreuzung einen Uniformierten sehen, der mit einem schwarz-weiß gestreiften Stock ein Auto zur Seite winkt, wissen Sie Bescheid. Hier versorgt mal wieder ein Polizist Frau, Kinder und Geliebte. Kaum zwei Stunden in Moskau, und Sie haben eine der Grundwahrheiten über das Verhältnis von Staatsdienern und Einwohnern in der russischen Hauptstadt gelernt: Bürger sind keine Bürger, sondern Untertanen. Sie sind dem Staat ohnmächtig ausgeliefert. Die Korruption ist das Schmiermittel, das diesen Zustand für die Normalsterblichen erträglich macht. Ein kleiner Schein im Auslandspass sorgt dafür, dass er schneller verlängert wird. Ein dickes Portemonnaie setzt die Straßenverkehrsordnung allemal außer Kraft.
Die Moskauer hassen ihre Beamten und Polizisten. Wegen der Aussicht auf Bestechungsgelder sind die an sich schlecht bezahlten Jobs dennoch äußerst begehrt. Einer meiner Lieblingswitze geht so: Wiktor Iwanowitsch hat gerade seinen ersten Monat bei der Moskauer Verkehrspolizei hinter sich. Sein Vorgesetzter ruft ihn ins Büro und fragt: »Was ist mit Ihnen los? Monatsende, und Sie haben Ihr Gehalt noch nicht in der Buchhaltung abgeholt.« Wiktor Iwanowitsch reißt die Augen auf und wundert sich: »Was? Gehalt gibt es hier auch noch?« Den Löwenanteil ihrer Einkünfte erzielen Moskauer Verkehrspolizisten durch Handaufhalten oder besser gesagt durch schlichte Erpressung. Das war schon zu Sowjetzeiten so. Aus einem Block mit Zahlungsaufforderungen über die Höhe der Strafe rissen sie einen Zettel heraus, der eingeschüchterte Verkehrssünder bot an, die Strafe an Ort und Stelle zu zahlen, der Polizist steckte das Geld ein und drehte den Zettel dem nächsten Regelverletzer an. Um bei möglichen Razzien von Anti-Korruptionseinheiten nicht entdeckt zu werden, versteckten die Polizisten das Geld hinter Mauervorsprüngen, in Rohrschächten oder vergruben es unter Büschen.
Heute bedienen sich die Staatsdiener schamloser. Nach einer Umfrage des angesehenen Meinungsforschungsinstituts Levada wurden 2005 in knapp achtzig Prozent der Straßenkontrollen Bestechungsgelder bezahlt. Inzwischen soll die Zahl jedoch etwas gesunken sein, manche meinen wegen der ab Januar 2008 drastisch erhöhten Strafen. Das Bußgeld für Fahren auf dem Bürgersteig, eine angesichts des ewigen Staus nicht seltene Verzweiflungstat, hat sich verzwanzigfacht. Sicherheitsgurte gelten in Russland immer noch als eine Erfindung für Memmen oder als Misstrauenserklärung gegenüber dem Fahrer. Der Grund dafür ist einfach: Der Russe hängt nicht so am Leben wie der Westmensch. »Eine Prise Fatalismus fährt immer mit, wenn wir uns ans Steuer setzen«, sagt eine Moskauer Freundin. Der Staat hat sich letztlich mit dem geringen Stellenwert eines Menschenlebens abgefunden. Kein Wunder, wurden doch in den Jahren der Stalin’schen Repression Millionen von Staats wegen in Lager nach Sibirien und damit in den Tod geschickt. Der Staat duldet, dass in der Armee jährlich einige Dutzend Rekruten von Offizieren zu Tode gequält werden. Was soll er sich darum kümmern, wenn einer freiwillig bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Fahren ohne Sicherheitsgurt war deshalb lange ein Kavaliersdelikt, die Strafe dafür betrug weniger als drei Euro. Selbst Polizisten, die gerade eine neue Couchgarnitur anschaffen wollten oder einem kranken Verwandten die Operationskosten vorstreckten, hielten gurtlose Fahrer nur selten an.
Fahren ohne Sicherheitsgurt kostet nun umgerechnet 500 Rubel, knapp fünfzehn Euro und damit die Hälfte des deutschen Bußgeldes. Wiktor Pochmelkin, Vorsitzender der »Autofahrerbewegung Russlands«, sieht darin eine Steilvorlage für noch mehr Korruption. An der Situation auf den Straßen ändere sich wenig, nur die Höhe der Bestechungsgelder steige. Ich fürchte, er hat recht. Wer schneller als sechzig Kilometer, die offiziell erlaubte Geschwindigkeit auf städtischen Straßen, fährt, kann nun mit bis zu achtzig Euro belangt werden; seinen Führerschein kann man für sechs Monate verlieren, wenn der Wagen mit 120 Sachen oder gar noch schneller über die Straße brettert.
Tatsächlich rasen die Moskauer, als wollten sie die Zeit wieder aufholen, die sie im Stau verlieren. Dann können Sie Szenen beobachten, die Sie bislang nur aus Hollywood-Actionfilmen kannten: Autos, die bei halsbrecherischem Tempo so nahe auffahren, dass Sie beim Blick in den Rückspiegel die Zahnplomben des Fahrers zählen können. Autos, die auf einer vierspurigen Straße im Bruchteil einer Sekunde vom äußersten rechten auf den äußersten linken Streifen wechseln oder umgekehrt. Denken Sie jetzt bloß nicht, dass die vielen abgedunkelten Scheiben, die Ihnen aufgefallen sind, etwas damit zu tun hätten, dass sich die Anarchisten hinter dem Steuer für ihr gesetzloses Tun schämen würden. Im Gegenteil. Der Sichtschutz fördert mitunter anderes amoralisches Verhalten. Man kann mit seiner Sekretärin schmusen im beruhigenden Wissen, dass die eigene Ehefrau es nicht sehen würde, ginge sie jetzt am Auto vorbei. Man kann einem Beamten des Wirtschaftsministeriums auf der Fahrt zum gemeinsamen Mittagessen unauffällig einen Umschlag mit Bestechungsgeld überreichen, damit er dem eigenen Unternehmen einen fetten Staatsauftrag verschafft. Vor allem aber erhebt man sich über das Gros der anderen Autofahrer: Man kann sie sehen, bleibt aber selbst unsichtbar.
Sollten Sie in Moskau leben und arbeiten, können Sie Metro fahren oder Taxi. Letzteres ist ein wahres Vergnügen. Wo sonst in Europa können Sie nachts um zwei am Straßenrand einfach die Hand ausstrecken, und in zwei Minuten hält ein Auto an, kein offizielles Taxi in der Regel, sondern ein Fahrer, der sich Geld dazuverdienen will, meist ein Gastarbeiter aus dem Kaukasus oder Zentralasien. Fahren Sie selbst Auto, bleibt Ihnen nur eine Wahl: Werden Sie wenigstens beim Autofahren zum Russen. Legen Sie unverzüglich Ihre westeuropäische Höflichkeit ab. Fortan zählt nur Ihr Ziel, kümmern Sie sich nicht um andere, sonst kommen Sie nie an. Stehen Sie im Stau, füllen Sie leere Räume sofort, nehmen Sie jeden Zentimeter, den Sie kriegen können. Im frei fließenden Verkehr gilt: Wer zuerst kommt, fährt zuerst, der andere muss bremsen. Wenn Sie Hindernisse nicht durch Hupen aus dem Weg schaffen, weichen Sie erst im letzten Augenblick aus.
Vergessen Sie alle Verkehrsregeln, die Sie in Ihrer deutschen Fahrschule gelernt haben, sonst werden Sie zum Risiko für sich selbst und andere. Halten Sie bloß nicht an Zebrastreifen! Sie verwirren die Fußgänger und provozieren eine gefährliche Situation. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Autos, das sich hinter Ihnen befindet, an Ihnen vorbeirast, ist alles andere als gering. Und stellen Sie sich vor, einer der wartenden Fußgänger hätte Ihr Anhalten überraschenderweise als Einladung zum Überqueren der Straße missverstanden. Womöglich wäre der russischen Unfallstatistik ein weiteres Opfer hinzugefügt worden. In 2007 waren in Russland knapp 34000 Verkehrstote zu beklagen, ungefähr sechsmal so viele wie in Deutschland, und das, obwohl es in Deutschland mehr Autos gibt. Zur hohen Zahl von Unfällen trägt bei, dass Führerscheine – so wie beinahe alles im neuen russischen Kapitalismus – käuflich sind. »Auf unseren Straßen herrscht absolutes Chaos. Es ist bereits eine Generation herangewachsen, die hinter dem Lenkrad ganz und gar unzurechnungsfähig ist«, stöhnt der Filmregisseur Karen Schachnasarow.
Seien Sie also auf alles gefasst. Hören Sie auf, sich über Autos zu wundern, die versuchen, zwei Fahrbahnen gleichzeitig zu besetzen. In Russland sind die Trennstreifen allenfalls grobe Richtlinien. Jeder drängt vorwärts und nutzt jeden Meter freie Bahn für sich. Der Straßenverkehr gleicht Millionen von Spermien, die zum Ei drängen. Dies hat auch das städtische Verkehrsamt schon lange verstanden. Es gibt breite Straßen, zum Beispiel auf dem Weg vom Kinderkaufhaus »Detskij Mir« zum Ufer des Moskauflusses, die erst gar keine Fahrbahnstreifen haben. Der Verkehr fließt intuitiv, nicht nach Regeln. Passen Sie sich also an, schalten Sie Ihren Verstand aus, und werden Sie zum Gefühlsmenschen.
Parken in Moskau ist entweder ein Albtraum oder die reine Freude. Das hängt ganz von Ihrem Temperament und Ihrer Lebenseinstellung ab, davon, ob Sie Schwierigkeiten als Ärgernis oder als Chance begreifen. Denn Parken ist überall dort erlaubt, wo es nicht ausdrücklich verboten ist. Zum Beispiel auf dem Bürgersteig. Regen Sie sich deshalb nicht über Autos auf, die Ihnen beim Spaziergang den Weg versperren. Sie machen sich nur selbst zum Nervenbündel. Weichen Sie den Blechkarossen einfach aus, die Bürgersteige im Zentrum sind meist breit genug. Weil es weit mehr Autos als Parkplätze gibt, lassen die Moskauer ihre Wagen am Straßenrand stehen, pfeilförmig ragen sie auf die Fahrbahn, manchmal parken andere Autos sogar in der zweiten Reihe und verstopfen so zum Beispiel die enge Straße vor meinem Büro. Die Polizei zu rufen wäre sinnlos. Die ist damit beschäftigt, Bestechungsgelder einzusammeln. Noch dazu verstoßen die Zweit-Reihen-Parker gegen keine Bestimmung.
Fahren Sie selbst Auto und werden eingeparkt, schauen Sie zuerst in die Windschutzscheibe des Übeltäters. Ist er ein anständiger Mensch, hat er seine Mobiltelefonnummer zurückgelassen. Ein Anruf genügt, und nach einigen Minuten Zeitverlust können Sie sich wieder in den ganz alltäglichen Wahnsinn des Moskauer Straßenverkehrs stürzen – oder einen netten Menschen kennenlernen, einen Kaffee trinken und mit Ihrem Auto noch zusätzlich die Straße verengen. Wenn Sie blockiert sind, ohne dass der Fahrer sein Mobiltelefon der Öffentlichkeit mitteilt, haben Sie je nach Gemütslage zwei Möglichkeiten. Sind Sie wütend, rütteln Sie so lange am Fahrzeug, bis die Alarmanlage losgeht, und hoffen, dass dies den Besitzer herbeilockt. Sind sie fröhlich und gelassen, schreiben Sie die Autonummer auf und machen sich in umliegenden Geschäften und Büros auf die Suche nach dem Eigentümer. Vielleicht finden Sie beim Bummeln ja noch ein Geschenk für Ihre Frau oder die Kinder.
Meine beiden Söhne übrigens haben gleich am ersten Wochenende, nachdem wir nach Moskau umgezogen waren, bemerkt, dass in der russischen Hauptstadt alles anders ist. Es war ein leicht verregneter Samstag im August. Unsere Kinder saßen auf der Fensterbank im Wohnzimmer. Sie schauten auf andere Plattenbau-Wohnblocks und auf die Hochspannungsleitung auf der anderen Straßenseite. »Papa, toll, da unten fahren die Autorennen«, sagte Moritz, mein Ältester. Mit seinen sieben Jahren durfte er vom Frühstückstisch aufstehen, wenn er fertig gegessen hatte. Meine Frau und ich tranken noch in Ruhe einen Tee. »Au ja, ein Rennen, prima«, jauchzte Max, der damals fünf Jahre alt war und sich mindestens so für Autos interessierte wie sein Bruder. Tatsächlich rauschte von unten der Verkehr, hin und wieder heulte ein Motor auf, Reifen quietschten beim Kavalierstart an der Ampel.
Kinder neigen gelegentlich zur Übertreibung. Der Verkehrslärm war noch einige Dezibel von Formel-Eins-Rennen am Hockenheimring entfernt. Dennoch klang es bedrohlich. Ein Blick nach unten genügte, um zu verstehen, dass das, was sich dort abspielte, nicht das Geringste mit der Beschaulichkeit zu tun hatte, mit der sich Autos im Hamburger Vorort Wellingsbüttel fortbewegten, wo wir zuvor gelebt hatten.