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Mit dem Hausiergeschäft, das in der Hauptsache von dem Pferd abhängig gewesen, ging es von nun an bergab. Not, wenn nicht Hunger, drohte in der Zukunft.

Durbeyfield war, was man ortsüblich einen Schlenderjan nannte; zuzeiten arbeitete er sehr tüchtig; aber man konnte sich niemals darauf verlassen, daß diese Zeiten mit den Stunden zusammenfielen, da man seiner bedurfte; und weil er auch an die regelmäßige Arbeit eines Taglöhners nur wenig gewöhnt war, zeigte er sich auch nicht sehr ausdauernd, wenn es einmal richtig zusammenging.

Inzwischen sann Tess, da sie ja die ganze Familie in diese Klemme gebracht hatte, im stillen darüber nach, was sie wohl anfangen könnte, um ihnen wieder herauszuhelfen; und dann brachte die Mutter ihren Plan aufs Tapet.

»Wir müssen das Gute mit dem Schlechten nehmen, Tess, wie’s kommt«, sagte sie; »und nie hätte man dein vornehmes Blut in ’nem brenzligeren Augenblick entdecken können. Du mußt es mit deinen Verwandten probieren. Weißt du, daß da draußen am Rand von der ›Jagd‹ eine sehr reiche Mrs. D’Urberville wohnt, die zu unserer Familie gehört? Du mußt zu ihr gehen und die Verwandtschaft geltend machen und sie bitten, daß sie uns in unserer Not beisteht.«

»Ich habe nicht viel Lust dazu«, sagte Tess. »Falls es diese Dame wirklich gibt, müssen wir schon froh sein, wenn sie sich freundlich gegen uns benimmt – und dürfen gar nicht erwarten, daß sie uns hilft.«

»Du könntest sie zu allem herumkriegen, mein Schatz. Und überdies steckt vielleicht mehr dahinter, als du denkst. Ich weiß, was ich weiß.«

Das bedrückende Gefühl des Unheils, das sie angerichtet hatte, veranlaßte Tess, den mütterlichen Wünschen respektvoller zu lauschen, als sie es sonst wohl getan hätte; aber sie konnte nicht verstehen, weshalb es ihrer Mutter solche Genugtuung bereitete, an ein Unternehmen zu denken, dessen Nutzen in ihren Augen so zweifelhaft erschien. Die Mutter mochte vielleicht Erkundigungen eingezogen und entdeckt haben, daß diese Mrs. D’Urberville eine Dame von unvergleichlichen Tugenden und unübertroffener Barmherzigkeit war. Aber der stolzen Tess flößte die Rolle der armen Verwandten besonderen Widerwillen ein.

»Möchte lieber versuchen, Arbeit zu bekommen«, murmelte sie.

»Durbeyfield, du kannst die Sache entscheiden«, sagte sein Weib und wandte sich zu ihm, der im Hintergrund saß. »Wenn du sagst, sie muß gehn, so wird sie gehn.«

»’s paßt mir nicht, daß meine Kinder die Gnade von fremden Verwandten in Anspruch nehmen«, murmelte er, »Ich bin das Haupt des nobelsten Zweigs der Familie, und ’s ist meine Pflicht, mich stramm zu halten.«

Seine Gründe gegen den Plan erschienen Tess viel schlimmer als alles, was ihr selbst daran zuwider war. »Nun, Mutter, da ich das Pferd umgebracht habe«, sagte sie traurig, »so glaube ich, daß ich wohl irgend etwas tun muß. Ich habe nichts dagegen, sie zu besuchen, aber ob ich sie um Hilfe bitte, das sollst du mir überlassen. Und denke nicht weiter daran, daß sie mir vielleicht eine Partie besorgen könnte – das ist töricht.«

»Gut gesagt, Tess!« bemerkte ihr Vater bündig.

»Wer behauptet denn, daß ich mir solche Gedanken mache?« fragte Joan.

»Ich glaube, es liegt dir im Sinn, Mutter. Doch ich will hingehn.«

Zeitig am nächsten Tag stand sie auf, wanderte zu dem Bergstädtchen Shaston und benützte dann einen Omnibus, der zweimal die Woche von Shaston ostwärts nach Chaseborough fuhr, nahe an Trantridge vorbei, dem Kirchspiel, in dem die sagenhafte und geheimnisvolle Mrs. D’Urberville ihren Wohnsitz hatte.

Tess Durbeyfields Route an diesem denkwürdigen Morgen führte mitten durch das nordöstliche Hügelgelände des Tales, in dem sie geboren war und wo ihr Leben sich entfaltet hatte. Das Tal von Blackmoor war für sie die Welt und seine Bevölkerung die ganze Menschheit. In den staunenerfüllten Tagen der Kindheit hatte sie oft von den Hürden und Zauntritten Marlotts ihre Blicke durch die ganze Länge dieses Tales schweifen lassen, und was damals für sie ein Geheimnis gewesen war, blieb auch heute noch nicht viel weniger als ein Geheimnis. Täglich sah sie von ihrem Zimmerfenster aus Türme, Dörfer, in der Ferne verschwimmende, weiße Gebäude und, alles überragend, die Stadt Shaston, majestätisch auf ihrer Höhe, wo die Fenster wie Lampen in der Abendsonne leuchteten. Kaum jemals hatte sie die Stadt besucht, denn selbst von dem Tale und seiner Umrandung kannte sie nur einen kleinen Teil genauer, und noch seltener war sie über das Tal hinausgekommen. Jede Kontur des Hügelkranzes war ihr so lieb und vertraut wie die Züge ihrer Eltern und Geschwister; in allem aber, was darüber hinausging, hing ihr Urteil gänzlich von den Kenntnissen ab, die sie in der Dorfschule erworben hatte, wo sie zur Zeit ihres Austritts, ein oder zwei Jahre vor diesem Datum, ihren Platz unter den ersten behauptete.

In jenen frühen Tagen erfuhr sie viel Liebe von andern Kindern gleichen Alters und gleichen Geschlechts, und man war gewohnt, sie im Dorfe stets mit zwei Gefährtinnen zu sehen – alle fast im selben Alter –, Seite an Seite von der Schule nach Hause schlendernd, Tess in der Mitte; über einem Wollrock, der seit undenklichen Zeiten seine ursprüngliche Farbe verloren hatte, trug sie eine rosarote, bedruckte Schürze mit einem feinen Netzmuster und schritt auf schlanken Beinen stolz daher, in knappen Strümpfen mit kleinen Löchern an den Knien, wo sich die Maschen sprossenförmig gelöst hatten, wenn sie kriechend auf den Straßen und Wiesenrainen nach Pflanzen und Steinen, ihren Schätzen, suchte; ihr damals erdfarbenes Haar drehte sich lockig gleich Korkenziehern, die Arme der beiden Mädchen an ihrer Seite ruhten um ihre Hüften, und Tess hielt die Schultern der Freundinnen umschlungen.

Als Tess älter wurde und einzusehen begann, wie die Verhältnisse lagen, empfand sie malthusischen Kummer um ihre Mutter, weil sie ihr gedankenlos so viele kleine Schwestern und Brüder zugesellte, und es war doch solch eine Plage, die Kleinen zu warten, die schon auf der Welt waren. Ihre Mutter besaß die Denkart eines glücklichen Kindes: Joan Durbeyfield zählte einfach selber zu der langen Schar ihrer neun Sprößlinge, wie sie nun so alle am Leben waren, und man konnte sie nicht einmal recht die Älteste nennen.

Doch wurde Tess den Kleineren eine freundlich wohltätige Schwester, und um ihnen nach besten Kräften zu helfen, pflegte sie, sobald sie die Schule verlassen hatte, auf den benachbarten Bauernhöfen beim Heuen oder Ernten mitzutun; und lieber noch ging sie melken oder buttern, was sie gelernt hatte, als ihr Vater Kühe besaß. Und da sie flinke Finger hatte, war sie in dieser Arbeit besonders geschickt.

Jeder Tag schien mehr und mehr von den Lasten des Haushalts auf ihre jungen Schultern zu wälzen, und daß Tess im Herrenhaus der D’Urbervilles die Durbeyfields repräsentieren sollte, ergab sich ganz selbstverständlich. In diesem Punkte muß man zugeben, daß die Durbeyfields ihre beste Seite hervorkehrten.

An der Straßenkreuzung von Trantridge stieg sie aus dem Omnibus und schritt zu Fuß einen Flügel hinan in der Richtung auf den Distrikt, der als »Die Jagd« bekannt war und an dessen Grenzen, wie man ihr mitgeteilt hatte, Mrs. D’Urbervilles Landsitz »Am Hang« zu finden sein müßte. Es war nicht ein Gutshof im üblichen Sinne, mit Feldern, Weiden und einem brummigen Pächter, aus dem der Eigentümer und seine Familie auf Biegen oder Brechen die notwendigsten Einkünfte herauspressen muß. Es war mehr, weit mehr: ein Landhaus, einfach und schlicht zum Vergnügen gebaut, ohne einen einzigen Morgen beschwerlich lästigen Ackerlands, außer dem wenigen Boden, der für häusliche Zwecke erforderlich war; eine kleine Musterfarm stand daneben, eine Liebhaberei, die von der Eigentümerin selbst geführt und von einem Verwalter besorgt wurde.

Das warm leuchtende, aus roten Ziegeln erbaute Pförtnerhäuschen kam zuerst in Sicht, bis an die Dachrinnen mit Immergrün umsponnen. Tess dachte, dies sei das Herrenhaus selber, bis sie mit einigem Herzklopfen das Seitenpförtchen durchschritten und eine Stelle erreicht hatte, wo die Auffahrt eine Biegung machte, und nun plötzlich das Hauptgebäude in ganzer Größe vor sich sah. Es war ein Bau aus jüngster Zeit – in der Tat fast neu – und leuchtete in derselben prächtigen Scharlachfarbe, die schon an dem Pförtnerhäuschen so merkwürdig mit dem Immergrün kontrastiert hatte. Weit draußen hinter den hellen Ziegelrändern des Hauses, das sich wie eine rote Geranie von den gedämpften Farben ringsum abhob, dehnte sich die sanfte azurblaue Landschaft der »Jagd« aus – ein wahrhaft ehrwürdiger Waldstrich, einer der wenigen erhalten gebliebenen Forste von zweifellos urzeitlichem Alter in England, wo man immer noch die druidische Mistel auf bejahrten Eichen fand und wo riesige, nicht von Menschenhand gepflanzte Eibenbäume wuchsen, wie sie ehemals gewachsen waren, als man noch Bogen aus ihrem Hohe schnitzte. Doch diese urwäldliche Szenerie, wenn sie auch von dem Landsitz aus sichtbar war, lag außerhalb der unmittelbaren Grenzen des Gutes.

Alles an dieser zierlichen Besitzung war hell, blühend und gut instand gehalten; Reihen von Glashäusern erstreckten sich über die Hänge herab bis zu dem Unterholz am Fuße des Hügels. Alles glänzte blank wie Geld – glich der neuesten Münze, die eben aus der Prägung kommt. Die Ställe, zum Teil versteckt hinter Alpenföhren und immergrünen Eichen und mit allem neuesten Komfort ausgestattet, sahen so würdig aus wie Dorfkapellen, und auf dem ausgedehnten Rasenplatz stand ein prächtiges Zelt, das sich auf Tess zu öffnete.

Die schlichte Tess Durbeyfield stand staunenden Blickes halb gelähmt am Rande des Kiesweges. Ihre Füße hatten sie bis hierher getragen, bevor es ihr noch ganz zum Bewußtsein kam, wo sie sich befand; und nun widersprach alles ihren Erwartungen.

»Ich dachte, wir wären eine alte Familie, aber das ist ja alles neu!« sagte sie in ihrer ungekünstelten mädchenhaften Art. Sie wünschte, daß sie nicht so bereitwillig dem Plan ihrer Mutter, »die Verwandtschaft geltend zu machen«, zugestimmt und lieber versucht hätte, in der näheren Nachbarschaft ihres Heimes Beistand zu finden.

Die D’Urbervilles – oder Stoke-D’Urbervilles, wie sie sich zuerst nannten –, die all dies besaßen, waren eine Familie, wie man sie in solch einem altmodischen Teil des Landes nicht allzuhäufig antrifft. Pfarrer Tringham hatte die Wahrheit gesprochen, als er sagte, daß unser schlotternder John Durbeyfield der einzige echte und geradlinige Stammhalter der alten D’Urberville-Familie in der Grafschaft oder in der nächsten Umgebung sei; er hätte hinzufügen können, was er sehr gut wußte, daß die Stoke-D’Urbervilles nicht mehr zum echten Stamm der D’Urbervilles gehörten als er selbst. Doch muß man zugeben, daß diese Familie einen sehr guten Vaterstock bildete, um einen Namen darauf zu pfropfen, der einer solchen Auffrischung kläglichst bedurfte.

Nachdem der alte Mr. Simon Stoke, der kürzlich aus dem Leben geschieden war, sich als ehrlicher Kaufmann (einige sagten, als Geldverleiher) im Norden ein Vermögen gemacht hatte, beschloß er, sich im Süden von England als Landmann niederzulassen, möglichst weit weg von dem Schauplatz seiner Tätigkeit; und als er dies ins Werk setzte, empfand er die Notwendigkeit, das neue Leben unter einem neuen Namen zu beginnen, der nicht so sehr in aller Leute Gedächtnis und weniger abgedroschen war als die zwei ursprünglichen, dürftigen und kahlen Wörtchen. Nachdem er eine Stunde lang im Britischen Museum die Seiten aller Werke durchstudiert hatte, die erloschenen, halberloschenen, in Vergessen gesunkenen und zugrunde gegangenen Familien aus jenem Kreise Englands, wo er sich anzusiedeln gedachte, gewidmet waren, gelangte er zu der Erwägung, daß »D’Urberville« nicht weniger gut aussehe und nicht weniger gut klinge als irgendein anderer Titel: Und folglich hängte er seinem eigenen Namen mit kühlem Griff das D’Urberville an, für sich und seine Erben in alle Ewigkeit. Doch war er in dieser Beziehung keineswegs ausschweifend und überspannt, und als er seinen Stammbaum auf der neuen Basis entwarf, verfuhr er sehr maßvoll im Aufbau der Wechselheiraten und Verbindungsglieder und schaltete nie auch nur einen einzigen Titel ein, dessen Rang die Grenzen strengster Zurückhaltung überschritten hätte.

Von diesem Phantasiegebilde wußten natürlich die arme Tess und ihre Eltern nicht das geringste – sehr zu ihrem Schaden; ja, sogar die Möglichkeit solcher Annexionen war ihnen unbekannt; denn sie dachten sich wohl, daß Gunst und Ansehen eine Gabe des Reichtums sein könnten, glaubten aber, ein Familienname sei stets natürlichen Ursprungs.

Tess stand immer noch zögernd da wie ein Schwimmer, der eben kopfüber ins Wasser springen will, kaum wissend, ob sie sich zurückziehen oder weiter vordringen sollte, als eine Gestalt aus dem dunklen, dreieckigen Eingang des Zeltes hervortrat. Es war ein hochgewachsener junger Mann, der eine Zigarre rauchte.

Er hatte eine fast schwärzlich braune Gesichtsfarbe, volle Lippen, unschön geformt, doch rot und glatt, und darüber einen gut gepflegten schwarzen Schnurrbart mit gekräuselten Spitzen, obgleich er nicht älter sein konnte als drei- oder vierundzwanzig. Trotz des Anflugs von Roheit in seinen Zügen lag eine merkwürdige Kraft im Gesicht des Gentlemans und in seinen kühn rollenden Augen.

»Nun, meine Allerschönste, was kann ich für Sie tun?« sagte er, auf sie zutretend. Und als er gewahrte, daß sie ganz verdattert dastand, fuhr er fort: »Haben Sie keine Furcht vor mir. Ich bin Mr. D’Urberville. Kommen Sie zu mir oder zu meiner Mutter?«

Diese Verkörperung eines D’Urberville und Namensvetters widersprach den Erwartungen Tess’ noch stärker als das Haus und das Grundstück. Sie hatte von einem betagten und würdigen Antlitz geträumt, dem veredelten Abbild aller charakteristischen Züge der D’Urbervilles, durchfurcht von lebendigen Hieroglyphen, die das Andenken an die Jahrhunderte ihres Hauses und der englischen Geschichte bewahrten. Doch sie riß sich zusammen zu der Aufgabe, die ihr jetzt bevorstand, zumal sie ihr nicht entrinnen konnte, und antwortete: »Ich wollte zu Ihrer Mutter, mein Herr.«

»Ich fürchte, Sie können sie nicht sehen – sie ist krank«, erwiderte der gegenwärtige Stammhalter des unechten Hauses; denn dies war Mr. Alee, der einzige Sohn des kürzlich verstorbenen Gentlemans. »Kann ich Ihnen nicht dienen? Was ist es für ein Geschäft, worüber Sie mit ihr zu sprechen wünschen?«

»Es ist kein Geschäft – es ist – ich kann kaum sagen, was.«

»Vergnügen?«

»O nein. Ja, mein Herr, wenn ich’s Ihnen sage, wird es –«

Tess’ Empfinden einer gewissen Lächerlichkeit, die in ihrem Vorhaben lag, wurde nun so stark, daß sich, trotz ihrer Scheu vor dem jungen Mann und ihres allgemeinen Unbehagens, ihre rosigen Lippen zu einem Lächeln krümmten, was dem dunkelhäutigen Alexander sehr reizvoll erschien.

»Es ist so furchtbar dumm«, stammelte sie, »ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht sagen.«

»Macht nichts; ich liebe dumme Sachen. Versuchen Sie es noch einmal, liebes Fräulein«, sagte er freundlich.

»Mutter forderte mich auf herzugehen«, fuhr Tess fort; »und freilich, ich war selber auch geneigt. Aber ich dachte nicht, daß es so werden würde. Ich bin gekommen, mein Herr, um Ihnen zu sagen, daß wir zu derselben Familie gehören wie Sie.«

»Oho! Arme Verwandte?«

»Ja.«

»Stokes?«

»Nein; D’Urbervilles.«

»Ja, ja, ich meinte D’Urbervilles.«

»Unser Name wurde in ›Durbeyfield‹ verstümmelt; aber wir haben mehrere Beweise, daß wir D’Urbervilles sind. Altertumsforscher sagen es – und – und wir besitzen ein altes Siegel und einen sehr alten Silberlöffel, die Höhlung ganz rund wie ein kleiner Schöpfer, mit einem springenden Löwen am Stiel, und darüber ein Kastell. Aber er ist so alt, daß Mutter mit ihm die Erbsensuppe umrührt.«

»Ja, ganz sicher, ein silbernes Kastell ist mein Wappen«, sagte er freundlich.

»Und so meinte Mutter, wir sollten uns mit Ihnen bekannt machen – denn wir haben durch einen schlimmen Unfall unser Pferd verloren und sind der älteste Zweig der Familie.«

»Sehr freundlich von Ihrer Mutter, zweifellos. Und ich wenigstens bedauere ihren Schritt nicht.« Alec sah Tess beim Sprechen in einer Weise an, die sie ein wenig erröten machte. »Und so, mein hübsches Mädchen, sind Sie also auf einen freundschaftlichen Besuch zu uns, Ihren Verwandten, gekommen?«

»Ich glaube, ja«, stotterte Tess und blickte mit Unbehagen auf das Herrenhaus.

»Nun, da ist nichts Schlimmes dabei. Wo wohnen Sie? Was sind Sie?«

Sie teilte ihm kurz einige Einzelheiten mit und sagte ihm nach weiteren Fragen, daß sie beabsichtigte, mit demselben Fuhrmann zurückzukehren, der sie hierhergebracht hatte.

»Das dauert lange, bevor er an der Kreuzung von Trantridge wieder vorüberkommt. Wie wär’s, wenn wir ein bißchen über das Grundstück spazierten, um uns die Zeit zu vertreiben, meine hübsche Kusine?«

Tess wünschte ihren Besuch sosehr als möglich abzukürzen; doch der junge Mann drang in sie, und sie willigte ein, ihn zu begleiten. Er führte sie über den Rasen, an Blumenbeeten vorbei und durch Treibhäuser; und dann kamen sie in den Obstgarten, wo er sie fragte, ob sie Erdbeeren liebe.

»Ja«, erwiderte Tess, »wenn sie reifen.«

»Hier sind sie schon.« D’Urberville begann einzelne Beeren für sie zu pflücken und reichte sie ihr über die Schulter, während er sich niederbückte; und plötzlich wählte er ein besonders schönes Exemplar der »British-Queen«-Sorte, richtete sich auf und hielt es ihr am Stengel an den Mund.

»Nein, nein!« sagte sie rasch, die Finger zwischen seine Hand und ihre Lippen schiebend. »Ich möchte es lieber selbst in die Hand nehmen.«

»Unsinn«, bestand er; und mit einem leichten Widerwillen öffnete sie ihre Lippen und nahm die Beere.

Sie hatten schon einige Zeit mit diesem planlosen Wandern verbracht, und Tess aß zerstreut und halb hypnotisiert alles, was D’Urberville ihr anbot. Als sie keine Erdbeeren mehr verzehren konnte, füllte er ihren kleinen Korb an; und dann schlenderten sie zu den Rosensträuchern hinüber, wo er Blüten pflückte und ihr zum Anstecken gab. Sie gehorchte, immer noch einer Träumenden gleich, und als keine Blumen mehr an ihrer Brust Platz fanden, steckte er selbst eine oder zwei Knospen an ihren Hut und überhäufte in seiner verschwenderischen Freigebigkeit ihren Korb mit zahllosen Blüten. Schließlich schaute er auf seine Uhr und sagte: »Nun müssen Sie etwas zu essen bekommen, und dann wird es Zeit für Sie sein, aufzubrechen, wenn Sie den Wagen nach Shaston erwischen wollen. Kommen Sie, und ich will sehen, was ich Nahrhaftes finden kann.«

Stoke-D’Urberville führte sie auf den Rasen zurück und in das Zelt, wo er sie verließ, um bald wieder mit einem Korb voll leichter Erfrischungen aufzutauchen, den er vor sie hinstellte. Es lag offensichtlich in den Wünschen des Gentlemans, sich in diesem angenehmen Tête-à-tête nicht von der Dienerschaft stören zu lassen.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?« fragte er.

»Oh, nicht im geringsten.«

Durch die Rauchschwaden, die das Zelt durchschwebten, beobachtete er, wie sie so hübsch und gedankenlos mit vollen Backen kaute, und als Tess Durbeyfield nun voller Unschuld auf die Rosen an ihrer Brust hinunterschaute, ahnte sie nicht, daß hier hinter dem blauen narkotischen Schleier das »tragische Verhängnis« ihres Dramas saß – er, dessen Bestimmung es war, in dem Spektrum ihres jungen Lebens der blutrote Streif zu sein. Sie besaß eine Eigenschaft, die ihr in diesem Augenblick zum Nachteil gereichte; und dies war es, was Alec D’Urberville veranlaßte, den Blick auf sie zu heften: eine Üppigkeit der Erscheinung, eine körperliche Fülle, die bewirkte, daß sie viel frauenhafter aussah, als sie in Wirklichkeit war. Sie hatte diesen Zug von ihrer Mutter geerbt, ohne die Eigenschaften, die er anzudeuten schien. Gelegentlich hatte sie sich darüber Sorgen gemacht, bis ihre Gefährtinnen sagten, daß dies ein Fehler sei, den die Zeit heilen werde.

Bald war sie mit ihrem Imbiß fertig. »Jetzt gehe ich nach Hause«, sagte sie aufstehend.

»Und wie nennt man Sie?« fragte er, als er sie über die Auffahrt geleitete, bis das Haus ihren Blicken entschwunden war.

»Tess Durbeyfield aus Marlott.«

»Und Sie sagen, daß Ihre Leute ihr Pferd verloren haben?«

»Ich – habe es umgebracht!« antwortete sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie genauer von Prinz’ Tod erzählte. »Und ich weiß nicht, was ich jetzt für Vater tun soll.«

»Ich muß nachdenken, ob ich nicht etwas machen kann. Meine Mutter muß einen Posten für Sie finden. Doch, Tess, keinen Unsinn mit D’Urberville – nur Durbeyfield, wissen Sie! Ein ganz anderer Name.«

»Ich wünsche mir keinen besseren, mein Herr«, sagte sie mit einiger Würde.

Einen Augenblick lang – nur für einen Augenblick –, als sie in der Krümmung der Zufahrt waren, zwischen den hohen Rhododendrons und Tannen, bevor noch das Pförtnerhäuschen in Sicht kam, da neigte er sein Gesicht zu ihr, als ob – aber nein, er besann sich eines Besseren und ließ sie zufrieden.

So begann die Sache. Hätte sie die Bedeutung dieses Zusammentreffens erfaßt, so hätte sie wohl fragen können, warum sie verurteilt war, an diesem Tage von dem falschen Manne gesehen, beachtet und begehrt zu werden und nicht von einem gewissen anderen, der in jeder Hinsicht der echte und richtige war – soweit menschliche Beziehungen echt und richtig sein können; doch für ihn war sie zu dieser Zeit nichts weiter als ein flüchtiger, halb vergessener Eindruck.

In der unvernünftigen Vollstreckung der vernünftigen Weitenpläne lockt der Ruf selten den Gerufenen herbei, und selten ist der liebenswerte Mann zur Stelle, wenn die Stunde der Liebe schlägt. Die Natur sagt nicht oft in jenem Augenblick »Schau!« zu ihren armen Geschöpfen, da das Schauen zu glücklichen Taten führen kann; und nicht oft erhält der Schrei eines Menschen: »Wo?« von ihr zur Antwort: »Hier!«, bis schließlich das Versteckenspielen ein ermüdender, abgebrauchter Zeitvertreib wird. Wir könnten uns fragen, ob auf dem Gipfel und Höhepunkt des menschlichen Fortschritts diese Anachronismen durch eine schärfere Erkenntnis berichtigt sein werden, durch eine engere Wechselwirkung innerhalb der sozialen Maschinerie, als die, die uns heute vorwärts und im Kreise stößt; doch eine solche Vervollkommnung läßt sich nicht prophezeien, und nicht einmal ihre Möglichkeit ist vorstellbar. Genug, daß in dem vorliegenden Fall, wie in Millionen anderer Fälle, die beiden Hälften eines annähernd vollkommenen Ganzen sich nicht im vollkommen richtigen Augenblick gegenüberstanden; die beiden zusammengehörigen Wesen, gleichsam Stück und Gegenstück, schweiften unabhängig voneinander eine Weile lang töricht und sinnlos auf der Erde umher, bis die späte Stunde kam. Diesem verwünschten Aufschub entsprangen Kümmernisse, Enttäuschungen, Erschütterungen, Katastrophen – das, was man ein seltsames Geschick nannte.

Als D’Urberville in das Zelt zurückkam, setzte er sich nachdenklich rittlings auf einen Stuhl, ein zufriedenes Leuchten im Gesicht. Dann brach er in ein lautes Gelächter aus. »Hol mich der Teufel! Was für eine spaßige Sache! Ha-ha-ha! Und was für ein reizendes Mädel!«