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Rollivers Kneipe, das einzige Bierhaus an diesem Ende des langgestreckten Dorfes mit seinen verstreuten Häusern, konnte sich lediglich einer Konzession für den Ausschank unter freiem Himmel rühmen; da folglich von Gesetzes wegen niemand im Gebäude selber trinken durfte, blieb die ganze öffentliche Bewirtung der Gäste streng auf ein kleines, etwa sechs Zoll breites und zwei Meter langes Brett beschränkt, das mit Drähten an dem Gartenstaket befestigt war, so daß ein Sims entstand. Auf dieses Brett stellten die durstigen Fremden ihre Gläser, während sie auf der Straße standen und tranken, schleuderten die Neige auf die staubige Erde, wo sie einen ganzen Archipel von kleinen Inselchen bildete, und sehnten sich nach einem geruhsamen Sitz im Hause.

So die Fremden. Doch es gab auch ortsansässige Gäste, die denselben Wunsch empfanden; und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

In einem geräumigen Schlafzimmer oben im Stock, dessen Fenster mit einem großen wollenen Schal – erst kürzlich von der Wirtin, Mrs. Rolliver, abgelegt – dicht verhängt waren, hatte sich an diesem Abend fast ein Dutzend Personen versammelt, die alle im Wein ihre Seligkeit suchten, lauter alteingesessene Bewohner aus den nächsten umliegenden Häusern Marlotts und häufige Besucher dieser Zufluchtsstätte. Es lag nicht nur daran, daß die große Entfernung bis zu dem »Reinen Tropfen«, der vollkonzessionierten Taverne am anderen Ende des langgezogenen Dorfes, seine gastliche Bequemlichkeit für die Besucher dieses Endes praktisch unerreichbar machte; auch die weit ernstere Frage, die Frage nach der Qualität des Getränkes, entschied sich zugunsten der vorherrschenden Ansicht, daß es besser sei, bei Rolliver in einem Winkel des Dachbodens als bei dem andern Wirt in einer großen Gaststube zu trinken.

Eine ärmliche, vierbeinige Bettstatt in dem Zimmer bot mehreren Personen, die sich um ihre drei freien Seiten scharten, Raum zum Sitzen; ein paar hatten sich auf die Kommode geschwungen, ein anderer wieder hockte auf der aus Eichenholz geschnittenen Truhe, zwei auf dem Waschtisch, ein dritter auf dem Stuhl, und so saßen alle ganz bequem. Zu dieser Stunde hatten sie bereits jenes Stadium geistiger Behaglichkeit erreicht, da ihre Seelen die Fesseln des Körpers sprengten und ihre eigenen Gefühle warm den Raum durchdrangen. Durch diesen Prozeß wurde das Zimmer und seine Einrichtung immer prächtiger und würdiger; der Schal am Fenster gewann den reichen Glanz eines Wandteppichs, die Messinggriffe des Schubladekastens glichen goldenen Türklopfern, und die geschnitzten Bettpfosten schienen eine entfernte Verwandtschaft mit den prunkvollen Säulen in Salomos Tempel zu haben.

Nachdem sich Mrs. Durbeyfield von Tess getrennt hatte, eilte sie schnellen Schrittes hierher, öffnete die Vordertür, durchschritt den ebenerdigen Raum, der in tiefem Düster lag, und schloß dann die Stiegentür auf wie jemand, dessen Finger mit dem Mechanismus der Klinke wohlvertraut sind. Ihr Aufstieg über die gewundene Treppe ging langsamer vonstatten, und als ihr Gesicht über der letzten Stufe ins Licht emportauchte, zog es die Blicke der ganzen Gesellschaft auf sich, die in dem Schlafzimmer versammelt war.

»– ’sind bloß ein paar private Freunde, die ich eingeladen habe, auf meine Kosten das Vereinsfest weiter zu feiern«, rief beim Klang der Schritte die Wirtin aus, so zungenfertig wie ein Kind, das den Katechismus aufsagt, während sie die Treppe hinunterlegte. »Oh, Sie sind’s, Mrs. Durbeyfield! Mein Gott, wie Sie mich erschreckt haben! Ich dachte, ’s wär’ irgendein Schnüffler von der Behörde.«

Mrs. Durbeyfield wurde von dem Rest des Konklaves mit Blicken und Kopfnicken begrüßt und wandte sich zu der Stelle, wo ihr Mann saß. Er summte geistesabwesend in tiefen Tönen vor sich hin: »Bin genausoviel wert wie gewisse Leute hier und dort! Hab’ ’ne große Familiengruft in Kingsbere-sub-Greenhill und feinere Skelette als irgendeiner im Lande Wessex!«

»Muß dir etwas sagen, was mir durch den Kopf gefahren ist – eine große Idee!« flüsterte sein munteres Weib. »He, John, siehst du mich nicht?« Sie stieß ihn leicht mit dem Ellbogen, während er wie durch eine Fensterscheibe durch sie hindurchschaute und in seinem Rezitativ fortfuhr.

»Pst! Singen Sie man nicht so laut, mein Guter«, sagte die Wirtin; »’s könnt’ grade einer von der Behörde vorüberkommen und mir die Konzession wegnehmen.«

»Er hat Ihnen doch erzählt, was uns passiert ist?« fragte Mrs. Durbeyfield.

»Ja – so beiläufig. Glauben Sie, daß was Bares dabei herausschaut?«

»Ah, das ist das Geheimnis«, erwiderte Joan Durbeyfield verschmitzt. »Wie man’s nimmt – ’s ist ganz gut, mit ’ner Kutsche verwandt zu sein, wenn man auch nicht in ihr fährt.« Sie senkte ihre Stimme und fuhr in leisem Tone zu ihrem Mann hin fort: »Seit du mir die Neuigkeit gebracht hast, ist mir eingefallen, daß da draußen bei Trantridge, am Rand von der ›Jagd‹, eine reiche Dame wohnt, und die heißt D’Urberville.«

»He – was sagst du?« erwiderte Sir John.

Sie wiederholte ihre Mitteilung. »Diese Dame muß mit uns verwandt sein«, sagte sie. »Und meine Idee ist, wir schicken Tess hin, damit sie ihre Verwandtschaft geltend macht.«

»’s gibt wirklich ’ne Dame mit diesem Namen – jetzt, wo du’s erwähnst«, sagte Durbeyfield. »Pastor Tringham hat nicht dran gedacht. Aber sie zählt nicht neben uns – ’ne jüngere Linie, gar kein Zweifel, schon seit König Normanns Tagen.«

Während diese Frage erörtert wurde, bemerkte keiner von dem Paar in seiner Vertieftheit, daß der kleine Abraham ins Zimmer geschlichen war und auf eine Gelegenheit wartete, sie zur Heimkehr aufzufordern.

»Sie ist reich, und sicherlich würde sie sich um das Mädel kümmern«, fuhr Mrs. Durbeyfield fort; »und ’s wär ’ne sehr gute Sache. Ich seh’ nicht ein, warum zwei Zweige von derselben Familie nicht auf Besuchsfuß stehen sollten.«

»Ja, und wir alle machen die Verwandtschaft geltend!« rief Abraham fröhlich unter der Bettstatt hervor. »Und alle gehn wir hin und besuchen sie, wenn Tess bei ihr wohnt; und wir fahren in ihrer Kutsche und ziehen uns schwarze Kleider an!«

»Wie kommst denn du hierher, Kind? Was schwatzt du für Unsinn? Geh hinaus und spiel auf der Stiege, bis Vater und Mutter parat sind! … Nu, Tess muß zu diesem Mitglied unserer Familie hingehen. Sicherlich kriegt sie die Dame herum – Tess wird’s schaffen; und höchstwahrscheinlich führt’s noch dazu, daß irgendein vornehmer Herr sie heiratet. Kurz und gut, ich weiß es nun mal genau.«

»Wie?«

»Ich hab’ ihr Schicksal im ›Traumdeuter‹ befragt, und just das ist herausgekommen. Hättest sehen sollen, wie hübsch sie heute aussah; ihre Haut ist so samtig wie von einer Herzogin.«

»Was sagt das Mädel selber dazu?«

»Ich hab’ sie nicht gefragt. Sie weiß noch gar nicht, daß es so ’ne weibliche Verwandte gibt. Aber ganz sicher verhilft es ihr zu ’ner großen Heirat, und sie wird sich nicht weigern, hinzugehn.«

»Tess ist ’n Querkopf.«

»Aber im Grunde läßt sie sich was sagen. Überlaß sie nur mir.«

Obgleich dies eine vertrauliche Unterredung war, erfaßten doch die Umsitzenden genug von ihrer Tragweite, um zu erkennen, daß die Durbeyfields nun gewichtigere Dinge zu besprechen hatten als die gewöhnlichen Sterblichen und daß Tess, ihre hübsche älteste Tochter, herrliche Aussichten vor sich sehe.

»Tess macht ’ne hübsche Erscheinung her, wie ich heute bei mir dachte, als ich sie mit den andern durchs Kirchspiel stiefeln sah«, bemerkte einer von den älteren Kneipbrüdern mit gedämpfter Stimme. »Aber Joan Durbeyfield soll dran denken, daß ’n grüner Apfel keinen süßen Saft gibt.« Dies war eine lokale Redensart, die ihre besondere Bedeutung hatte, und es erfolgte keine Antwort.

Die Unterhaltung wurde allgemein, und bald darauf hörte man Schritte, die unten das Zimmer durchquerten.

»– sind bloß ein paar private Freunde, die ich eingeladen habe, auf meine Kosten das Vereinsfest weiterzufeiern.« Die Wirtin hatte hastig die Formel heruntergeleiert, die sie für Eindringlinge bereithielt, bevor sie noch erkannte, daß der Ankömmling Tess war.

Selbst den Blicken ihrer Mutter entging es nicht, wie traurig verirrt des Mädchens junge Züge inmitten dieser alkoholischen Dünste wirkten, die das Zimmer durchzogen und die Runzeln alternder Gesichter mit einer recht passenden Atmosphäre umgaben; und es bedurfte kaum eines vorwurfsvollen Aufblitzens in Tess’ dunklen Augen, um ihren Vater und ihre Mutter zu veranlassen, daß sie sich von ihren Sitzen erhoben, hastig ihr Bier austranken und hinter ihr die Treppe hinunterstiegen, während Mrs. Rollivers ängstliche Vorsicht ihre Schritte begleitete.

»Keinen Lärm, bitte, wenn Sie so gut sein wollen, meine Besten; sonst könnte ich meine Konzession verlieren und vor Gericht kommen, und ich weiß nicht, was alles! Gute Nacht miteinander!«

Sie gingen zusammen nach Hause; Tess hielt den einen Arm des Vaters und Mrs. Durbeyfield den andern. Er hatte wirklich nur sehr wenig getrunken – nicht ein Viertel der Menge, die ein gewohnheitsmäßiger Zecher an einem Sonntagmorgen zur Kirche tragen könnte, ohne daß er seinen Kurs verfehlte oder ihm die Knie knickten; aber die schwache Konstitution Sir Johns ließ derartige winzige Sünden bergehoch wachsen. Als sie an die frische Luft kamen, schwankte er so stark auf seinen Beinen, daß er die ganze Dreierreihe den einen Augenblick linkshin zerrte, als marschierten sie nach London, und im nächsten Augenblick nach der andern Seite, als wollten sie nach Bath marschieren – was eine komische Wirkung erzeugte, die bei Familien auf nächtlichem Heimweg nicht selten ist; und gleich den meisten komischen Wirkungen ist sie alles in allem gar nicht so komisch. Die beiden Frauen bemühten sich tapfer, diese erzwungenen Schwenkungen und Rückmärsche zu maskieren, so gut es ihnen Durbeyfield, der sie veranlaßte, der kleine Abraham und sie selber erlaubten; und wie sie sich so allmählich ihrer eigenen Türe näherten, stimmte plötzlich das Haupt der Familie seinen früheren Refrain an, als wolle es seine Seele gegen den Anblick seiner kleinen, gegenwärtigen Behausung wappnen:

»Ich hab’ eine Fami-iliengruft in Kingsbere!«

»Still – sei nicht töricht, Jacky«, sagte sein Weib. »Deine Familie ist nicht die einzige, die in alten Zeiten mächtig was wert war. Schau dir die Anktells an und die Horseys und die Tringhams selber – alle fast so vor die Hunde gegangen wie du – obschon ihr freilich vornehmeres Volk gewesen seid als sie, das ist wahr. Gott sei Dank, ich hab’ nie zu einer Familie gehört und brauch’ mich in dieser Beziehung für nichts zu schämen!«

Tess gab dem Thema eine andere Wendung und sprach aus, was augenblicklich ihren Geist weit stärker beschäftigte als der Gedanke an ihre Vorfahren:

»Ich fürchte, Vater wird nicht imstande sein, sich morgen so zeitig mit den Bienenstöcken auf den Weg zu machen.«

»Ich? In einer oder in zwei Stunden bin ich auf dem Damm«, sagte Durbeyfield.

Es wurde elf, bevor die ganze Familie zu Bett lag, und zwei Uhr morgens war die späteste Stunde, um mit den Bienenstökken aufzubrechen, wenn sie noch vor Beginn des samstägigen Marktes bei den Krämern in Casterbridge abgeliefert werden sollten; denn der Weg führte zwanzig bis dreißig Meilen weit über schlechte Straßen, und Pferd und Wagen gehörten zu den langsamsten. Um halb zwei kam Mrs. Durbeyfield in das große Schlafzimmer, wo Tess und alle ihre kleinen Schwestern und Brüder schliefen.

»Der arme Mann kann nicht gehen«, sagte sie zu der ältesten Tochter, deren große Augen sich in dem Augenblick geöffnet hatten, da ihrer Mutter Hand die Klinke berührte.

Tess setzte sich im Bett auf, verloren in vages Sinnen zwischen einem Traum und dieser Nachricht.

»Aber jemand muß gehen«, erwiderte sie. »Es ist schon spät für die Stöcke. Bald ist das Schwärmen für dieses Jahr vorüber; und wenn wir’s bis zum nächsten Wochenmarkt verschieben, wird keine Nachfrage mehr nach ihnen sein, und wir haben sie auf dem Hals.«

Mrs. Durbeyfield schien dieser Schwierigkeit nicht gewachsen zu sein. »Vielleicht würde irgendein junger Bursche gehn? Einer von denen, die gestern so sehr drauf aus waren, mit dir zu tanzen«, schlug sie plötzlich vor.

»O nein – nicht um die Welt!« erklärte Tess stolz. »Damit jeder den Grund erfährt – eine so beschämende Sache! Ich denke, ich könnte selber fahren, wenn Abraham mitgeht und mir Gesellschaft leistet.«

Ihre Mutter stimmte schließlich diesem Arrangement zu. Der kleine Abraham wurde aus seinem tiefen Schlummer in einem Winkel desselben Zimmers geweckt und veranlaßt, sich die Kleider anzuziehen, während sein Geist immer noch in anderen Regionen weilte. Inzwischen hatte sich Tess hastig angekleidet, und das Paar ging mit angezündeter Laterne in den Stall hinaus. Das gebrechliche Wägelchen war bereits beladen, und das Mädchen führte das Pferd »Prinz« heraus, das nur um einen Grad weniger gebrechlich war als das Fuhrwerk.

Das arme Geschöpf blickte verwundert in die Nacht hinaus, verwundert über die Laterne und über die beiden Gestalten, als könne es nicht glauben, daß es zu dieser Stunde, da jedes lebende Wesen unter Dach seine Ruhe genießen sollte, aufgefordert wurde, den Stall zu verlassen und zu arbeiten. Sie steckten einen Vorrat von Kerzenstümpfen in die Laterne, hängten diese an die Ausbiegseite des Wagens und trieben das Pferd an. Solange der Weg aufwärts führte, gingen sie nebenher, denn sie wollten das so schwache Tier nicht überlasten. Um sich, so gut sie konnten, aufzuheitern, schufen sie mit der Laterne, etwas Butterbrot und ihrer eigenen Unterhaltung eine künstliche Morgenstimmung, da der wirkliche Tagesanbruch noch in weiter Ferne lag. Als Abraham sich ermuntert hatte (denn bisher war er in einer Art Trance einhergestapft), begann er über die seltsamen Umrisse zu plaudern, mit denen die verschiedenen dunklen Gegenstände sich gegen den Himmel abzeichneten, über diesen Baum da, der wie in rasender, von seinem Lager aufspringender Tiger aussah, und über jenen, der dem Kopf eines Riesen glich.

Als sie die kleine Niederung von Stourcastle durchwandert hatten, schweigend und schläfrig unter ihrem dichten braunen Blätterdach, gelangten sie auf höheren Grund. Höher noch zu ihrer Linken ragte, umgürtet mit seinen Erdwällen, der Gipfel von Bulbarrow oder Bealbarrow, wohl fast der höchste in Südwessex, zum Himmel empor. Von hier an senkte sich die Straße eine lange Strecke weit allmählich hinab. Sie stiegen vorne auf den Wagen, und Abraham wurde nachdenklich.

»Tess!« sagte er nach einem Stillschweigen in vorbereitendem Tone.

»Ja, Abraham.«

»Bist nicht froh, daß wir vornehme Leute geworden sind?«

»Nicht gerade froh.«

»Aber du bist froh, daß du einen Gentleman heiraten sollst?«

»Was?« sagte Tess und hob das Gesicht.

»Daß unsere noble Verwandtschaft dir helfen wird, einen Gentleman zu heiraten.«

»Mir? Unsere noble Verwandtschaft? Wir haben keine solche Verwandtschaft. Wer hat dir das in den Kopf gesetzt?«

»Ich hörte sie darüber sprechen bei Rolliver, als ich dort war, um Vater zu suchen. Draußen in Trantridge wohnt eine reiche Dame aus unserer Familie, und Mutter sagt, wenn du dich bei der Dame als Verwandte vorstellst, wird sie dir dazu verhelfen, einen Gentleman zu heiraten.«

Seine Schwester wurde unvermittelt still und versank in ein brütendes Schweigen. Abraham schwatzte weiter, mehr aus Freude am Plaudern, als um Gehör zu finden, so daß die Versonnenheit seiner Schwester keine Rolle spielte. Er lehnte sich gegen die Bienenstöcke zurück und machte mit emporgerichtetem Gesicht seine Bemerkungen über die Sterne, deren kalte Pulse droben in den schwarzen Räumen schlugen, still erhaben über diese beiden flackernden Flämmchen menschlichen Lebens. Er fragte, wie weit diese funkelnden Lichter entfernt seien und ob Gott jenseits von ihnen wohne. Doch immer wieder irrte sein kindliches Geplapper zu jener Sache zurück, die auf seine Phantasie noch tieferen Eindruck gemacht hatte als die Wunder der Schöpfung. Wenn die Heirat mit einem Gentleman Tess reich machte, würde sie dann genug Geld haben, um ein so großes Fernglas zu kaufen, daß es die Sterne so nahe heranbrächte wie den Nettlecombe-Tout?

Dieses von neuem auftauchende Thema, das die ganze Familie verseucht zu haben schien, erfüllte Tess mit Ungeduld.

»Laß das jetzt sein!« rief sie.

»Hast du gesagt, die Sterne sind Welten, Tess?«

»Ja.«

»Alle wie die unsere?«

»Ich weiß nicht; aber ich glaube wohl. Manchmal scheinen sie den Äpfeln auf unserem Reinettenbaum zu gleichen. Die meisten sind glänzend und gesund – ein paar aber vom Mehltau zerfressen.«

»Auf was für einem Stern leben wir – auf einem glänzenden oder auf einem verdorbenen?«

»Auf einem verdorbenen.«

»Das ist ein rechtes Unglück, daß wir uns nicht auf einem gesunden angesiedelt haben, wenn es doch so viele gab.«

»Ja.«

»Ist es wirklich so, Tess?« sagte Abraham und wandte sich zu ihr, sehr interessiert, als er diese seltsame Kunde überdachte. »Wie wär’s gewesen, wenn wir uns auf einem gesunden angesiedelt hätten?«

»Nun, Vater würde nicht gehustet haben und nicht so herumgeschlichen sein wie jetzt, und er wäre nie zu betrunken, um diesen Weg zu machen; und Mutter würde nicht immerfort waschen, ohne jemals fertig zu werden.«

»Und du würdest eine fix und fertige reiche Dame sein und müßtest nicht erst durch die Heirat mit einem Gentleman reich gemacht werden.«

»Ach, Aby, sprich nicht – sprich nicht wieder davon!«

Seinen Gedanken überlassen, wurde Abraham bald schläfrig. Tess war nicht sehr geschickt im Lenken eines Pferdes, doch sie glaubte, daß sie fürs erste die ganze Führung des Wagens auf sich nehmen und Abraham erlauben könnte, ein wenig zu schlafen, wenn er Lust dazu habe. Sie richtete ihm vor den Bienenstöcken eine Art Lager her, so daß er nicht herabfallen konnte, nahm dann das Leitseil selber in die Hand und fuhr in langsamem Trott wie zuvor des Weges.

Prinz beanspruchte nur geringe Achtsamkeit, da es ihm zu allen überflüssigen Sprüngen an Energie fehlte. Als Tess nicht mehr durch einen Gesellschafter abgelenkt wurde, versank sie noch tiefer in Träumereien, den Rücken gegen die Körbe gelehnt. Die stumme Prozession der Bäume und Hecken, die an ihr vorüberzog, verband sich mit phantastischen Szenen jenseits der Wirklichkeit, und die gelegentlichen Stöße des Windes wurden zu Seufzern irgendeiner unermeßlichen, traurigen Seele, die bis an die Grenzen des Weltalls reichte und die Jahrhunderte der Geschichte umspannte.

Als sie dann die sich kreuzenden Fäden ihres eigenen Lebens verfolgte, schien sie zu erkennen, wie nichtig ihres Vaters Stolz war; es war ihr, als sähe sie in der Phantasie ihrer Mutter den vornehmen Bräutigam auf sie warten, sähe sein verzerrtes Gesicht, wie er ihre Armut verlacht und ihre in Leichentücher gehüllten ritterlichen Ahnen. Immer merkwürdiger und sinnloser wurde alles, und sie merkte nicht mehr, wie die Zeit verstrich. Ein plötzlicher Stoß erschütterte sie auf ihrem Sitz, und Tess erwachte aus dem Schlummer, in den auch sie gefallen war.

Sie hatten sich ein gutes Stück weiterbewegt, seit ihr das Bewußtsein entschwunden war, und der Wagen stand still. Ein hohles Stöhnen, wie sie es ähnlich noch nie in ihrem Leben gehört hatte, drang von vorne an ihr Ohr, gefolgt von einem lauten Rufe: »Heda, ho!«

Die Laterne an ihrem Wagen war ausgegangen, aber eine andere leuchtete ihr ins Gesicht – viel heller, als ihre eigene geleuchtet hatte. Irgend etwas Schreckliches war geschehen. Das Geschirr hatte sich in eine schwarze Masse verstrickt, die den Weg versperrte.

Bestürzt sprang Tess hinunter und entdeckte die fürchterliche Wahrheit. Das Stöhnen kam von ihres Vaters armem Pferde Prinz. Die Morgenpost mit ihren zwei lautlosen Rädern, die wie immer gleich einem Pfeil diese Straßen entlangsauste, war in ihr langsames und unbeleuchtetes Fuhrwerk hineingefahren. Die spitze Deichsel des Postwagens drang wie ein Schwert in die Brust des unglücklichen Prinz, und aus der Wunde schoß in einem Strom sein Lebensblut hervor und sprudelte zischend auf die Straße.

In ihrer Verzweiflung sprang Tess nach vorne und legte die Hand auf die offene Wunde, was nur dazu führte, daß sie vom Gesicht bis zum Rocksaum mit den purpurnen Tropfen bespritzt wurde. Dann stand sie da und schaute hilflos zu. Auch Prinz stand fest und regungslos, solange er konnte; bis er plötzlich schwer in sich zusammenfiel.

Inzwischen war der Postkutscher herbeigekommen und begann, den heißen Körper Prinz’ hin und her zu zerren und ihn auszuschirren. Doch das Pferd war tot; und als der Postkutscher sah, daß er jetzt nichts weiter tun konnte, kehrte er zu seinem eigenen Tier zurück, das unverletzt geblieben war.

»Ihr seid auf der falschen Seite gefahren«, sagte er. »Ich muß mit den Postsäcken weiter, und so ist es das beste für euch, wenn ihr hier mit eurer Ladung wartet. Sobald ich kann, schicke ich euch jemand zu Hilfe. Bald wird es tagen, und ihr habt nichts zu fürchten.«

Er stieg auf den Bock und jagte seines Weges davon, während Tess stand und wartete. Die Schwärze der Nacht verblaßte, die Vögel in den Hecken schüttelten sich, erwachten und zwitscherten, die Straße zeigte ihr weißes Antlitz und Tess das ihre, das noch weißer war. Der ungeheure Bluttümpel vor ihr begann bereits zu gerinnen und irisierend zu schillern; und als die Sonne aufging, strahlten eine Million prismatischer Farben aus ihm empor. Prinz lag auf der Seite, still und starr; seine Augen standen halb offen, und das Loch in seiner Brust sah so klein aus, daß man kaum glauben konnte, es habe alles, was ihn beseelte, entströmen lassen.

»Das hab’ ich angerichtet – alles ich!« rief das gequälte Mädchen und starrte verloren auf das Schauspiel. »Keine Entschuldigung gibt es für mich – keine. Wovon werden Vater und Mutter jetzt leben? Aby, Aby!« Sie schüttelte das Kind, das das ganze Unglück verschlafen hatte. »Wir können nicht weiter mit unserer Ladung – Prinz ist getötet!«

Als Abraham alles erfaßt hatte, zeigten sich plötzlich, wie aus dem Stegreif, die Runzeln eines Fünfzigjährigen in seinem jungen Gesicht.

»Ja, erst gestern tanzte und lachte ich!« fuhr sie zu sich selber fort. »Zu denken, daß ich solch ein Dummkopf war!«

»’s ist bloß, weil wir auf einem verdorbenen Stern sind und nicht auf einem gesunden, nicht wahr, Tess?« murmelte Abraham durch seine Tränen.

In stumpfer Verstörtheit warteten sie eine Spanne Zeit, die endlos erschien. Endlich bewiesen ihnen ein Geräusch und nahende Gestalten, daß der Kutscher des Postwagens Wort gehalten hatte. Ein Bauersmann aus dem nahen Stourcastle kam herbei, einen kräftigen Klepper am Zügel führend. Das Pferd wurde an Prinz’ Stelle vor den Wagen mit den Bienenstöcken geschirrt und die Fracht nach Casterbridge befördert.

Der Abend desselben Tages sah den leeren Wagen wieder die Unfallstelle erreichen. Seit dem Morgen hatte Prinz hier im Graben gelegen; doch mitten auf der Straße war immer noch der Blutfleck sichtbar, wenn auch zerscharrt und durchfurcht von den vorüberrollenden Rädern. Alles, was von Prinz geblieben war, wurde in den Wagen gehoben, den er ehemals selbst gezogen hatte, und, die Hufe in die Luft gestreckt, mit schimmernden Eisen im Schein der untergehenden Sonne, legte er das Dutzend Meilen nach Marlott zurück.

Tess war schon früher heimgegangen. Wie sie die Nachricht überbringen sollte – das konnte sie sich nicht vorstellen. Es war eine Erlösung für ihre Zunge, als sie aus den Gesichtern ihrer Eltern ersah, daß sie bereits von ihrem Verluste wußten; aber es entkräftete nicht die Selbstvorwürfe, mit denen sie sich immer noch überhäufte, weil sie so nachlässig gewesen war, einzuschlafen.

Doch gerade die hilflose Zerfahrenheit des Haushalts machte das Unglück für die Durbeyfields weniger schrecklich, als es auf eine strebsame Familie wirken müßte, obgleich es hier den völligen Ruin mit sich brachte, dort aber nur einen beschwerlichen Nachteil bedeuten würde. In den Mienen der Durbeyfields zeigte sich nichts von dem glühenden Zorn, der in Eltern, die ihr zeitliches Wohl hitziger verfolgen, gegen das Mädchen entbrannt wäre. Niemand tadelte Tess so sehr, wie sie sich selber tadelte.

Als sich herausstellte, daß der Abdecker und der Gerber für Prinz’ Kadaver nur ein paar Schillinge geben wollten, weil er so alt und abgerackert war, da zeigte sich Durbeyfield dem Anlaß gewachsen.

»Nein«, sagte er stoisch, »ich will seinen alten Leib nicht verkaufen. Als wir D’Urbervilles Ritter im Lande waren, haben wir unsere Schlachtrösser nicht als Katzenfutter verkauft. Sollen sie ihre Schillinge behalten! Er hat mir bei seinen Lebzeiten ehrlich gedient, und ich will mich jetzt nicht von ihm trennen.«

Am nächsten Tag grub er im Garten ein Grab für Prinz und plagte sich eifriger, als er sich seit Wochen geplagt hatte, wenn es galt, das Korn für seine Familie anzubauen. Als die Grube fertig war, schlangen Durbeyfield und sein Weib einen Strick um das Pferd und zerrten es den Pfad entlang, während die Kinder hinterdrein liefen.

Abraham und Lisa-Lu schluchzten, Hope und Modesty machten ihrem heftigen Kummer in lautem Geplärr Luft, das von den Wänden widerhallte; und als sie Prinz hineingewälzt hatten, versammelten sie sich alle rund um das Grab des Pferdes. Der Ernährer war ihnen entrissen worden; was würden sie jetzt anfangen?

»Ist er in den Himmel gegangen?« fragte Abraham schluchzend.

Dann begann Durbeyfield die Erde einzuschaufeln, und die Kinder weinten von neuem. Alle außer Tess. Ihr Gesicht war trocken und bleich, als stünde sie vor sich selber wie eine Mörderin da.