1. Phase

Das Mädchen

ornament

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Eines Abends in den letzten Tagen des Mai wanderte ein Mann mittleren Alters heimwärts von Shaston nach dem Dörfchen Marlott im benachbarten Tale von Blakemore oder Blackmoor. Die zwei Beine, die ihn trugen, waren wacklig, und es lag eine Schiefe in seinem Gang, die ihn immer wieder von der geraden Linie nach links hinüberlockte. Ab und zu nickte er scharf mit dem Kopf, als wollte er irgendeine Ansicht bekräftigen, aber er dachte sich nichts Besonderes. Ein leerer Eierkorb hing in seinem Arm, der Stoff seines Hutes war zerknüllt, und an jener Stelle des Randes, wo sein Daumen beim Grüßen hintippte, zeigte sich ein abgeschabter Fleck. Es dauerte nicht lange, und er begegnete einem älteren Pfarrgeistlichen, der auf einer grauen Stute saß und im Reiten ein Wanderlied vor sich hinsummte.

»’n Abend«, sagte der Mann mit dem Korb.

»Guten Abend, Sir John«, erwiderte der Pfarrer.

Nach ein oder zwei Schritten blieb der Fußgänger stehen und drehte sich um.

»Mit Verlaub, Herr: den letzten Markttag haben wir uns um diese Zeit hier auf der Straße getroffen, und ich sagte ›guten Abend‹, und Sie gaben zur Antwort ›guten Abend, Sir John‹, gerade wie jetzt.«

»Ja«, sagte der Pfarrer.

»Und schon früher mal – vor ’nem Monat vielleicht.«

»Kann sein.«

»Nun, was können Sie bloß damit meinen, daß Sie mich immer wieder Sir John nennen, und bin doch bloß der simple Jack Durbeyfield, der Höker?«

Der Pfarrer ritt einen oder zwei Schritte näher.

»Es war nur eine Laune«, sagte er; und nach einem momentanen Zögern: »Es geschah auf Grund einer Entdeckung, die ich vor ganz kurzer Zeit gemacht habe, als ich nach Stammbäumen für die neue Geschichte der Grafschaft stöberte. Ich bin Pfarrer Tringham, der Altertumsforscher, aus Stagfoot Lane. Wissen Sie wirklich nicht, Durbeyfield, daß Sie der direkte rechtmäßige Stammhalter der alten Ritterfamilie D’Urberville sind, die ihre Abstammung von Sir Pagan D’Urberville herleitet, dem berühmten Ritter, der mit Wilhelm dem Eroberer aus der Normandie kam? So liest man es in der Chronik von Battle Abbey.«

»Nie davon gehört.«

»Nun, ’s ist wahr. Halten Sie einen Augenblick Ihr Kinn in die Höhe, damit ich Ihr Profil deutlicher sehe. Ja, das ist die Nase und das Kinn der D’Urbervilles – ein bißchen degeneriert. Ihr Ahnherr war einer von den zwölf Rittern, die den Lord von Estremavilla aus der Normandie bei der Eroberung von Glamorganshire unterstützten. Überall in dieser Gegend von England hatten Zweige Ihrer Familie ihre Güter; ihre Namen erscheinen in den Schatzkammerrollen aus der Zeit König Stephans. Unter der Regierung König Johanns war einer von ihnen so reich, daß er den Maltesern ein Lehngut schenkte; und zu Zeiten Eduards II. wurde Ihr Vorfahr Brian nach Westminster berufen, um an dem großen Staatsrat teilzunehmen. In den Tagen Oliver Cromwells kam die Familie ein wenig herunter, aber nicht in ernstlicherem Maße, und unter der Regierung Karls II. ernannte man euch wegen eurer Königstreue zu Rittern von der Königlichen Eiche. Es hat Generationen von Sir Johns unter euch gegeben, und wenn die Ritterschaft erblich wäre wie eine Baronie – und so war es tatsächlich in alten Zeiten, als die Ritterwürde vom Vater auf den Sohn überging –, nun, so würden Sie heute Sir John sein.«

»Was Sie nicht sagen!« murmelte Durbeyfield.

»Kurz«, schloß der Pfarrer und klatschte entschieden mit seiner Gerte über den Schenkel, »es gibt kaum noch eine zweite solche Familie in ganz England.«

»Schlag doch der Blitz drein, und gibt’s keine zweite?« sagte Durbeyfield. »Und da treib’ ich mich hier herum, Jahr um Jahr, von einem Winkel in den andern, als wär’ ich nichts Beßres als der schäbigste Kerl im Kirchspiel … Und wie lang hat man die Neuigkeit über mich schon ’raus, Pastor Tringham?«

Der Geistliche erklärte, soviel er wisse, sei es ganz aus dem Gedächtnis der Leute entschwunden, und man könne kaum sagen, daß es überhaupt bekannt war. Seine eigenen Nachforschungen begannen eines Tages im vergangenen Frühling, als er sich damit befaßte, den wechselnden Schicksalen der D’Urberville-Familie nachzuspüren, und Durbeyfields Namen auf seinem Wagen bemerkte; dies veranlaßte ihn, Erkundigungen einzuziehen, bis schließlich an der Sache nicht mehr zu zweifeln war.

»Anfangs nahm ich mir vor, Sie nicht durch eine so unnütze Mitteilung zu beunruhigen«, sagte er. »Doch zuweilen sind unsere Impulse stärker als unser Verstand. Ich dachte, Sie könnten vielleicht schon die ganze Zeit her davon wissen.«

»Ja, ’s ist wahr, ich hab’ ein- oder zweimal gehört, daß meine Familie bessere Tage gesehen hat, bevor sie nach Blackmoor gekommen ist. Aber ich scherte mich nicht drum; glaubte, das solle bloß heißen, daß wir früher einmal zwei Rösser im Stall hatten, während wir jetzt nur eines haben. Ich hab’ auch ’nen uralten Silberlöffel zu Hause und ein uraltes Wappensiegel; aber mein Gott, was ist schon ein Wappensiegel? … Und wenn man bloß denkt, daß ich und diese nobligen D’Urbervilles immer und alleweil vom selben Fleisch und Blut waren! ’s hieß, mein Urgroßvater hatte allerlei Geheimnisse, und er wollt’ nicht mit der Sprache heraus, von wo er her ist … Und wo stehen unsere Zelte, Pastor, wenn ich so frei sein darf; ich meine, wo hausen wir D’Urbervilles?«

»Ihr haust nirgends. Ihr seid erloschen – erloschen als Adelsfamilie.«

»Schlimm, schlimm.«

»Ja – die lügnerischen Familienchroniken nennen es ›erloschen in der männlichen Linie‹ – das heißt, untergegangen – verschwunden.«

»Nun dann, wo liegen wir begraben?«

»In Kingsbere-sub-Greenhill: Reihen um Reihen von euch in euren Grüften, mit euren Monumenten unter einem Baldachin von grauem Marmor.«

»Und wo sind unsere Familiengüter und Besitzungen?«

»Ihr habt keine.«

»Oh! Und auch kein Land?«

»Nein; obwohl ihr früher einmal reichlich genug davon hattet, wie ich schon sagte, denn eure Familie bestand aus zahlreichen Linien. In dieser Grafschaft gab’s einen Landsitz von euch zu Kingsbere, einen zweiten zu Sherton, einen dritten zu Millpond, einen vierten zu Lullstead und einen fünften zu Wellbridge.«

»Und werden wir jemals wieder zu dem Unsern kommen?«

»Oh – das kann ich nicht wissen!«

»Und was tu’ ich am besten in dieser Sache, Herr?« fragte Durbeyfield nach einer Pause.

»Oh – nichts, nichts; kasteit euch bloß mit dem Gedanken – ›wie sind die Mächtigen der Erde gestürzt‹! Es ist ein einigermaßen interessanter Fall für den Lokalhistoriker und Genealogen, nichts weiter. Unter den Häuslern dieser Grafschaft gibt es mehrere Familien, die fast ebenso glanzvoll sind. Guten Abend.«

»Aber wollen Sie nicht umkehren und ein Glas Bier mit mir auf den Anlaß genehmigen, Pastor Tringham? Im ›Reinen Tropfen‹ haben sie ein sehr feines Gebräu angezapft – freilich ganz sicher nicht so gut wie bei Rolliver.«

»Nein, danke – nicht heute abend, Durbeyfield. Sie haben bereits genug.« Mit diesen Worten ritt der Pfarrer seines Weges, von Zweifeln erfüllt, ob es klug gewesen, diese kuriose Neuigkeit auszuplaudern.

Als er fort war, ging Durbeyfield einige Schritte in tiefe Träume versunken weiter, setzte sich dann auf einen grasbewachsenen Hügel am Straßenrand und stellte seinen Korb vor sich hin. Nach wenigen Minuten tauchte in der Ferne ein Bursche auf, der dieselbe Richtung einschlug, wie sie Durbeyfield zuvor verfolgt hatte. Als dieser ihn erblickte, hob er die Hand, und der Bursche beschleunigte seinen Schritt und kam näher.

»Junge, nimm den Korb da! Sollst für mich ’nen Auftrag besorgen.«

Das spindeldürre Bürschchen runzelte die Stirn. »Wer sind Sie denn, John Durbeyfield, daß Sie mit mir herumkommandieren und mich Junge nennen? Sie kennen meinen Namen ebensogut wie ich den Ihrigen!«

»Wirklich, wirklich? Da liegt das Geheimnis – da liegt das Geheimnis! Nun, parier mir schön, und hör zu, was ich dir für eine Botschaft aufgeben will. Also, Fred, ich will dir’s rundheraus sagen – das Geheimnis ist, daß ich von adligem Blut stamme – ich hab’ es gerade zuvor an diesem heutigen Nachmittag entdeckt; per Eilpost.« Und als Durbeyfield dies verkündete, sank er aus seiner sitzenden Stellung zurück und streckte sich wollüstig auf der Rasenbank mitten unter den Gänseblümchen aus.

Der Bursche stand vor Durbeyfield und betrachtete nachdenklich seine hingegossene Gestalt vom Scheitel bis zur Sohle.

»Sir John D’Urberville – das bin ich«, fuhr der Mann auf der Erde fort. »Das heißt, wenn Ritter Barone wären – was sie sind. ’s steht alles über mich in der Historie aufgeschrieben. Kennst du ’nen Ort, Junge, wie Kingsbere-sub-Greenhill?«

»Ja. Bin auf dem Jahrmarkt in Greenhill gewesen.«

»Nun, siehst du, unter der Kirche von dieser Stadt, da liegen –«

»’s ist keine Stadt, der Ort, wo ich meine; wenigstens war’s keine, als ich hinkam – ’s war ein kleines einäugiges, schielendes Nest.«

»Kümmere dich nicht um den Ort, Junge, nicht darum handelt es sich jetzt. Unter der Kirche von diesem Dorf liegen meine Vorfahren – Hunderte von ihnen in Panzerhemden und voller Juwelen, in großen Bleisärgen, die Tonnen und Tonnen wiegen. ’s gibt keinen Mann in der Grafschaft Südwessex, der grandiosere oder noblere Gerippe in seiner Familie hat als ich.«

»Oh?«

»So, jetzt nimm diesen Korb da und trab weiter nach Marlott, und wenn du zum Wirt vom ›Reinen Tropfen‹ kommst, so sag ihm, er soll auf der Stelle Pferd und Wagen zu mir schicken, um mich nach Hause zu kutschieren. Und in den Sitzkasten vom Wagen soll er ein Nößel Rum in einer kleinen Flasche verstauen und soll mir’s ankreiden. Und wenn du fertig bist, dann lauf mit dem Korb zu meinem Haus und sag meinem Weib, sie soll mit dem Waschen aufhören, weil sie’s nicht zu Ende zu schaffen braucht, und sie soll warten, bis ich nach Haus komme, denn ich hab’ ihr was Neues zu erzählen.«

Als der Bursche in zweifelnder Haltung stehenblieb, schob Durbeyfield die Hand in die Tasche und zog einen Schilling hervor, einen von den verhältnismäßig wenigen, die er besaß.

»Das ist für deine Mühe, Junge.«

Dies veranlaßte den jungen Mann, den Stand der Dinge anders einzuschätzen.

»Ja, Sir John. Danke sehr. Noch etwas, was ich für Sie tun kann, Sir John?«

»Sag ihnen zu Hause, ich möchte zum Nachtmahl – nun, Lämmerbraten, wenn’s zu haben ist; und wenn sie’s nicht auftreiben können, dann Blutwurst; und wenn auch das nicht, nun, Kutteln werden’s auch tun.«

»Ja, Sir John.«

Der Junge hob den Korb auf, und als er sich in Bewegung setzte, klangen vom Dorfe herüber die Töne eines Blasorchesters.

»Was ist das?« fragte Durbeyfield. »Doch nicht wegen mir?«

»’s ist der Frauenvereinsumzug, Sir John. Ihre Tochter gehört ja zu den Mitgliedern.«

»Richtig – hab’s ganz vergessen, weil mir größere Dinge im Kopf herumgehn! Nun, mach dich auf die Strümpfe nach Marlott, vorwärts, und bestell mir den Wagen, und vielleicht fahr’ ich ’rüber und schau’ mal im Verein nach.«

Der Bursche entfernte sich, und Durbeyfield lag wartend, von der Abendsonne beschienen, in Gras und Gänseblümchen. Lange Zeit hindurch kam keine Menschenseele des Weges vorüber, und die schwachen Klänge des Orchesters waren die einzigen Laute, die im Kranz der blauen Hügel dem Ohr die Gegenwart von Menschen verkündeten.