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Das Dörfchen Marlott liegt inmitten der nordöstlichen Bodenwellen des schönen Tales von Blakemore oder Blackmoor, von dem schon oben die Rede war, eine von Bergen umringte und abgeschlossene Gegend, die zum größten Teile bisher noch nie der Fuß eines Ausflüglers oder Landschaftsmalers betreten hat, obwohl sie in vier Stunden von London aus zu erreichen ist.

Am besten lernt man dieses Tal kennen, wenn man von den Gipfeln der Hügel, die es umschließen, hinabschaut – außer vielleicht zur Zeit der sommerlichen Dürre. Wenn man aber bei schlechtem Wetter führerlos in seinen Tiefen umherstreift, kann es einem leicht geschehen, daß die schmalen, gewundenen und schmutzigen Pfade eine verdrießliche Enttäuschung bereiten.

Dieser fruchtbare und geschützte Landstrich, wo die Felder niemals braun und die Quellen niemals trocken sind, wird nach Süden durch die steil aufragende Kette von Kreidefelsen begrenzt, welche die Gipfel von Hambledon Hill, Bulbarrow, Nettlecombe-Tout, Dogbury, High Stoy und Dubb Down enthält. Der Wanderer, der sich von der Küste her nordwärts etwa zwanzig Meilen weit durch kalkhaltige Dünen und Getreidefelder hindurchgearbeitet hat und dann plötzlich den Rand einer dieser steilen Böschungen erreicht, ist überrascht und entzückt, wenn er, wie eine Landkarte, zu seinen Füßen ausgebreitet eine Landschaft erblickt, die so völlig verschieden ist von der Gegend, die er eben durchschritten hat. Hinter ihm öffnen sich die Hügel, die Sonne brennt auf Felder herab, die so groß sind, daß sie der Landschaft den Charakter freien Landes geben, die schmalen Wege schimmern weiß; niedrig und dicht verflochten, stehen die Hecken, und die Luft ist durchsichtig klar. Hier in diesem Tal scheint die Welt nach kleineren und zarteren Maßen erschaffen zu sein; die Felder sind bloße Beete und so zusammengeschrumpft, daß von dieser Höhe ihre Rainhecken wie ein Netzwerk von dunkelgrünen Fäden wirken, die das blassere Grün des Grases überspreiten. Die Atmosphäre in den unteren Schichten ist dunstig schwer und so mit azurner Bläue durchtränkt, daß auch die mittleren Partien, wie es die Maler nennen, diese Färbung übernehmen, während jenseits der Horizont in tiefstem Ultramarin leuchtet. Die pflugbaren Äcker sind spärlich und eng begrenzt; mit nur geringen Ausnahmen zeigt sich dem Blick eine einzige mächtige und üppige Masse von Gras und Bäumen, die viele kleinere Hügel und die Schluchten der größeren überzieht. So sieht das Tal von Blackmoor aus.

Der Distrikt bietet topographisches und in nicht geringerem Maße auch historisches Interesse. Das Tal war in früheren Zeiten bekannt als der Forst des Weißen Hirschen, auf Grund einer merkwürdigen Legende aus der Regierungszeit König Heinrichs III.; damals tötete ein gewisser Thomas de la Lynd einen wunderschönen weißen Hirsch, den der König gestellt und verschont hatte, was dem Jäger eine schwere Geldbuße eintrug. In jenen Tagen, und noch bis zu einer verhältnismäßig jüngeren Zeit, war der Landstrich dicht bewaldet. Selbst heute noch findet man Spuren des früheren Zustands in den alten Eichengehölzen, in den unregelmäßigen Waldstreifen, die auf den Abhängen stehenblieben, und in den hohlen Baumstämmen, die so viele von den Weideplätzen überschatten.

Die Wälder sind verschwunden, doch einige alte Bräuche aus ihrem Schattendüster haben sich erhalten. Zahlreiche freilich leben nur noch in verwandelten oder verschleierten Formen weiter. Den Maientanz zum Beispiel konnte man an dem Nachmittag, von dem hier die Rede ist, unter der Marke des Vereinsfestes oder, wie sie es nannten, »Vereinsumgangs« erkennen.

Es war ein bedeutsames Ereignis für die jüngeren Bewohner von Marlott, obgleich die Teilnehmer an der Zeremonie seinen wirklichen Reiz nicht bemerkten. Seine einzigartige Merkwürdigkeit lag weniger in der Beibehaltung des alten Brauches, an jedem Jahrestag in Prozession umherzuziehen und zu tanzen, als in dem Umstand, daß die Teilnehmer ausschließlich aus Frauen bestanden. In Männervereinen waren solche Feierlichkeiten weniger ungewöhnlich, wenn sie auch langsam ausstarben; doch die natürliche Scheu des sanfteren Geschlechts oder aber eine sarkastische Einstellung von seiten der männlichen Verwandten hat derartige Frauenvereine, soweit sie sich (und wenn dies überhaupt noch anderswo der Fall ist) erhielten, ihres Glanzes und ihrer vollen Lebendigkeit beraubt. Nur noch der Verein von Marlott fristete sein Dasein, um die lokale Tradition der ländlichen Feste aufrechtzuerhalten. Er hatte Hunderte von Jahren hindurch seine Umzüge veranstaltet und veranstaltete sie immer noch.

Die Mitglieder des Bundes waren alle in weiße Gewänder gekleidet – ein heiterer Überrest aus alten Zeiten, als Fröhlichkeit und Maienzeit gleichbedeutende Ausdrücke waren und als noch nicht die Gewohnheit, zu grübeln und zu berechnen, alle Regungen des Gemüts auf einen eintönigen Durchschnitt herabgedrückt hatte. Zu allererst zeigten sie sich den Schaulustigen, wenn sie in einer Prozession, je zwei und zwei, rund um das Kirchspiel marschierten. Ideal und Wirklichkeit standen in leisem Widerspruch, als so die Sonne ihre Gestalten gegen die grünen Hecken und efeuumschlungenen Häuserfronten abzeichnete; denn wenn auch die ganze Schar weiße Gewänder trug, waren doch nicht zwei von den Farben einander gleich. Einige näherten sich einem reinen Blütenweiß; andere zeigten ein bläßliches Blau; andere wieder, die von den älteren Jahrgängen getragen wurden (und vielleicht viele Jahre zusammengefaltet im Schrank gelegen hatten), spielten in eine Schattierung von leichenhaftem Grau hinüber und gemahnten an die Mode aus Georgs Zeiten.

Außer dem Abzeichen des weißen Kleides trugen noch jede Frau und jedes Mädchen in der rechten Hand einen geschälten Weidenzweig und in der linken einen Strauß weißer Blumen. Das Schälen des Zweiges und die Auswahl der Blumen war der persönlichen Sorgfalt der Trägerin anvertraut.

In dem Zuge befanden sich ein paar Frauen in mittleren Jahren, ja, auch einige höheren Alters, und ihr von Silberfäden durchzogenes Haar und die verrunzelten, von Zeit und Sorgen mitgenommenen Gesichter boten in diesem lustigen Kreise fast einen grotesken und sicherlich einen rührenden Anblick. Wenn man es recht bedenkt, war vielleicht von jeder der kummervollen und geprüften Frauen, die sich den Jahren näherten, da sie sagen werden: »Es macht mir keine Freude«, mehr zu erfahren als von ihren jugendlichen Gefährtinnen und wohl auch mehr über sie zu sagen. Aber wir wollen die älteren hier beiseite treten lassen zugunsten jener, unter deren Mieder ein rasches und warmes Herz pocht.

Freilich bildeten die jungen Mädchen die Mehrzahl, und das üppige Haar auf ihren Köpfen leuchtete unter dem Sonnenschein in allen Schattierungen von Gold, Schwarz und Braun. Einige hatten schöne Augen, andere eine schöne Nase, einen schönen Mund oder eine schöne Gestalt; nur wenige, oder vielleicht gar keine, besaßen alles. Deutlich sah man, wie schwierig es ihnen wurde – so preisgegeben den neugierigen und forschenden Augen der Menge –, ihren Lippen den richtigen Ausdruck zu verleihen, wie wenig sie imstande waren, den Kopf aufrecht zu tragen und die Befangenheit aus ihren Mienen zu verbannen; das alles zeigte, daß sie echte Landmädchen waren, ungewohnt der vielen gaffenden Blicke.

Und wie sie alle sich der Himmelssonne erfreuten, so besaß auch noch jede einzelne eine geheime kleine Sonne, an der sie ihre Seele wärmte: irgendeinen Traum, eine Neigung, irgendein Steckenpferd, zumindest eine ferne und leise Hoffnung, die vielleicht langsam Hungers sterben mußte und dennoch ihr Dasein fristete, wie die Hoffnung immer und überall. So waren sie denn alle heiter und viele von ihnen lustig.

Sie kamen auf ihrem Rundgang an dem Wirtshaus »Zum Reinen Tropfen« vorüber und bogen eben von der Landstraße ab, um durch ein Lattentor auf die Wiesen hinauszuziehen, als eine von den Frauen sagte:

»Oh, meine Güte! Tess Durbeyfield, da vorn kommt ja wahrhaftig dein Vater in einem Wagen nach Hause gefahren!«

Bei diesem Ausruf wandte ein junges Mitglied des Bundes den Kopf. Sie war ein schlankes und hübsches Mädchen – vielleicht nicht hübscher als einige andere –, doch ihr lebendiger Rosenmund und ihre großen unschuldigen Augen verliehen ihrer Gestalt einen beredten Zauber. Sie trug im Haar ein rotes Band und war die einzige aus der weißen Schar, die sich eines solch auffälligen Schmuckes rühmen konnte. Als sie sich umsah, erblickte sie Durbeyfield, wie er die Straße entlang in einer Kutsche aus dem »Reinen Tropfen« einherrollte, und auf dem Bock saß eine kraushaarige stämmige Dirne, die Blusenärmel bis über die Ellbogen aufgeschlagen. Dies war die muntere Magd jenes Gasthauses, die in ihrer Rolle als Faktotum zuweilen auch den Stallknecht und Kutscher spielte. Durbeyfield, tief zurückgelehnt und mit behaglich geschlossenen Augen, schwenkte die Hand über dem Kopf und sang in langsamem Rezitativ:

»In Kingsbere – hab’ – ich – eine – große – Familiengruft – und – Ritterahnen – in – bleiernen – Särgen.«

Die ganze Schar kicherte, nur das Mädchen nicht, das Tess genannt wurde – und es schien ihr langsam heiß in den Kopf zu steigen, als sie fühlte, daß ihr Vater sich vor aller Augen lächerlich mache.

»Er ist müde, nichts weiter«, sagte sie hastig, »und man hat ihn auf den Wagen genommen, weil unser eigenes Pferd heute rasten muß.«

»Himmlische Einfalt, Tess«, riefen ihre Gefährtinnen. »Er hat seinen Marktdusel. Ha-ha!«

»Paßt auf, ich gehe keinen Zoll weiter mit euch, wenn ihr Scherze über ihn macht!« Tess rief es laut, und die Farbe ihrer Wangen verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht und über den Hals. Ihre Augen wurden feucht, und sie senkte den Blick zur Erde. Als die andern bemerkten, daß sie sie wirklich verletzt hatten, sagten sie kein Wort mehr, und wieder herrschte Ordnung. Tess’ Stolz erlaubte ihr nicht, noch einmal den Kopf zu wenden, um zu erfahren, was ihr Vater vorhatte, wenn er sich überhaupt etwas dachte; und so schritt sie mit der ganzen Schar weiter der Umzäunung zu, wo der Tanz auf dem grünen Rasen vor sich gehen sollte. Als dieser Platz erreicht war, hatte sie ihren Gleichmut wieder zurückgewonnen, schlug mit ihrem Stäbchen nach der Nachbarin und plauderte wie früher.

In diesem Abschnitt ihres Lebens stand Tess Durbeyfields Herz noch allen Regungen offen, unberührt von jeder Erfahrung. Beim Sprechen merkte man ihr bis zu einem gewissen Grade den Dialekt an, trotz der Dorfschule: Charakteristisch für den Dialekt dieser Gegend ist ein Laut, der sich annähernd durch die Silbe ur wiedergeben läßt, und sein Klang ist vielleicht nicht weniger reich und ausdrucksvoll als irgendeiner, den man in menschlicher Sprache finden kann. Der aufgeworfene, tiefrote Mund, dem diese Silbe angeboren war, hatte wohl schwerlich schon seine endgültigen Umrisse erhalten, und nach jedem Wort, wenn sich die Lippen wieder schlossen, schob die Unterlippe die obere ein wenig in die Höhe.

Immer noch zeigten sich in ihrer Erscheinung huschend und verstohlen die Phasen ihrer Kindheit. Wie sie so an diesem Tage einherging, konnte man zuweilen – trotz all ihrer gesunden, schönen Weiblichkeit – ihr zwölftes Lebensjahr auf ihren Wangen oder ihr neuntes blitzend in den Augen sehen; und selbst ihr fünftes Jahr huschte hin und wieder über die Krümmung ihres Mundes.

Doch nur wenige wußten dies, und noch weniger Leute machten sich irgendwelche Gedanken darüber. Eine kleine Minderzahl, darunter vor allem Fremde, hefteten wohl einen langen Blick auf sie, wenn sie zufällig vorüberschritt, wurden einen Augenblick lang gefesselt von ihrer Frische und hätten gerne gewußt, ob sie ihr jemals wieder begegnen würden; doch fast für alle war sie nur ein hübsches und malerisches Landmädchen, weiter nichts.

Man hörte und sah nichts weiter von Durbeyfield und seiner Triumphkarosse mit der Stallmagd auf dem Bock, und nachdem die Frauenschar den erwählten Platz betreten hatte, begann der Tanz. Da keine Männer unter der Gesellschaft waren, tanzten die Mädchen anfangs miteinander, doch als die Stunde der Arbeitsruhe heranrückte, versammelten sich die männlichen Bewohner des Dorfes und mit ihnen andere Müßiggänger und vorüberziehende Ausflügler rund um den Rasen und schienen geneigt, Unterhandlungen anzuknüpfen.

Unter diesen Zuschauern befanden sich drei junge Männer von besserem Stande, die kleine Schnappsäcke auf den Rücken geschnallt hatten und feste Stöcke in der Hand trugen. Ihre Ähnlichkeit und die Stufenfolge ihres Alters würde fast jedem die Vermutung aufgedrängt haben, daß sie das sein müßten, was sie wirklich waren, nämlich Brüder. Der älteste trug die weiße Krawatte, die hochgeschlossene Weste und den schmalrandigen Hut des gewöhnlichen Vikars; der zweite war der normale Universitätsstudent; was aus der Erscheinung des dritten und jüngsten sprach, würde kaum ausgereicht haben, um ihn zu charakterisieren. In seinen Blicken und seiner Kleidung lag ein Ausdruck von Ungebundenheit und Unbestimmtheit, der andeutete, daß er sich bisher wohl kaum in die Schablone eines Berufes gefunden hatte. Daß er planlos und flüchtig bald dieses, bald jenes probierte, das hätte man so aufs Geratewohl von ihm behaupten können.

Diese drei Brüder erzählten zufälligen Bekannten, daß sie ihre Pfingstfeiertage auf einer Fußwanderung durch das Tal von Blackmoor verbringen wollten, und ihr Weg führe von der Stadt Shaston nach Nordosten.

Sie lehnten sich über das Gatter an der Straße und erkundigten sich nach der Bedeutung des Tanzes und der weißgekleideten Mädchen. Die zwei älteren Brüder hatten offenbar nicht die Absicht, länger als einen Augenblick zu verweilen, doch der dritte schien an dem Anblick dieses Rudels von Mädchen, die ohne männliche Partner tanzten, Vergnügen zu finden, so daß er keine Eile hatte, weiterzuwandern. Er schnallte seinen Schnappsack ab, legte ihn samt dem Stock auf die Zaunbank und öffnete das Gatter.

»Was hast du vor, Angel?« fragte der älteste.

»Ich habe Lust, einen Tanz mit ihnen zu machen. Warum sollen wir’s nicht alle versuchen? Nur eine oder zwei Minuten – es wird uns nicht lange aufhalten.«

»Nein, nein; Unsinn!« sagte der erste. »Vor allen Leuten mit einer Schar von Bauerndirnen tanzen – wie denn, wenn uns jemand sieht! Vorwärts, oder es wird finster, eh’ wir nach Stourcastle kommen, und das ist der nächste Ort, wo wir schlafen können; außerdem müssen wir noch, bevor wir ins Bett gehen, ein Kapitel aus dem ›Weckruf gegen den Unglauben‹ durcharbeiten, wenn ich mir schon die Mühe gemacht habe, das Buch mitzunehmen.«

»Gut, gut – in fünf Minuten hole ich dich und Cuthbert ein; haltet euch nicht auf; ich gebe dir mein Wort drauf, Felix.«

Die zwei älteren Brüder trennten sich widerstrebend von ihm und schritten weiter; ihres Bruders Schnappsack nahmen sie mit, damit er ihnen schneller folgen könne, und der jüngste betrat den Rasenplatz.

»Das ist ja jammerschade«, sagte er galant zu zwei oder drei von den Mädchen in seiner Nähe, sobald eine Pause in dem Tanz eintrat. »Wo stecken eure Partner, Schönste?«

»Sie sind noch nicht von der Arbeit zurück«, antwortete eine von den Kühnsten. »Mit der Zeit werden sie kommen. Bis dahin – wollen Sie unser Tänzer sein, mein Herr?«

»Gewiß. Aber was ist einer für so viele!«

»Besser als keiner. ’s ist zum Trübseligwerden, immer mit Mädeln trippeln und immer nur Mädel sehn und nichts in den Armen haben. Nun, greifen Sie zu und wählen Sie.«

»Pst – sei nicht so keck!« sagte ein schüchternes Mädchen.

Auf diese Einladung hin musterte der junge Mann die Gruppe mit seinen Blicken und versuchte, eine Auswahl zu treffen; aber da sie ihm alle so fremd waren, gelang es ihm nicht recht. Er nahm fast die erste, die in der Nähe stand, und es war nicht die Sprecherin, obgleich sie darauf gewartet hatte; und es war auch nicht zufällig Tess Durbeyfield. Stammbaum, Gebeine der Ahnherren, das Zeugnis der Monumente, die Züge der D’Urbervilles, das alles hatte Tess bisher noch nicht in ihrem Daseinskampfe geholfen und vermochte nicht einmal, ihr über die Köpfe der gewöhnlichsten Bauerndirnen hinweg einen Tänzer zu verschaffen. So viel über normannisches Blut, dem viktorianischer Reichtum fehlt.

Der Name des Mädchens, das sie in den Schatten stellte, wie immer er auch lauten mochte, wurde nicht überliefert; doch alle beneideten sie als die erste, die an diesem Abend den Luxus eines männlichen Partners genoß. So groß aber war die Macht des Beispiels, daß die jungen Dörfler, die sich, solange noch kein Eindringling im Wege stand, durchaus nicht beeilt hatten, die Pforte zu durchschreiten, jetzt munter hereinströmten; und bald waren die Paare mit Bauernburschen in merklicher Zahl durchsetzt, bis schließlich selbst das unansehnlichste Mädchen des Vereines nicht länger gezwungen war, im Reigen die Rolle des Mannes zu spielen.

Die Kirchenuhr schlug, und plötzlich sagte der Student, er müsse fort – er habe sich vergessen –, er müsse seinen Kameraden nach. Als er die Reihen der Tanzenden verließ, fielen seine Blicke auf Tess Durbeyfield, aus deren großen, runden Augen, um die Wahrheit zu sagen, ein leiser, fast unmerklicher Vorwurf sprach, weil er nicht sie gewählt. Auch ihm tat es jetzt leid, daß er sie ihrer Bescheidenheit wegen übersehen hatte; und diesen Gedanken im Kopf, verließ er den Rasen.

Um seine große Verzögerung wettzumachen, lief er in fliegender Eile den Pfad hinunter nach Westen, und bald lag die Bodenmulde hinter ihm, und er stieg den nächsten Abhang hinan, Noch hatte er seine Brüder nicht eingeholt, aber er blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und blickte zurück. Er konnte in der grünen Umzäunung die weißen Gestalten der Mädchen sehen, wirbelnd im Tanze, wie sie sich gedreht hatten, als er unter ihnen war. Sie schienen ihn bereits ganz vergessen zu haben.

Alle – nur vielleicht eine nicht. Diese weiße Gestalt stand abseits und allein am Zaun. Ihre Stellung sagte ihm, daß sie das hübsche Mädchen sein mußte, mit dem er vorhin nicht getanzt hatte.

So belanglos auch die Sache war, er fühlte instinktiv, daß sein Versehen sie schmerzte. Er wünschte, daß er sie angesprochen hätte; er wünschte, daß er nach ihrem Namen gefragt hätte. Sie war so bescheiden, so seelenvoll und sah so lieblich aus in ihrem dünnen weißen Gewand, daß ihm ein Gefühl sagte, er habe sich dumm benommen.

Aber es ließ sich nicht ändern, und so drehte er sich um, wanderte eiligen Schrittes weiter und ließ den Gedanken fallen.