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Tess schritt den Hügel hinunter zur Trantridger Straßenkreuzung, und gleichgültig nahm sie ihren Platz in dem Wagen ein, der von Chaseborough nach Shaston zurückkehrte. Sie wußte gar nicht, was die andern Insassen bei ihrem Eintritt zu ihr sagten, obgleich sie ihnen Antwort gab; und als das Gefährt sich wieder in Bewegung setzte, fuhr sie achtlos blind dahin, und nur ihr inneres Auge wachte.

Einer der Mitreisenden sprach sie freimütiger an als irgendein anderer zuvor: »Nun, Sie sind ja ein ganzer Blumenstrauß! Und solche Rosen im frühen Juni!«

Da wurde sie erst gewahr, welches Schauspiel sie den überraschten Blicken bot: Rosen an der Brust, Rosen auf dem Hut, Rosen und Erdbeeren bis an den Rand im Korbe. Sie errötete und sagte verwirrt, man habe ihr die Blumen geschenkt. Als die Passagiere gerade nicht zu ihr herüberschauten, entfernte sie verstohlen die auffälligen Blüten von ihrem Hut und legte sie in den Korb, wo sie ihr Taschentuch darüberdeckte. Dann versank sie wieder in Sinnen, und als sie die Blicke niederschlug, stach sie zufällig ein Dorn, der in ihrer Bluse steckengeblieben war, ins Kinn. Gleich all den Häuslern aus dem Tale von Blackmoor war Tess in Einbildungen und abergläubische Ahnungen verstrickt; dies nahm sie für ein böses Omen – das erste, das ihr an diesem Tage auffiel.

Der Wagen fuhr nur bis Shaston, und von diesem Bergstädtchen bis nach Marlott ins Tal waren noch mehrere Meilen zu Fuß hinabzusteigen. Ihre Mutter hatte ihr geraten, hier im Hause einer bekannten Kätnerin die Nacht zu verbringen, falls sie sich zu müde fühlen würde, weiterzugehen; dies tat sie auch und wanderte erst am folgenden Nachmittag heimwärts.

Als sie ins Haus trat, ersah sie augenblicklich aus dem triumphierenden Gehaben ihrer Mutter, daß in der Zwischenzeit irgend etwas vorgefallen war.

»O ja, ich weiß schon alles! Hab’ dir gesagt, daß alles wie geschmiert gehen würde, und jetzt hat sich’s erwiesen!«

»Während ich fort war? Was denn?« sagte Tess ziemlich müde.

Die Mutter musterte das Mädchen von oben bis unten mit einem verschmitzten beifälligen Blick und fuhr neckend fort:

»So, hast du sie ’rumgekriegt!«

»Woher weißt du das, Mutter?«

»Hab’ einen Brief bekommen.«

Nun besann sich Tess, daß die Zeit dafür gerade ausgereicht haben mußte.

»Sie sagen – Mrs. D’Urberville sagt – sie will, daß du dich eines kleinen Geflügelhofs annimmst, der ihr Steckenpferd ist. Aber das stellt sie bloß so schlau an, um dich hin zu bekommen, ohne dir große Hoffnungen zu machen. Sie will dich als Verwandte anerkennen – das soll’s heißen.«

»Aber ich habe sie nicht gesehen.«

»Hast wohl irgendwen gesehen?«

»Ihren Sohn.«

»Und hat er dich anerkannt?«

»Nun – er nannte mich Kusine.«

»Und ich hab’s doch gewußt! Jacky – er nannte sie Kusine!« rief Joan ihrem Gatten zu. »Nun, natürlich hat er mit seiner Mutter gesprochen, und sie will dich dort haben.«

»Ich weiß aber nicht, ob ich mich darauf verstehe, Geflügel zu züchten«, sagte die unschlüssige Tess.

»Dann weiß ich nicht, wer sich drauf versteht! Du bist drin geboren worden und drin aufgezogen. Wer in einem Geschäft geboren ist, weiß immer mehr davon als irgendein Lehrling. Überdies ist das Ganze bloß ’ne Spiegelfechterei, weil sie für dich was tun wollen, ohne daß du dich abhängig fühlst.«

»Ich bin noch nicht ganz überzeugt, daß ich hingehen soll«, erwiderte Tess nachdenklich. »Wer schrieb den Brief? Willst du mich ihn sehen lassen?«

»Mrs. D’Urberville schrieb ihn. Hier ist er.«

Der Brief war in der dritten Person abgefaßt und benachrichtigte Mrs. Durbeyfield mit kurzen Worten, daß der Dame die Dienste ihrer Tochter bei der Wartung ihres Geflügelhofes nützlich sein würden; falls sie kommen könne, stünde ihr ein bequemes Zimmer zur Verfügung, und wenn sie der Herrschaft gefiele, würde man ihren Lohn freigebig bemessen.

»Oh – das ist alles?« sagte Tess.

»Du konntest doch nicht erwarten, daß sie dich auf der Stelle in die Arme nimmt und dich küßt und hätschelt.«

Tess schaute zum Fenster hinaus.


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