Buchinfo:
Chirurgie – ich komme! Mit gezücktem Skalpell und einer gehörigen Portion Schmetterlingen im Bauch will Lena den Operationssaal erobern. Eigentlich kein Problem für die weltbeste Ärztin! Doch sie wird schon ungeduldig erwartet: von der taffen Oberärztin Dr. Thiersch, die keine weibliche Konkurrenz duldet – und einer fiesen Bypassoperation …
Die neue Krankenhausserie mit Herzklopfen-Garantie
Autorenvita:
© Thienemann Verlag GmbH
Antonia Rothe-Liermann, geboren 1978 in Halle/Saale, studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam-Babelsberg. Danach arbeitete sie als Storyliner und Autorin für verschiedene Produktionen der Grundy UFA und teamworx. Seit 2007 schreibt sie als freie Autorin für Spielfilme und Serienproduktionen. Sie verfasste u. a. als Co-Autorin Drehbücher für die RTL-Erfolgsserie »Doctor’s Diary« (Chefautor: Bora Dagtekin).
Kerstin, die alles hergibt
Maria, die alles weiß
Ich glaub’s nicht, Lena!«
Jenny, meine Freundin mit den ungezählten Männergeschichten, schüttelt grinsend den Kopf. »Tut mir leid, ich glaub’s immer noch nicht. Es ist einfach ZU verrückt!«
Ich gebe zu: Heute Morgen, da wir uns in nüchterner Montagsstimmung der Klinik nähern und aus der vollgestopften S-Bahn in das trübe Berliner Herbstwetter stolpern, klingt es unglaubwürdiger denn je. Auch die sanfte Isa hat Zweifel, obwohl sie es vorsichtiger zum Ausdruck bringt. »Aber schau dir Lenas Lächeln an! Sie selbst glaubt es auf jeden Fall …«
Das ganze Wochenende lang haben meine Freundinnen mich ausgequetscht, sie konnten die Geschichte nicht oft genug hören. (Natürlich habe ich auch nichts lieber getan, als sie wieder und wieder zu erzählen.) Am Sonntagabend bei Kakao und Keksen in unserer gemütlichen Küche klang es schon fast glaubwürdig: Wir haben uns geküsst – Dr. Thalheim, der wortkarge, kantige Oberarzt der Inneren, und Lena Weissenbach, die kleine PJlerin. Ein richtiger Kuss, mit weichen Knien und Händezittern. Jedenfalls was mich betrifft …
Aber auch an diesem nüchternen Morgen ist es immer noch wahr! Selbst hier im klammen Frühnebel zwischen den mürrischen Pendlern kann ich noch die zarte rosa Wolke in der Magengegend spüren. Wir haben uns geküsst!
Eigentlich sollten gerade ganz andere Dinge unsere Nachwuchsärztinnengehirne ausfüllen. Denn heute beginnt unser zweites PJ-Tertial im St.-Anna-Krankenhaus. Auf uns wartet die Chirurgie. Noch vor einer Woche hat uns nichts mehr beschäftigt als die Frage, wie wir diese Herausforderung meistern werden. Klar, in unserem ersten Tertial auf der Inneren Station haben wir reichlich Erfahrungen gesammelt – mit Ärzten, Schwestern und Patienten, mit den eigenen Ängsten und dem inneren Schweinehund. Wir haben uns durchgebissen und können stolz sein. Aber im Chirurgietertial werden doch weit schwierigere Aufgaben auf uns warten – denn jetzt wird operiert! Theoretisch beherrschen wir seit dem sechsten Semester selbst die kompliziertesten thoraxchirurgischen OPs im Schlaf. Aber praktisch hat noch keine von uns auch nur einen einzigen winzigen Öffnungsschnitt an einem lebendigen Patienten gesetzt. Es gäbe also genug Aufregendes und Beunruhigendes zu bedenken. Doch wir sprechen bis in den Aufzug nur über DEN KUSS. Und ehrlich, in meinem Kopf ist für nichts anderes Platz. Ich kann den neuen Kollegen, Patienten und Aufgaben im Moment einfach nicht den angemessenen Hirnraum widmen. Denn in meinem Kopfkarussell geht es den ganzen Morgen nur um eines: Heute werde ich IHN wiedersehen. Dr. Thalheim, den klugen, geheimnisvollen, unglaublich gut aussehenden Oberarzt, der nur mit den Augen lächelt. Meinen Dr. Thalheim. (Komisch – kann man in jemanden verliebt sein, den selbst die eigene Gedankenstimme immer noch mit Titel und Nachnamen anredet?)
Im Aufzug sind meine Freundinnen schon wieder fast überzeugt, dass ich spinne. Mein eigenes Hirn ist inzwischen vollkommen abgemeldet. Denn hier sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Hätte mir damals jemand prophezeit, dass ausgerechnet ich am Ende des Tertials den unnahbar lässigen Oberarzt küssen würde …
»Vielleicht ist es ein Test?« Typisch Isa – was ist in ihrem besorgten Köpfchen kein Test?
»Von Lena oder vom Oberarzt?«, fragt Jenny spöttisch. »Und was wird getestet? Unsere Fantasie oder unsere Loyalität?«
Die Fahrt dauert acht Sekunden länger als bisher – acht Sekunden unterscheiden die Anfänger von den Fortgeschrittenen. Mit einem Pling öffnen sich die Aufzugtüren und geben den Blick auf unseren zukünftigen Arbeitsbereich frei. Vom Empfangstresen der Chirurgie strahlt uns eine ältere Schwester an. »Husch, husch, Mäuschen, die Einführung fängt gleich an.« Die gefällt mir. Sie wirkt gemütlich, fröhlich, mütterlich. Kein Vergleich mit der verkniffenen Schwester Klara auf der Inneren. Grinsend deutet die Stationsschwester zum Aufenthaltsraum der Ärzte. Sieben Uhr neunundfünfzig. Noch eine Minute bis zum Chirurgietertial.
Im Aufenthaltsraum wartet eine gespannte PJler-Reihe auf den Glockenschlag. Wir lächeln einander an, wir sind immerhin keine Anfänger mehr und wissen, was auf uns zukommt. Zumindest sind wir inzwischen erfahren genug, um vor den anderen diesen Eindruck zu erwecken. Punkt acht betritt ein groß gewachsener Blonder im schnittigen Kittel den Raum, mustert uns zufrieden und sagt: »Ach, Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, ich kriege wieder nur Hässliche.«
Dr. Bert Gode, der Stationsarzt der Chirurgie, macht einen ziemlich entspannten Eindruck. Habe ich mir zu große Sorgen gemacht? (Als in meinem Kopf noch Platz für etwas anderes als Dr. Thalheim war …) Oder will er uns nur beruhigen? Dr. Gode jedenfalls lächelt ermutigend und erklärt, die Stationsarbeit auf der Chirurgie sei für alte Hasen wie uns sicher kinderleicht. Wir werden weiterhin Blut abnehmen, Infusionsnadeln legen und die körperliche Untersuchung üben. Neu ist nur der Verbandswechsel. Wie auf der Inneren müssen wir bei Neuaufnahmen die Anamnese erheben, wie im vergangenen Tertial werden wir eigene Patienten betreuen. Dr. Gode grinst. »Und dann schneiden Sie denen ein bisschen den Bauch auf – oder was sonst so anfällt – und wir helfen Ihnen dabei.« Die PJler lachen. Das klingt absolut machbar. Ein kurzer Blick zu meinen Freundinnen zeigt mir, dass sie hingerissen sind. Isa lauscht dem flapsigen jungen Arzt mit offenem Mund und Jenny hat sich regelrecht in Positur gestellt – mit hoch erhobenem Kopf und blitzenden Augen fixiert sie Dr. Gode, bevor sie mit einer winzigen Kopfbewegung ihre blonde Mähne über die Schulter fallen lässt. Ich selbst bin ein klein bisschen weniger begeistert. Dr. Gode will uns bestimmt nur die Angst nehmen und sicher sollte man dafür dankbar sein. Doch in meinem Kopf warnt eine warme Oberarztstimme liebevoll davor, das kommende Tertial zu leicht zu nehmen. Dr. Thalheim hätte unsere Aufgaben niemals so neckisch verharmlost. Mann, warum denke ich an ihn immer noch in der förmlichen Titel-Nachname-Anrede? Will mein Inneres etwa auch nicht glauben, dass wir beide nicht mehr nur Oberarzt und PJlerin sind? Tobias …
»Sieht der nicht toll aus?«, flüstert Jenny, als Dr. Gode sich umdreht, um die Stationspläne auszuteilen. Wie – »toll«? Seit wann stehen wir denn auf Sonnyboys mit Ken-Frisur?! Klar, Dr. Gode ist ein netter Anblick. Ein Fotoroman-Arzt. Nichts könnte ihm besser stehen als ein weißer Kittel, er passt prima zu seiner sonnengebräunten Haut. Das Haar sitzt, das Grinsen entblößt eine blinkendweiße Zahnreihe. Aber ich mag kantige Typen. Tobias. Gleich werden wir uns wiedersehen. Spätestens mittags in der Cafeteria. Ich kann ja schlecht zu ihm rübergehen, an seiner Bürotür klopfen und »Hallo, Schatz!« flöten. (Ich könnte. Aber ich trau mich nicht.) Überhaupt: Was sage ich, wenn wir uns wiedersehen? Küssen wir uns zur Begrüßung? Nichts möchte ich lieber. Aber: Trau ich mich das? Und selbst wenn – da ich ihn nicht einfach nur küssen und jede andere Kommunikation vermeiden kann, stellt sich doch die Frage: Rede ich ihn jetzt mit dem Vornamen an?
Eine große, schlanke Ärztin mit perfekt sitzender Frisur öffnet die Tür und sagt: »So, Herrschaften, der angenehme Teil ist vorbei.«
Ich weiß nicht, ob sich das auf Dr. Gode, das vergangene Tertial oder das Leben im Allgemeinen bezieht, doch der Anblick der taffen Ärztin, die uns nur mit einem eiligen Blick streift und Dr. Gode den Stationsplan aus der Hand nimmt, macht auf jeden Fall eines deutlich: SIE ist NICHT der angenehme Teil.
Dr. Gode tritt einen Schritt zurück und stellt uns Dr. Thiersch vor, die Oberärztin der Chirurgie. Sie ist höchstens Mitte dreißig. Das muss eine steile Karriere gewesen sein. Wenn sie allerdings so schnell und entschieden durch ihre Ausbildungsjahre marschiert ist, wie sie jetzt uns voraus zu den Patientenzimmern stiefelt, wundert es mich, dass sie noch nicht Chefärztin ist. Oder Päpstin.
Dr. Thiersch stellt uns die Patienten vor wie andere Leute Schubladen aufziehen, wenn sie morgens in Eile Socken suchen. Tür auf, »Tag, Frau Jahn! Das ist Frau Jahn, gerade angekommen, Meniskusschaden«, Tür zu, nächste Tür auf, »Herr Kohler, Bauchspeicheldrüse«, Tür zu, Tür auf, »und hier liegt Frau Schneider, ihr nehmen wir übermorgen ein paar Gallensteine raus.«
In meinem Kopf geht ein sensibler Oberarzt mit mir von Zimmer zu Zimmer, begrüßt die Patienten, fragt nach ihrem Befinden und stellt mich höflich vor. Wie nennt er mich jetzt in Gedanken? Immer noch Fräulein Weissenbach? Oder längst Lena?
Dr. Thiersch erklärt den Patienten recht knapp, dass sie uns später kennenlernen werden. »Mit Dr. Gode, den Sie doch im Grunde lieber sehen als mich, oder?« Und schon ist sie weitermarschiert und wir folgen ihr als brave, perplexe Schlange in den OP-Bereich. Dr. Thiersch bleibt im Vorraum stehen und zeigt uns die Tafel, auf der die kommenden OPs angeschrieben sind. »Es gibt zwei Regeln«, sagt sie und hat noch nicht einem von uns länger als eine Sekunde in die Augen gesehen. »Erstens: Sie operieren niemals alleine, sie assistieren nur. Zweitens: Wenn Sie unseren Ansprüchen nicht genügen, operieren Sie gar nicht.«
Na danke. Schon rutscht mir das Herz in die Kitteltasche, gleich hüpft es auf den Fußboden und bleibt dort als zitterndes Klümpchen liegen, das Dr. Thiersch mit der Spitze ihres schicken weißen Schuhs in eine Ecke schnipsen wird. Diese Frau wird keine Fehler dulden und keine Emotionen, das ist nach fünf Minuten in ihrer Anwesenheit sonnenklar. Vielleicht muss man so sein als Chirurgin. Und Dr. Thalheim, Tobias, hat mich doch gewarnt, dass auf dieser Station ein rauer Wind weht … In seinem Büro am Freitag, kurz bevor er mich geküsst hat. Schon wieder nimmt das Gedankenkarussell schwindelnde Fahrt auf. Sehnt er sich auch nach mir? Geht er jetzt gerade drüben über seine Station und vermisst mich? Ist er heute freundlich und nachsichtig zu seinen neuen PJlern, weil er sich an mich erinnert – und an die Peinlichkeiten meines ersten Tages bei ihm? Oder begrüßt er sie nur knapp und distanziert, weil ICH nicht dabei bin? Quatsch, er ist doch immer professionell! Verliebt sich eine der neuen PJlerinnen in ihn? Bestellt er die auch in sein Büro? Und sagt er ihr dann, dass sie die Albernheiten lassen soll? Weil er schon vergeben ist? Überhaupt: An all die anderen habe ich noch gar keinen Gedanken verschwendet – Ärzte, Schwestern, Mit-PJler … Werden sie alle erfahren, was passiert ist? Eigentlich wäre es mir recht. Aber ihm gefällt es sicher nicht, die Distanz zwischen Arbeit und Privatem zu verlieren. Also wird das ein Romeo-und-Julia-Geheimnis? Kann man das fragen? Wenn man nicht mal weiß, ob man ihn jetzt beim Vornamen nennen darf?
»Ich weiß nicht, wovon Sie träumen, aber das machen Sie bei mir nur ein einziges Mal!«
Oh, verdammt. Verlegen sehe ich zu Dr. Thiersch auf, sie schaut schon wieder weg und geht ohne ein weiteres Wort an mich zur Erklärung der Instrumenten-Sterilisation über. Eine Entschuldigung will sie wohl nicht hören. Mann, Lena, das sollte dir doch nicht mehr passieren! Du wolltest alle Sinne konzentriert ausschließlich auf die Arbeit richten – und hier stehst du und beginnst den ersten Tag auf der neuen Station mit einem Oberarztanpfiff wegen Träumerei.
Jenny beugt sich zu mir, grinst und flüstert: »Wenn du wirklich was mit Thalheim hast, kann dir die doch egal sein.« Typisch Jenny. Dass sie denkt, man muss nur einen Oberarzt auf seiner Seite haben, um sich benehmen zu können, wie man will – und dass sie mir immer noch nicht wirklich glaubt.
Endlich ist die Einführung überstanden; Dr. Thiersch hat sich mit knappem Lächeln verabschiedet und mit schnellem Stakkato-Schuhklappern entfernt. Dr. Gode grinst uns an und sagt: »Sie gewöhnen sich an sie, im Grunde ist sie herzensgut.« Dann entlässt er uns bis zur Visite in die Mittagspause.
Auf dem Weg zur Cafeteria ist das Urteil über Dr. Thiersch schnell gefällt. »Knallhart. Sicher Dauersingle«, sagt Jenny und Isa lächelt: »Ich hab trotzdem jetzt schon Angst.« Die Auswertung des neuen Stationsarztes dauert etwas länger. »Mit dem würde ICH knutschen!«, grinst Jenny. Und schwupps habe ich Gelegenheit, auf mein Lieblingsthema zurückzukommen. Denn jetzt steht das schmerzlich herbeigewünschte Wiedersehen unmittelbar bevor. Und ich habe immer noch nicht entschieden, wie ich mich verhalten soll.
»Überlass ihm den ersten Schritt«, rät Isa. »Dann kannst du auf jeden Fall nichts falsch machen.«
»Wenn er dich jetzt vor allen küsst, rasiere ich mir morgen eine Glatze!«, ist Jennys Kommentar. Tja, dann kann ich auf ihre Prachtmähne leider keine Rücksicht nehmen: Ich hoffe nichts mehr, als dass er genau das tut! »Aber gib doch wenigstens zu, Lena, dass es einfach unwahrscheinlich ausgedacht klingt«, sagt Jenny. »Er ist SO ein kalter Fisch!« Ja, ich weiß. Noch fünf Schritte bis zur Cafeteria.
Kann man auch Hornissen im Bauch haben? Bei mir sind das nämlich nicht nur Schmetterlinge! Dieses dunkle Zweifelsbrummen stammt eindeutig von stachelbewehrten Insekten, die um meine rosa Liebeswolke schwirren und jeden Moment von innen in die Bauchdecke stechen können. Noch einen Schritt, jemand hält mir die Tür zur Cafeteria auf. Vielleicht ist er nicht da?
In der Cafeteria ist ein ganz normaler Montagmittag. Eine Schlange am Tresen, Ruben, der blauhaarige Koch, grinst zu uns herüber, Schwester Karla sieht durch uns hindurch. Da sitzt Dr. Ross, sie nickt uns zu, dann dreht sie weiter Spaghetti auf ihre Gabel. Für sie alle hat sich die Welt nicht verändert. Mein Herz flattert, als würde ich es nicht mal bis zum Tresen schaffen. Denn dort ist er.
Dr. Thalheim steht gerade vom Tisch auf, als er mich entdeckt. Ich kann mich nicht rühren. War er letzte Woche schon so groß, so attraktiv, so erwachsen? Er sieht überhaupt nicht aus wie jemand, der eine PJlerin küsst. Doch er kommt auf mich zu. Näher und näher.
»Guten Tag, die Damen«, sagt er. Und dann geht er an uns vorbei aus dem Raum.
Zack, die Hornisse hat zugestochen, die Liebeswolke im Bauch platzt mit erbarmungslosem Zischen, ein fieser Schmerz. Ich fühle mich wie vereist. Was war das?! Was heißt das?! Was ist passiert?! Klar – es wäre zu krass, hier vor allen zu offenbaren, dass sich unsere Beziehung geändert hat. (Aber davon träumen durfte man ja wohl.) Oder hat sich unser Verhältnis gar nicht verändert? Ist das seine Art, zu zeigen, dass er den Vorfall vergessen möchte? Konnte er nicht wenigstens lächeln? Du fängst jetzt hier nicht an zu heulen, Lena!
Ich kann meine Freundinnen gar nicht anschauen, so sehr fürchte ich, Mitleid in ihren Gesichtern zu sehen. Isa berührt mich am Arm, ich drehe mich doch zu ihr um. »Tut mir leid, Lena«, sagt sie leise. Und ich kann deutlich sehen, dass auch sie meine Geschichte jetzt nicht mehr glaubt.
Natürlich nicht. Ich glaub’s ja selbst nicht mehr.
Ich möchte nach Hause fahren. Sofort. Natürlich kommt das nicht infrage. Aber das gemeinsame Mittagessen in der Cafeteria schaffe ich heute auf keinen Fall. Niemand hier hat eine Ahnung, worauf ich gehofft habe, welche idiotisch-teenagermäßigen Träume meinen Vormittag überspült haben. Aber ich bin trotzdem nicht in der Lage, mich jetzt hier zu Spaghetti und PJ-Plausch niederzulassen, während die Enttäuschung wie ein nasser grauer Sack meinen Magen ausfüllt. Also erfinde ich eine lahme Ausrede und verlasse die Cafeteria ohne Essen. Meine Freundinnen halten mich nicht auf; ich glaube, in diesem Moment sind sie endlich doch überzeugt, dass ich den Kuss nicht erfunden habe. »Sollen wir woanders hingehen?«, fragt Isa leise, doch ich schüttele schlaff den Kopf und schleiche zurück auf die Chirurgie.
Auf dem Gang zwischen den Stationen werden meine Schritte schwerer und schwerer, bis ich das Gefühl habe, es nicht mal mehr bis zum Aufzug zu schaffen. So ist das also. Er küsst mich – und dann ignoriert er mich. Und du Schaf hattest die Hollywood-Romanze schon fertig. Wie naiv, ich schäme mich vor mir selbst. Es hat ihm gar nichts bedeutet.
Die weißen Türen mit den Milchglasfenstern zu beiden Seiten des Ganges sind spöttische Gesichter. Eine der Türen gehört zu seinem Büro. Was tue ich, wenn sie offen steht? Oder gar, wenn er jetzt über den Flur kommt? Ich gehe schneller, nur weg hier! Der Gang ist leer, seine Bürotür geschlossen, ich haste daran vorbei und erreiche den Aufzug wie ein rettendes Schlauchboot. Die Türen schließen sich, ich bin der Gefahr entronnen – vorerst. Bis dieser Tag überstanden ist, werde ich die Chirurgie-Etage nicht mehr verlassen. Und heute Abend nehme ich die Treppe. Nur IHM nicht begegnen!
Die Ernüchterung kommt sofort. Wieso denkst du nur bis heute Abend, Lena?! Nach diesem Abend kommt ein neuer Tag. Und noch einer. 92 bis zum Ende der Tertials, 182 bis du St. Anna verlassen kannst. Wie sollst du die überstehen, ohne ihm über den Weg zu laufen?! Selbst wenn du niemals wieder die Cafeteria betrittst – es wird unmöglich sein, 182 Tage nicht auf ihn zu treffen. Okay, ohne die Wochenenden sind es 120, vielleicht 113, falls ich zu Weihnachten Urlaub nehmen darf. Aber 113 Arbeitstage sind fast 1000 Stunden. Vergiss es, Lena, diese Sache musst du anders angehen! Thalheims knappes Lächeln brennt immer noch höhnisch deutlich in meinem inneren Auge. (Nur »Thalheim« – kein Gedanke mehr an »Tobias«. Selbst das respektvolle »Dr.« spart sich die Gedankenstimme, verletzt auf schmerzvermeidenden, herablassenden Abstand bedacht.)
Ich bereue, dass ich nicht schnell genug auf cool schalten konnte und ihm eine ebenso kühl-freundliche Begrüßung hingeworfen habe. Stattdessen sah ich sicher aus wie eine Karnevalsprinzessin im Regen. Beim nächsten Mal – wenn sich die Begegnungen schon nicht vermeiden lassen – werde ich genauso lässig-distanziert sein. Nett. Unnahbar. Wie – Kuss? Das hat Ihnen doch hoffentlich nichts bedeutet?! (ICH küsse nämlich regelmäßig und ganz zwanglos alle meine Vorgesetzten beim Abschlussgespräch. »Vielen Dank für die angenehme, lehrreiche Zeit in Ihrer Abteilung und hier noch ein Kuss.« Auch Dr. Thiersch werde ich zum Abschied hingebungsvoll knutschen, was dachten SIE denn?!)
Es ist beschlossene Sache: Da ich ihm nicht aus dem Weg gehen kann, werde ich cool und überlegen sein und ihm zeigen, was es bedeutet, wenn es NICHTS BEDEUTET! Überhaupt bin ich hier, um eine ganz ausgezeichnete Ärztin zu werden und habe für verletzte Gefühle weder Zeit noch Hirn übrig. Die Aufzugtüren öffnen sich. Du wirst das schon schaffen, Lena! Die Cafeteria kannst du ja trotzdem für diese Woche umgehen. Nur bis dein neuer Gleichmut etwas gefestigt ist.
Ich trete aus dem Aufzug, entschlossen, alle Nicht-Ärztinnen-Gefühle und -Träume vollkommen abzuschalten. Wie um mir das zu erleichtern, schiebt eben die gemütliche Schwester einen Essenswagen um die Ecke und lächelt mich an: »Kannst du mal helfen, Mäuschen? Ich bin alleine und die Hälfte der Patienten hat noch kein Futter!« Natürlich kann ich. Gemeinsam teilen wir die restlichen Essen aus – was mir eine Extra-Vorstellung beschert, denn Schwester Jana versorgt mich nebenbei im Tratschton mit dem nötigsten Privatwissen über die Patienten. Ich erfahre, dass Frau Schneider mit den Gallensteinen früher Olympiateilnehmerin in der Schwimmstaffel war und der Patient mit dem Leistenbruch dreimal geschieden ist, aber von allen drei Frauen besucht wird – gleichzeitig. Die meisten Patienten begrüßen mich herzlich und scheinen sich über ein neues Gesicht zu freuen. Dass eine Ärztin ihnen das Essen austeilt, finden sie großartig. Zwei schließen gleich ihre ganze Krankengeschichte an. Ich nicke wissend zu den detailliert geschilderten Befindlichkeiten einer Blinddarmpatientin und beruhige einen alten Herrn bezüglich der Narkosemittel – nein, Lachgas ist nicht mehr üblich. Erst als der Essenswagen leer ist, denke ich wieder daran, warum ICH noch nichts gegessen habe. (Gelernt: Gegen das, was dich von der Arbeit ablenkt, hilft andere Arbeit.) Und als ich Schwester Jana gestehe, dass ich selbst noch nichts zu essen hatte, öffnet sie eine Schublade an ihrem Tresen und präsentiert mir eine Süßigkeitenauswahl, die Willy Wonka in seiner Schokoladenfabrik vor Neid erblassen ließe.
»Zu mir kannst du immer kommen«, lächelt sie. »Und Füttern ist meine leichteste Übung.« Sie rollt den Wagen weg und ich sitze an ihrem Tresen und kaue Nuss-Waffel-Riegel. Der Zucker breitet sich in meinem Magen über die erste Schicht meiner neuen professionellen Haltung, festigt die erste Lage Selbstbewusstsein und lässt die Enttäuschung noch weiter nach unten rutschen. Ich konzentriere mich voll auf die Karriere und verschwende keinen Gedanken mehr an Thalheim! Geschieht ihm nur recht, wenn du hier die stationsbeste PJlerin bist, sagt meine Gedankenstimme. Wenn du strahlst und beeindruckend patent bist. So gut, dass die verkniffene Karrieristin von Oberärztin anerkennend deinen Namen nennt. »Meine begabteste Anfängerin« wird sie sagen. Vor allen. In der Oberarzt-Besprechung! (So was gibt es ja wohl!) Dr. Thiersch wird dich begeistert loben und ER wird ganz wehmütig über die tragisch verpasste Gelegenheit sein. Dass ich nicht in St. Anna bin, um ihn zu beeindrucken und nicht all mein Engagement darauf abzielen sollte, ihn vor Reue leiden zu lassen, habe ich gerade doch wieder spontan vergessen.
Als meine Freundinnen vom Essen kommen, sind sie voller Besorgnis und Anteilnahme. Während die sanfte Isa eher praktisch gedacht und mir ein Stückchen Apfelkuchen mitgebracht hat, schäumt die temperamentvolle Jenny mal wieder stellvertretend vor verletztem Stolz und schwört resolut, sie werde IHN nie wieder auch nur eines Blickes würdigen. Tatsächlich. Jetzt glauben sie mir. Zwar tut es gut, dass sie so mitfühlen, doch meiner frisch beschlossenen neuen Gefühlskälte ist es dienlicher, wenn wir nicht zu lange über Thalheim reden. Zum Glück erlöst mich der Sonnyboy-Stationsarzt; er lädt uns so strahlend zur Visite ein, als bitte er uns an eine Geburtstagskaffeetafel statt an die Betten frisch operierter oder noch OP-nervöser Patienten. Wir folgen ihm ins erste Zimmer, Jenny natürlich neben Dr. Gode – und: Irre ich mich oder hat Isa sich eben an der etwas molligen neuen PJ-Kollegin vorbeigedrängelt, um an Dr. Godes anderer Seite zu gehen?!
Eins ist sofort klar: Die Patienten lieben Dr. Gode. Seine sonnige Art führt offenbar keineswegs dazu, dass sie sich und ihre Leiden nicht ernst genommen fühlen; es ist eher, als biete ihnen jemand wenigstens ein Eis an, wenn sie schon hier liegen müssen. Dr. Gode ist ein Softeis mit Streuseln, nach seinen fröhlichen Bemerkungen scheinen sie alle überzeugt, schon auf dem Wege der Besserung oder wenigstens in den allerbesten Händen zu sein. Ich denke insgeheim, dass es mich zu Tode nerven würde, einem Arzt ausgeliefert zu sein, der mich mit »In einer Woche werden Sie wieder Rumba tanzen« aufheitern will. Bin ich heute einfach unaufgeschlossen und nörglerisch? Ich weiß nicht, woran es liegt, aber bei mir funktioniert Dr. Godes Art gar nicht. Ich sehe, dass meine Freundinnen absolut darauf anspringen, auch die anderen PJler wirken verzückt. Ich finde, ein bisschen würdevoller sollte ein Stationsarzt schon sein. Aber natürlich: Ob es den PATIENTEN hilft, sollte das Maß für angemessenes Arztverhalten sein – und nicht die kränkungsgefärbte Empfindlichkeit einer Oberarztkuss-geschädigten PJlerin.
Mehrere Patienten, die ich schon bei der spontanen Essensausgabe kennenlernen durfte, grüßen mich fröhlich … was mir skeptische Blicke der anderen PJler einbringt. Und nach dem zweiten »Ach, bringen Sie noch Nachtisch?« fühlt sich der Stationsarzt genötigt, mir für die Zukunft etwas mehr Zurückhaltung bei den Schwesternaufgaben zu empfehlen. Ich gebe zu, er tut es nicht unangenehm. »Wissen Sie«, lächelt er nur, »es mag ungerecht sein, aber die meisten Leute fürchten, wer zur Essensausgabe eingeteilt wird, könnte keine SO exzellente Chirurgin sein.« Er hat natürlich recht: Wenigstens zwei der Patienten haben meinen Einsatz falsch verstanden und sind nun überrascht, dass »die neue Schwester« mit den Ärzten mitlaufen darf. Trotzdem – dann bin ich eben ungerecht – Dr. Godes fröhliche Art ist mir irgendwie zu viel. Klar. Keine Frage, warum.
Im fünften Zimmer unseres Rundgangs treffen wir auf die erste Person, die ebenfalls nicht auf Dr. Godes allgemeine Sonnenscheinverbreitung steht. Als er die Tür öffnet und freundlich »Wie geht es uns denn?« fragt, dreht sich im Bett ein uns bekannter Kopf mit einem genervten Stöhnen zur Wand.
Tatsächlich, das ist Paula Schwab, mir und meinen Freundinnen noch bestens bekannt aus unserem letzten Tertial. Paula, die auf der Inneren die operationsvorbereitende Chemotherapie überstanden hat, wurde ebenfalls heute in die Chirurgie überstellt. Bei ihr steht nun die Gastrektomie an, in der ihr Magen vollständig entfernt werden soll. Im letzten Tertial ist die mürrische Patientin uns allen ans Herz gewachsen – ganz besonders Jenny, die ihre Betreuung übernommen und sich schnell und überraschend eng mit ihr angefreundet hat. Dr. Gode kennt Paula Schwab offenbar noch nicht und nachdem sie ihm in bekannter Manier gezeigt hat, was sie von fröhlichen Ärzten hält, ist der Stations-Ken perplex.
»Haben Sie Schmerzen«, fragt er etwas vorsichtiger, »oder Angst?« Siehe da, er kann auch sensibel (oder was er dafür hält). Für Paula Schwab ist das nicht der richtige Tonfall, mit ihr redet man am besten sachlich-zynisch oder gar nicht. Und bevor Dr. Gode eine Optimismus-Stufe höher schalten kann, tritt Jenny an Paulas Bett. »Ich hoffe, Ihr drittletztes Mittagessen war weder Sülze noch Gummiadler?«
Paula verzieht das Gesicht. »Eintopf. Aber ich muss ja nur noch zweimal Kantinenfraß überstehen, dann habe ich schlechtes Essen ein für alle Mal hinter mir.«
Dr. Gode ist kurz sprachlos, die Mienen der anderen PJler sind ebenfalls erstarrt. »Fatalismus ist gar nicht nötig, Frau Schwab«, lächelt der schmucke Arzt, »Sie werden auch nach der OP ausgezeichnet essen. Man kann selbst einen Seeteufel pürieren.« Ich weiß nicht, ob sein Optimismus echt so unerschütterlich ist oder ob das sein Versuch ist, sich auf Paulas grob-zynische Ebene einzulassen. Bei ihr blitzt er jedenfalls ab.
»Gott sei Dank, dass du da bist!«, sagt sie zu Jenny, kein bisschen leise. »Ich finde, es reicht, dass man seinen Magen hierlassen soll. Man muss nicht auch noch seine Würde hinterherschmeißen, oder?«
Bei der Nach-Visite-Besprechung bitte ich Dr. Gode einiges ab, denn als er uns alle im Arztraum um sich versammelt hat, grinst er als Erstes Jenny an und sagt: »Eins zu null, meine Liebe! Die Patientin Schwab steht von nun an am besten unter Ihrer Obhut. Denn ich fürchte, wenn ich sie noch einmal anlächle, springt sie mit all ihren Infusionsschläuchen auf und stürzt sich vom Dach.« Immerhin. Er weiß also, dass seine Art nicht für alle das Richtige ist. Und Jenny grinst zurück, sieht ihm in die Augen und entgegnet: »Gerne. Und Sie können ja stattdessen MICH anlächeln!«
Dr. Gode bietet uns Übrigen noch keine Patienten an. Auch wenn er es, wie alles andere, in ein sanftes Lächeln verpackt: Er möchte uns erst kennenlernen. Damit wir alle einen Patienten auf unserer Wellenlänge bekommen. Und keinen umbringen. Jenny ist also die strahlende Ausnahme. Sie lächelt zufrieden und ich, die ich sie nun schon drei Monate kenne, weiß, dass sie ihren Erfolg tief im Inneren nicht ihrem besonderen Draht zu Paula zuschreibt, sondern der Tatsache, dass sie eindeutig die Hübscheste der PJlerinnen ist.
Wenn sie sich da mal nicht täuscht … Doch, die Hübscheste ist sie natürlich. Aber Dr. Gode – auch wenn mir seine Art nicht liegt – scheint doch etwas feinere Auswahlkriterien zu haben. Während er uns den OP-Plan der nächsten Woche erklärt, mustere ich meine Mit-PJler. Zwei von ihnen kenne ich aus dem letzten Tertial: Erik-Nathanael und Bastian, von uns zu »Ernie und Bert« vereinfacht. Die beiden haben schon auf der Inneren mit uns Dienst geschoben, aber den Eindruck vermittelt, sie würden nicht nur nicht mit Frauen, sondern generell nur miteinander reden. Ich glaube, sie wohnen auch zusammen und verbringen ihre Freizeit zwischen Lehrbüchern und der Playstation. Sabrina, das etwas mollige Mädchen, ist bereits im dritten Tertial. Im dritten kann man sich die Station aussuchen und damit einen Grundstein für die spätere Spezialisierung legen. Sabrina also will wohl Chirurgin werden. Sie zeigt gleich mal, dass sie sich hier schon auskennt, indem sie für uns alle Kaffeetassen und Kekse aus dem Schrank kramt. Dr. Gode schenkt Kaffee aus, seine Patientenvorstellung bekommt so schnell den Charakter einer gemütlichen Plauderrunde. Bei Kaffee und Keksen erklärt er, wann welcher Patient »unters Messer« muss und was es dabei für uns Anfänger zu tun geben könnte. Als Erstes stehen die Gallen-OP der Ex-Olympionikin und die Bauchspeicheldrüse an. Ich bin nicht voll konzentriert, denn die angeschlagene Werbetasse vor mir erinnert mich an ein anderes Kaffeetrinken. An einen zerbeulten Thermosbecher, ein karges Büro, einen überladenen Schreibtisch. Dr. Thalheim, der mir seine eigene Nachtschicht-Tasse voll schwarzen Kaffee füllt, mir still gegenübersitzt und erreicht, dass ich mich ernst genommen und geborgen fühle. Der Morgen nach einer Nachtschicht, er war noch müde, das erste Mal ohne seine unantastbare Oberarzt-Contenance, seine Haare zerstrubbelt. Er hat seinen Kaffee mit mir geteilt und ich …
Weg! Raus aus meinen Gedanken!
Der Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch … lange bin ich neugierig drum herum geschlichen; erst an meinem letzten Tag auf der Inneren hat sich mir enthüllt, dass der Rahmen kein Foto, sondern einen Wahlspruch einfasst: Und hier ist der Mittelpunkt der Welt. Was soll das eigentlich? Am Freitag kam es mir noch wie der klügste und schönste Leitsatz vor; jetzt frage ich mich, ob Thalheim nicht einfach der Meinung ist, ER SELBST sei der Weltmittelpunkt. Das Zentrum MEINER Welt soll er jedenfalls nicht sein. Kann er jetzt mal endlich aus meinem Kopfkarussell aussteigen und davonwanken in eine nebulöse Vergessenheit?
Tack, tack, tack auf dem Flur, dann wird die Tür aufgerissen, die Thalheim-Seifenblase in meinem Kopf platzt mit einem Knall. Dr. Thiersch steht in der Tür, ein Blick um den Kaffeetisch, ein herablassendes Lächeln: »Soll ich schnell zum Bäcker springen und uns eine Schwarzwälder Kirsch holen?« Ernie, der weder den Umgang mit Frauen noch den mit Ironie gewohnt scheint, ist der Einzige, der erfreut nickt. Alle anderen haben verstanden, dass Dr. Thiersch die Gemütlichmachung von Arbeitsbesprechungen unpassend findet. Dr. Gode scheint zum Glück kein demütiger Untergebener zu sein, er lächelt auch Dr. Thiersch an und entgegnet: »Sollte Gemütlichkeit auf dieser Station eines Tages salonfähig werden, werde ich eigenhändig eine Schwarzwälder Kirschtorte BACKEN!« Aber er stellt die Kekse weg und Sabrina schiebt diensteifrig unsere Tassen zusammen.
Dr. Thiersch setzt sich nicht; sie bleibt stehen und mustert ihre neuen Anfänger zum ersten Mal eingehend. Ihr Blick hat etwas Durchdringendes. Erinnert sie sich, dass sie mich heute Morgen gerügt hat? Ihr Blick bleibt an mir hängen. »Na, inzwischen wach?« Okay. Sie erinnert sich. Ich senke die Augen, was soll man da antworten. Könnte sie jetzt bitte dem Nächsten vors Schienbein treten?! »Wer ist Isa?«, inquiriert Dr. Thiersch scharf. Oh, ich nehme den Wunsch zurück – ich hätte lieber noch 15 bis 17 bissige Bemerkungen auf mich genommen, wenn damit verhindert würde, dass die böse Fee über meine zarte Freundin herfällt. Isa zeigt zaghaft auf, Dr. Thiersch nickt. »Ich hörte, Sie sind ein stilles Wasser. Die Kollegen auf der Inneren haben Sie sehr gelobt.« Isa lächelt verschämt. Aha, die taffe Oberärztin hat sich schlaugemacht. Was sie wohl über MICH gehört hat? Und über Jenny, den Autoritätsschreck der Inneren? »Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich in Ihrer ersten OP schlagen«, fährt Dr. Thiersch fort, »und habe Sie deshalb gleich mal für die Galle eingeplant.« Isas Lächeln schläft ein, Herausforderungen und Extrawürste sind absolut nicht ihr Ding. Aber sie nickt natürlich. Ich fange Sabrinas Blick auf: Ist sie beleidigt, weil sie als Erfahrenere damit gerechnet hat, zuerst dranzukommen? Dr. Thiersch nickt ihr zu. »Kein Neid, Frau Schulte, Sie bekommen die Bauchspeicheldrüse.« Sabrina ist beruhigt und Dr. Thiersch hat gezeigt, dass sie doch sensibel für Befindlichkeiten ist – auch wenn sie es sich nicht nehmen lässt, sie als albern darzustellen. Dann geht sie und Dr. Gode grinst Isa an. »Glückwunsch. Eigentlich lässt sie zuerst alle Herren operieren.«
Als wir die Station verlassen, ist Isa zappelig. »Bitte sagt mir, dass ich sie nicht enttäuschen werde!«
Wir sprechen ihr Mut zu. Isa wird sich die verbleibenden 40 Stunden in ihren Lehrbüchern vergraben und jeden Handgriff theoretisch perfekt vorbereiten, das wissen wir ohnehin. »Außerdem steht dir ja Dr. Dandy zur Seite«, grinst Jenny. »Der putzt einen sicher nicht gleich runter, wenn man mal eben ein Skalpell im Patienten vergisst.«
»Sag so was nie wieder!«, ruft Isa entsetzt, doch dann lächelt sie. »Aber das passiert wohl nicht mal mir.«
Meine Freundinnen sind also ganz zufrieden, als wir aus der Klinik in den Feierabend schlendern. Okay, unsere neue Oberärztin ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber Isa und Jenny sind überzeugt, dass der fesche Dr. Gode noch weit größere Unannehmlichkeiten aufwiegen würde. Jenny hat bereits eine Patientin zugewiesen bekommen; noch dazu eine, die sie schon kennt, gerne hat und um die sie sich sowieso bewerben wollte. Und Isa zehrt immer noch von dem Lob aus zweiter Hand, das ihr gezeigt hat, dass ihre schwierige Startphase auf der Inneren allgemein in Vergessenheit geraten ist oder gar durch ihren Fleiß überlagert wurde. Nur ich verlasse das Krankenhaus mit einem flauen Enttäuschungsgefühl. Die verliebten Hoffnungen, mit denen ich heute Morgen herkam, sind mir inzwischen selbst peinlich.
»Was war denn nun eigentlich in der Mittagspause?«, fragt Jenny in diesem Moment. »Hat er versucht, sich zu entschuldigen?« Ich starre sie an. Glaubt sie wirklich, ich bin Thalheim nachgegangen und habe ihn zur Rede gestellt?! »Aber du hast ihm doch wenigstens GEZEIGT, dass er ein Idiot ist und seinen blöden Auftritt noch schrecklich bereuen wird?!«
»Fehlanzeige«, entgegne ich. »Ich bin ihm nicht nachgelaufen, sondern einfach nur weggerannt. Ich hab ihn nicht noch mal gesehen und WILL ihn auch nie wieder sehen.«
Isa blickt mich mitleidsvoll an. »Dann schau nicht da rüber!«
Vor dem Krankenhaus parkt ein blitzender VW. Thalheim trägt trotz des Herbsteinbruchs immer noch die dunkelgrüne Sportjacke, die so gut zu seinen dunklen Haaren passt. Er steht neben seinem Auto und scheint zu warten. Auf mich? Meine Knie geben nach, ich bleibe stehen. Ich kann mich keinen Schritt weiter vorwärtsbewegen. Dr. Thalheim zieht seine Jacke aus und legt sie ins Auto, langsam. Ein Vorwand, um sich noch einen Moment hier aufzuhalten? Er könnte die blöde Jacke auch drinnen ausziehen. Oder gar nicht – bei der Kälte! Vollkommen klar, dass er sich etwas zu tun macht. Noch hat er uns wohl nicht gesehen. Aber wenn er sich umdreht … Was soll ich denn tun?! Ich kann unmöglich an ihm vorbeigehen!
»Wenn wir da sind, lachst du einfach!«, rät Jenny energisch. Klar. Sie würde strahlend an ihm vorbeiziehen und so tun, als sei er vergessen und sie wunschlos glücklich. Ich kann das nicht. Aber um nach Hause zu kommen, muss ich an dem Oberarzt-VW vorbei!
»Geh doch hin und rede mit ihm«, sagt Isa. Ich schüttle den Kopf. Noch einen Blick riskieren: Thalheim schaut nicht her, vielleicht hat er uns immer noch nicht gesehen. Jetzt steigt er doch ein. Habe ich mal wieder alles überinterpretiert und er hat ÜBERHAUPT NICHT auf mich gewartet?! Doch, er wartet ganz eindeutig – zumindest, falls er nicht in seinem Auto wohnt.
»Hups!«, sagt Jenny plötzlich, »mein Schal!« Sie macht auf dem Absatz kehrt und eilt überraschend zurück ins warme Krankenhaus.
»Oh«, macht Isa, etwas weniger überzeugend – und dann hastet sie Jenny hektisch hinterher. Verräterinnen! Ich könnte schwören, dass Jenny ihren Schal vor einer Sekunde noch umhatte! Mit mir nicht! Ich werde auf keinen Fall zu Thalheim gehen und mir eine neue Abfuhr abholen! Hier warten will ich aber auch nicht, denn wenn sich Jenny in den Kopf gesetzt hat, dass ich alleine auf Dr. Thalheim treffen soll, wird sie eher im Krankenhaus übernachten, als dass sie wieder herauskommt, bevor ich den gefürchteten VW erreicht habe! Also stiefele ich los, gehe tapfer geradeaus.
Der Krankenhausvorplatz ist leer. Noch zwei Schritte bis zum Auto, in dem er immer noch sitzt, ohne den Motor zu starten. Jetzt bin ich bei ihm. Und ich kann nicht anders: Ich MUSS hinsehen.
Sein Blick erwischt mich in voller Breitseite, gleich breche ich hier auf dem Vorplatz zusammen. Seine Stimme ist warm, ruhig. »Darf ich Sie nach Hause fahren?«
Thalheim schweigt. Ich sitze neben ihm im Auto und bereue schon an der Ecke, dass ich eingestiegen bin. Will er noch jemals im Leben irgendwas sagen? Soll ich?! Oh Mann, warum habe ich kein schnippisches »Nein danke« herausgebracht? Wollte ich wirklich SO GERNE bei ihm sein? Für DAS HIER?!
Es dauert vier Querstraßen, bis er endlich den Mund aufmacht. Es fühlt sich an, als hätten wir inzwischen zweimal nach Lübeck und zurück fahren können. Thalheim sieht mich nicht an. »Es tut mir leid.«
Nach dieser unerwarteten Eröffnung sagt er wieder eine Weile gar nichts. Ich werde ihm nicht helfen! Eine Entschuldigung ist das Mindeste, was du verdient hast, Lena. Lass ihn noch wenigstens zweimal sagen, dass er seinen blöden Auftritt bereut, bevor du ihn erlöst! Dass ich noch vor einer Sekunde nicht nur nicht mit einer Entschuldigung, sondern sogar mit einer neuen Abfuhr gerechnet habe, vergesse ich spontan.
Ich habe mich in der Entfernung ein wenig verschätzt, Dr. Thalheim biegt bereits in meine Straße ein. Wie können wir schon da sein?! Nein! Wir müssen doch reden, er soll sich entschuldigen, mir sagen, wie albern er sich verhalten und wie sehr er mich vermisst hat! Stopp, stopp, kann jemand mit einem riesigen Nudelholz kommen und meine schäbige kleine Straße etwa 200 Kilometer länger walzen?!
Thalheim fährt nicht bis zu meinem Haus. Stattdessen bremst er am Anfang der Straße. Und jetzt? Was wollte er denn?! Mich wirklich nur nach Hause fahren? Einmal »Tut mir leid« sagen und das war’s?! Und was willst DU eigentlich, Lena?! Am besten, du steigst jetzt aus!
Ich habe schon die Hand am Türgriff, als er mich endlich ansieht. Und unter diesem Blick schafft mein Hirn es einfach nicht, den Befehl Tür öffnen zu meiner Hand durchzustellen.
»Es tut mir wirklich leid«, sagt seine warme, sanfte Stimme. »Es war unverzeihlich und ich kann mich nur entschuldigen. Ich hoffe, dass Sie mir das nicht nachtragen, Lena!«
In meinem Kopf herrscht ein tsunamiartiges Gedankenchaos. »Sie« und »Lena«. Distanz. Gleichzeitig entschuldigt er sich für seine Kühle beim Mittagessen und »nicht nachtragen« heißt ja wohl, dass es anders weitergehen soll. Wie denn?! Will er sagen, dass er beim nächsten Mal eine Begrüßung findet, die einer Wir-haben-uns-geküsst-Verbindung angemessen ist? Aber: Was wäre denn angemessen? Thalheim sieht mich an. Wartet er darauf, dass ich irgendwas sage? Sind irgendwo noch Worte verfügbar? Hilf ihm, Lena!
»Ich war schon … überrascht«, sage ich. »Enttäuscht« klingt zu sehr nach unglücklich verliebtem Teenager. »Überrascht« wirkt hoffentlich erwachsener, wie: Eigentlich können wir uns doch mal küssen und dann trotzdem Freunde sein. Okay, ich will nicht »Freunde sein«. Ich sehe ihn an und will »Verliebte sein«, sofort und für immer. Aber ich will ihn auch nicht verschrecken. Seine Entschuldigung hat wohl Überwindung genug gekostet. Kann ich ihm irgendwie begreiflich machen, dass ich ihn am liebsten einfach nur wieder küssen würde?
»Überrascht …«, wiederholt er. Hab ich das gesagt?! So was Dummes, das klingt ja wirklich, als hättest du einen Kniefall in der Cafeteria erwartet! Zwei Ärzte, die ihre Souveränität in einer Klinik voll tratschender Schwestern wahren wollen, küssen selbstverständlich heimlich! Aber gesagt ist gesagt, ich nicke. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, sagt er. »Es wird natürlich nie wieder etwas Vergleichbares vorkommen und ich hoffe, wir können die Situation vergessen.« Hey, jetzt klingt es doch fast, als verspreche er, bei der nächsten Cafeteriabegegnung wirklich auf die Knie zu fallen. Ist ja gut, ich vergesse das blöde Mittagessen! Schau mich nur noch eine Sekunde so an! Dr. Thalheim räuspert sich. »Ich hoffe, wir gehen weiterhin professionell miteinander um!« Natürlich, ich nicke gebannt. Ich habe gar nichts gegen eine heimliche Romanze. Können wir uns jetzt küssen?!
Ich lehne mich noch ein wenig mehr in seine Richtung, kann den Blick nicht von seinen dunkelblauen Augen abwenden. »Wir werden uns ja ohnehin nicht mehr oft sehen.« Peng. Ich erstarre. Eiskalt. Es fühlt sich an, als sei gerade die Frontscheibe gesprungen, als säße ich plötzlich im eisigen Wind, mit Tausenden winziger scharfer Glassplitter überzogen.
Ganz langsam dringt in mein verblendetes Mädchenhirn durch, was er mir sagen wollte. Viel zu langsam.
Er hat sich nicht für seinen kühlen Auftritt in der Cafeteria entschuldigt. Sondern für den Kuss. »So was wird nie wieder vorkommen« heißt nicht »Ich werde mich in Zukunft zu dir bekennen«, sondern »Wir werden uns nie wieder küssen«. Mit »professionellem Umgang« meint er nicht »vor den anderen« sondern »Du und ich werden den Kuss vergessen. SIE und ich«.
Die Tür öffnen! Jetzt! Aussteigen, nach Hause gehen. Ins Bett legen, sterben.
Ich kann mich nicht bewegen. Er sieht mich an, immer noch. Still. STEIG AUS, Lena! Bevor ER dich bittet! Ich kann nicht. Ich kann nicht wegsehen. Er sieht auch nicht weg. »Es tut mir wirklich leid«, sagt er noch einmal. Weiß er nicht, dass Dinge, die so oft wiederholt werden, irgendwann gar nicht mehr glaubwürdig klingen? Irgendwie wirkt er traurig.
Das ist doch Quatsch. Ich öffne die Tür, endlich gehorcht der Körper, ich steige aus. Stehe auf der Straße. Das war’s. 200 Meter nach Hause, das schaffst du jetzt auch noch.
Als ich den ersten Schritt gemacht habe, klappt hinter mir die Autotür. »Dein Schal …«, sagt er. Ich bleibe stehen. Mein Schal. Ich hatte ihn in der Hand, als ich einstieg, jetzt habe ich ihn nicht mehr, also hat er wohl recht und tatsächlich meinen Schal. Wenn ich das irgendwann in einem anderen Universum Jenny erzähle, wird sie sich kaputtlachen. Und sicher nicht glauben, dass ich ihn nicht absichtlich liegen ließ. Oder ist es möglich, dass mein Unterbewusstsein da tatsächlich ein wenig nachgeholfen hat? Auf jeden Fall darf der Schal nicht bei ihm bleiben, ich trage ihn schrecklich gern und werde niemals an Thalheims Büro klopfen und ihn wieder einfordern können. Also bleibe ich stehen.
Eine Sekunde später ist er bei mir, den Schal in der Hand. Der ist wirklich schön, aber vielleicht opfere ich ihn doch, denn in diesem Moment geht mir durch den Kopf, dass ich ihn wohl nie wieder tragen kann.
Irgendwie hilflos strecke ich die Hand aus. Gib ihn mir und verschwinde, damit ich ins Bett gehen und sterben kann. Eingewickelt in den schönsten und grässlichsten Schal der Welt.
Thalheim tritt noch einen Schritt näher. Er gibt mir den Schal nicht. Er legt ihn mir um. Das Glassplittergefühl kommt zurück, jetzt aber ist es, als wären all die winzigen Scherben aus kribbeligem Zucker. Was wird das denn?!
Er sieht mich an. Wortlos. Aber ist in einem Schweigen schon mal so viel gesagt worden? Und dann küsst er mich.
Warum liegt zwischen »jetzt« und »morgen« nur manchmal so furchtbar viel Zeit?! Ich stehe in unserer bunten, etwas unordentlichen Küche und frage mich, wie ich die Treppen geschafft habe – mit diesen Puddingknien. Immer noch ist mir, als könnte ich ganz leicht den Duft seines Aftershaves riechen. Immer noch habe ich das Gefühl seiner Hände auf meinen Schultern. Er hat gar nichts gesagt, nur »Gute Nacht, Lena!« Dann ist er in sein Auto gestiegen und davongefahren und ich glaube, ich stand noch eine ganze Minute reglos auf der kalten Straße. Das Licht der Laternen im Herbstnebel zauberte eine unwirkliche Traumlandstimmung. Kann das tatsächlich passiert sein? Und was bedeutet das jetzt?
Ich stehe in unserer Küche, als sei ich eben aus einer ganz anderen Zeit, einem ganz anderen Leben hierherversetzt worden. Mein Gesicht spiegelt sich in der Glastür des Geschirrschranks und ich sehe geradewegs in ein idiotisches Grinsen. Verdammt, Lena, das Spiegelbild in der Küchenschrankscheibe weiß es längst. Du kannst nichts leugnen, was man dir so überdeutlich ansieht. Du bist hemmungslos verliebt. Endlich. Leider.
Denn als mein Gehirn ganz langsam wieder anfängt zu arbeiten, ist der erste Gedanke: Das darf niemand erfahren! Eines ist ja wohl absolut klar geworden: Thalheim findet es ganz falsch. Tobias. Er sagt mir, dass der Kuss ein schrecklicher Fehler war, der ihm entsetzlich leidtut – und dann küsst er mich wieder. Tut es ihm jetzt noch mehr leid? Aber warum eigentlich? Ich habe ja nicht auf der Straße gekniet und um den Kuss gebettelt! Das war doch ganz eindeutig seine Initiative! Aber klar, ich kann es mir denken: Er ist Oberarzt, ich bin PJlerin. Wenn man es ganz genau nimmt, bin ich nicht mehr explizit seine Schutzbefohlene, immerhin unterstehe ich jetzt Dr. Thiersch. Trotzdem. Ich kann mir denken, was im Krankenhaus geredet wird, kann mir das sensationslüsterne Getratsche der Schwestern, das empörte Kopfschütteln der Ärzte vorstellen. Nicht nur, dass es für Dr. Tobias Thalheim – bisher der Inbegriff von Souveränität und Distanz – unerträglich wäre, wenn die ganze Klinik weiß, was zwischen uns passiert ist. Auch für mich ist es wahrscheinlich eher von Nachteil. Mag es auch aus Neid geboren sein: der Flurtratsch wird einer PJlerin, die einen Oberarzt knutscht, mindestens Berechnung unterstellen! Aber wenn ich niemandem davon erzähle und wenn es mir gelingt, bis morgen dieses verräterische, verliebte Grinsen zu verstecken … Wenn wir im Krankenhaus kühl und nichtssagend aneinander vorbeigehen … Haben wir dann etwas miteinander?
Ich bin völlig durcheinander und die Chance, dass er morgen wieder auf mich wartet, um zu sagen, dass dieser zweite Kuss noch viel falscher war und das nun wirklich, wirklich nie wieder passieren dürfe, scheint um einiges höher, als dass wir unauffällige Codes vereinbaren und uns im Schutz der Dunkelheit an geheimen Orten treffen. Tut mir leid: So romantisch das klingt – Dr. Thalheim ist definitiv nicht der Mann für so etwas. Aber wenn alles derart aussichtslos scheint, warum grinst das Gesicht in der Scheibe immer noch so idiotisch verliebt?
Schlüsselklappern an der Wohnungstür, meine Freundinnen kommen heim. Jetzt kochst du Tee, Lena, und probierst einfach mal aus, zu wie viel Geheimniskrämerei du in der Lage wärst, falls es rein zufällig irgendwann für die Tarnung einer heimlichen Liebschaft gefragt wäre. Ich wende mich dem Wasserkocher zu, hinter mir öffnet sich die Küchentür, meine Freundinnen umgibt eine Aura frischer kalter Luft; na klar, SIE hat ja niemand im warmen Auto nach Hause gefahren. Nicht umdrehen, Lena, ich wette, du glühst immer noch. Ich stelle drei Tassen auf das Bord. Meine Freundinnen haben noch nichts gesagt – warum nicht?
»Lena …« Jennys Stimme klingt wie die meiner Mama, wenn sie mich an der Süßigkeitenschublade erwischt hat. »Schau mich mal an!«
Ich drehe mich um. Isa und Jenny sind beide noch in Jacke, Schal und Mütze und sehen mich an, als versuchte ich, den Übergriff auf die Naschwerksschublade zu leugnen, während ich knietief im Schokoladenpapier stehe. Jenny stemmt die Hände in die Hüften. »Ihr habt geknutscht!«