image

Charles Lewinsky

Ein ganz gewöhnlicher Jude

image

Foto: Garry Kammerhuber

Charles Lewinsky ist Autor mehrerer Romane, Theaterstücke und zahlreicher Fernsehproduktionen der verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman »Johannistag« wurde mit dem Schillerpreis für Literatur ausgezeichnet.

Die Einladung, vor einer Schulklasse über sein Judentum zu sprechen, wird für den Journalisten Emanuel Goldfarb zum Anlass, eine Bilanz seines Lebens zu ziehen. Goldfarb rollt seine Biografie auf, die Lebensgeschichte eines nach 1945 in Deutschland geborenen Juden, der zwar die Schrecken des Holocaust nicht am eigenen Leib erdulden musste, dessen ganze Existenz sich aber doch immer im Schatten des Gewesenen abspielt. Die einzige Rolle, die diese Gesellschaft für ihn bereithält, ist die eines Außenseiters, wobei ihn, so seine Bilanz, der demonstrative Philosemitismus noch mehr an den Rand gedrängt hat als antisemitische Vorurteile.

Charles Lewinsky zeichnet das ebenso einfühlsame wie eindringliche Porträt des Emanuel Goldfarb, der sich nichts sehnlicher wünscht als »ein ganz gewöhnlicher Mensch [zu sein] ..., ein ganz gewöhnlicher Jude«. Am Ende des Buches steht ein Entwicklungsprozess, der es ihm ermöglicht, die Realität anzunehmen – und sich ihr zu stellen.

Charles Lewinsky

Ein ganz gewöhnlicher Jude

image

ISBN 978-3-86789-552-1

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

www.rotbuch.de

EXT. STRASSE – TAG

An einer belebten Straße mitten in Hamburg verlangsamt ein Wagen seine Fahrt und hält an. In ihm sitzen neben dem Chauffeur zwei Männer. Einer von ihnen, Goldfarb, ein unauffälliger Mann Mitte vierzig, ist in einen Brief vertieft.

GOLDFARB

Nein, Ali. Wirklich nicht! Wieso ich?

MANN

Du bist Journalist, Goldfarb.

GOLDFARB

Ich schreib über Kultur.

MANN

Und? Ist das etwa keine Kultur?

Pause.

GOLDFARB

Ich habe keine Zeit. Ich will das nicht machen!

Frag Jossi! Wir sehen uns Freitag.

Entschlossen steigt Goldfarb aus dem Wagen. Der Mann eilt ihm nach. Goldfarb dreht sich um und bleibt unter der Tür seines Wohnhauses stehen.

MANN

Goldfarb? Goldfarb … Stell dich nicht so an. Es sind Kinder.

GOLDFARB

Eben darum. Was soll ich ihnen erzählen?

MANN

Denk dir was aus! Wer schreiben kann, muss auch erzählen können.

GOLDFARB

Ich will das wirklich nicht machen.

Pause.

MANN

Du machst das schon.

Der Mann legt Goldfarb zum Abschied ermutigend den Arm um die Schulter. Nach einem kurzen Blickwechsel steigt er wieder in seinen Wagen, der sich daraufhin langsam in Bewegung setzt. Ein bisschen verloren schaut Goldfarb ihm nach. Schließlich gibt er sich einen Ruck, öffnet die Haustür, geht den Flur entlang und steigt in den Fahrstuhl.

INT. HAUSFLUR – TAG

Seine Wohnung kennzeichnet ein altmodisches, überdimensioniertes Messing-Namensschild mit der Aufschrift »Emanuel Goldfarb«. Rechts oben am Türrahmen ist die Mesusah befestigt.

INT. WOHNUNG – TAG

Goldfarb schließt die Tür auf und tritt in den Flur. Beiläufig wirft er seinen Schal über den Stuhl, den Schlüssel auf einen kleinen Glastisch in der Küche. Er geht, den Brief immer noch in der Hand haltend, in sein modern eingerichtetes Wohn- und Arbeitszimmer. In dem großen Raum stehen zwei überladene Bücherregale, ein Schreibtisch, ein viereckiger kleiner Holztisch und ein schwarzer Ledersessel. An der Wand lehnt ein antiker Spiegel, unter dem Fenster türmen sich, säuberlich gestapelt, Berge von Zeitungen.

Auf dem Schreibtisch – aber nur dort – herrscht die Unordnung, die entsteht, wenn man an mehreren Themen gleichzeitig arbeitet. Auf einem kleinen Seitentisch steht immer noch die alte IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine.

Goldfarb spannt ein Blatt Papier ein. Er hat einen Entschluss gefasst und will die Sache nun möglichst schnell hinter sich bringen. Er beginnt zu tippen.

GOLDFARB

Lieber Herr …

Er stockt, schaut auf dem Briefumschlag den Absender nach.

GOLDFARB

Gebhardt …

Er zögert.

GOLDFARB

Schon falsch. Warum »lieber«?

Er nimmt den angefangenen Brief aus der Schreibmaschine, knüllt ihn zusammen, spannt ein neues Blatt ein und beginnt von vorn.

GOLDFARB

Ich liebe ihn nicht, und er liebt mich auch nicht. – Sehr geehrter Herr Gebhardt! Sie haben mir einen Brief geschrieben … Das heißt: Nicht mir persönlich.

Er nimmt den Brief aus dem Kuvert und liest vor.

GOLDFARB

»An die Jüdische Gemeinde in Hamburg, Schäferkampsallee 27, 20357 Hamburg. Sehr geehrte Damen und Herren …« – Man hat den Brief an mich weitergegeben. (sarkastisch) Weil ich Journalist bin. Weil das auch Kultur ist. Weil ich gerne Geschichten erzähle. Ich will das aber nicht machen. Ich habe kein Talent, öffentlich ich zu sein.

Pause.

GOLDFARB

Was sind Sie wohl für ein Mensch, Herr Gebhardt? Wie darf ich mir Sie vorstellen?

Er betrachtet den Brief.

GOLDFARB

Schwer zu sagen, nur nach der Unterschrift. computergeschriebene Briefe haben keinen Charakter. So in den Fünfzigern werden Sie sein. Als weltverbessernder Achtundsechziger in den Schuldienst eingetreten und jetzt kurz vor der Pensionierung. Ein Gutmensch. Einer von den Lehrern, den die Schüler nicht wichtig genug nehmen, um ihn nicht zu mögen.

Pause.

GOLDFARB

Oder vielleicht …

Wieder studiert er die Unterschrift auf dem Brief.

GOLDFARB

Vielleicht sind Sie ja auch jünger. Noch voller guter Vorsätze. Wollen es besser machen. Aber glauben Sie mir, lieber Herr Gebhardt, sehr geehrter Herr Gebhardt: Wer es besser machen will, macht es noch lange nicht gut. Das Gut-Machen ist immer wieder eine schwierige Sache. Das ewige Wieder-Gut-Machen. So ein deutsches Wort.

Pause.

GOLDFARB

Sie haben diesen Brief geschrieben und haben sich nichts dabei gedacht. Oder schlimmer. Sie haben sich was dabei gedacht.

Er liest vor.

GOLDFARB

»Sehr geehrte Damen und Herren. Mit meiner achten Klasse werde ich im Sozialkundeunterricht im nächsten Trimester das Thema Judentum behandeln. Ich habe die Erfahrung gemacht …«

Er bricht ab. Mit sanfter Ironie:

GOLDFARB

So. Erfahrungen haben Sie gemacht. Wahrscheinlich doch ein älteres Semester. Nur wer genügend Jahre lebt, kommt um Erfahrungen nicht rum. Obwohl … Manche Leute sind da resistent.

Er nimmt wieder den Brief, liest.

GOLDFARB

»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nichts so anschaulich und einprägsam wirkt wie eine persönliche Begegnung, und möchte deshalb gerne einen jüdischen Mitbürger einladen, an einer Unterrichtsstunde teilzunehmen und Fragen der Schüler zu beantworten. Leider kenne ich persönlich kein Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft …«

Er bricht ab.

GOLDFARB

Sehen Sie, Herr Gebhardt, schon deshalb möchte ich Ihre freundliche Einladung nicht annehmen. Weil mich so vorsichtige Formulierungen immer gleich so furchtbar aggressiv machen.

Verächtlich:

GOLDFARB

»Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft.« »Jüdischer Mitbürger.« – »Jude« heißt das! Ganz einfach: Jude. Sie wollen mit Ihren Schülern drüber reden, und ihre Finger weigern sich, das Wort in den Computer einzutippen. Wieso? Jude ist kein Schimpfwort. Ihre political correctness hat da keinen Platz. Jude zu sein ist keine Behinderung, an die man nicht gern erinnert wird. Es ist … O Gott …«

Er bricht ab, macht eine abwehrende Geste und nimmt erneut den Brief zur Hand.

GOLDFARB

»… Leider kenne ich persönlich kein Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft und wollte Sie deshalb bitten …«

Mit verhaltener Heftigkeit legt er seine Brille auf den Schreibtisch und steht auf. Sarkastisch parodierend und ärgerlich auf und ab gehend:

GOLDFARB

Schicken Sie doch mal einen vorbei, wollten Sie bitten, damit sich die Kinder das ansehen können. Es stehen gerade die ausgestorbenen Tierarten auf dem Lehrplan, wollten Sie schreiben, und bei den Dinosauriern im Naturhistorischen Museum waren wir schon … – Wie haben Sie sich das gedacht, Herr Gebhardt? Dass ich mich vor Ihre Klasse hinstelle oder hinsetze, und dann sagen Sie: So sieht das nun also aus, der Jude. Der jüdische Mitbürger. Ein Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft.

Pause. Goldfarb stellt sich vor den Spiegel, der an der Wand des Zimmers lehnt.

GOLDFARB