Amsterdam, Niederlande
03. September 2012, 21.23 Uhr (drei Monate später)
Solveigh Lang lag rücklings auf der sehr unbequemen Chaiselongue in ihrem Wohnzimmer und versuchte, ein Buch zu lesen. Genauer gesagt versuchte sie, einen Western zu lesen, was sie zum einen noch niemals in ihrem Leben getan hatte und was ihr zum anderen auch niemals eingefallen wäre, hätte die Buchhändlerin in der Willemstraat es ihr nicht wärmstens ans Herz gelegt. Natürlich wusste ihre Buchhändlerin nichts von ihrem teils bis ins Abnorme gesteigerten Geruchsinn, sonst hätte sie ihr gerade diesen Roman wohl kaum empfohlen, denn er stellte das 19.Jahrhundert keineswegs verklärt dar, sondern so, wie es wohl war. Mit stinkenden Badehäusern, mannigfaltigen Geschlechtskrankheiten, die allerhand Beschwerden verursachten und die sich Solveigh nicht einmal vorstellen wollte, und eben mit Dreck, fauligen Tümpeln und ungewaschenen Huren. Ein gutes Buch, aber was ihre Nase anging, eine echte Herausforderung. Solveigh legte den Band beiseite und goss sich einen zweiten Schluck Rotwein ein, um ihren schärfsten Sinn zu versöhnen. Eine Strähne ihrer dunkelbraunen, gewellten Haare fiel ihr ins Gesicht. Sie setzte das große Glas an und sog die Aromen auf, der Wein duftete nach roten Beeren, reifer Pflaume und einem Hauch Grafit. Ein schwerer Wein, von dem sie hoffte, dass er sie ein wenig müde machen würde. Sie wusste, dass sie dringend Schlaf brauchte, sie war erst heute Morgen nach einem kräftezehrenden Einsatz in Krakau gelandet, und die stundenlange Abschlussbesprechung hatte auch nicht gerade dazu gedient, ihre Batterien wieder aufzuladen. Dafür konnte sie im eigenen Bett schlafen, was für Solveigh schon fast ein kleiner Luxus war. Ihr Job als Special Agent der Europäischen Sondereinheit ECSB, die sich mit paneuropäischen Verbrechen beschäftigte, brachte jede Menge Flugmeilen und Zugkilometer mit sich. Ihr Job waren die Täter, die sich um keine Staatsgrenzen scherten und die Tatsache auszunutzen wussten, dass Europol immer noch keine operativen Befugnisse erhalten hatte. Und es wurden immer mehr: Die Mafia, Schleuserbanden, Drogen, Terroristen, das war die Klientel der ECSB. Willkommen im vereinten Europa, murmelte sie in ihr Weinglas und warf einen Blick auf die Prinsengracht, an der sie eine kleine, aber durchaus schicke Wohnung in einem der typischen Amsterdamer Häuser bewohnte: schmal und mit einem spitzen Giebel, dessen Kran noch Anfang des letzten Jahrhunderts Waren und Güter in das jetzt ausgebaute Dachgeschoss gehievt hatte. Solveigh hatte die obersten beiden Stockwerke des Hauses angemietet, was deutlich luxuriöser klang, als es tatsächlich war: Zweiundsiebzig Quadratmeter heller Holzboden mit schwarz gestrichenen Deckenbalken und weißen Wänden. Aber immerhin ein selbst erarbeitetes Zuhause, so sah es Solveigh, die in einem Hamburger Problembezirk aufgewachsen war.
Die Prinsengracht lag in dichtem Nebel, den die Straßenlaternen kaum durchdrangen, und die vorbeieilenden Studentengruppen lachten dumpf zu ihrem spitzen Fenster herauf. Sie mochte dieses kleine Disneyland von einer Stadt inmitten der Kanäle mit den unentwegt klingelnden Fahrradfahrern und den windschiefen Gebäuden, die aussahen wie Puppenhäuser. Sie setzte gerade das Glas an, um einen weiteren Schluck Wein zu trinken, als ihr Handy klingelte. Sie griff nach links und fummelte in der Sofaritze nach der glatten Oberfläche. Eine SMS. Die Nachricht war von Marcel, er musste am Flughafen in Frankfurt umsteigen und wartete auf seine Maschine nach Tel Aviv, eine heillose Verspätung inklusive. Seine SMS waren seltener geworden, stellte Solveigh fest. Und weniger aufregend, mehr alltäglich. Am Anfang ihrer Beziehung, die nun schon fast ein Jahr dauerte, hatten sie sich fast täglich geschrieben. Solveigh während eines Einsatzes irgendwo in Europa und er in seinem alten Leben bei seiner Exfreundin Linda in seiner Pariser Studentenbude. Seitdem hatte er sich sehr verändert, größtenteils zum Positiven, vielleicht sogar durch sie. Sie schickte eine schnelle Antwort und wünschte ihm alles Gute für seinen ersten Auftrag. Als sie die Nachricht abgeschickt hatte, fragte sie sich, ob sie zu geschäftsmäßig geklungen hatte. Nachdenklich nahm sie noch einen Schluck Rotwein. Sie hoffte nicht, aber sie wusste es nicht mehr so genau, zumindest heute nicht. Solveigh merkte, wie der Wein sie schläfrig machte. Sie legte sich auf die Seite und starrte noch eine Weile hinüber zur Küchenzeile, wo die Uhr der Mikrowelle 23.04 anzeigte, als sie plötzlich ein vertrautes Geräusch wahrnahm. Sie bekam einen Anruf auf ihrem Laptop. Das leise Zirpen wurde langsam lauter. Das konnte nur Eddy sein, ihr engster Kollege und bester Freund, der vermutlich wie so oft bis spätabends im Büro saß. Der, dem sie diese Wohnung zu verdanken hatte und ihren Job bei der ECSB. Seufzend stand Solveigh auf und ging hinüber zu ihrem Schreibtisch, der genau vor der großen Fensterfront stand. Tatsächlich war es Eddy, dessen Konterfei sie bereits vom Monitor anlächelte. Allerdings nicht aus dem Büro, sondern offenbar aus einer Kneipe, im Hintergrund erkannte sie die langen Flaschenreihen seiner Lieblings-Tapasbar. Eddy Rames war Spanier und verzichtete als solcher ungern auf ein gutes, spätes Abendessen, auch wenn es hieß, dass er seinen Rollstuhl über die nicht behindertengerechte Treppe im Saragossa wuchten musste. Sie griff nach ihrer Brille, einem dickrandigen Designermodell, in dessen Gestell eine hochauflösende Kamera verbaut war. Es war ein wichtiger Teil ihrer Ausrüstung und diente normalerweise dazu, dass Eddy auf seinem Bildschirm in der Zentrale stets das sehen konnte, was sie bei einem Feldeinsatz vor Augen hatte. Heute würde es ihm etwas anderes zeigen. Solveigh setzte die Brille auf die Nase und lief die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Sie schaltete das Licht ein und zerwühlte das Laken. Der Laptop würde die Kamera als Signalquelle von alleine erkennen. Wunder der Technik, oder besser: der Militärtechnik, korrigierte sich Solveigh. Es hat schon seine Vorzüge, die gesamten Ressourcen der Europäischen Union anzapfen zu können, dachte Solveigh, als sie die Taste drückte, um das Gespräch anzunehmen.
»Eddy«, sagte sie mit gespielt vorwurfsvollem Ton. »Siehst du das da? Das ist ein Bett, mein Bett. Und weißt du, was hier nicht stimmt?« Ohne seine Antwort abzuwarten, sagte sie: »Richtig. Ich liege nicht drin. Eddy, was willst du?«
»Slang, hör zu, es gibt Neuigkeiten …«
Er nannte sie bei ihrem Spitznamen, so weit alles wie immer. Aber sein Tonfall ließ sie stutzen. Irgendetwas musste passiert sein, hier ging es nicht um eine ihrer durchaus üblichen längeren Abendunterhaltungen über das Chatprogramm der ECSB, das sich nicht nur für die Polizeiarbeit, sondern auch perfekt zum Schachspielen eignete.
»Was ist los, Eddy?«
»Sitzt du?«, fragte ihr Kollege, der sonst jedes Wort auf die Goldwaage legte und jedes Gramm davon zu viel als Verschwendung erachtete.
Solveigh hatte gelernt, ihm blind zu vertrauen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, weswegen, in Gottes Namen, sie sich hätte hinsetzen sollen. Trotzdem ließ sie sich auf der niedrigen Kante ihres Betts nieder. Natürlich sah Eddy jede ihrer Bewegungen, sodass er nicht auf ihre Bestätigung warten musste.
»Er hat anbegissen, Slang.«
Solveigh wurde schlagartig hellwach und nüchtern. »Er, heißt, ER, oder?«, fragte sie flüsternd.
»Ja, Solveigh. Und diesmal kriegen wir ihn, das verspreche ich dir. Wenn ich mein Bier ausgetrunken habe, treffen wir uns im Büro, in Ordnung?«
Solveigh seufzte und griff nach ihrer Hose: »Manchmal wünschte ich, an dem Klischee der entspannten Südländer ohne jede Arbeitsmoral wäre doch etwas dran.«
Aber natürlich hatte er recht. Wenn es um IHN ging, konnten sie sich keine Verzögerung leisten. Und keinen Fehler. ER war der Einzige, der die ECSB jemals geschlagen hatte. Und keiner von ihnen würde das jemals vergessen.