Tel Aviv, Israel
04. September 2012 (zur selben Zeit)
Der bis auf den letzten Platz gefüllte Airbus A 340 setzte mit über zwei Stunden Verspätung zur Landung an. Marcel Lesoille seufzte, als der Fensterplatz die Sandalen über seine blauen Socken zog, kaum dass der Pilot die Anschnallzeichen ausgeschaltet hatte. Pflichtschuldig schälte er seine 1,85 Meter aus dem engen Sitz und stand gebeugt im Gang, während neben ihm seine Mitreisenden eifrig die Fächer leerten, nur um eine Minute länger am Gepäckband warten zu dürfen. Um die Zeit zu überbrücken, nahm er seine Kamera aus der gewachsten Messenger-Tasche und prüfte zum dritten Mal auf diesem Flug, ob die Batterien der 5000-Euro-Leica voll und der Speicherchip leer waren. Jungfräulich wie seine erste Freundin, grinste Marcel und starrte wieder dem aufgeregten Ehepaar vor ihm auf die gestreiften Hemdrücken. Zwei Reihen weiter vorne weckte eine junge Frau seine Aufmerksamkeit, die dem Bild, wie er sich Israelinnen vorgestellt hatte, schon ziemlich nahe kam. Schwarze dicht gelockte Haare, ein olivfarbener Teint und sehr geheimnisvolle, rabenschwarze Augen. Und sie schien ihn auch bemerkt zu haben. Er lächelte ihr zu, und sie wich seinem Blick nicht aus. Da sich Marcel mit Frauenblicken auskannte oder sich das zumindest einbildete, nahm er an, dass sie an ihm interessiert sein könnte. Grüne Augen, Lockenkopf, einigermaßen in Form, normalerweise funktionierte es. Auch frühe erste graue Haare mit Ende zwanzig hatten daran bis jetzt nichts geändert. Aber ihrem flüchtigen Interesse folgte kurz darauf eine unvermittelte Kühle, eine Distanz, die bei ihrem nicht einmal existenten Flirt überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte viel zu persönlich betroffen, vollkommen unsinnig. Über die Schultern des Ehepaares versuchte er ihren Blick zu erhaschen, diese schwarzen Augen zu fixieren, ihnen zuzulächeln, nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Aber sie war abgetaucht in eine andere Welt, die sich in weiter Ferne abspielte und in die ihr Marcel nicht folgen sollte. Als er sich Zentimeter für Zentimeter durch den engen Gang des überlangen A 340 schob und mit einem freundlichen Lächeln einem allein reisenden Asiaten den Vortritt ließ, dachte er für einen Moment an Solveigh. Sie hatte einen Auftrag in Osteuropa, irgendetwas Wichtiges, Unaufschiebbares. Wie immer. Er hatte sie seit zwei Monaten nicht mehr gesehen, nur einmal, für zwei Stunden auf ein sonniges Picknick im Jardin des Tuileries. Keine Frage, sie war eine tolle Frau, dachte er, während er weiter vorne nach dem dunklen Haarschopf Ausschau hielt. Sie hatten so vielversprechend angefangen: er, der verirrte Medizinstudent auf Sinnsuche, und sie, die aufregende Polizistin irgendeiner geheimen Sondereinheit der EU-Kommission. Und sie hatte ihn mit ihrer schieren Willenskraft und ihrem unerschütterlichen Glauben daran, dass man alles erreichen kann, was man will, auf den richtigen Weg geführt. Auf die richtige Schiene gehievt, würde Solveigh sagen. Und es stimmte. Vom ambitionierten Hobbyfotografen hatte er es bis zu einem Praktikum bei der angesehenen Zeitung L’Echo Diplomatique gebracht. Immerhin. Er war fast schon ein richtiger Fotojournalist. Und seine letzte Reportage hatte sogar einen Preis gewonnen. Keinen wichtigen, aber immerhin einen Preis. Aber sollte er deshalb leben wie ein verdammter Mönch? Schließlich wusste er ja auch nicht, wen sie im Rahmen ihrer ach so geheimen Aufträge alles mit ins Bett nahm, oder? Egal, sie ist sowieso verschwunden, dachte er, als er den dunklen Lockenkopf am Gate immer noch nicht wieder zu Gesicht bekommen hatte. Er zuckte mit den Achseln. Wir werden sehen, was das Leben uns bringt. Tel Aviv und seine Frauen schienen ihm jedenfalls eine aufregende Alternative zu sein, auch wenn er immer noch nicht wusste, was er von diesem Land und seiner Politik halten sollte. Zu widersprüchlich waren all die Positionen, die er dazu in den letzten Jahren gehört hatte, und er war froh, dass ihm seine Story die Gelegenheit geben würde, sich selbst eine Meinung zu bilden.
Nachdem er die Passkontrolle hinter sich gelassen und bei dem Grund für seine Reise zumindest nicht die volle Wahrheit angegeben hatte, sammelte er sein Gepäck ein und betrat die große Ankunftshalle, in der Taxifahrer und einige Nonnen auf ihre jeweils sehr unterschiedliche Klientel warteten. Ein weitverzweigtes Brunnensystem aus Edelstahl, über dessen Kanten ständig Wasser von einem halb offenen Rohr zum nächsten Becken plätscherte, verbreitete den Geruch von Chlor. Was für eine Symbolik: Das 1948 gegründete Israel begrüßte Einreisende mit einem Brunnen, der nach Chlor stank. Ob dies von den Entscheidungsträgern beabsichtigt gewesen war, als sie der Installation zugestimmt hatten, wagte Marcel zu bezweifeln. Er schoss ein paar Fotos aus der Hüfte, um nicht aufzufallen. Die Präsenz der Sicherheitskräfte wirkte auf eine passive Art bedrohlich. Und man konnte sich nicht sicher sein, ob es geduldet wurde, den Flughafen Ben Gurion zu fotografieren, der als eines der terrorgefährdetsten Gebäude der Welt galt.
Als er durch die vergilbten Automatiktüren in die Sonne trat, sah er sie wieder, die geheimnisvolle Schönheit von Sitz 45H. Sie lehnte an einem Pfeiler aus Beton gegenüber dem Eingang des Flughafenbahnhofs und rauchte eine Zigarette. Er hätte schwören können, dass sie ihm hinter der dunklen Sonnenbrille direkt in die Augen sah, aber sie ließ sich nicht anmerken, ob sie ihn wiedererkannt hatte. Marcel blieb nichts anderes übrig, als die Treppe hinunter zu den Gleisen zu nehmen, ihm fiel auf die Schnelle einfach kein guter Grund an, sie anzusprechen. Auf der fünften Stufe klingelte sein Handy: Solveigh. Vielleicht ist es besser so, dachte Marcel, kurz bevor er die Taste zum Annehmen des Gesprächs drückte, und nahm sich vor, die dunkelhaarige Schöne diesmal wirklich zu vergessen.
Als Marcel am nächsten Tag in seinem einfachen Hotelzimmer aufwachte, schien ihm die Sonne durch die hauchdünnen Vorhänge direkt ins Gesicht. Er öffnete das Fenster und sah hinaus auf die viel befahrene Ben Yehuda, eine der Hauptverkehrsadern der Innenstadt, die parallel zur Strandpromenade Richtung Süden verlief und an der die meisten der günstigeren Hotels lagen. Da er weder Budget noch einen genauen Plan hatte, wie er seine Reportage über die israelische Sabotageaktion des iranischen Atomprogramms angehen sollte, beschloss er, einen Morgenlauf am Strand einzuschieben, um ein erstes Gefühl für die Stadt zu bekommen. Marcel liebte es, sich Städte joggend zu »erlaufen«, man schafft einige Strecke und kann sie trotzdem mit allen Sinnen genießen, anstatt in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder einem stickigen Taxi festzusitzen, wobei sein Budget Letzteres ohnehin nicht hergegeben hätte. Eine Dreiviertelstunde oder 8,5 Kilometer später stand er erfrischt unter der Dusche und wusste, dass auch Tel Aviv das klägliche Ergebnis stadtplanerischer Ideen der Siebzigerjahre war, die überall auf der Welt die Strände von Großstädten am Meer verschandelt hatten. Dicht verbaut und mit einer überaus schnell befahrenen Straße zwischen Innenstadt und Promenade, die mutige Fußgänger nur mit einem gewissen Gottvertrauen in die Bremswilligkeit der Tel Aviver überqueren konnten. Den Rest des Tages verbrachten Marcel und seine geliebte Leica in den Straßen der Stadt. Seinen Kontakt beim Mossad, dem israelischen Auslandsgeheimdienst, würde er erst morgen anrufen, er hatte die Maschine einen Tag früher als geplant erwischt, und so wusste niemand, dass er bereits im Land war. Zumindest dachte Marcel, dass niemand seine Ankunft wahrgenommen hatte.
Am Abend ließ sich Marcel am Tresen des Hotels ein Restaurant empfehlen und bekam ein Fischlokal auf der Dizengoff genannt, das sehr beliebt sei. Vor allem bei den Frauen, wie der einigermaßen schmierige Portier mit einem wissenden Grinsen ungefragt ergänzte. Achselzuckend fügte sich Marcel in sein Schicksal, wenigstens konnte er die Strecke vom Hotel locker laufen, und in die größte Shoppingmeile der Stadt hatte es ihn heute auch noch nicht verschlagen. Als er das kleine Lokal betrat, fiel sie ihm sofort auf: Dort saß an der Bar, hinter der sich die schlauchförmige offene Küche befand, sein Flirt aus dem Flugzeug, die langhaarige, sonderbare Schönheit, die ihn danach nicht mehr erkannt haben wollte. Sie war mit einer Freundin unterwegs, die beiden lachten ausgelassen. Marcel beschloss, diesen unglaublichen Zufall als Wink des Schicksals aufzufassen, und wählte einen Platz in der Ecke, sodass er ihr fast direkt gegenübersaß. Er bestellte einen Weißwein und grinste zu ihr herüber. Zwischenzeitlich schien sie ihre Erinnerung wiedergefunden zu haben, denn sie prostete ihm fröhlich zu, und als sich ihre Freundin eine halbe Stunde später verabschiedete, ergriff er die Gelegenheit beim Schopfe und lud sie auf ein Glas Wein ein, als Wiedergutmachung für die Verspätung ›seiner Airline‹. Auf ihren Hinweis, er sei doch nicht einmal Deutscher und wie er sich da für die Lufthansa-Verspätung verantwortlich fühlen könne, entgegnete er, dass Franzosen bei dem Versuch, eine schöne Frau kennenzulernen, noch keine Lüge je zu abwegig gewesen sei. Er fand es einen dummen Spruch, aber sie schenkte ihm ein fröhliches Lachen. Nach einem Hinweis auf die Überlegenheit der französischen Küche und dem beabsichtigten Protest ihrerseits schaffte er es wenig später, sie zu einem gemeinsamen Abendessen zu überreden.
Als der Hauptgang aufgetragen wurde, Pasta mit Meeresfrüchten, eine Empfehlung von Yael, wuchs in Marcel das eigentümliche Gefühl, dass er von ihr ausgefragt wurde. Das zweifellos charmanteste und attraktivste Verhör, das Marcel je erlebt hatte, aber nichtsdestotrotz ein Verhör. Sie wusste mittlerweile, dass er für den Echo arbeitete und hinter welcher Story er her war, sie wusste, dass er mehrere Jahre Medizin studiert hatte, bevor er sich seiner Leidenschaft, der Fotografie und dem Journalismus, gewidmet hatte, nur seine Beziehung zu Solveigh hatte er ihr verschwiegen. Er fragte sich, ob er für seinen neuen Beruf überhaupt geeignet war, denn er wusste bisher so gut wie nichts über sie, außer dass sie Yael hieß. Deshalb brachte er zwischen zwei Gabeln vorzüglicher Nudeln die Sprache auf sie. Er war wirklich gespannt darauf, wie sie reagieren würde.
»Was bedeutet eigentlich der Name Yael? Klingt irgendwie biblisch.« Was für ein dämlicher Versuch, schalt sich Marcel innerlich, aber Yael lachte ihn an.
»Nicht ganz falsch, mein liebenswerter Franzose. Yael taucht im Buch der Richter auf, sie vernichtete angeblich einen Feind Israels. Aber er bedeutet auch Bergziege.« Dazu legte sie den Kopf schief.
»Wie passend«, befand Marcel und pulte eine orangefarbene Muschel aus der Schale.
»Und was machst du, Yael? Also, ich meine, was arbeitest du? Oder studierst du?«, wollte Marcel wissen. Yael zögerte einen Moment zu lange, sodass Marcel klar war, dass sie irgendetwas vor ihm verbergen wollte. Vermutlich hatte sie einen Freund, der zu Hause auf sie wartete. Ihre Antwort verblüffte ihn trotzdem: »Wieso ist das wichtig, Marcel? Ja, ich studiere. Aber wieso möchtest du das wissen? Du musst noch viel über uns israelische Frauen lernen.«
»Ich denke, das könnte mir gefallen«, sagte Marcel und grinste.
»Und über unser Land«, fügte sie hinzu.
Marcel nickte: »Natürlich. Das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin. Die Konflikte, eure Nachbarn, der Gazastreifen, der drohende Krieg, ich möchte so viel wie möglich über alles erfahren.«
Yael starrte auf ihren Teller und bemerkte nach einem nachdenklichen Bissen: »Um unser Land zu verstehen, ist es wichtig, unsere Geschichte zu kennen. Die frühe wie auch die jüngere. Wusstest du zum Beispiel, dass dieses Lokal hier«, sie deutete mit dem Finger auf die Bar, »einer der wichtigsten Kontaktplätze beim Zorn Gottes war?«
Operation Zorn Gottes. Marcel hatte seine Hausaufgaben gemacht. Unter diesem Decknamen hatte der Mossad in den Siebzigerjahren die Liquidierung der Olympia-Attentäter durchgeführt. Er schluckte und schüttelte den Kopf.
»Nein, natürlich nicht«, sagte er.
»Lass uns aufessen und über die schönen Dinge reden, und dann gehen wir spazieren. Glaubst du, es könnte dir gefallen, mit mir zu Ende zu essen, Marcel?« Sie sprach das ›c‹ kehlig aus, sein Name klang auf einmal sehr exotisch. Marcel hatte keine Einwände.
Zwei Gläser Wein und ein Dessert später, auf dem Yael bestanden hatte, schlenderten sie über den Rothschild Boulevard, sie hatte sich bei ihm untergehakt. Für jeden Außenstehenden mussten sie aussehen wie ein Liebespaar, das wie so viele andere in der lauen Septembernacht über die baumgesäumte Prachtstraße der Stadt schlenderte, die in der Mitte für Fußgänger reserviert war. Marcel versuchte immer noch die spezielle Stimmung dieser Stadt zu ergründen, aber er konnte nicht fassen, was ihn so faszinierte. Sie hatte ein hässliches Gesicht und strahlte trotzdem, sie lachte einem ins Gesicht – direkt und ohne an dir vorbeizuschauen. Selbst jetzt, in der Nacht, schaute sie dir direkt in die Augen, als wolle sie dich prüfen, und dir, wenn sie dich für gut befand, das Paradies bieten. Tel Aviv hatte etwas sehr Sexuelles, nicht im konkreten, mehr in einem eigentümlich indirekten Sinn. Wenn er jemals etwas Sinnvolles über diese Stadt schreiben wollte, würde er das besser formulieren müssen, dachte Marcel, als er ihr davon erzählte.
»Und du willst etwas über unser Land und den Iran schreiben?« Sie lachte und lehnte ihren Kopf an seine Brust, ihre Locken schmiegten sich an sein Hemd. Er legte eine Hand um ihre schlanke Taille und blieb stehen. Das Licht einer Laterne schien ihr auf die blauschwarzen Haare. Sie sah ihn an, ihre Lippen öffneten sich ein wenig, die Andeutung einer Einladung. Eine Einladung, die Marcel nicht ablehnen konnte, diese Affäre war unausweichlich, das hatte er in der Sekunde beschlossen, als er sie zufällig wiedergetroffen hatte. Als sich ihre Lippen wieder trennten, keuchte sie ein wenig.
»Hast du deshalb in dem Lokal auf mich gewartet?« fragte Marcel mit einem verschmitzten Lächeln.
Yael schien kurz irritiert zu sein. »Unter anderem«, sagte sie geheimnisvoll, und Marcel sah sie verwundert an. Irgendetwas an dieser anziehenden Frau stimmte nicht, aber ihm wollte partout nicht einfallen, was das sein könnte. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen und zog sein Gesicht zu sich heran.