KAPITEL 2

Moskau, Russland
04. September 2012 (einen Tag später)

Dimitrij Sergejewitsch Bodonin legte den Ball auf den Elfmeterpunkt, und obwohl er nach siebenundachtzig Minuten bereits schwitzte wie ein Wasserbüffel auf der Flucht, lief es ihm jetzt eiskalt den Rücken hinunter. Er war der Kapitän, bei ihm lag die Verantwortung, gerade bei einem 0:1-Rückstand gegen ein erdrückend überlegenes Team. Und obwohl es bei der Klasse, in der ihr zusammengewürfelter Haufen antrat, um nichts weiter ging als Ruhm und Ehre an der Technischen Universität, spürte er dennoch die Last der Erwartungen auf seinen Schultern. Tonnenschwer. Und elf Augenpaare plus die auf der Bank, die sich in seinen Rücken bohrten. Noch einmal bückte sich Dimitrij zum Leder hinunter – nur um Zeit zu gewinnen – und drehte den Ball einmal in der Luft, um ihn auf dem gleichen Punkt wieder abzulegen. Er atmete tief ein, beugte den Oberkörper leicht nach links, um dem Torwart anzudeuten, dass er das rechte Eck wählen würde. Die Sonne trat hinter einer Wolke hervor. Zu spät. Er lief an, riss im vollen Lauf das rechte Bein nach hinten und drosch das Leder Richtung Kasten …

Zwanzig Minuten später standen die Mitglieder des Uni-Freizeitclubs FC Sehr Roberto unter der Dusche, und Viktor klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Mach dir nichts draus, Dimitrij Sergejewitsch, das kann jedem passieren. Außerdem stand die Sonne wirklich beschissen.« Dimitrij glaubte dem üblicherweise Poloshirts tragenden Juppie kein Wort. Natürlich nahm er den misslungenen Elfer persönlich, Sonne hin oder her, aber er ließ es sich nicht anmerken. Schließlich gab es noch ein nächstes Spiel, und der Trupp sollte nicht von einem frustrierten Kapitän weiter demoralisiert werden. So lächelte er Viktor zu und drückte gedankenlos eine extragroße Portion Haarwaschmittel aus der Plastikflasche.

Auf dem Parkplatz lief ihm Viktor zum zweiten Mal über den Weg, die Haare frisch gegeelt, Sonnenbrille im Haar. Sie kannten sich noch nicht sonderlich gut, Viktor spielte erst seit zwei Monaten in ihrem Verein und studierte Wirtschaft und nicht Computerwissenschaften, wie die meisten anderen.

»Hey, Dimi«, nannte Viktor ihn bei seinem Kosenamen, der ihm verhasst war, aber auch das ließ er sich gegenüber seinen Freunden nicht anmerken, »sehen wir uns heute Abend im Prospekt?« Dimitrij seufzte innerlich. Während Viktor seine Sporttasche in einem scheinbar nagelneuen Golf verstaute, nutzte er die Zeit, um nachzudenken. Das Prospekt war ein unter Studenten sehr angesagter Klub, aber leider auch entsprechend kostspielig. Sein Budget als Sohn eines mittleren Angestellten und einer Russischlehrerin reichte für maximal zwei Besuche eines solchen Klubs im Monat. Und obwohl er schon an seiner Kandidatur-Dissertation schrieb, war er auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen.

»Hey, was ist das Problem?«, fragte Viktor und legte einen Arm um ihn. »Wenn es um die Kohle geht, mach dir keine Gedanken, mein Alter zahlt.«

Dimitrij blickte ihn skeptisch an, aber Viktor grinste nur verschwörerisch: »Er hat mir gesagt, ich könne mitnehmen, wen ich wolle. Sein schlechtes Gewissen, dass er sich so wenig um mich kümmert, weißt du?«

Dimitrij nickte. Was hätte er auch sonst tun sollen? Und wenn er ehrlich war, wollte er natürlich ins Prospekt. Die schärfsten Bräute an der Uni gingen ins Prospekt.

»Weißt du was?«, raunte Viktor ihm konspirativ zu. »Manchmal glaube ich, ich liebe sein schlechtes Gewissen mehr als ihn selbst.«

Vielleicht war er ja doch kein so schlechter Kerl, dachte Dimitrij auf dem Rückweg in seine Wohnung. Immerhin schien er mit der Kohle seines Vaters ganz okay umzugehen. Klar, er ließ es ein bisschen raushängen, aber bei Weitem nicht so schlimm wie viele andere. Ich muss dringend rauskriegen, wer eigentlich sein Vater ist, nahm sich Dimitrij vor und stellte in seinem Kopf schon einmal die Suchbefehle zusammen. Während er durch die grauen Betonklötze des Studentenwohnheims lief, schrieb er im Kopf dazu ein kleines Computerprogramm, das ihm vielleicht noch etwas mehr über Viktors Vater verraten würde. Das waren die Privilegien eines armen Studenten, aber immerhin eines Studenten der besten Hightech-Uni, die Russland zu bieten hatte.

Die Schlange vor dem Prospekt an diesem Abend war lang, die überwiegend jungen, gut angezogenen und vor allem gut aussehenden Menschen scharten sich fast den gesamten roten Klinkerbau entlang bis zur nächsten Straßenecke. Geduldig reihte sich Dimitrij am Ende der Schlange ein und flirtete mit dem Mädchen vor ihm, einer rothaarigen, zierlichen Kommilitonin, die er aus der Mensa kannte. Sie trug ein weißes Tanktop, einen sehr kurzen Rock und Schuhe mit den höchsten Absätzen, die Dimitrij je gesehen hatte. Sie amüsierten sich prächtig, und Dimitrij gelangte zu der Überzeugung, dass er sich bei ihr vielleicht sogar eine Chance ausrechnen durfte. Wenn nicht wieder einer dieser neureichen Schnösel mit den großen Autos und Brieftaschen so dick wie seine Doktorarbeit auftauchte und sie ihr im letzten Moment wegschnappte. Junge Russinnen, wie wahrscheinlich junge Frauen überall auf der ganzen Welt, konnten unglaublichem Reichtum einfach nicht widerstehen. Geld schon, kein Mädchen heiratete einen Mann seines Geldes willen, wenn er nur doppelt so viel verdiente wie sie. Aber die Sorte Reichtum, bei dem Geld keine Rolle mehr spielte, die Jachten, die Villen in Cannes, die Ferraris, das war etwas anderes. Die Schlange bewegte sich kaum, es konnte Stunden dauern, bis sie auch nur einen Fuß in den Klub setzen würden, aber Dimitrij genoss die Zeit mit Maja. Sie lachte gerade über einen seiner Scherze, als ihm jemand den Arm um die Schulter legte.

»Da bist du ja endlich«, begrüßte ihn Viktor. »Was ist los, wollen wir nicht reingehen? Komm mit!« Er zog ihn weg von Maja, aber Dimitrij wollte Maja auf keinen Fall alleine lassen.

»Maja kommt mit«, sagte Dimitrij bestimmt. Viktor zuckte mit den Schultern und lief vorneweg, an der gesamten Schlange vorbei bis zum Eingang. Als Viktor das schwarze Schirmchen am VIP-Eingang sah, unter dem dunkel gekleidete Türsteher die Arme verschränkten, wurde Dimitrij klar, warum sich Viktor aufführen konnte, als gehörte ihm der Club höchstpersönlich. Sie zierte das Logo der Wodkafabrik, bei der sein Vater als CEO arbeitete. Die neue obere Mittelschicht. Bei Weitem unterhalb der Oligarchen, aber für russische Verhältnisse astronomische Gehälter auf Westniveau, wie Dimitrij seit heute Nachmittag aufgrund eines Geschäftsberichts auf der Firmenwebsite wusste. Als die Security-Leute ihnen die Tür aufhielten, warf er einen Blick auf Maja. Sie sah sehr glücklich und stolz aus. In diesem Moment beschloss Dimitrij, dass es gut war, Viktor als Freund zu haben, auch wenn er ihn anfangs für einen aufgeblasenen Schnösel gehalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt machte er sich keine Gedanken darüber, welchen Preis diese Freundschaft mit ihren Privilegien haben könnte. Das kam später.