Prag, Tschechische Republik
07. September 2012, 22.05 Uhr (vier Tage später)
Um exakt 22.05 Uhr betrat die brunette Mittdreißigerin die Lobby des Hotels Maria in der Prager Altstadt durch eine schwere Drehtür in der Mitte der Fensterfront. Die breitrandige Brille verlieh ihrem ansonsten sehr geschäftsmäßigen dunkelblauen Kostüm eine modische Note. Der Rock war eng, endete aber erst knapp unter dem Knie, ihre Bluse blütenweiß und der Ausschnitt nicht zu provokant. Sie hätte eine hochrangige Vertreterin einer Fluggesellschaft oder eines internationalen Lebensmittelkonzerns sein können. Allein der Inhalt ihrer braunen Ledertasche hätte alle diese ersten Eindrücke Lügen gestraft. Ihre braunen High Heels klackerten auf dem Steinboden, und einige der Geschäftsleute, die in den modernen Ledersesseln auf was auch immer warteten, blickten ihr hinterher, als sie an den Tresen des Concierges trat. Der Rest des ECSB-Teams arbeitete im Hintergrund fieberhaft an der Falle, die sie ihrem größten Widersacher stellen wollten, seit Monaten warteten sie darauf, dass Thanatos, Europas erfolgreichster Auftragskiller der letzten zwanzig Jahre, einen ihrer fingierten Aufträge annahm. Und es sah so aus, als hätten sie in Prag Glück gehabt. Es war eine heikle Mission, zumal sie ohne offizielles Mandat durchgeführt wurde, nur die tschechische Regierung war informiert. William Thater, der Chef der ECSB, hatte ihnen sämtliche Ressourcen der Organisation versprochen, als Thanatos im letzten Jahr einen Kollegen zum Krüppel geschlagen hatte, und er hatte Wort gehalten. Allerdings nicht, ohne sie immer wieder daran zu erinnern, wie vorsichtig sie vorgehen mussten.
Agent Solveigh Lang entschied sich für den Fahrstuhl, gemeinsam mit einem offenbar frisch verliebten Pärchen, das der Kleidung und ihrer Stimmung nach einen Opernabend oder Ähnliches hinter sich haben musste. Die Tür schloss sich überaus sanft, und noch bevor sich die Kabine in Bewegung setzte, knackste der Sprechfunk in ihrem linken Ohr: »Slang, nach wie vor keine Signatur«, meldete eine ihr wohlvertraute Stimme. Sie nickte kaum merklich, um den Kollegen über die Kamera in ihrer Brille mitzuteilen, dass sie verstanden hatte. Der Fahrstuhl bremste sanft und vermeldete mit einem dumpfen Dreiklang die Ankunft im vierten Stock. Unglücklicherweise stieg das Pärchen mit ihr aus, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als die Schlüsselkarte ihres Zimmers aus der Rocktasche zu ziehen, um den Eindruck zu erwecken, sie habe die Nummer vergessen. Erleichtert stellte sie fest, dass die angeschickerten Turteltäubchen den Westflügel bewohnten, während ihr Ziel gen Osten lag. Ohne ein erkennbares Zeichen von Eile steckte sie die Karte zurück in ihre Rocktasche, ihr eigenes Zimmer lag nicht einmal auf diesem Stockwerk. Während sie den langen Flur hinunterlief, war sie froh, dass der dicke Teppichboden alle Geräusche ihrer Schritte schluckte. Erneut knackte der Sprechfunk in ihrem Ohr: »Noch immer nichts«, vermeldete Eddy in gewohnt knappen Worten, und kurz darauf stand sie vor der Tür mit der Nummer 416. Solveigh atmete tief ein. Dann los, ermunterte sie sich und schob die Universal-Schlüsselkarte in den Chipleser. Ein kaum hörbares Klicken im Schloss und eine winzige grüne Leuchtdiode zeigten ihr, dass sie die Tür öffnen konnte. Ein letztes Mal warf sie einen Blick in den menschenleeren Korridor und zog die Jericho. Mit einem gleichmäßigen Schwung drückte sie mit der Hüfte die Tür auf und betrat das Zimmer des Killers, die Waffe im Anschlag.
Keine halbe Minute später wusste Solveigh, dass sich Eddys Sensoren nicht getäuscht hatten: Thanatos war nicht da, und obwohl diese Tatsache exakt ihrem Plan entsprach, war Solveigh beinah ein wenig enttäuscht darüber. Aber sie wusste, dass Rache kein besonders guter Ratgeber in ihrem Geschäft war, und sie zählte zu den besten Field Agents der ECSB. Eiserne Disziplin gehörte zu ihren wichtigsten Grundsätzen, und daher schluckte sie ihre Emotionen herunter, um sich ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuwenden. Ihr Besuch in dem Hotelzimmer mit den blickdicht zugezogenen Gardinen hatte einen viel schlichteren Grund, als man es hätte erwarten sollen. Ihr Ziel war nicht der Attentäter selbst, sondern sein Gepäck. Und so durchsuchte sie nacheinander den Kleiderschrank und den kleinen schwarzen Rollkoffer, um seine Kleidungsstücke eins nach dem anderen zu katalogisieren. Die hochauflösende Kamera in ihrer Designerbrille verzeichnete ein Hemd nach dem anderen: das blaue, das weiße, das karierte, eine Baseballmütze, einen grauen Hut, vier Hosen und ein paar Schuhe. Das Wechseln von Schuhen gehörte auf der Flucht nicht zu den probaten Mitteln, etwaige Verfolger abzuschütteln, das Wechseln der Kopfbedeckung oder das Ausziehen eines Hemds, um zu einer zweiten Kleidungsschicht zu gelangen, hingegen schon, und sie mussten auf alles vorbereitet sein. Indem Eddy, ihr zweites Gehirn, in einem leer stehenden Apartment auf der anderen Straßenseite das Verschlagworten übernahm, hatte Solveigh binnen weniger Minuten, was sie brauchte. Beim Schließen des Koffers achtete sie peinlich genau darauf, alles exakt so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte, ebenso beim Zurückhängen der Bügel an die offene Kleiderstange. Eddy, der sich die Aufnahmen ihrer Kamera vom Betreten des Raums jederzeit wieder anschauen konnte, korrigierte hier und da eine Kleinigkeit: »Der Bügel ganz links hing leicht schräg, sodass der Mantel die Schubladen berührt«, ermahnte er sie beispielsweise. Als Letztes widmete sich Solveigh einem einfachen, aber effektiven Klassiker im Spionagegeschäft: dem unsichtbaren Schloss. Da die Tür des Zimmers nach innen aufging, kam nur der Boden direkt davor infrage. Solveigh bückte sich und scannte den Teppich. Sie fand das sogenannte unsichtbare Schloss in Form eines abgebrannten Streichhölzchens, das vom Türblatt gefallen sein musste, als sie das Zimmer betreten hatte. Da ihr Eddy in diesem Fall nicht von Nutzen sein würde, testete sie mehrfach mit demselben Schwung, mit dem sie die Tür geöffnet hatte, und legte das Hölzchen schließlich etwa zwanzig Zentimeter vom linken Rand entfernt auf die Tür. »Thermo?«, fragte sie Eddy, von dem sie wissen wollte, ob der Gang auf ihrem Stockwerk leer war. »Negativ«, antwortete ihr Kollege, und so zog sie mit einem letzten Blick zurück ins Zimmer vorsichtig die Tür ins Schloss. Nicht einmal einer der meistgesuchten Auftragsmörder der Welt würde ahnen, dass jemand in diesem Zimmer gewesen war. Jemand, der nun wusste, auf welche Kleidungsstücke sie bei einer Verfolgung achten mussten, und jemand, der fest entschlossen war, Thanatos diesmal nicht entkommen zu lassen.
Am nächsten Mittag saß Solveigh im Restaurant Francouská an einem Fensterplatz direkt hinter einem Aufkleber, der für ein günstiges Mittags-all-inclusive-Menü warb. Das Francouská bot Touristen einen riesigen, prunkvollen Jugendstilsaal, gehobene tschechische Küche und lächerlich überzogene Weinpreise mit Blick auf den Platz der Republik. Sie trug nicht mehr das dunkelblaue Kostüm, mit dem sie in dem Hotel kaum aufgefallen war, sondern eine Jeans, eine billige weiße Jacke und Turnschuhe. Während um sie herum die spärlich besetzten Tische auf einen sehr langsamen Kellner und ihr Essen warteten, wartete sie bei einem Glas Rotwein, das sie nicht anrührte, auf Thanatos. Ihre Geduld wurde nicht allzu sehr strapaziert, denn keine zwanzig Minuten später kündigte Eddy über den Sprechfunk an, dass er das Maria verlassen hatte. Thater, der in der Lobby des Hotels mit einem Blackberry scheinbar seine E-Mails beantwortete, hatte ihn identifiziert. Solveigh, die ihn draußen übernehmen sollte, knallte einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch und schnappte sich ihre Handtasche, die wichtig war. Nicht nur, weil Frauen ohne Handtaschen zwangsläufig auffielen, sie enthielt auch ihre Jericho, da ihr selbst ein Schulterholster durch die auffällige Beule, die es zwangsläufig erzeugte, zu riskant erschien. Sie stellte sich vor das Schaufenster eines großen Einkaufszentrums, in dem eine neue, von einer Formel-1-Firma lizensierte Schuhkollektion beworben wurde, und beobachtete in der Spiegelung die Straßenseite gegenüber. Eddy leitete ihr die Information weiter, dass Thanatos das blaue Jackett und ein weißes Hemd trug. Er benötigte etwa zwei Minuten vom Hotel bis hierher, und es war der einzig logische Weg, denn am Platz der Republik trafen sich sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel: der Taxistand sowie die Straßen- und die U-Bahn. Sie würde ihn nicht verpassen. Der Grund, warum sie ihn überhaupt aufwendig verfolgen mussten und ihn nicht einfach festnahmen, lag darin, dass sie ihm nach wie vor nichts beweisen konnten. Selbst das umfangreiche Archiv, das ein Kommissar in Stockholm über ihn angelegt hatte, reichte nicht für eine Verurteilung vor Gericht. Sie mussten ihn auf frischer Tat ertappen, und sie hatten die Falle, die heute zuschnappen würde, über Monate vorbereitet. Es war einer von fünf fingierten Aufträgen, die sie an Thanatos über Boten herangetragen hatten. Ihn direkt zu kontaktieren war schon einmal gründlich schiefgegangen, und so hatten sie ihre Fallen über aufwendig verschleierte Mittelsmänner ausgelegt. Und bei dieser einen hatte er angebissen. Bei der in Aussicht gestellten Summe hatte er wohl nicht widerstehen können, obwohl er immer weniger zu arbeiten schien. Die Frequenz der Attentate, die sie ihm zuschrieben, stagnierte seit Jahren. Auch Auftragsmörder gehen offenbar in Rente, vermerkte Solveigh, als sie plötzlich einen Mann bemerkte, der scheinbar ohne Eile auf der anderen Straßenseite an der Fassade des Francouská vorbeischlenderte, genau vor dem Fenster, hinter dem sie noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. Am Eingang zur U-Bahn blinzelte er kurz in die Sonne, bevor er die Stufen hinuntereilte. Solveigh sprintete quer über den Platz, ständig auf der Hut vor losen Pflastersteinen, die hier an der Tagesordnung waren. Auf der endlos langen, mit Holzimitat vertäfelten zweiten Rolltreppe, die hinunter zum Bahnsteig der U-Bahn führte, holte Solveigh ihn ein. Sie hielt sich etwa fünfzehn Personen hinter ihm, während die Stufen sie mit unfassbar hoher Geschwindigkeit tief unter die Stadt trugen. Das Schöne an Verfolgungsjagden in Großstädten war die Tatsache, dass das gängige Klischee aus Agentenfilmen in keiner Weise der Realität entsprach. Es war für einen Verfolgten in urbaner Umgebung beinah unmöglich, einen gut geschulten Schatten zu bemerken. Allenfalls simple Ganoven verhielten sich derart fahrlässig, dass sie in die Luft starrten oder im Stehen eine Zeitung vors Gesicht hielten. Solveigh wusste das aus eigener Erfahrung, und sie gedachte heute ihre Trümpfe bis zur letzten Karte auszuspielen.
»Sieht so aus, als wollte er Richtung Süden«, sagte Solveigh auf dem Bahnsteig, geschützt von einer beleuchteten Reklametafel. »Wo ist die Zielperson?«
»Auf dem Weg zum Gericht, wie abgesprochen. Glaubst du, er will dort zuschlagen?«
»Keine Ahnung, ich halte es nach wie vor für die unwahrscheinlichste Variante.«
»Bleib an ihm dran«, mischte sich Thater für seine Verhältnisse recht harsch ein. Er war der größte Verfechter der Gerichtstheorie. Es gehörte zum Wesen der ECSB, dass unterschiedliche Meinungen nicht wegdiskutiert, sondern akzeptiert wurden. Sie waren auf alle Möglichkeiten vorbereitet, die ihnen ein Team von über zwanzig Attentatsexperten anhand des Terminkalenders des Staatsanwalts ausgearbeitet hatte. Eines Terminkalenders, der dank der absichtlichen Unachtsamkeit seiner Sekretärin für fünf Tage nicht wie sonst üblich im Safe seines Büros eingeschlossen worden war. Am zweiten Tag hatten Solveigh und Eddy vom Büro darüber aus beobachtet, wie jemand eingebrochen war. Sie hatten nicht eingegriffen, denn sie hatten Thanatos erst dadurch genau dort, wo sie ihn haben wollten. Eine Stunde und eine der langweiligsten Verfolgungsjagden, die Solveigh jemals erlebt hatte, später war klar, dass er gar nicht daran dachte, den Staatsanwalt vor Gericht zu ermorden. Er irrte scheinbar ziellos durch die Straßen, fuhr im Kreis, nahm die Straßenbahn erst in die eine Richtung und dann wieder zurück, kaufte einmal Sandwich mit Hühnchen und Blauschimmelkäse und rauchte unablässig. Manchmal glaubte sie sogar den scharfen Tabak riechen zu können, wie kalter, verbrannter Dung. Solveigh hatte gerade die letzte Schicht Kleidung gewechselt und ein Baseballcap tief in die Stirn gezogen, als sie das Gefühl beschlich, an dieser Straßenecke schon einmal gewesen zu sein. In dieser Gegend gab es hauptsächlich unbedeutende, vom Smog stark verrußte Verwaltungsgebäude, Touristen verirrten sich kaum in diese Ecke, obwohl sie kaum zehn Minuten von den lebendigen Kopfsteinpflasterstraßen der Altstadt entfernt lag.
»Such nach Überschneidungen mit dem Terminkalender, hier in der Nähe waren wir heute schon«, bat sie ihren Kollegen, der vor einem leistungsstarken Rechner saß.
»Schon passiert, Slang«, vermeldete Eddy, dem der seltsame Zufall offenbar auch nicht entgangen war. »Gleich um die Ecke liegt das Restaurant, in dem er … warte kurz…nächsten Freitag mit dem Wirtschaftsattaché der deutschen Botschaft zu Abend essen wird.
»Der Attaché, das war eine Frau, oder nicht?«
»Ja, Dr. Andrea Falk, um genau zu sein.«
»Besorg uns Bilder, Eddy.«
Solveigh grinste, während sie zum vierzigsten Mal an diesem Tag die Straßenseite wechselte. Sie würden den Attaché einer europäischen Botschaft niemals wissentlich einer derartigen Gefahr aussetzen, sie war nicht eingeweiht, im Gegensatz zum Staatsanwalt, der freiwillig kooperierte. Und deshalb würde er an jenem Abend nicht mit einer deutschen Diplomatin speisen, sondern mit einem Agenten der europäischen Geheimpolizei ECSB. Solveigh freute sich beinahe ein wenig auf den Abend.