MARTINS HANDTUCH
Die meisten Männer, mit denen Glass Affären hatte, bekam ich nie zu Gesicht. Sie kamen spätabends nach Visible oder nachts, wenn Dianne und ich längst schliefen. Dann schlugen Türen, und unbekannte Stimmen mischten sich in unsere Träume. Morgens fanden sich hier und dort verräterische Spuren ihrer Existenz: ein noch warmer Becher auf dem Küchentisch, aus dem hastig starker Kaffee getrunken worden war; die Verpackung einer Zahnbürste im Badezimmer, achtlos zerknüllt und zu Boden geworfen. Manchmal war es nicht mehr als ein verschlafener Geruch, der in der Luft hing wie ein fremder Schatten.
Einmal waren es Telefone. Dianne und ich hatten das Wochenende bei Tereza verbracht, und als wir nach Hause kamen, standen die Apparate in unseren Zimmern, angeschlossen an frisch verlegte Kabel, der Putz an den Wänden noch feucht. Glass hatte sich einen Elektriker geangelt. »Jetzt hat jeder von uns seinen eigenen Apparat«, stellte sie zufrieden fest, Dianne im linken Arm, mich im rechten. »Ist das nicht fantastisch? Findet ihr das nicht wahnsinnig amerikanisch?«
Ich liege matt auf meinem Bett, als das Telefon klingelt. Die Julihitze hat mich erschlagen, sie kriecht selbst bei Nacht durch die Zimmer und Flure wie ein müdes Tier, das nach einem Schlafplatz sucht. Ich weiß, wer der Anrufer ist, weiß es seit drei Wochen. Kat – eigentlich Katja, aber bis auf ihre Eltern und einige Lehrer gibt es niemanden, der sie bei ihrem vollen Namen nennt – ist aus dem Urlaub zurück.
»Ich bin wieder da, Phil!«, schreit sie am anderen Ende der Leitung.
»Unüberhörbar. Wie war’s?«
»Ein Albtraum, und hör auf zu grinsen, ich weiß, dass du das gerade tust! Ich bin total elterngeschädigt, und die Insel war ein verdammtes Dreckloch, du kannst es dir nicht vorstellen! Ich will dich sehen.«
Ich blicke auf die Uhr. »In einer halben Stunde auf dem Schlossberg?«
»Ich wäre gestorben, wenn du keine Zeit hättest.«
»Willkommen im Club. Ich hab mich in den letzten drei Wochen fast zu Tode gelangweilt.«
»Hör zu, ich brauche länger, ungefähr eine Stunde? Ich muss noch auspacken.«
»Kein Problem.«
»Ich freu mich auf dich … Phil?«
»Hm?«
»Ich hab dich vermisst.«
»Ich dich nicht.«
»Dachte ich mir. Arschloch!«
Ich lege den Hörer auf, bleibe auf dem Rücken liegen und blinzele eine Viertelstunde lang das blendende Weiß der Zimmerdecke an. Zypressenduft wird vom Sommerwind in Wellen durch die geöffneten Fenster getrieben. Dann wälze ich mich aus dem verschwitzten Bett, greife nach Boxershorts und T-Shirt und tapse auf knarrenden Dielen durch den Flur in Richtung Dusche.
Ich hasse das Badezimmer auf dieser Etage. Der Rahmen der Tür ist verzogen, man muss sein ganzes Gewicht dagegenstemmen, um sie zu öffnen. Dahinter wird man von zersprungenen schwarzen und weißen Kacheln, von Rissen in der Decke und rieselndem Putz begrüßt. Das veraltete Leitungssystem benötigt drei Minuten, bis es endlich Wasser liefert; im Winter ist der daran angeschlossene rostige Boiler nur durch heftige Fußtritte dazu zu bringen, sich entnervend langsam aufzuheizen. Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche dem vertrauten asthmatischen Pfeifen der Leitung und bedauere nicht zum ersten Mal, dass Glass sich nie mit einem Klempner eingelassen hat.
»Wegen der Rohrleitungen?«, hat sie erstaunt gefragt, als ich sie irgendwann auf die praktischen Möglichkeiten einer solchen Liaison angesprochen habe. »Wofür hältst du mich, Darling – für eine Nutte?«
Visibles Architekt muss genauso verrückt gewesen sein wie meine Tante Stella, die vor über einem Vierteljahrhundert das bereits im Verfall begriffene Haus während einer Reise durch Europa entdeckt, sich in seinen für diesen Teil der Welt völlig untypischen Südstaaten-Charme verliebt und es auf Anhieb gekauft hatte. Für eine Handvoll Peanuts, Kleines, schrieb sie damals Glass begeistert und stolz nach Amerika. Ich habe sogar etwas Geld übrig, um es in die dringend notwendige Renovierung zu stecken!
Stella war finanziell unabhängig. Sie hatte die typische Karriere amerikanischer Highschool-Schönheiten hinter sich, die sich über ihre Zukunft erst dann Gedanken machen, wenn diese schon im Begriff ist, Vergangenheit zu werden: frühe Heirat, frühe Scheidung, zu spät eintrudelnde, aber relativ großzügige Unterhaltszahlungen. Große Sprünge konnte Stella mit dem Geld nicht machen, aber es reichte für ein halbwegs sorgenfreies Leben. Es reichte für den Kauf von Visible.
Das von einem weitläufigen Grundstück umgebene Haus stand, wie Stella an Glass schrieb, auf einer Anhöhe am äußersten Rand einer winzigen Stadt, jenseits des Flusses. Die zweigeschossige Fassade mit dem säulengestützten Vorbau, die kleinen Erker und die hohen Flügelfenster, das von unzähligen Giebeln und Zinnen gekrönte Dach: All das war auf Kilometer gut sichtbar für jeden. Folgerichtig nannte Stella, auf der Suche nach einem passenden amerikanischen Namen, das gesamte Anwesen – das Haus, den dahinterliegenden Holz- und Geräteschuppen sowie den weitläufigen, an den Wald angrenzenden Garten, in dem mannshohe Statuen aus verfärbtem Sandstein wie erstarrte Wanderer herumstanden – Visible. Wie sich schnell herausstellte, reichte nach dem Kauf Visibles das übrige Geld kaum aus, auch nur einen Bruchteil der Renovierungskosten zu decken. Das Mauerwerk bröckelte, das Dach war an mehreren Stellen undicht, der Garten glich einem Urwald.
Visible scheint darauf zu warten, in sich zusammenzusinken und von besseren Zeiten träumen zu können, schrieb Stella in einem ihrer immer seltener werdenden Briefe nach Boston. Und die Bewohner der Stadt warten ebenfalls darauf. Sie mögen dieses Haus nicht. Die großen Fenster machen ihnen Angst. Weißt du, warum, Kleines? Weil es ausreicht, diese Fenster aus der Ferne zu sehen, um zu wissen und zu fühlen, dass sie zu einem weiten Blick auf die Welt zwingen.
Ich bin mit Fotos von Stella groß geworden, unzählige Aufnahmen, die Glass einige Monate nach dem Tod ihrer Schwester aus deren Unterlagen geklaubt und im Haus verteilt hat. Man begegnet ihnen überall, in der düsteren Eingangshalle, im Treppenhaus, in beinahe jedem Zimmer. Wie kitschige Heiligenbildchen hängen sie in billigen Rahmen an den Wänden, sind aufgestellt auf wackeligen Kommoden und Tischen, drängen sich auf Simsen und Fensterbänken. Mein Lieblingsporträt von Stella zeigt ihr kantiges, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Sie hatte große, klare Augen mit unzähligen Lachfältchen. Es ist das einzige Foto, auf dem meine Tante weich und verletzlich wirkt. Aus allen anderen Bildern spricht eine Mischung aus kindlichem Trotz und stürmischer Herausforderung. Stella sieht darauf aus wie in Feuer gehärteter, gerade im Ausglühen begriffener Stahl.
Drei Tage bevor Glass auf Visible ankam, war meiner Tante der weite Blick auf die Welt zum Verhängnis geworden. Beim Fensterputzen war sie aus dem zweiten Stock des Hauses auf die Auffahrt gestürzt, wo tags darauf der Briefträger sie entdeckte. Sie lag wie schlafend auf dem kiesigen Boden, den Kopf auf einen Arm gebettet, die Beine leicht angezogen. Ihr Genick war gebrochen. Später fand Glass das Telegramm, das sie selbst vom Schiff aus nach Visible gekabelt hatte, und den Entwurf einer Antwort, die ihre ältere und einzige Schwester nicht mehr hatte abschicken können: Kleines, freue mich auf dich und Nachwuchs. Liebe, Stella.
Stellas Tod berührte Glass tief. Sie hatte ihre Schwester abgöttisch geliebt, auch nach deren Weggang aus Amerika. Die Mutter der beiden war früh gestorben, am Großen K, wie Glass es nannte, und der Vater hatte sich an geistigen Getränken deutlich interessierter gezeigt als am Schicksal seiner Töchter. Dass beide nach Europa verschwanden, nahm er so betrunken wie gleichgültig auf. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Als ich Glass irgendwann auf meinen Großvater ansprach, sagte sie knapp, der amerikanische Kontinent habe ihn verschluckt und werde ihn hoffentlich nie wieder ausspucken. Nach der ersten Trauer um Stella betrachtete sie deren Tod von der pragmatischen Seite. Einer von Glass’ Lieblingssprüchen ist, dass nichts geht, ohne dass etwas anderes dafür kommt. Der Tod hatte ihr Stella genommen und dafür Tereza gegeben: kein schlechter Tausch.
Ein ortsansässiger Anwalt wurde von der Stadtverwaltung damit beauftragt, die Papiere der toten Amerikanerin zu sichten und ausfindig zu machen, ob es Verwandte in Übersee gab. Der viel beschäftigte Mann schickte eine Praktikantin nach Visible, eine junge Frau mit langen roten Haaren, die sich – nach einem ersten gehörigen Schrecken – recht geschickt dabei anstellte, zwei neuen Verwandten Stellas in die Welt zu helfen. Tereza stammte aus der Stadt, der sie jedoch schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, um irgendwo im Norden Jura zu studieren.
In der vor Kälte starrenden Nacht, die Diannes und meiner Geburt vorausging, war Tereza, die sich für die Dauer ihrer Untersuchung mit einem Schlafsack in Visible einquartiert hatte, fündig geworden. Stella hatte tatsächlich ein Testament hinterlassen. Darin erklärte sie ihre Schwester Glass zur alleinigen Erbin Visibles und ihres gesamten Nachlasses. Die Sache gestaltete sich schwierig, es gab rechtliche Probleme – Glass war nicht volljährig, sie war Amerikanerin, und sie besaß keine Aufenthaltserlaubnis. Dass sie nur Englisch sprach, machte die Angelegenheit nicht einfacher.
Tereza nahm Glass unter ihre Fittiche und setzte sich bei dem Anwalt für sie ein. Der Mann mochte Tereza, er fand Gefallen an Glass, und er hatte Freunde, die wiederum Freunde in hohen Positionen hatten. Mehr als zwei Augen wurden zugedrückt, Gesetze vorsichtig gebeugt, Bestimmungen geschickt umgangen und wohlwollende Schreiben verfasst. Schließlich durfte Glass bleiben, doch das war nur ein erster Schritt. Stella hatte kaum Barvermögen hinterlassen, aber Geld war das, was Glass dringend benötigte. Visible zu verkaufen kam für sie nicht in Frage. Das Haus war mehr als nur Stellas Vermächtnis – es war das Dach über den Köpfen ihrer winzigen neuen Familie. Wieder war es Tereza, die sich einschaltete. Über Freunde an der Universität versorgte sie Glass mit Schreibarbeiten, die aus der Erledigung umfangreicher englischer Korrespondenz oder im Zusammenfassen von Artikeln aus internationalen Fachzeitschriften bestanden.
Ein Jahr bevor Tereza das Studium beendete, starb ihr seit langem verwitweter Vater, ein halbwegs berühmter, emeritierter Professor für Botanik, der einzige Gelehrte, den die Stadt je hervorgebracht hatte. Plötzlich war Tereza eine vermögende, aber heimatlose Frau – sie mochte das Haus ihres Vaters nicht allein bewohnen, und so verbrachte sie ihre Semesterferien regelmäßig in Visible. Sie hütete Dianne und mich, während Glass zunächst Sprachkurse besuchte und sich dann in der Abendschule zur Sekretärin ausbilden ließ.
Dianne und ich waren inzwischen vier Jahre alt und zutraulich wie junge Hunde. Wir hatten Tereza sofort ins Herz geschlossen. Als Gegenleistung ruinierte sie unsere Milchzähne mit Popcorn, das sie allabendlich zubereitete, bevor sie uns in die Betten steckte. Dort kauten wir das klebrig süße Zeug aus zersprungenen bunten Schüsseln, während Tereza uns Märchen vorlas. Meistens schlief sie darüber noch vor uns ein, dann deckten wir sie mit einer Wolldecke zu und steckten ihr Maiskörner in die Nasenlöcher. In unsere Liebe zu ihr mischte sich eine gehörige Portion Ehrfurcht; schließlich hatte Tereza, wie die Hexen in den Märchen, rote Haare. Sie konnte kleine, panische Nervenbündel aus uns machen, wenn sie damit drohte, uns in Frösche zu verwandeln.
Nach dem Examen arbeitete Tereza in einer Anwaltskanzlei. Zwei Jahre später hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um in der nächstgrößeren Stadt eine eigene Kanzlei zu eröffnen, und natürlich benötigte sie eine Sekretärin. Der Zeitplan war perfekt. Dianne und ich standen kurz vor der Einschulung, so dass Glass halbtags arbeiten konnte. Später, als wir gelernt hatten uns selbst zu versorgen, übernahm sie den Job ganztags. Dann stieg sie morgens in ihr Auto – der alte Ford von Terezas Vater – und kehrte am frühen Abend zurück, stets mit einem kleinen Geschenk für uns: giftgrüne, klebrige Dauerlutscher, ein schmales Bilderbuch, eine Schallplatte, die vom vielen Abspielen bald zerkratzt war.
Wenn Dianne und ich aus der Schule nach Hause kamen, wärmten wir tags zuvor zubereitete Mahlzeiten auf. Wir benötigten weder Ermahnungen noch Aufsicht, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Freie Zeit verbrachten wir fast ausnahmslos draußen, im Dschungel des Gartens, in den an das Anwesen angrenzenden Wäldern oder am nahen Fluss. Glass war stolz auf unsere Eigenständigkeit. Da sie mehr als einmal darauf hinwies, dass von ihrem Job unsere Existenz abhing, wagten Dianne und ich nicht ihr anzuvertrauen, dass wir uns, allein gelassen in dem großen Haus, vor Visible fürchteten. Die verwinkelten Zimmer, viele davon ungenutzt, die unendlich langen, sich verzweigenden Flure, die hohen Wände, von denen beim leisesten Schritt kleine, sich ins Unendliche fortpflanzende Echos widerhallten – all das war uns nicht geheuer. Visible war unheimlich, ein düsteres, hohles Gehäuse, und nichts erfüllte uns mit mehr Schrecken, als wenn Glass uns vorschlug, darin Verstecken zu spielen. Dianne und ich besaßen ein gemeinsames Zimmer im Erdgeschoss; erst später, als wir die Rückzugsmöglichkeiten in die Stille und Leere der oberen Stockwerke zu schätzen gelernt hatten, richteten wir uns, jeder für sich, dort ein. Ich nahm mir ein Zimmer, das eine unbegrenzte Aussicht über den Fluss hinweg auf die Stadt bot, die an den Hängen des Schlossbergs lag, dessen Spitze wiederum von einer nichtssagenden Burg aus dem frühen Mittelalter gekrönt war. In diesem Zimmer stellte ich fest, dass ich über eine gänzlich andere Mentalität verfügen musste, als Stella sie besessen hatte, denn der Blick durch die hohen Fenster auf die dahinterliegende Welt war mir nie weit genug.
Das kalte Wasser der Dusche hat mich auf Trab gebracht. Ich ziehe Shorts und T-Shirt an und gehe durch den labyrinthischen Flur zur geschwungenen Treppe, die nach unten in die Eingangshalle führt. Weder von Dianne noch von Glass ist etwas zu sehen oder zu hören. Vielleicht haben beide vor der unbarmherzigen Sommerluft kapituliert und schlafen.
Sobald ich ins Freie trete, schlägt mir die Hitze ins Gesicht. Ich schnappe mir mein an der Hauswand lehnendes Fahrrad und lasse mich die holprige, unbefestigte Auffahrt hinabrollen.
Der Garten hat Ähnlichkeit mit einem wogenden Getreidefeld. Zu beiden Seiten der Auffahrt kämpft meterhohes Gras mit farbenprächtigen Wiesenpflanzen um einen Platz an der Sonne. Wilder Efeu krallt sich in die Rinde von alten Obstbäumen und Pappeln, hangelt sich an den Stämmen nach oben und klettert über die Regenrinne zum Haus, um dort in Kaskaden wieder herabzufallen.
Während der ersten fünf oder sechs Jahre in Visible bemühte sich Glass, diesen Wildwuchs zu zähmen, den Urwald zu unterwerfen und eine Art Garten anzulegen. Ihre Gefechtskleidung bestand aus einer grünen Kittelschürze, rosa Plastikhandschuhen und gleichfarbigen Gummistiefeln; ihre Waffen waren Gartengeräte, die ausgereicht hätten, die Wüste Nevadas in fruchtbares Land zu verwandeln. Dianne und ich, unsererseits ausgestattet mit kleinen, eisernen Haken und Schippchen, umwuselten ihre Beine, wenn unsere Mutter zum Kampf ausrückte, und hielten uns stets in ihrer Nähe auf. Doch alles Zupfen, alles Jäten und Roden war vergebens, der heroische Kampf gegen das standhafte Heer von Unkraut zum Scheitern verurteilt.
»Als würde die Natur sich gegen mich wehren«, beschwerte sich Glass, wenn sie abends erschöpft und müde am Küchentisch saß, die Hände trotz der Plastikhandschuhe mit Blasen übersät. »Wo ich diese Scheißpflanzen haben will, wachsen sie nicht, und wo ich sie loswerden will, schießen sie ins Kraut!«
Sie stellte einen Gärtner ein, stundenweise. Martin war kaum älter als Glass, ein junger Mann mit schwarzem Haar und strahlenden grünen Augen. Er kam Gott weiß woher, und genau dorthin verschwand er auch wieder. Dianne machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht ausstehen konnte, und ging ihm aus dem Weg, aber ich war von Martin begeistert. Wenn er an heißen Sommertagen nach getaner Arbeit von draußen in die kühle Küche kam, wo Glass ihm geeiste Limonade servierte, setzte ich mich auf seinen Schoß und verbarg mein Gesicht in seinem nass geschwitzten Unterhemd. Ich mochte den Duft, den er verströmte, er roch nach Gras und dem offenen blauen Himmel. Während er mit Glass sprach, kraulten seine Hände meinen Nacken, die Finger trocken und angenehm weich, trotz der harten Gartenarbeit. Später, wenn Martin duschte und mir dabei Geschichten erzählte, sein Lachen nie weiter entfernt als das Ende des nächsten Satzes, die Haut glänzend von abperlendem Wasser, saß ich auf dem heruntergeklappten Klodeckel, den Kopf in die Hände gestützt, und betrachtete seine kräftigen Arme, die breiten, sonnengebräunten Schultern und die Stelle, an der seine schlanken Beine zusammenliefen. Das Handtuch, mit dem er sich trockenrieb, nahm ich beim Schlafengehen heimlich mit in mein Bett, wo ich es als Decke benutzte. Dass Glass wie selbstverständlich Martin mit in ihr Bett nahm, erfüllte mich mit einer bis dahin nicht gekannten Eifersucht, die mir nächtelang den Schlaf raubte.
Falls Dianne all das registrierte, fiel es mir nicht auf. Erst viele Jahre später wuchs in mir die Gewissheit, dass ihr damals selbst das kleinste Detail nicht entging und dass meine Zwillingsschwester ebenso schlaflose Nächte verbrachte wie ich, wenn auch aus einem völlig anderen Grund: Dianne hasste Glass wegen ihrer Männergeschichten.